4-2021

Liebe Leser*innen von Inklusion-Online,
die 4. Ausgabe von Inklusion-Online in 2021 besteht aus einer Reihe thematisch nur locker miteinander verbundenen frei eingereichten Beiträgen. Sie umfassen inklusionstheoretische und inklusionspraktische Betrachtungen unterschiedlicher Lebensphasen und institutioneller Bereiche, von der Kita über die (Grund)Schule bis hin zum Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt. Um eine thematische Klammer zwischen den Beiträgen erkennbar werden zu lassen, mag der Gedanke hilfreich sein, dass Integrationserfolge lebensphasenspezifisch und institutionenübergreifend in einer nicht inklusiven Gesellschaft stets mit dem Risiko der Diskontiuität behaftet sind. Aus der Sicht einzelner Biografien führt das (immer noch) zu Brüchen in den Lebensläufen oder zumindest zu barrierebehafteten Erfahrungen, bei denen ein schon erreicht geglaubtes Integrationsniveau stets auf’s Neue auf dem Spiel steht. Diese Beobachtung wiederum verweist auf zwei zentrale und unhintergehbare Qualitätskriterien, an denen sich Inklusionsfortschritte stets zu messen haben: Zum einen ist Inklusion als gesamtgesellschaftliche Herausforderung zu begreifen, die sämtliche Lebensbereiche wie institutionelle Handlungsfelder umfasst und zum anderen wäre Inklusion als kritisches politisches Projekt zu platzieren, das den Anspruch nicht aufgibt, die Wirkmächtigkeit von bestehenden Strukturen und Praxen kritisch auf den Prüfstand zu stellen.

Peter Cloos und Katja Zehbe fragen, welche pädagogischen Wahrnehmungen in inklusionsorientierten Kitas zwischen Doing Inclusion als Anspruch und Doing Difference als (reflektierte) Praxis vorherrschen. Grundlage der Betrachtungen sind empirische dokumentarische Analysen von regulär stattfindenden Elterngesprächen. Die Befunde zeigen, dass pädagogische Fachkräfte auf den zentralen Topos Entwicklung der Kinder fokussieren und dabei einen normfokussierten Blick in Anschlag bringen. „Grenzen werden über Prozesse der (De-)Normalisierung und Fallbe(un)ruhigung bearbeitet. Die somit entworfenen Blicke auf Kinder erlauben, diese einer verteilten professionellen Zuständigkeit zuzuordnen.“ Entdeckt werden konnte eine von professioneller Seite stark abeleistisch gefärbte fähigkeitsorientierte Dominanzperspektive, der gegenüber alternative Entwürfe von Kindern als selbstbildende Akteur*innen ihrer Lebenswelt vergleichsweise zurückstehen.

Julia Lipkina reflektiert über das bisher hierzulande eher randständig wahrgenommene psychologische Konzept des Temperaments und seine Bedeutung als schulisch relevante Heterogenitätsdimension. Bestimmte Temperamentsmerkmale führen demnach einmal zu Integrationsbarrieren und Inklusionsdefiziten bei Schüler*innen in schulischen Kontexten und zum anderen wird davon ausgegangen, dass Temperamentskonzepte auch einen hilfreichen Beitrag liefern können für eine heterogenitäts- und diversitätssensiblen Praxis im schulischen Alltag unter inklusionsorientierten Vorzeichen. „Während es bislang um die Identifikation von Einflussfaktoren auf Lernleistungen mithilfe von quantitativen Verfahren oder die Rekonstruktion von Differenzpraktiken in ethnografischen Studien ging, kann Heterogenität damit im Rahmen einer bildungstheoretischen Biografieforschung erforscht werden, deren Anliegen es ist, Bedingungen und Möglichkeiten von Bildungsprozessen von Subjekten zu erfassen.“

