Abstract: Der Beitrag stellt ein Reflexionsgespräch innerhalb der partizipativen Interpretationsgruppe Dis*ability und Gender in autobiographischen Texten im Kontext der Behindertenrechtsbewegung der 1970er und 1980er Jahre, die seit 2019 in Hannover tätig ist, vor. Dabei steht die Reflexion der von Mandy Hauser (2016, 2020) entwickelten Qualitätskriterien für partizipative Forschung im Vordergrund des hier dargestellten Gesprächs. Um einen Einblick in Struktur und Arbeitsweise der Interpretationsgruppe zu gewähren, werden zunächst unser Grundverständnis partizipativer Forschung sowie die genutzte Methode Close und Wide Reading erläutert, bevor das Reflexionsgespräch beschrieben wird. Der Beitrag schließt mit zusammenführenden Überlegungen hinsichtlich forschungsreflexiver Prozesse in partizipativen Forschungsgruppen.
Stichworte: Partizipative Forschung, Reflexivität, Methodenreflexion, Qualitätskriterien
Inhaltsverzeichnis
Im vorliegenden Beitrag wird der Prozess der partizipativen Gruppeninterpretationen literarischer Texte reflektiert, die orientiert an der Methode des Close und Wide Reading (Geertz 1987; Hallet 2010; Kreuznacht 2021) von 2019 bis 2022 in Hannover stattgefunden haben. Diese Reflexion wurde im April 2023 als Gruppengespräch durchgeführt und orientiert sich an den Qualitätskriterien für inklusive Forschung, die Mandy Hauser (2016; 2020) entwickelt hat. Die Bezeichnung ‚inklusive Forschung‘ wurde zunächst 2001 von Jan Walsmley geprägt, um sowohl partizipative Forschung, die sich als gemeinsame Forschung von akademisch und nichtakademisch Forschenden (oft: mit Behinderung) versteht, als auch emanzipatorische Forschung, die von Menschen mit Behinderung geleitet und initiiert wird, unter einem Begriff zu versammeln (Strnadová, Walmsley, Johnson u. Cumming 2016 S. 52) – das hier vorgestellte Projekt arbeitet partizipativ. Das dargestellte Reflexionsgespräch wurde durch auf Grundlage der Qualitätskriterien für inklusive Forschung entwickelte Impulsfragen strukturiert.
Ziel des Beitrags ist es, das Projekt, unser Grundverständnis von partizipativer Forschung sowie die genutzte Methode Close und Wide Reading kurz vorzustellen sowie die Qualitätskriterien zu erläutern, welche die Basis für die Entwicklung von Impulsfragen zur gemeinsamen Forschungsreflexion bildeten. Im vierten und zentralen Abschnitt des Beitrags werden dann Auszüge aus unserem Gruppengespräch perspektiviert, das diesem Beitrag in transkribierter Form als Grundlage dient.[1] Transkribierte Direktzitate der Forschungsgruppenteilnehmer*innen werden an verschiedenen Stellen in den Beitrag integriert, um das gemeinsam entstandene Produkt auch textuell als ein solches wahrnehmbar werden zu lassen. Das Reflexionsgespräch wird nicht methodengestützt ausgewertet, sondern steht bewusst für sich. Die partizipative Methodenreflexion als Teil des partizipativen Forschungsprozesses steht im Vordergrund. Der Beitrag schließt mit subsumierenden Überlegungen im fünften und letzten Abschnitt.
Gegenstand der partizipativen Interpretationssitzungen waren vier autobiographische Romane, die von Autor*innen mit Behinderungserfahrungen verfasst wurden und die – oszillierend zwischen Coming-of-Age- und Bildungsromanen – vor allen Dingen Kindheit, Adoleszenz und (verlängertes) Erwachsenwerden der autobiographischen Erzählinstanzen in Szene setzen. Die vier Texte (Christy Browns Mein linker Fuß (1954), Ursula Egglis Herz im Korsett (1977), Jürgen Hobrechts Du kannst mir nicht in die Augen sehen (1981) sowie Cilly Schwerdts Hunger auf Blüten (1986)) wurden in Auszügen innerhalb der Gruppentreffen rezipiert und dann gemeinsam diskutiert. Im Fokus der Interpretationen, die als Close und Wide Readings (vgl. Kap. 2) durchgeführt wurden, standen in erster Linie die kulturelle Hervorbringung von Dis*ability und Gender, die sich in den Texten offenbart hat.
