2-2021

Liebe Leser:innen,
wir freuen uns, Ihnen die 2. Ausgabe der Online-Zeitschrift für Inklusion vorzustellen. In diesem Themenheft, das mit "Inklusion und Fachunterricht" überschrieben ist, werden Herausforderungen von fachlicher und sozialer Teilhabe im Fachunterricht aus einer schul-, sonderpädagogischen und fachwissenschaftlichen Perspektive reflektiert. Damit wird der Notwendigkeit nachgegangen, Unterricht mit Blick auf die fachlichen Vermittlungs- und Aneignungsprozesse und damit auch im Hinblick auf die Dimension der Fachlichkeit zu reflektieren (vgl. Klieme 2006). Fachlichkeit setzen wir dabei, einer bildungshistorischen Systematisierung von Reh (2018) folgend, nicht mit Inhalten und Konzepten universitärer Disziplinen gleich, sondern verstehen diese als im Prozess der Verfächerung – die u.a. die Herausbildung des Schulfaches zur Folge hatte – herausgebildeten Wissensbestände und Praktiken der Wissensaneignung und Wissensvermittlung (vgl. Reh 2018). Aus einer praxeologischen Perspektive lässt sich Fachlichkeit dann als „ein bestimmter Modus der Organisation eines Wissens und des Umgangs mit ihm, eine bestimmte ‚Wissenspraxis‘, die im Sortieren, Ordnen, Vereinheitlichen und Verknüpfen von Wissen in Wissensbeständen und in Abgrenzung gegenüber anderen besteht" (Reh 2018, S. 66) verstehen. Diese Wissensbestände und Praktiken der Wissensaneignung und Wissensvermittlung werden in der Praxis von Unterrichtsfächern realisiert, womit der empirischen Analyse der Praktiken und Strukturen des Fachunterrichts eine besondere Aufmerksamkeit zuteil wird. Um diesen praxeologischen Analysefokus auf die Fachlichkeit des Unterrichts für den Inklusionsdiskurs fruchtbar zu machen, versammeln wir in diesem Themenheft zum einen empirische Beiträge, die über qualitativ-rekonstruktive Analyseperspektiven den Blick auf Didaktik, Differenz und Teilhabe im Fachunterricht schärfen und hier die Konstituierung fachlichen Wissens und Könnens in der Praxis des Unterrichts verorten. Zum anderen rahmen zwei Diskussionsbeiträge die hier vorgestellten praxeologischen Studien und deren Erkenntnisgewinn für den Inklusionsdiskurs aus einer schul- und behindertenpädagogischen Perspektive.
Empirische Studien zur Praxis des Fachunterrichts
David Jahr befasst sich in seinem Beitrag mit der komplexen und widersprüchlichen Relation von Inklusion und Exklusion. Entlang einer dokumentarischen Interpretation eines Rollenspiels in einem formal inklusiven Politikunterricht eines 9. Jahrgangs legt er dar, wie zwei Schülerinnen mit zugeschriebenem sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung negativ positioniert werden. Mit dem methodologischen Bezug auf die praxeologische Wissenssoziologie werden Machtstrukturen als Kennzeichen dieses Unterrichtsmilieus identifiziert. Die widersprüchlichen Bemühungen um Teilhabe werden als Bedingungen einer übergeordneten Exklusions-Struktur von Unterrichtsmilieus verstanden.
Anja Hackbarth und Anja Müller entfalten eine praxeologische Argumentation für eine empiriebasierte Didaktik des inklusiven Deutschunterrichts. Dabei fokussieren sie auf die habitualisierten Strukturen und Praktiken fachlicher Vermittlungs- und Aneignungsprozesse in heterogenen Lerngruppen. Wie dieser Analysefokus für die empiriebasierte Konzeptionierung einer inklusionsorientierten Deutschdidaktik genutzt werden kann, konkretisieren sie entlang eines Forschungsprojektes und der exemplarischen Analyse einer Aufgabenbearbeitung in einem formal inklusiven Grammatikunterricht. Für die Fachdidaktik relevante Ansatzpunkte sind u.a. das implizite fachliche Wissen und Können, das für die Bearbeitung der Aufgaben vorausgesetzt wird, und das arbeitsteilige Vorgehen, was in der Praxis des Unterrichts weder kooperativ noch fachlich diskursiv ist.  
