3-2024

Editorial „Partizipation von Schüler*innen an Schulleben, Unterricht und Schulentwicklung"

Annette Textor, Yannik Wilke & Dominik Zentarra

Liebe Leser*innen der Zeitschrift für Inklusion,

„Partizipation“ ist ebenso wie „Inklusion“ ein schillernder Begriff, der sehr weitläufig und mit unterschiedlichen Konzeptualisierungen verwendet wird. Diese beiden Begriffe fokussieren verschiedene Ebenen, sind aber in den jeweiligen Diskursen ineinander verschränkt: Sie beziehen sich insofern auf verschiedene Ebenen, als dass „Inklusion“ einen primär gesellschaftlichen Bezug hat, bei dem Teilhabe und Zugehörigkeit(-sgefühl) eine Rolle spielen, während bei „Partizipation“ Teilhabe und Teilnahme des Einzelnen in Form von Mitbestimmung und Einfluss zentral sind und somit das Individuum den Ausgangspunkt bildet. Ihr gegenseitiges Verhältnis wird im Diskurs sehr unterschiedlich bestimmt: Biedermann (2006) benutzt diesen Begriff beispielsweise nicht, sondern markiert ihn implizit in Form von „Gemeinschaftlichkeit“, als Zugehörigkeit zu einer Gruppe, als ein konstituierendes Element des Partizipativen. Moldenhauer (2015) konzipiert Inklusion als Zielperspektive von Partizipation. Und Tiedeken (2020) stellt fest: Je nach Autor*in ist Inklusion mal Vorbedingung für gelingende Partizipation, mal ist Partizipation die Voraussetzung für Inklusion. Inklusion und Partizipation sind somit kaum ohne einander denkbar, auch wenn hinsichtlich des genauen Verhältnisses beider Begriffe im wissenschaftlichen Diskurs keine Einigkeit besteht.

In diesem Heft wollen wir schwerpunktmäßig auf Partizipation von Schüler*innen an der Schule blicken. Gerade die Schule ist eine der ersten Orte für Kinder und Jugendliche, die durch das Zusammenkommen von verschiedenen Menschen zu einem sehr heterogenen und vielfältigen Setting wird und für wesentliche Entwicklungsaufgaben in Bezug auf Zugehörigkeit und Identität im Kindheits- und Jugendalter eine bedeutsame Rolle spielt. Partizipation wird hierbei relevant, da jede Person vor dem Hintergrund der Schulpflicht in eine Gemeinschaft hineingebracht wird, in die sie ihre individuellen Wünsche und Bedürfnisse hineinträgt. Zugehörigkeit, Solidarität und Gemeinschaftlichkeit zu entwickeln sind hierbei Ziele inklusionsorientierter Schulentwicklungsprozesse (u. a. Seitz et al., 2020), die gerade durch Partizipation erlebbar werden. Gleichzeitig wird schulische Partizipation auch aus (demokratie-)pädagogischer Sicht relevant, und zwar vor dem Hintergrund der Erziehung in einer und für eine inklusive(n), demokratische(n) Gesellschaft, die in einer Institution stattfindet, die Räume für Selbstwirksamkeitserfahrungen durch Partizipationsmöglichkeiten öffnet (Thurn, 2019), gleichzeitig allerdings klare Grenzen der Mitbestimmung hat und deutlich von einer Machtasymmetrie geprägt ist. Die Funktionen und institutionellen Rahmungen von Schule haben einen Einfluss auf die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Schüler*innenpartizipation und damit auch auf das Ausmaß, inwieweit Schüler*innen ihre eigene Schule mitentwickeln können. Je nachdem, auf welchen Bereich von Schule geblickt wird, ergeben sich unterschiedliche Perspektiven auf die Partizipation von Schüler*innen. Daher möchten wir in dieser Ausgabe auf die Schüler*innenpartizipation im Schulleben, im Unterricht und in der Schulentwicklung blicken.

Partizipation in der Schule bedeutet auf diese drei Bereiche bezogen, die Schüler*innen nicht als „Andere“ zu denken, sondern sie miteinzubeziehen, mitentscheiden und teilhaben zu lassen. In Bezug auf den Aspekt der Schulentwicklung möchte partizipative Aktionsforschung aus den Beforschten Co-Forscher*innen (von Unger, 2014) bzw. aus den von Entwicklungen Betroffenen Co-Entwickler*innen machen. Partizipative Forschungsansätze sind und wirken als Forschungsparadigma insofern inkludierend, als dass sie die Individualität aller Akteur*innen eines beforschten Feldes anerkennt, wahrnimmt und deren spezifische Expertise für die Forschung nutzt, indem sie in eben diese miteinbezogen werden und auf diese Weise zur Entwicklung des Feldes beitragen.