Teilnehmer*innen der Gruppe waren Lea Brede (2019 bis 2020), Anna-Lena Vetter (2021 bis 2023), Heike Östreich, Andreas Finken und Katrin Kreuznacht (2019 bis 2023). Wir verstehen uns insofern als partizipative Interpretationsgruppe, als dass wir unterschiedliche berufliche Qualifikationen, Altersstrukturen und Anbindungen an die Institution Universität aufweisen und somit nicht alle als im akademischen Kontext Forschende positioniert sind; zudem unterschiedlichste Erfahrungen zum Gegenstand bzw. Thema der Gruppe mitbringen. Während Lea Brede und Anna-Lena Vetter innerhalb der Zeiträume der Gruppeninterpretationen beide Masterstudentinnen der Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover waren, ist Katrin Kreuznacht als wissenschaftliche Mitarbeiterin im selben Fachbereich tätig. Heike Östreich und Andreas Finken haben lange Zeit in sogenannten Werkstätten für behinderte Menschen gearbeitet, die sie beide verlassen haben und befinden sich während des Forschungsprozesses (2019 bis 2023) in Frührente. Heike Östreich ist Gasthörerin an der Leibniz Universität und auf diese Art und Weise mit Katrin Kreuznacht in Kontakt gekommen, auch Andreas Finken hat vor Eintritt in die Forschungsgruppe Zugang zur Institution Universität und arbeitet u.a. in Transferprojekten im Kontext Leichter Sprache.
Andreas Finken und Heike Östreich bezeichnen sich selbst als behindert (vgl. z.B. T., S. 5, 34). Dies soll jedoch nicht als Einfallstor für Essentialismen dienlich sein: Durch ihren selbstbestimmten Weg aus dem Werkstattverhältnis und ihre bereits vor der Forschungsarbeit vorhandene Anbindung an die Universität (und jegliche sonstigen individuellen Charakterzüge und Lebenserfahrungen) können und sollen sie nicht als Stellvertreter*innen der uniform imaginierten Gruppe ‚Menschen mit Behinderung‘ herangezogen werden. ‚Ko-Forschende‘ werden oftmals in entstehende Forschungsvorhaben integriert, weil sie aus verschiedenen (oft privilegierten) Konstellationen heraus bereits Zugang zur Institution Universität erhalten haben (vgl. dazu Spivaks „organische Intellektuelle“, Spivak 2008a, S. 14). Sie repräsentieren also nicht die Gesamtheit ihrer im Diskurs teilweise als identisch verhandelten ‚Gruppe‘.[2]
Im Sinne der Methode, in der Interpretierende ihre Lebenserfahrungen an den Text herantragen, um Deutungen zu generieren (vgl. Abschnitt 2), halten wir es für erkenntnistheoretisch sinnvoll, Forschende mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen miteinander in den Austausch zu bringen und gemeinsam Deutungen und Lesarten zu entfalten. „Man hat ganz viele Ansichten zu dem einen Thema und tausend Antworten und muss dann gucken, dass man eine vielleicht findet“ (Heike Östreich, T., S. 3). Diese unterschiedlichen Lesarten gegeneinander zu lesen und zu diskutieren, wird der Mehrdeutigkeit des Gegenstands Literatur sowie der Kontingenz der verhandelten Konzepte Gender und Dis*ability gerecht. Auch die unterschiedlichen Lebensgeschichten und Erfahrungen der Forschenden finden in der gemeinsamen Textinterpretation ihren Ausdruck, was in der Gruppenreflexion des gemeinsamen Forschungsprozesses aufgegriffen wird:
Anna: Mhm, also ich hab‘ ja auch meine Perspektive geäußert, aber trotzdem hab ich halt an manchen Stellen gemerkt, dass ich dann manches, grade so emotional, nicht so nachvollziehen kann, was in den Texten beschrieben wird, und da wars für mich dann schon spannender, euch zuzuhören, was ihr dazu dann sagt. (T., S. 5)
Wir streben eine standpunktreflexive, kollaborative Forschungsarbeit an. Zudem fokussieren wir (auch interdependent zu den in den autobiographischen Romanen verhandelten Inhalten) die politische Dimension partizipativer Forschung: Partizipative Forschungsansätze kritisieren klassische Forschungsansätze dahingehend, dass diese herrschaftsstabilisierend und (re-)produzierend wirken: Im Verhältnis von Forscher*innen und Beforschten liegt strukturell ein Subjekt-Objekt-Verhältnis vor, im Kontext der Partizipation marginalisierter Personen und Gruppen (von Unger 2016, S. 56) zeichnen sich beispielsweise zwischen nichtbehinderten Forscher*innen und behinderten Beforschten strukturell Momente des Otherings ab:
Indem sie Menschen mit Behinderung beforschen (und zwar unabhängig von ihrer Intention), erhalten nichtbehinderte Forschende ihre soziale Position im Zentrum, im abgrenzenden Verweis auf Menschen mit Behinderung bringen sie sich selbst als Forscher*innen hervor (Kreuznacht 2021, S. 34).