Auch Anne Reh und Yannik Wilke haben im Prinzip pädagogische Unterrichtssituationen im Blick, die einen inklusionsorientierten Anspruch erheben. Es geht ihnen um funktionelle Regelverstöße im Zuge der (multi)professionellen Kooperation. In diesem Zusammenhang sprechen die Autor*innen von einem Regressions-Innovations-Dilemma. Kooperationsprobleme sind keineswegs nur auf organisationale Schulstrukturen zurückzuführen, sondern auch auf divergierende Fachkonzepte und Inklusionsverständnisse der handelnden Akteure. „Aus den vorliegenden Interviews konnten mittels der Dokumentarischen Methode unterschiedliche Praktiken der Abgrenzung zu Fachkolleg*innen wie Handlungspraktiken der Umgehung hinderlicher Organisationsstrukturen rekonstruiert werden, die in Kombination eine Kooperation - unabhängig von äußeren Rahmenbedingungen - verhindern oder befördern.“ Der Beitrag mündet in die Formulierung von Vorschlägen zur professionellen Reflexion innerhalb der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften, die förderlich sein sollen für eine inklusionsorientierte Zusammenarbeit und Kooperation.

Traugott Böttinger führt die reflexive Betrachtung von inklusionsorientiertem schulischem Handeln fort. Sie liefert einen auf das deutsche Schulsystem bezogenen Forschungsüberblick zu den Einflussfaktoren Schulleistung, Verhalten und Etikettierung, welche zu sozialer Ausgrenzung in inklusionsorientiert geführten Grundschulklassen führen. Auf der Basis von 35 analysierten Studien wird der Frage nachgegangen, ob für den Primarbereich Einflussfaktoren herausgearbeitet werden können, die mit der vermehrten sozialen Ausgrenzung von Schülerinnen und Schülern mit SFB zusammenhängen.

Michael Schwager geht es um den aus inklusionstheoretischer Sicht meist krisenhaften Übergang von Schüler*innen, die in ihrer allgemeinpädagogischen Schulzeit sonderpädagogische Unterstützung erfuhren, in die berufliche Bildung. Der Prozess des Übergangs ist in der Regel mit dem Abbruch der integrationsorientierten (sonder)pädagogischen Bemühungen verbunden, was häufig zu einer prekären Situation führt. Gerade für diese Klientel wird die Schwelle der beruflichen Integration zur Belastungsprobe und zu einer Integrationsbarriere.  Resultat dieser Problematik ist in diesen Fällen der Um- oder Abweg in ein Übergangssystem als im besten Fall retardierende Einstiegsoption in die Arbeitswelt. Der Beitrag stellt sich die Frage, wie der Wechsel in die Berufsausbildung im Sinne eines Übergangsmanagements prozesshaft gestaltet und begleitet werden könnte. Hierfür wird zunächst die Abschlussproblematik sonderpädagogisch unterstützter Schüler*nnen genauer betrachtet, ehe Übergangskonzepte kritisch diskutiert werden.

Auch Sven Bärmig verfolgt in seinem Beitrag eine berufs- und arbeitsweltbezogene Thematik. Problematisiert werden die gesellschaftstheoretischen Implikationen eines sich als inklusiv verstehen wollenden Arbeitsmarkts. Die Verwirklichung dieses utopischen Entwurfs hat dem Autor zufolge zur Voraussetzung, das lohnarbeitszentrierte Verständnis von Arbeit als hegemonial Durchgesetztes in Frage zu stellen. „Um diese These zu begründen ist es notwendig sich Gedanken darüber zu machen, was 1) der Begriff der Arbeit meint, 2) was Kapitalismus und Arbeit miteinander zu tun haben, weshalb 3) entfremdete Arbeit und 4) abstrakte Arbeit zu unterscheiden sind, 5) welche Aussagen zu aktuellen Arbeitsverhältnissen daraus resultieren und 6) welche Folgen dies für Bildung und Schule hat.“

Eine anregende und interessante Lektüre  - sowie ein gesundes kommendes Jahr - wünschen
für das Redaktionsteam

Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck

Veröffentlicht: 31.12.2021