Aktuelle Ausgabe

4-2024

Editorial zur Gastherausgeber*innenschaft „Inklusive Arbeitswelten?!“

Mario Schreiner, Liane Bächler & Jan Jochmaring


Sehr geehrte Leser*innen der Zeitschrift für Inklusion,

die aktuelle Ausgabe „Inklusive Arbeitswelten?!“ widmet sich in sechs fundierten Beiträgen von insgesamt 13 Autor*innen der zentralen Frage, wie der Zugang zum Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen verbessert und nachhaltig gestaltet werden kann.

In modernen Gesellschaften stellt der Zugang zum Arbeitsmarkt eine wesentliche Voraussetzung für die Sicherung des Lebensunterhalts dar und ist eng mit sich daran anschließenden Teilhabechancen im weiteren Lebensverlauf geknüpft. Zentrale Weichen für diesen Zugang werden am Übergang von der Schule in das Berufsleben gestellt (Blanck, 2020). Trotz der rechtlichen Verpflichtungen gemäß dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) und politischer Initiativen bestehen nach wie vor erhebliche Barrieren, die den Zugang zum Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen erschweren (BMAS, 2021; Schreiner, 2019). Die Beiträge dieses Hefts analysieren, wie strukturelle Rahmenbedingungen, Bildungssysteme, Technologien und rechtliche Vorgaben den Arbeitsmarktzugang beeinflussen und diskutieren, inwiefern innovative Ansätze die Inklusion fördern können.

Die UN-BRK formuliert klar das Ziel, eine inklusive Arbeitswelt zu schaffen. Artikel 27 befasst sich explizit mit dem Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderungen und fordert, dass sie ihren „Lebensunterhalt durch Arbeit …, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld“ verdienen können. Damit verpflichtet die UN-BRK die ratifizierenden Staaten, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um dieses Recht zu fördern und zu verwirklichen. Diese Konvention erweitert den Anspruch des Grundgesetzes (GG), das zwar die Berufsfreiheit schützt, aber kein individuelles Recht auf Beschäftigung vorsieht.

Zur Umsetzung dieser Vorgaben wurde in Deutschland das Bundesteilhabegesetz (BTHG) eingeführt, dass die Teilhabe am Arbeitsleben durch Maßnahmen wie das Budget für Arbeit stärken soll. Auch das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zielen darauf ab, die Chancen und Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben zu verbessern. Die Bundesregierung hat zudem das Ziel formuliert, die Arbeitswelt inklusiv zu gestalten, um mehr schwerbehinderte Menschen in reguläre Beschäftigung zu bringen (BMAS, 2021; Jochmaring & York, 2023). Das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts wurde ebenfalls zu diesem Zweck erlassen.

Jedoch zeigt die aktuelle Arbeitsmarktsituation, dass diese politischen Ansprüche bisher nicht ausreichend verwirklicht wurden. Nur etwas mehr als ein Drittel der schwerbehinderten Menschen im erwerbsfähigen Alter findet eine Anstellung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (BA, 2024; Statistisches Bundesamt, 2024). Zeitgleich expandieren segregierende Systeme wie die Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) weiter (Schreiner, 2023; BMAS, 2021; York & Jochmaring, 2024). Angesichts des technologischen Wandels, der im Zuge der Diskussion um „Arbeit 4.0“ verstärkt auftritt, spitzen sich die Herausforderungen für inklusive Arbeitswelten weiter zu (Jochmaring & York, 2023; Bächler, 2020; 2021).

Das Themenheft „Inklusive Arbeitswelten?!“ bietet eine kritische Auseinandersetzung mit den bestehenden Bedingungen sowie den Veränderungsprozessen auf (den) Arbeitsmärkten und analysiert deren Auswirkungen auf Menschen mit Behinderungen. Der Fokus liegt dabei auf der spezifischen Situation in Deutschland, die im internationalen Kontext beleuchtet wird. Dabei wird der normative Anspruch der UN-BRK, inklusive Arbeitswelten zu schaffen, kritisch hinterfragt und mit der aktuellen Beschäftigungsrealität abgeglichen.

Der erste Beitrag von Jonna M. Blanck, Christian Brzinsky-Fay und Justin J. W. Powell mit dem Titel „Behinderte Übergänge? Bildung und Behinderung beim Übergang in den Arbeitsmarkt in europäischen Ländern“ widmet sich der zentralen Frage, wie der Übergang von der Schule in den Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung in Europa gestaltet ist. Die ländervergleichende Analyse von insgesamt 31 europäischen Staaten zeigt auf, dass institutionelle Unterschiede in Bildung und Arbeitsmarkt entscheidend für den Erfolg dieser Übergänge sind. Besonders die Bildungszertifikate, die junge Erwachsene mit Behinderungen erwerben, spielen eine Schlüsselrolle – mit oftmals negativen Auswirkungen auf ihre Chancen. Der Beitrag verdeutlicht den Bedarf an weiteren länderspezifischen Studien, um erfolgreiche Übergangsmodelle zu identifizieren.