Ob partizipative Forschung dieses Verhältnis überwindet, bleibt in Frage zu stellen – zumindest eröffnet sie aber durch das Aufbrechen tradierter Strukturen neue Diskussions- und Denkräume. Menschen mit Behinderung werden vom Studienobjekt zum Forschungssubjekt – im besten Fall geschieht das, ohne Widersprüche und Unterschiede zu verschleiern. An dieser Stelle kann der Kritik der Ontologisierung durchaus eine Form des strategischen Essentialismus (Spivak 2008b, S. 67) entgegengestellt werden, die dafür sorgt, dass Menschen mit Behinderung zu Wort kommen und gehört werden. Heike Östreich formuliert das beispielsweise so:
Weil ich der Meinung bin, wenn man sieht, dass es Behinderte gibt, die nicht nur in der Ecke sitzen, sondern aktiv am Leben teilnehmen, geht bei vielen Leuten im Kopf wie ‘ne Blase auf (T., S. 2).
Es scheint ihr dabei also auch um eine Form der strategisch erwirkten Außenwahrnehmung zu gehen, die ihr als partizipativ Forschende Sichtbarkeit verschafft und das vorherrschende Bild über Behinderung zu verändern versucht.
Partizipative Forschung verstehen wir so als den Einbezug von Menschen mit Behinderungserfahrung in den Forschungsprozess sowie
das Schaffen von Rahmenbedingungen, die einen Weg zu einer strukturellen Veränderung der sozialen Beziehungen rund um Forschung von, mit und über Menschen mit Nicht/Behinderung zu eröffnen suchen (Kreuznacht 2021, S. 33),
bei gleichzeitiger Annahme der Widersprüche, die partizipative Forschungssettings in sich tragen.
Die (Interpretations-)Methode des Close und Wide Reading intendiert „das Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen“ (Geertz 2019 [1987], S. 15) in kulturellen Texten, die literarisch verfasst sein können, aber nicht müssen. Clifford Geertz, auf dessen ethnologische Arbeiten die Methode zurückführt, hat keine systematische Programmatik angefertigt, nach deren Ablauf die Analyse zu funktionieren hat, sondern beschreibt den Prozess vielmehr wie folgt:
So springen wir ständig von einer Seite auf die andere, betrachten das Ganze aus der Perspektive seiner Teile, die ihm zu Lebendigkeit und Nähe verhelfen, und die Teile aus der Perspektive des Ganzen, aus dem sie verständlich werden (Geertz 2019 [1987], S. 307).
Die Methode wird folglich recht assoziativ angewendet und folgt den Deutungsbewegungen der Interpretierenden. Aus diesem Grund eignet sie sich gut für in ihren Wissensbeständen und fachwissenschaftlichen Expertisen heterogene partizipative Forschungsgruppen. Die Adjektive close und wide bezeichnen auf der einen Seite das exakte Analysieren und Nachzeichnen der ästhetischen Strukturgebungen literarischer Texte und ihrer Inhalte ( Hallet 2010, S. 293), auf der anderen Seite verweisen sie auf das Herausarbeiten kultureller Bedeutungslagen, die sich – so die Annahme von Geertz – in jedem kulturellen Text wiederfinden lassen. Insofern zeigt sich die Methode passend zu unserem Verständnis von Dis*ability und Gender, die wir als kulturell hervorgebracht begreifen ( z.B. Waldschmidt 2005, S. 9f.). Die autobiographischen Texte, die wir partizipativ interpretiert haben, spiegeln
die vielfältigen individuellen und kollektiven Texte und Stimmen, Bilder und Denkweisen, Vorstellungen und kulturelle Referenzen, die in [sie, KK] Eingang gefunden haben und Bestandteil des Textes selbst sind oder auf die der Text antwortet (Hallet 2010, S. 294).
