Aktuelle Ausgabe

1-2024

Liebe Leser*innen von Inklusion-Online,

(… diese Anrede ist für den bayerischen Sprachraum nicht autorisiert - wir bitten Interessierte aus Bayern um Nachsicht und Verständnis …). Unabhängig davon freuen wir uns, Ihnen die erste Ausgabe der Zeitschrift für Inklusion des Jahres 2024 präsentieren zu können.

Digitalisierung birgt Chancen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung, aber auch neue Risiken gesellschaftlicher Exklusion. Um Potenziale für den Gebrauch durch alle Menschen nutzen zu können, sind Menschen mit ihren unterschiedlichen Bedarfen auch an den technischen Entwicklungsprozessen selbst zu beteiligen. Stefanie Klein und Isabel Zorn berichten über Möglichkeiten einer inklusiven digitalen Technologieentwicklung in Zusammenarbeit mit Menschen mit Lernschwierigkeiten. Es geht um Herausforderungen, Methoden und Gelingensbedingungen für partizipative Technologieentwicklung unter Beteiligung von Menschen mit Beeinträchtigungen oder Lernschwierigkeiten. Die Erfahrungen zeigen, dass es kein einheitliches Vorgehen zur Beteiligung der Nutzer*innen gibt und partizipative Verfahren nicht immer zufriedenstellend gestaltet sind. Es wird ein deutlicher Bedarf festgestellt, Methoden der Partizipation zur Entwicklung von Technologieprodukten, die für alle Menschen nutzbar sind, zu entwickeln und auszuarbeiten.

Ausgehend von der Beobachtung von Diversität als Alltagsphänomen betrachtet Karin Cudak Partizipationsprozesse in der inklusionspädagogischen Praxis. Die gesellschaftlichen Debatten um die Anerkennung des Anspruchs von Menschen mit Behinderung auf uneingeschränkte Teilhabe, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung fanden inzwischen auch Widerhall in der Politik. Inwiefern die rechtliche Situation für Menschen mit Behinderung, etwa durch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung und die aus den dort formulierten Ansprüchen resultierenden gesetzlichen Veränderungen, auch in den Bildungssystemen, auch zu Impulsen für eine alltägliche, institutionelle und soziale Diversitätsorientierung beigetragen haben mag, analysiert der vorliegende Beitrag. Er zielt dabei auf die Implikationen für eine veränderte pädagogische Praxis, die sich als menschenrechtsorientierte Inklusionspädagogik versteht und im Grunde längst überfällig ist. Der Beitrag schließt eine Zusammenfassung in einfacher Sprache ein.

Was Schüler*innen selbst zur inklusiven Unterrichtsentwicklung beitragen können, fragen sich Raphael Zahnd und Franziska Oberholzer. Bisher wurde eher untersucht, vor welchen Herausforderungen sich Lehrkräfte bei der Gestaltung inklusionsorientierten Unterrichts gestellt sehen, nicht nur in praktischer, sondern auch in fachlicher Hinsicht. Der vorliegende Beitrag begreift die Schüler*innen in inklusionsorientierten Settings selbst als Expert*innen. „Das Material stammt aus einem partizipativen Unterrichtsentwicklungsprojekt und zeigt auf, dass Schüler*innen die Entwicklung und Konzeptionierung inklusiven Unterrichts aktiv mitgestalten können. Sie analysieren dabei Problemstellungen aus ihrer persönlichen Perspektive und liefern gehaltvolle Ideen zur Unterrichtsentwicklung.“ Hierzu zählen dann auch eigenständige reflektierte und theoretisch informierte Vorschläge zur gelingenden Gestaltung inklusionsorientierten Unterrichts. Der Beitrag enthält ebenfalls eine Zusammenfassung in einfacher Sprache.

Eine Reihe von Beiträgen befasst sich mit der Veränderung von Schulen angesichts zunehmender Heterogenität der Schülerschaft. Simone Plöger und Christine Schmalenbach thematisieren aus einer inklusionsorientierten Perspektive die Bedingungen sozialer Teilhabe von zugewanderten Schüler:innen im Übergang von Vorbereitungsklassen in Regelklassen am Beispiel einer Hamburger Stadtteilschule. Soziale Teilhabe wird als Voraussetzung von Bildungsteilhabe theoretisch unter dem Konzept der Basic Psychological Needs gefasst. Basierend auf der explorativen Analyse von ethnographischen Protokollen und qualitativen Interviews werden die von unterschiedlichen Akteur:innen wahrgenommenen Herausforderungen bezüglich der sozialen Teilhabe diskutiert und in einem Ausblick gefragt, wie diesen begegnet werden kann.