Sascha Alexander Blasczyk und Mario Schreiner fokussieren sich im zweiten Beitrag auf die „Übergänge von Schüler*innen aus Förderschulen“. Sie beleuchten die Situation von Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Ihre Studie, die im Rahmen des Projekts „Inklusive Berufliche (Aus-)Bildung von Jugendlichen mit Schwerbehinderung im Rheinland“ (InBeBi) durchgeführt und vom Inklusionsamt des LVR gefördert wurde, zeigt erste Ergebnisse zu den Plänen und Perspektiven dieser Jugendlichen. Der Beitrag liefert wertvolle Einblicke in die Herausforderungen, denen Jugendliche nach der Förderschule gegenüberstehen, und skizziert notwendige Unterstützungsmaßnahmen.

Der dritte Beitrag von Stefanie Kurth und Marc Thielen untersucht das Zusammenspiel von Inklusionsprogrammatiken und Exklusionsdynamiken. Analysiert wird, wie Übergangskulturen in sogenannten inklusiven Schulformen gestaltet sind und in welchem Maße diese tatsächlich zu einer verstärkten Inklusion in den Arbeitsmarkt beitragen. Die Fallstudie zeigt, dass vermeintlich inklusive Schulformen zwar auf Chancengerechtigkeit und gleichberechtigte Teilhabe abzielen, jedoch gleichzeitig Ausschlussmechanismen erzeugt werden können, die den Übergang in den Arbeitsmarkt erschweren. Diese Ambivalenz wirft die Frage auf, wie Inklusionsprogramme in der Praxis effektiver gestaltet werden können.

Mit dem Thema Schwerbehindertenvertretung und Betriebliches Eingliederungsmanagement setzen sich Tomke S. Gerdes und Marie S. Heide im vierten Beitrag auseinander. Sie vergleichen die Aufgaben und Potenziale dieser beiden rechtlich verankerten Instrumente, um Inklusion im Arbeitsleben zu fördern. Ihre Analyse zeigt, wie diese Institutionen zusammenarbeiten und Synergien schaffen können, um Menschen mit Behinderungen den Einstieg und Verbleib im Arbeitsmarkt zu erleichtern.

Anschließend beleuchtet Frauke Mörike im fünften Beitrag „Interdependenzen und Workarounds“ bei der Nutzung von Assistenztechnologien durch sehbehinderte Wissensarbeiter*innen. Sie untersucht, wie Technologien den Arbeitsalltag dieser Menschen prägen und welche Interaktionsstrategien entwickelt werden, um Barrieren zu überwinden. Die Verbindung von Technik- und Sozialwissenschaften in dieser interdisziplinären Analyse liefert wertvolle Erkenntnisse für die Gestaltung inklusiver Arbeitsumgebungen in der Zukunft.

Abgerundet wird das Themenheft durch den Beitrag von Jana York, Liane Bächler und Jan Jochmaring, der den Titel „Technologien für die Zukunft der Teilhabe an Arbeit“ trägt. Der Artikel bietet eine umfassende Übersicht aktueller Forschungsprojekte zu Assistiven Technologien, die darauf abzielen, Menschen mit Behinderungen den Zugang zur Arbeitswelt zu erleichtern. Dafür kartieren und systematisieren die Autor*innen aktuelle Forschungsprojekte, die Menschen mit Behinderungen den Zugang zur Arbeitswelt erleichtern sollen. In der Diskussion um Arbeit 4.0 wird deutlich, dass technologische Innovationen entscheidend zur Inklusion beitragen können – gleichzeitig wirft der Beitrag die Frage auf, wie diese Entwicklungen vor dem Hintergrund kapitalistischer Wirtschaftslogiken zu bewerten sind.

Gemeinsam zeichnen die Beiträge ein facettenreiches Bild der aktuellen Situation von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt. Sie zeigen auf, wie wichtig es ist, Bildung, rechtliche Rahmenbedingungen und technische Innovationen aufeinander abzustimmen, um die Chancen auf eine gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsleben zu erhöhen. Gleichzeitig verdeutlichen die Artikel die Herausforderungen und Barrieren, die es weiterhin zu überwinden gilt.