Close und Wide Reading ist so, kompakt gesprochen, „die Interpretation eines Textes, die sich auf den Text selbst bezieht, diesen aber als Teil eines Diskurses versteht“ (Kreuznacht 2021, S. 35). Dabei folgt die Anwendung der Methode keinem klaren Ablauf mit ‚Rezeptcharakter‘, sondern nutzt das offen-assoziative Interpretieren konzeptuell. Ziel der Interpretationsarbeit in unserem Projekt ist es, zu verstehen, wie Behinderung, Gender und (Leistungs-)Fähigkeit in den autobiographischen Texten inszeniert werden und wie sie miteinander in Verbindung stehen. In seiner Umsetzungs- und Ergebnisoffenheit deuten wir das Close und Wide Reading als eine solche interaktive und kreative Methode, wie sie beispielsweise Hella von Unger als geeignet für die partizipative Forschung perspektiviert ( von Unger 2016, S. 59). Bis dato sind keine Projekte bekannt, die die Methode partizipativ nutzen – das hier vorgestellte Projekt versteht sich somit als explorativ und dadurch sicherlich auch ein Stück weit als fehleranfällig.
Für Heike Östreich steht das Assoziative der Methode im Vordergrund: Sie beschreibt sich selbst in der Rolle der Interpretierenden als Typ „ich frage nicht, willst du mit mir reden, ich klatsche einfach raus (lacht)“ (T., S. 6). Zentral für die Methode im Kontext unserer Forschungsgruppe scheint aber insbesondere, dass der Text „bei jedem eine andere Wirkung hat. Und das ist (unverständlich) ordentlich diskutiert worden“ (Heike Östreich, T., S. 2).
Die Impulsfragen, die unser forschungsreflexives Gespräch strukturiert haben, wurden an den von Hauser entwickelten Qualitätskriterien orientiert entwickelt. Diese (sowie unsere Impulsfragen) sollen im Folgenden vorgestellt werden. Unser Vorgehen kann so als institutionalisiert-strukturiertes Reflektieren bezeichnet werden ( Wihofszky et al. 2020, S. 76f.). Unsere Schwerpunkte, Hausers Qualitätskriterien sowie Teile unserer Impulsfragen sollen im Folgenden vorgestellt werden.
Um „ethisch verantwortungsvoll und qualitativ hochwertig“ (Hauser 2016, S. 77) im Kontext partizipativer Forschung zu arbeiten, bedarf es einer Einordnung und einer Diskussion von Qualitätskriterien. Unser Verständnis von Qualitätskriterien partizipativer Forschung orientiert sich (so wie Mandy Hauser es u.a. 2016 vorschlägt) zunächst an den Grundsätzen qualitativer Forschung. Zentral ist für uns, den Objektivitätsanspruch „rein quantitativ-naturwissenschaftlich orientierter Wissenschaftspraxis“ (Hauser 2016, S. 79) zu problematisieren und von einer subjektiven Verstrickung aller Beteiligten auszugehen, die es nicht aufzulösen, sondern zu reflektieren gilt.
Das konzeptuelle Forschen in heterogenen Gruppen, in denen Forschungssubjekte mit unterschiedlichen habituellen Bezügen und Erfahrungswelten zusammenkommen, führt zu einer Form der Validierung, da unterschiedliche Lesarten möglichst gleichwertig miteinander diskutiert werden. Die Aufgabe von guter, qualitativ und partizipativ orientierter Forschung sehen wir darin, intersubjektive Nachvollziehbarkeit sprachlich-diskursiv herzustellen ( u.a. Steinke 1999, S. 207f.), um so eine möglichst hohe Transparenz zu gewährleisten.
Auf Basis einer qualitativen Dokumentenanalyse sowie von problemzentrierten Expert*inneninterviews entwickelt Mandy Hauser Qualitätskriterien inklusiver Forschung ( Hauser 2020). Diese werden als Grundlage der forschungspraktischen Zusammenarbeit und der methodenreflexiven Prozesse innerhalb unserer Forschungsgruppe vorgestellt. Im Folgenden werden zentrale Kriterien zu den grundlegenden Werten partizipativer Forschung[3] nach Mandy Hauser sowie unsere Ergänzungen erläutert. Hauser nennt:
Gerade letztere hat sich in Bezug auf den hier vorgestellten Forschungsprozess als methodischer Nukleus und zentrale methodenreflexive Erkenntnis, die sich schon im Prozess selbst einstellte, herauskristallisiert (vgl. Abschnitt 4).