Diese Ausgabe folgt in ihrer thematischen Auseinandersetzung mit Partizipation und Inklusion diesem Dreiklang. In der Rubrik Partizipation von Schüler*innen im Schulleben inklusiver Schulen stellen wir Arbeiten vor, die sich mit der Perspektive von Schüler*innen auf schulische außerunterrichtliche Partizipation befassen. Dies schließt sowohl einen forschungsmethodischen Artikel zur quantitativen Erhebung des Partizipationserlebens von Schüler*innen ein (Zentarra), als auch zwei Studien zu Partizipation und Inklusion: In diesen Studien geht es darum, wie „bildungsbenachteiligte“ Kinder und Jugendliche Partizipation im Unterricht erleben (Goudarzi & Gebhard) und wie sich die Heterogenität inklusiver Schulen in deren Schüler*innenvertretung abbildet (Stein & Möbus). Die Rubrik schließt ab mit einem Artikel, der eine spezifische Schüler*innengruppe mit spezifischen Partizipationserschwernissen fokussiert: Dieser Artikel beschreibt, wie chronisch kranke und daher physisch nicht anwesende Schüler*innen mithilfe von Telepräsenzsystemen im Unterricht sowie an außerunterrichtlichen Aktivitäten partizipieren können (Turner, Rockenbauer & Scherde).

In der Rubrik Partizipation von Schüler*innen im inklusiven Unterricht stellen wir Beiträge vor, die die Partizipation aller Schüler*innen im inklusiven Unterricht thematisieren. Diese Rubrik wird durch einen literaturbasierten Artikel eingeleitet, der entlang verschiedener Dimensionen der Öffnung untersucht, wie Mathematikunterricht im Anfangsunterricht der Primarstufe geöffnet werden könnte und welche Potenziale dies für Partizipation und Selbstbestimmung der Schüler*innen haben kann (Hubner). Im Anschluss wird anhand von Unterrichtsbeispielen das Lernen mit solchen geöffneten Unterrichtsformen vorgestellt und beschrieben, wie Schüler*innen in inklusiven Lerngruppen in die Leistungsbewertung im Mathematikunterricht eingebunden werden können (Wilke, Dieckmann & Peter-Koop). Es folgen zwei Fallstudien, die beide die Partizipativität von Unterricht aus verschiedenen Perspektiven untersuchen: Die Studie von Raggl und Gattringer-Kreuzmair fragt danach, wie Partizipationsmöglichkeiten im Unterricht an kleinen Grundschulen aus Perspektive der unterschiedlichen Beteiligten wahrgenommen werden; die Studie von Damej, Jaksche-Hoffmann und Kucher untersucht anhand von Interviews mit Eltern, Schüler*innen und Lehrer*innen, welche Aspekte einer partizipativen Unterrichtsgestaltung aus Sicht der verschiedenen direkt und indirekt an Unterricht Beteiligten in einer inklusiven Lerngruppe zu finden sind, wobei auch institutionalisierte Gesprächsformate in den Blick genommen werden.

Die Rubrik Partizipation von Schüler*innen in der Schulentwicklung beginnt mit einem Artikel, der mithilfe von Ergebnissen aus einer Interviewstudie beschreibt, wie das Feedback von Schüler*innen für die Unterrichtsgestaltung nutzbar gemacht werden könnte (Wilke & Schmidt), sowie ein Artikel, in dem mit dem bioecological tool Werkzeug zur Aktionsforschung mit Jugendlichen vorgestellt wird, das mit schuldistanzierten Jugendlichen erprobt wurde und (nicht nur) für die Schulentwicklung genutzt werden kann (Dorniak). Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!

Prof. Dr. Annette Textor, Yannik Wilke & Dominik Zentarra

Literatur:

Biedermann, H. (2006). Junge Menschen an der Schwelle politischer Mündigkeit. Partizipation: Patentrezept politischer Identitätsfindung? Waxmann.
Moldenhauer, A. (2015): Dialektik der Partizipation. Eine rekonstruktive Studie zu Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern mit Partizipation in Gemeinschaftsschulen. Barbara Budrich.
Seitz, S., Hamisch, K., Sindermann, M., Slodczyk, N. & Wilke, Y. (2020). Inklusive Schulkulturen und widersprüchlichen Vorzeichen. In T. Dietze, D. Gloystein, V. Moser, A. Piezunka, L. Röbenack, L. Schäfer, G. Wachtel, & M. Walm (Hrsg.): Inklusion – Partizipation – Menschenrechte: Transformationen in die Teilhabegesellschaft? 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention – Eine interdisziplinäre Zwischenbilanz (S. 251-258). Klinkhardt.
Thurn, S. (2019). Inklusives Schulsystem. In M. Harring, C. Rohlfs & M. Gläser-Zikuda (Hrsg.), Handbuch Schulpädagogik (S. 103-125). UTB.
Tiedeken, P. (2020). Inklusion und Partizipation. Oder: Von der Unmöglichkeit mitzumachen, ohne sich vereinnahmen zu lassen. In I. Boban & A. Hinz (Hrsg.), Inklusion und Partizipation in Schule und Gesellschaft. Erfahrungen, Methoden, Analysen (S. 18–32). Beltz Juventa.
von Unger, H. (2014). Partizipative Forschung. Einführung in die Forschungspraxis. Springer VS.

Veröffentlicht: 29.09.2024