5-2024

Editorial zur Gastherausgeber*innenschaft "Deprofessionalisierung"

Anne Reh & Yannik Wilke


Auch 15 Jahre nachdem sich Deutschland im Zuge der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (2009) zu einem Umbau des Schulsystems verpflichtet hat, bleiben wegweisende Veränderungen in der Breite aus. Dies betreffen gleichermaßen die bildungsadministrativen Entscheidungen wie Fragen der inklusionspädagogischen Professionalisierung im Schulsystem. Zwar kann auf einige positive Entwicklungen (beispielsweise in Bremen und Berlin-Brandenburg verwiesen werden) für andere Bundesländer (wie beispielsweise Nordrhein-Westfalen) sind weithin Stillstand in der Entwicklung und aktive Rückbaumaßnahmen bereits eingeführter inklusionspädagogisch fundierter Entwicklungen zu verzeichnen (DIM, 2018; Seitz et al., 2020). In diesem Kontext wurde insbesondere NRW explizit für sein Vorgehen kritisiert.
Wirft man einen Blick auf den öffentlichen Diskurs um Inklusion und die damit einhergehenden politischen Entscheidungen – beispielhaft die Neuausrichtung der Inklusion in Nordrhein-Westfalen (MSB NRW, 2018; MSB NRW, 2021a; MSB NRW, 2021b) – werden diese vielfach im Spannungsfeld von sonderpädagogischer Förderung und dem Rückbau inklusiver professioneller Unterrichtsstrukturen diskutiert. Diese Entwicklungen wurden bereits vom Deutschen Institut für Menschenrechte als mit den Ansprüchen eines inklusiven Schulsystems nicht vereinbar herausgestellt (DIM, 2018) und auch von wissenschaftlicher Perspektive nicht nur als Entwicklungsstopp, sondern als aktiver Rückbau bereits etablierter inklusiver Schulpraxis kritisiert (u. a. GEW NRW, 2021; DIM, 2018; Schumann, 2021; Seitz et al., 2020).
Weiterhin anzuführen ist auch, dass zwar multiprofessionelle Kooperation in inklusiven Kontexten und gemeinsamen Lernen als gewinnbringendes Gestaltungselement gilt (Lütje-Klose & Urban, 2014; Thurn, 2019), was auch aus einer internationalen Perspektive mehrfach zu belegen ist (u. a. Köpfer, 2014), jedoch ebenso Spannungsfelder aufgrund unterschiedlicher (professionsbezogener) Perspektiven, Aufgabenzuschreibungen und Fokussierungen (Fritzsche & Köpfer, 2019) birgt.
Mit Blick auf diese Ausgangslage werden im folgenden Themenheft zwei Diskurse zusammengeführt: 1. Der Diskurs um die Notwendigkeit multiprofessioneller Kooperation zur Umsetzung eines inklusiven Schulsystems. Und 2. aktuelle Deprofessionalisierungstendenzen im Bildungssystem, die beide gleichermaßen eine Hürde zur Umsetzung einer qualitativ hochwertigen Bildung für alle Kinder darstellen.

Dabei beleuchten die Beiträge von Kottmann et al. und Meusel et al. das Themenfeld aus NRW-spezifischer Perspektive:

Kottmann et al.: „Gemeinsames Arbeiten im Gemeinsamen Lernen: Aktuelle Herausforderungen an professionelles Handeln und Kooperieren in inklusiven Schulen“
Meusel et al.: „Bestimmt unbestimmt? - Eine quantitativ-explorative Studie zu Aufgabenprofilen von Fachkräften für das multiprofessionelle Team (MPT) an inklusiven Gesamt- und Sekundarschulen in NRW“

Dem folgen Beiträge von Kratz & Martens, Domsch et al. und Geiser et al. die dezidiert unterschiedliche Berufsgruppen in den Blick nehmen:

Kratz & Martens: „Professionalisierung zwischen Zumutung und Begrenzung. Zum pädagogisch-didaktischen Handeln von Schulbegleiter:innen in multiprofessionellen Settings“
Ufermann et al.: „”Let´s talk about …” – Kooperation zwischen sozialpädagogischen Fachkräften der Schuleingangsphase und Lehrkräften“
Geiser et al.: „Großer Aufwand auf wenigen Schultern: Die Auswirkungen des Fachkräftemangels auf angehende Sonderpädagog:innen in der Schweiz“

Der Beitrag von Kaiser und Ahokas fokussiert Lernen und Kooperation im Kontext außerschulischer Lernorte:

Kaiser & Ahokas: „In- und exklusive Spielräume. Zu den (De-)Professionalisierungstendenzen von Kunstpädagogik und Kunstvermittlung in ihren Kooperationspraktiken“


Allgemeiner Teil der Zeitschrift für Inklusion

Editorial Ergänzung (5-2024) zum Diskussionsbeitrag von Reinhard Stähling & Barbara Wenders „Denn wovon sonst, wenn nicht vom Elternhaus, soll Bildung abhängen?“ (Klaus Zierer) – Brandgefährliche Thesen eines Pädagogen zur „Ungleichheit“ in der SZ vom 14./15.09.2024