Außerdem wurden unsere Impulsfragen um methodenspezifische Kriterien ergänzt, die sich als untergeordnete Ebene des Kriteriums der Angemessenheit verstehen lassen, indem sie Rückschlüsse auf die Passung der Methode (sowohl in Hinblick auf die Heuristik des Close und Wide Reading als auch auf die forschungspraktische Zusammenarbeit) zulassen. Hier wurden die folgenden Fragen entwickelt:
In Bezug auf die Zusammenarbeit beschreibt Mandy Hauser die Kriterien
Ergänzt werden sollen diese Kriterien durch eines, das wir Anerkennung der Bedeutsamkeit von Metakommunikation nennen. Dieses stützt sich auf die empirischen Ergebnisse von Dorothee Meyer aus 2019. Dieses Bewusstsein um Metakommunikation und das fortwährende Bemühen darum, metakommunikative Prozesse stattfinden zu lassen, – beispielsweise im Sinne der „explizite[n] Bearbeitung von Divergenzen“ (Meyer 2019, S. 269), um diese so innerhalb der (Forschungs-)Gruppe diskursfähig zu machen – begreifen wir als weiteres Qualitätskriterium partizipativer Forschung.
Als weitere Säule nennt Hauser Kriterien zur Wirkung und Bewertung der Ergebnisse Inklusiver Forschung ( Hauser 2020, S. 91). Hier werden die Kriterien der
Als Moderatorin unseres Reflexionsgesprächs konnten wir Fine Rieckmann einladen, die als Studentin der Sonderpädagogik und studentische Hilfskraft alle Beteiligten kennt und ein entsprechendes Vertrauensverhältnis pflegt, aber nicht Mitglied der partizipativen Forschungsgruppe ist. Das Reflexionsgespräch wurde im April 2023 verbal in einem Gesprächsraum der Uni Hannover durchgeführt. Das durch an Hausers Qualitätskriterien orientierte Impulsfragen strukturierte Gespräch dauerte 121 Minuten und diente der Reflexion des Forschungsprozesses.
In Bezug auf das Qualitätskriterium Respekt und Wertschätzung äußert Heike auf die einführende, offene Impulsfrage nach der Wahrnehmung der Interpretationsarbeit in der Forschungsgruppe:
Ja und es ist keiner respektlos oder so geworden, man hat den anderen ausreden lassen und dann hat man sich gemeinsam darüber Gedanken gemacht, was das eigentlich heißen soll und (unverständlich) anders wahrnehmen, weil Zuhause ist nicht Zuhause wie für den Nächsten und wie für mich (T., S.2).
An dieser Stelle wird zudem deutlich, dass die Kontingenz der inhaltlich relevanten Begriffe (in Heikes Beispiel: Zuhause) aufgefangen und abgebildet werden konnte.
In Bezug auf Respekt und Wertschätzung äußert weiterhin Anna:
Aber das ist ja genau der Punkt, dass ich das Gefühl hatte, dass ich da zwischendurch so‘n bisschen mehr die Rolle hatte, das halt nachvollziehen zu wollen, und deswegen halt oft mehr zugehört habe, als dass ich geredet habe, und das fand ich auch total okay, aber es ist halt so‘n bisschen anders, als die Rolle die ich sonst, also auch nochmal auf die erste Frage kurz zurück, weil ich da eben nichts zu gesagt hatte, also wie ich die Arbeit in der Gruppe wahrgenommen hab, für mich wars halt schon einfach ‘nen Unterschied zu den Seminaren, die ich sonst an der Uni hab, wo ich halt viel mehr geredet hab, genau, also das war einfach spannend für mich, dass hier jetzt so ‘ne andere Dynamik in der Gruppe war, dass ich gemerkt habe, dass ich mehr zugehört habe, und weniger geredet hab als sonst (T., S. 6).