Lena Külker und Cornelia Gresch befassen sich unter den Gesichtspunkten der Barrierefreiheit, der Praxis von Schulbegleitungen und der Gewährung von Nachteilsausgleichen mit inklusionsorientiert arbeitenden Schulen der Sekundarstufe I. Diese im Sinne der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung zu verfolgenden Anforderungen sind bisher in inklusiven Settings kaum systematisch untersucht. Gleichfalls ist ungeklärt, inwiefern die Umsetzung an Einzelschulen mit dem Aufkommen an Schüler*innen mit sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfen und der Erfahrung der Schule mit inklusiver Bildung zusammenhängt. Der Beitrag fußt auf einer Analyse der Daten der bundesweiten Studie „Inklusion in der Sekundarstufe I in Deutschland“ (N=269) zum Stand der angemessenen Vorkehrungen, die inzwischen getroffen sind. Die Autorinnen kommen zu dem Ergebnis, dass sich Schulen allgemein und auch in Abhängigkeit vom Anteil an Schüler*innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf sowie der Erfahrung der Schule mit inklusiver Bildung unterscheiden, wobei der Gestaltungsspielraum von Schulen bei der Umsetzung angemessener Vorkehrungen nicht zu überschätzen ist.

Doing difference findet bereits von Anfang an im auch inklusiven Sprachunterricht statt. Anhand des Englischunterrichts in der Grundschule stellt Svenja Johannsen praxistheoretische Überlegungen zur Differenzkonstruktion angesichts der zunehmend digitalisierten und vernetzten Welt an. Dabei sollen Möglichkeitsräume ausgelotet werden, die ein Englischunterricht in der Grundschule für diversitätssensible Differenzierungen bieten könnte. Dies erfolgt im Rahmen einer qualitativ-rekonstruktiven Studie und mithilfe einer praxistheoretischen Betrachtungsfolie. Die untersuchte Unterrichtssequenz repräsentiert nur einen beispielhaften Ausschnitt schulischer Wirklichkeit, gleichwohl werden Spannungsfelder, Ambivalenzen und Antinomien deutlich, die das unterrichtliche Geschehen und das Handeln der beteiligten Akteure durchziehen. Allerdings zeigt sich auch bereits hier, wie sich Differenzen im Unterricht herstellen und reproduzieren. Diese Prozesse und Mechanismen zu reflektieren, ist unerlässliche Voraussetzung, um als Lehrkraft Unterricht inklusionssensibel erfolgreich zu gestalten.

Der Beitrag von Miklas Schulz versteht sich als eine kritische Analyse der Konstruktion von Blindheit in der ARD-Fernsehserie „Wir sind Anwalt“. Aus einer inklusionstheoretischen Sicht ist interessant, wie in dieser Serie Teilhabe am Arbeitsleben und Arbeitsassistenz der blinden Rechtsanwältin und ihrer Assistentin dargestellt und dabei ein spezifisches Bild von Blindheit entworfen wird. Der Autor vertritt die These, „dass die im Behinderungsdispositiv prozessierten Wissensordnungen helfen, die Darstellung in der Serie mit ableistischen Subjektentwürfen zu verknüpfen“. Zwar lassen sich vereinzelt Aspekte mit Informationscharakter über die Erfahrungswelten von blinden Menschen ausmachen. Insgesamt ist jedoch die Reproduktion eines medizinisch-defizitären Verständnis von Blindheit erkennbar und die Konfrontation sowie der Umgang mit Stigmatisierungs- und Benachteiligungs- bzw. Diskriminierungserfahrungen wird überwiegend als individualisierte Thematik präsentiert. Die Darstellung einer gewissen Normalisierung der Integration einer blinden weiblichen Anwältin geht einher mit einer Reinszenierung essentialistischer Abweichung, in der sich die ableistischen Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit unhinterfragt spiegeln.