In unserer Rubrik „Allgemeiner Teil“, in der weitere frei eingereichte Beiträge, die über die jeweiligen Schwerpunktthemen hinausgehen und nicht von Gastherausgeber*innenschaften verantwortet werden, setzen sich Reinhard Stähling und Barbara Wenders kritisch mit öffentlichkeitswirksam verbreiteten Thesen von Klaus Zierer zu den Grenzen der Belastbarkeit des bestehenden Schulsystems durch gesellschaftliche Diversität und zunehmende Ungleichheit auseinander. Während Zierer darin in erster Linie Überforderungen des Schulsystems ausmacht, erkennen Stähling und Wenders in dieser Perspektive eine Strategie der Schuldumkehr. Sie attestieren Zierer (gemeinsam mit Wolfgang Beywl Übersetzer der Meta-Studie von Hattie) eine Argumentation wider besseren Wissens und stellen dem ihre eigenen langjährigen Praxiserfahrungen einer gelingenden Schulorganisation und Unterrichtsgestaltung gegenüber. Dabei machen die Autor*innen am Beispiel der Hattie-Studie deutlich, dass ihre Rezeption einer inklusionsorientierten Reflexion bedarf, die willens ist, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Befunde keineswegs geeignet sind, gegen eine differenzierte Inklusionspraxis in Stellung gebracht zu werden.

Wir wünschen Ihnen eine anregende und aufregende Lektüre!

Prof. Dr. Clemens Dannenbeck, Prof. Dr. Carmen Dorrance, i.A. des Redaktionsteams

 

Literatur

Deutsches Institut für Menschenrechte (2018). Stellungnahme: Zum Antrag “Konsultation der Monitoring-Stelle der UN-BRK in NRW zur Weiterentwicklung der Inklusion unmittelbar in der parlamentarischen Arbeit nutzen” (Drucksache 17/2388) öffentliche Anhörung des Ausschusses für Schule und Bildung des Landtags NRW am 05. September. https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/MSt_UN-BRK_Stellungnahme_
Ausschuss_Schule_Bildung_LT_NRW_2018.pdf

Fritzsche, B. & Köpfer, A. (2019). (Para-)Professionalität im Umgang mit Ungewissheitsstrukturen: Eine kulturvergleichende Rekonstruktion von Interviews mit Assistenzkräften im inklusionsorientierten Unterricht. In J. Donlic, E. Jaksche-Hoffman & H. Peterlini (Hrsg.), Ist inklusive Schule möglich?: Nationale und internationale Perspektiven (S. 133-160). transcript Verlag. https://doi.org/10.1515/9783839443125-008
GEW NRW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft). (2021). Mangelverwaltung bei der Inklusion in den Grundschulen. https://www.gew-nrw.de/neuigkeiten/detail/mangelverwaltung-bei-der-inklusion-in-den-grundschulen
Köpfer, A. (2014). Inclusive Unterstützungsstrukturen und Rollen am Beispiel kanadischer Schulen in den Provinzen New Brunswick, Prince Edward Island und Québec. Zeitschrift für Inklusion, 9(4).
https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/196
Lütje-Klose, B. & Urban, M. (2014). Kooperation als wesentliche Bedingung inklusiver Schul- und Unterrichtsentwicklung. Teil 1: Grundlagen und Modelle inklusiver Schul- und Unterrichtsentwicklung. Vierteljahreszeitschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 83(2), 111-123.
Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen. (2021a, Februar). Erlass: „Gemeinsames Lernen in der Grundschule“. https://www.schulministerium.nrw/system/files/media/document/file/210505_
erlass_multiprofessionelle_teams_gemeinsames_lernen_grundschulen_weiterfuehrende_schulen.pdf

Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen. (2021b, Mai). Erlass: „Multiprofessionelle Teams im Gemeinsamen Lernen an Grundschulen und weiterführenden Schulen“. https://www.schulministerium.nrw/system/files/media/document/file/210505_erlass_multiprofessionelle_
teams_gemeinsames_lernen_grundschulen_weiterfuehrende_schulen.pdf

MSB NRW (Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen) (2018). Neuausrichtung der Inklusion in den öffentlichen allgemeinbildenden weiterführenden Schulen. https://www.schulministerium.nrw/
Schulsystem/Inklusion/Kontext/Runderlass_Neuausrichtung_Inklusion_oeffentliche_Schulen.pdf

Schumann, B. (2021). „Masterplan Grundschule NRW“ - ein Beleg für bildungspolitische Ignoranz. https://bildungsklick.de/
schule/detail/masterplan-grundschule-nrw-ein-beleg-fuer-bildungspolitische-ignoranz-und-arroganz

Seitz, S., Hamisch, K., Sindermann, M., Slodczyk, N. & Wilke, Y. (2020). Inklusive Schulkulturen und widersprüchlichen Vorzeichen In T. Dietze, D. Gloystein, V. Moser, A. Piezunka, L. Röbenack, L. Schäfer, G. Wachtel & M. Walm (Hrsg.): Inklusion – Partizipation – Menschenrechte: Transformationen in die Teilhabegesellschaft? 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention – Eine interdisziplinäre Zwischenbilanz. Verlag Julius Klinkhardt.
Thurn, S. (2019). Inklusives Schulsystem. In M. Harring, C. Rohlfs & M. Gläser-Zikuda (Hrsg.), Handbuch Schulpädagogik (S. 103-115). utb. UN-BRK (2009).
Die UN-Behindertenrechtskonvention Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. https://www.behindertenbeauftragter.de/SharedDocs/ Downloads/DE/AS/PublikationenErklaerungen/Broschuere_
UNKonvention_KK.pdf?__blob=publicationFile&v=19

Veröffentlicht: 18.12.2024