Die „Anerkennung der sozialen, kulturellen und historischen Erfahrungen von Menschen mit Behinderung, die auf den Forschungsprozess einwirken“ (Hauser 2016, S. 80), die Mandy Hauser als zentral für das Qualitätskriterium Respekt und Wertschätzung ausmacht, werden in Annas Aussage förmlich illustriert und führen in diesem Beispiel zu veränderten Rollenwahrnehmungen der Interpretierenden. Interessant ist, dass hier die Positionierung als Studierende sichtbar wird: Es scheint also relevant zu sein, dass die Gruppe nicht nur hinsichtlich Dis*ability heterogen aufgestellt ist, sondern durch die Partizipation von Studierenden auch noch weitere divergierende Erfahrungshorizonte eingebunden werden. Hinsichtlich Autonomie und Selbstbestimmung zeigen insbesondere Andreas („Man hat halt eine Meinung, und die hat man gesagt“, T., S. 7) und Heike recht klare Haltungen:
Heike: Also für mich kann ich sagen, hundertpro, ich hab‘ nicht das Gefühl gehabt, dass ich jemals eingegrenzt wurde, was zu sagen oder darzustellen, sondern so wie ich das empfinde, ich glaube sonst wär ich auch nicht hier (ebd.).
Da sich beide nur auf den Vorgang des tatsächlichen Interpretierens beziehen, bleibt unklar, inwiefern Autonomie und Selbstbestimmung auch im gesamten Forschungsprozess, also beispielsweise hinsichtlich der Prozessorganisation, wahrnehmbar waren und geachtet wurden.
Die Barrierefreiheit konnte zum Zeitpunkt der gemeinsamen Methodenreflexion, also vor Veröffentlichung der Ergebnisse, nur in Teilen reflektiert werden. Nichtsdestotrotz finden die Gruppenteilnehmer*innen deutliche Worte. So wird beispielsweise geäußert:
Heike: Hmm, also im Uni merkt man gleich: Wie viel Behinderten- WCs hat dieses Haus? […] Also ich denke, die haben behindertengerecht nicht wirklich durchdacht.
Katrin: Joa, würd ich auch so sehen (T., S. 7f.).
Heike bescheinigt der Institution Universität aus ihrer Erfahrung als Gasthörerin heraus aber durchaus eine hohe Barrierefreiheit hinsichtlich nicht vorhandener Kulturbarrieren im Kontakt unterschiedlicher ‚Statusgruppen‘:
Aber ansonsten, was ich gut finde, dass die Behinderten auf die gleiche Stufe gestellt werden, dass man nicht sagt, ich bin Professor Doktor soundso, und du bist nur das arme Putt Putt, das hab ich (lacht) noch nicht einmal gehabt (T., S. 8).
Katrin wirft hingegen skeptisch ein: „Könntest du hier sicherlich auch erleben“ (ebd.). Die kulturelle Barrierefreiheit der Institution Universität wird also durchaus divergierend bewertet. Diese unterschiedlichen Bewertungen setzen sich im Gespräch über die Entlohnung der Forschungsarbeit fort, denn nach Hauser „gehört auch die finanzielle Entschädigung der Ko-Forschenden, da die finanzielle Situation der Betreffenden zumeist prekär ist“ (2016, S. 83) zur Barrierefreiheit. Katrin und Heike diskutieren diesbezüglich:
Katrin: Was ich nämlich schon auch als Ungerechtigkeit und auch als Ungleichheit empfunden hab, war, dass wir im Prinzip unterschiedlich bezahlt werden, ne. Also das ist so ‘ne Forschungsgruppe, in der wir gemeinsam sind. Und ich glaub auch schon, wir sind als Gruppe gewachsen. Und trotzdem war von vorhinein klar, dass wir in unseren unterschiedlichen Rollen auch unterschiedliche Bezüge kriegen, also. Und wir ja in mehrfacher Hinsicht partizipativ gearbeitet haben, was ich auch wollte. Weil zum Beispiel ihr als Studierende mit dabei wart und wir // Ich hab das in meiner Arbeitszeit gemacht, manchmal auch sicherlich in meiner Überstundenzeit, aber im Prinzip krieg ich ja hier mein solides E13 Gehalt für das, was ich tue, und das ist eine andere Entlohnung als man sie als studentische Hilfskraft bekommt und mit dem Lohn für euch haben wir ja auch von Anfang an immer auch gebastelt [..] und eigentlich würde ich mir schon wünschen, wenn man das ernst meint mit partizipativer Forschung und einer gemeinsamen Forschungsgruppe, dass das auch bedeuten würde, wir kriegen alle dasselbe Geld, von dem man gut leben kann. So stell ich mir das vor.
Heike: Das ist aber meines Erachtens nur ein Traumgedanke.
Katrin: Ja (lacht) (T., S. 9).