„Was ist so besonders an der brasilianischen Sonderpädagogik?“ fragt Márcia Denise Pletsch vor dem Hintergrund der staatlichen Rahmenbedingungen und Maßnahmen zur inklusiven Bildung. Dafür werden Daten von Studien genutzt, die von der Beobachtungsstelle für Sonderpädagogik und Inklusive Bildung in unterschiedlichen Bildungseinrichtungen im Laufe der letzten zehn Jahre durchgeführt wurden. Teilweise wird gefordert, die sonderpädagogische Forschung auf Inklusion und Menschenrechte zu fokussieren. Allerdings ist die gesellschaftliche Auseinandersetzung um ein inklusives Recht auf Bildung, um soziale Gerechtigkeit und die Teilhabe von Menschen mit Behinderung an allen Lebensbereichen noch im Gange. Der internationale Stand der Inklusionsforschung wird in Brasilien ansatzweise zur Kenntnis genommen, etwa was die Voraussetzungen und Effekte eines gelingenden gemeinsamen Unterrichts anbelangt. Dabei geht es laut Márcia Denise Pletsch nicht nur darum, „die menschliche Vielfalt wahrzunehmen, sondern auch darum zu verstehen, wie soziale Ungleichheiten die Erfahrung und die Entwicklungsmöglichkeiten behinderter Menschen prägen.“

Einen weiteren Blick über unseren nationalen Tellerrand hinaus wirft Johanne Henniges. Der Beitrag vergleicht unterschiedliche professionelle Assistenzmodelle zur Teilhabe in Deutschland, Finnland und Großbritannien. Dabei wird die schon innerhalb der Bundesrepublik zu beobachtende erhebliche Varianz in den Bezeichnungen, aber auch den praktischen Aufgabenspektren und Rollenverständnissen des Berufsfeldes deutlich. Nicht zuletzt, da das Einsatzgebiet von Schulbegleitungen in Deutschland sowohl Regel- als auch Förderschulen umfasst, ist deren Beitrag zu einem inklusionsorientierten Schulbildungssystem zumindest differenziert zu beurteilen. Der Beitrag stellt die Problemlagen von deutschen Teilhabe-Assistierenden vor und entwickelt daraus Qualitätskriterien für das Berufsfeld. Vor dem theoretischen Hintergrund einer Vergleichenden Erziehungswissenschaft wird das Berufsfeld finnischer und britischer Teaching Assistants gegenübergestellt und diese Perspektiven als Potenziale für die Weiterentwicklung der hiesigen Qualitätskriterien hin untersucht.

Dieter Nittel und Stefan Klusemann ergänzen die Ausgabe mit einer erziehungswissenschaftlichen Notiz zu Rudolf Stichwehs und Niklas Luhmanns soziologischen Inklusionsbegriffen. Der Beitrag plädiert für einen erziehungswissenschaftlichen Umgang mit der Kategorie „Inklusion“, der eine kritische Auseinandersetzung mit den grundlagentheoretischen Vorgaben aus der Soziologie nicht scheut und die Impulse aus dieser Bezugsdisziplin nicht ignoriert. Es wird die Frage nach der Komplementärrolle im Erziehungssystem aufgeworfen, die mit den Angehörigen der pädagogischen Fachkräfte das Arbeitsbündnis bildet. Dabei schlagen die Autoren vor, alle Beteiligungsformen an organisierter Erziehung und Bildung mittels des Konzepts des „pädagogischen Anderen“ zu bündeln. Die Autoren resümieren den Erkenntnisgewinn, der aus ihrer Sicht mit der Bündelung der Adressat*innen im Erziehungs- und Bildungssystem in der Kategorie des pädagogischen Anderen verknüpft ist. Damit „kompensieren wir die Leerstelle in Luhmanns Theorie, der auf die Bestimmung einer Komplementärrolle weitgehend verzichtet. Daneben korrigieren wir die Position von Stichweh, der die Schüler*innen in den Mittelpunkt rückt, obgleich das Erziehungssystem mehr als die Schule umfasst.“

Wir wünschen Ihnen eine anregende und aufregende Lektüre

Prof. Dr. Clemens Dannenbeck, Prof. Dr. Carmen Dorrance, i.A. des Redaktionsteams

Veröffentlicht: 25.04.2024

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