Benjamin Wagener, Tanja Sturm, Larissa Fühner, Susanne Heinicke und Thorid Rabe stellen in ihrem Beitrag empirische Ergebnisse vor, die im Rahmen eines interdisziplinär angelegten Projekts zum inklusiven Physikunterricht erzielt wurden. Sie gehen in diesem Beitrag der Frage nach, wie im Naturwissenschaftsunterricht Differenzen konstruiert werden und wie dadurch die Ermöglichung bzw. die Behinderung von Teilhabe erzeugt wird. Die Autor:innen verwenden die dokumentarische Methode zur Interpretation einer videografierten Gruppenarbeit anhand derer sie hierarchisierende Differenzkonstruktionen in Bezug auf fachliches Können und Eigenverantwortlichkeit rekonstruieren. Gleichzeitig reflektiert der Beitrag das Potenzial interdisziplinärer Zusammenarbeit für die rekonstruktive Unterrichtsforschung.
Johannes Ludwig geht in seinem Beitrag der Frage nach, wie fachliche Passung in individualisiertem Deutschunterricht unter Bedingung differenter Lernvoraussetzungen von Schüler:innen hergestellt wird. Nach einem kurzen Überblick über wesentliche empirische Erkenntnisse zum individualisierten Fachunterricht stellt der Autor die dokumentarische Interpretation von zwei Fallbeispielen aus seiner Dissertationsstudie vor. Das Ergebnis dieser Interpretation zeigt, dass multimodale Kommunikationsstrukturen sowie die Funktionalisierung von Unterrichtsmaterial im Kontext eines individualisierenden Unterrichts ein Potenzial für fachliche Lernprozesse darstellen.
Sascha Zielinski setzt sich in seinem Beitrag mit der Bedeutung des erweiterten Textbegriffs auseinander. Dabei nimmt er Bezug auf sonderpädagogische sowie fachdidaktische Konzepte, die die Hürden des Umgangs mit Schrift modellieren, und reflektiert die Anforderungen, die das Texteverfassen an die Schüler:innen stellt. Unter Verwendung eines empirischen Beispiels aus seiner ethnografischen Dissertationsstudie arbeitet er Gemeinsamkeiten und Unterschiede des erweiterten Textbegriffs sowie des Diktierens heraus.
Diskussionsbeiträge
Mit dem theoretischen Beitrag von Georg Feuser wird eine der für den aktuellen Diskurs um eine inklusive (Fach)Didaktik sehr etablierte und in der Geschichte der Integrationspädagogik fest verankerte Theoriefigur der entwicklungsniveaubezogenen biografischen Individualisierung und der Kooperation am gemeinsamen Gegenstand re-aktualisiert und angesichts der hier dargelegten empirischen Studien neu akzentuiert. Georg Feuser setzt sich dabei mit der Frage nach dem Verhältnis von Fachunterricht und Inklusion sowie dem Rahmen dieser Studien, die eine Praxis von Fachunterricht erforschen, die in einer »selektierenden Inklusion« generiert wird, kritisch auseinander. Im Anschluss an seine theoretischen Überlegungen zur entwicklungslogischen Didaktik mit einer entwicklungsniveaubezogenen inneren Differenzierung wird – als Gegenposition zum Fachunterricht – ein Plädoyer für den Projektunterricht entfaltet.
Matthias Martens nimmt mit seinem Diskussionsbeitrag eine kritische Rahmung des mit diesem Themenheft anvisierten empirischen Fokus vor. Dabei bezieht er sich u.a. auf Erkenntnisse aus der schulpädagogischen Differenzforschung, die die selektierenden und exkludierenden Bedingungen von Schule und Unterricht in den Fokus der Aufmerksamkeit rückten. Die sich für empirische Studien daraus ergebende Herausforderung ist dann, das Verhältnis von habitualisierten Strukturen und den pädagogisch-didaktischen Programmatiken (der Inklusion) systematisch in den Blick zu nehmen. Mit Bezugnahme auf die Methodologie der dokumentarischen Methode formuliert Matthias Martens dann zum anderen Konsequenzen, die sich für praxeologische Studien im Feld der Inklusion / Exklusion ergeben. Dabei arbeitet er insbesondere das Potenzial des Forschungszuganges für die Erforschung von Fachlichkeit heraus.

Eine anregende Lektüre wünschen Ihnen
Anja Hackbarth, Johannes Ludwig und Anja Müller

Literaturverzeichnis
Klieme, E. (2006). Empirische Unterrichtsforschung: aktuelle Entwicklungen, theoretische Grundlagen und fachspezifische Befunde. Einführung in den Thementeil. Zeitschrift für Pädagogik, 52(6), 765-773.
Reh, S. (2018). Fachlichkeit, Thematisierungszwang, Interaktionsrituale. Plädoyer für ein neues Verständnis des Themas von Didaktik und Unterrichtsforschung. Zeitschrift für Pädagogik, 64(1), 61 -70. 

Veröffentlicht: 09.09.2021