Die unterschiedliche Einschätzung, in der die nichtbehinderten Forschungsgruppenmitglieder die ungleichen Entlohnungsstrukturen kritisieren, während die behinderten Forschungsgruppenmitglieder sie im Sinne eines Realitätsprinzips hinzunehmen scheinen, setzt sich fort:
Andreas: […] Das ist für mich Erholung, Entspannung, Vergnügen […] Aber ist halt auch meine persönliche Einstellung sag ich mal so, weil für mich ist die Uni-Interpretation Zeit, Vergnügen und Erholung, (unverständlich) Wissen weitergeben, aber mir ist halt nur meine Einstellung.
[…]
Anna: Ich find, es schwingt halt schon mit, dass irgendwie da die Expertise nicht so anerkannt wird (T., S. 9f.).
Hier wäre sicherlich zu diskutieren, ob sich die Internalisierung der inferioren, unterdrückten Haltung, die Mai Anh Boger ( 2019, S. 130) partizipativ Forschenden mit Behinderung zuschreibt, an diesen Stellen bahn schlägt – da die Reflexion aber dezidiert für sich stehen soll und latente Sinngehalte nicht weiterhin rekonstruiert werden sollen, bleibt diese Überlegung hier zunächst unabgeschlossen.[4]
Flexibilität im Forschungsprozess wird von den Teilnehmenden unserer Forschungsgruppe als eines der zentralen Kriterien für eine gelingende partizipative Forschungspraxis wahrgenommen. Das bedeutet auch, dass ursprünglich angedachte Zeitfenster nicht immer eingehalten werden konnten, dass Planungsabläufe sich verändert haben und auch inhaltlich nicht immer bearbeitet wurde, was qua Thesen angedacht war. Eine besondere Herausforderung stellte in diesem Kontext die Covid-19-Pandemie dar.
Katrin: Wir haben ‘ne Pause gemacht. Also wir haben zum Beispiel in der Zeit, in der// also das find‘ ich auch in der Rückschau sehr skurril, dass wir uns mal im Regen an der Bushaltestelle am E-damm getroffen haben.
Heike: Ja.
Katrin: Weil wir uns nicht drinnen treffen wollten, weil‘s noch keine Impfung gab und auch klar war, dass ihr beide Risikogruppenmitglieder wart.
Heike: – seid.
Katrin: – seid, ja […] (T., S. 28).
Hier war also eine erhöhte Flexibilität erforderlich, die sich auch fortsetzte, als die Interpretationsgruppentreffen wieder stattfinden konnten:
Heike: Weil man mit der Maske einfach nicht so reden konnte, nicht so sein konnte, die hat ja auch ‘nen Teil der Mimik verschluckt und die find ich gerade wichtig.
Katrin: Ja.
Andreas: Ich denk, mit Sprachbehinderung war die Maske Müll (ebd.).
An dieser Stelle forderte die Pandemie der Gruppe keine zeitliche oder räumliche Flexibilität mehr ab, aber verlangte ein zugewandtes und geduldiges einander Zuhören, welches im Übrigen auch die Transkriptionsarbeiten erschwerte.
Das, was als inhaltliche Flexibilität, oder auch als ‚Abdriften‘ (vgl. T., S. 15) bezeichnet wird, wurde aber durchaus auch als Herausforderung im Kontext der Forschungsarbeit wahrgenommen:
Anna: […] Und da muss ich sagen, dass ich das schon manchmal – also obwohl ich das Ganze positive sehe, also dass es so assoziativ ist und wir immer einfach gesagt haben, was uns alles einfällt – dass ich‘s manchmal, so wie‘s jetzt gerade auch war (lacht), die Minuten, als so‘n bisschen anstrengend empfunden hab, wenn wir dann so sehr weit abgedriftet sind (T., S.15).
Mit dem Verweis auf die Minuten wird deutlich, dass hier inhaltliche Flexibilität und eine gewisse zeitliche Flexibilität oft miteinander verbunden waren. An einigen Stellen hat sich unsere hohe Bereitschaft zu einer inhaltlichen Flexibilität (vielleicht auch: dass es eine Art Drang zu einer inhaltlichen Flexibilität gab, dem wir nachgegeben haben) auch auf die Anwendung und Anpassung der Methode ausgewirkt, was sich in der Diskussion der methodenspezifischen Kriterien zeigt:
Anna: […] Und ich hatte so‘ n bisschen das Gefühl, dass wir fast nur Wide Reading gemacht haben. Also halt dieses kulturelle, politische, große Ganze viel angeguckt haben. Aber so Close Reading, so in den Text reingehen, haben wir irgendwie nicht so gemacht, fand ich.