Im vorliegenden Themenheft entsteht ein spannendes Wechselspiel von Möglichkeiten und Barrieren, Erfahrungen und theoretischen Reflexionen, dass die Leser*innen dazu einlädt, sich aktiv damit auseinanderzusetzen und weiterzudenken. Es bleibt zu hoffen, dass diese Ausgabe wichtige Impulse für die Forschung, aber auch für die Praxis und die politischen Debatten liefert. Die Umsetzung inklusiver Arbeitswelten erfordert einen koordinierten gesamtgesellschaftlichen Einsatz, um den Anspruch inklusiver Arbeitswelten in die Realität umzusetzen.

Wir wünschen eine anregende Lektüre!

Prof. Dr. Mario Schreiner, Jun.-Prof. Dr. Liane Bächler & Dr. Jan Jochmaring


Literatur:

BA (2024). Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung. Berichtsjahr 2023. Berichte: Analyse Arbeitsmarkt Deutschland. Bundesagentur für Arbeit.
Bächler, L. (2020). Teilnahme an Arbeit durch technische Assistenz. Dissertation. Universität Siegen.
Bächler, L. (2021). Teilhabe durch Assistive Technologien: Eine Betrachtung aus sozialpolitischer, inklusions- und anerkennungstheoretischer Sicht. uk & forschung 11, 14–23.
Blanck, J. M. (2020). Übergänge nach der Schule als „zweite Chance“? Eine quantitative und qualitative Analyse der Ausbildungschancen von Schülerinnen und Schülern aus Förderschulen „Lernen“. Beltz Juventa.
BMAS (2021). Dritter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen: Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS).
Jochmaring, J. & York, J. (2023). Inclusion Opportunities of Work 4.0? Employment Realities of People with Disabilities in Germany. Scandinavian Journal of Disability Research 25(1), pp. 29–44. https://doi.org/10.16993/sjdr.896
Schreiner, M. (2019). Inklusiver Arbeitsmarkt? – Eine Bilanz 10 Jahre nach Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention. Gemeinsam Leben 27(3), 161-168.
Schreiner, M. (2023): Die Werkstatt aus Sicht der Beschäftigten. In V. Schachler, W. Schlummer, R. Weber (Hrsg.): Zukunft der Werkstätten. Perspektiven für und von Menschen mit Behinderung zwischen Teilhabe-Auftrag und Mindestlohn (S. 113-121). Verlag Julius Klinkhardt; Lebenshilfe Verlag der Bundesvereinigung 2023.
Statistisches Bundesamt (2024). Schwerbehinderte Menschen in Deutschland nach Geschlecht und Altersgruppen. Abgerufen am 06.10.2024 von https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Behinderte-Menschen/Tabellen/schwerbehinderte-alter-geschlecht-quote.html
United Nations (2006). United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities. https://www.un.org/disabilities/documents/convention/convention_accessible_pdf.pdf
York, J. & Jochmaring, J. (2024). Inclusion-Light or Innovation of Inclusion: Modes of Innovation and Exnovation for the German Vocational Rehabilitation and Participation System. Frontiers in Rehabilitation Sciences (5). https://www.doi.org/10.3389/fresc.2024.1436003


Kontakt

Prof. Dr. Mario Schreiner, Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, Fakultät für Sozialwissenschaften, Postfach 65 01 34, 66140 Saarbrücken
E-Mail: mario.schreiner@htwsaar.de

Jun.-Prof. Dr. Liane Bächler, Universität zu Köln, Humanwissenschaftliche Fakultät, Department Heilpädagogik & Rehabilitation, Habsburger Ring 1, 50674 Köln
E-Mail: liane.baechler@uni-koeln.de

Dr. Jan Jochmaring, Universität Bremen, Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften, Inklusive Pädagogik, Universitäts-Boulevard 11/13; 28359 Bremen
E-Mail: jan.jochmaring@uni-bremen.de


Weitere Angaben zu den Herausgeber*innen


Prof. Dr. Mario Schreiner ist Professor für Soziale Arbeit und Inklusion. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten gehören: Behinderung, Teilhabe, Anerkennung.

Jun.-Prof. Dr. Liane Bächler ist seit 2021 Juniorprofessorin für den Arbeitsbereich „Assistive Technologien in inklusiven Kontexten“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Assistive Technologien für Menschen mit Beeinträchtigungen zur Verwirklichung der sozialen Teilhabe.

Dr. Jan Jochmaring arbeitet aktuell als Lektor in der Lehreinheit Inklusive Pädagogik. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Teilhabe am Arbeitsleben von Menschen mit Behinderungen, Transitions- und Ungleichheitsforschung sowie Soziologie der Behinderung.

Veröffentlicht: 26.11.2024
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