Andreas: (lacht)
Heike: Mhm, leider. Ein paar Sachen hätten mich hundert Prozent interessiert, wie es denn weitergeht und ob die, sag ich mal, aufgewacht ist, zum Beispiel.
Katrin: Ja, wir haben auch oft leider wirklich nur kurze Stellen geschafft, ne?
Andreas: Mhm, aber ich denk auch, ich bin halt auch einer, der, ich sag mal, der gerne offen und auch ein bisschen länger (schmunzelt) philosophiert und auch schnelle Gedankensprünge hat (lacht) (unverständlich) (T., S. 16f.).
Zwar wird dieses Abschweifen von den Forschungsgruppenteilnehmer*innen unterschiedlich bewertet – dass es stattgefunden hat, wird aber von keiner Person in Frage gestellt.
Der Faktor Zeit, der als Aspekt des Kriteriums Flexibilität gewertet werden kann ( Hauser 2016, S. 86), steht eng mit der Anwendung der Methode in Verbindung.
Heike: Also ich fand es schon, also es tut mir jetzt schon leid, dass ich nicht alles mitnehmen konnte. Weil da waren so zwei, drei Sachen, die ich sehr interessant fand, wo ich auch noch mehr mitgenommen hätte und traurig darüber war, das ist nur angekratzt (lacht).
Katrin: Jaa, ich glaube, dieser Faktor Zeit ist ziemlich ‘nen Problem letztendlich. Ich hatte oft das Gefühl, dass wir uns viel Zeit genommen haben – haben wir auch faktisch, also wir haben uns lange getroffen, oft getroffen und so – und trotzdem ist dieses Gefühl immer noch da, von ‚es ist nicht genug‘.
Alle: (lachen)
[…]
Andreas: Andererseits würde ich auch sagen, zumindest aus meiner Sicht, klar, wir sind zwar auch sehr viel hin und her gesprungen, aber die Teile, die wir durchgegangen sind, finde ich, die haben wir gut und ausführlich bearbeitet. (Unverständlich) Dadurch, ich denk mal war es schwierig, (unverständlich) Selbsterfahrung mit reingebracht hab, was halt auch sehr viel Zeit veranschlagt hat, dadurch hat man den Teil, den man gemacht hat, hat man, oder finde ich, sehr intensiv bearbeitetet, weil man dadurch sich ziemlich intensiv mit der eigenen Thematik in der Situation auseinandergesetzt hat (T., S. 18).
Auf der einen Seite betont insbesondere Andreas, dass die eigene biographische Verortung als Mensch mit behinderungsbezogener Diskriminierungserfahrung und das daraus resultierende Besprechen von Lebenserfahrungen viel Zeit in Anspruch genommen hat. Mitzudenken ist hier auch, dass Menschen mit Behinderung qua ihrer Marginalisierung kulturell limitierte Sprechräume zur Verfügung haben und so (beispielsweise in Relation zu Studierenden) strukturell entsprechend weniger Gelegenheit haben, ihre Themen zu platzieren und zu besprechen. Auf der anderen Seite ist deutlich, dass Zeitökonomie kein methodenpraktisches Problem ist, dass nur im Kontext von partizipativer Forschung auftritt, sondern qualitative Forschung und wahrscheinlich jegliche Forschungsaktivitäten im Rahmen von Universität und Nützlichkeitsparadigmen betrifft.
Einer „Nicht_Fähigkeitserwartung“ (Buchner 2022, S. 209) gegenüber Menschen mit Behinderung in Forschungskontexten, die u.a. Jaar Boskany (2023) beschreibt, soll an dieser Stelle also entgegengestellt werden, dass hier lediglich eine Verdichtung eines schon bekannten Dilemmas beobachtbar wird. Das Nachgeben des „Druck[s] hin zur Diskussion“ (Katrin, T., S. 18) kann durchaus auch als ein Aspekt von Partizipation und Inklusion gedeutet werden – so spiegelt sie „die Orientierung an den Bedürfnissen und autonomen Entscheidungen der Ko-Forschenden“ (Hauser 2016, S. 87), die von Hauser „als wichtiges Moment in der Debatte um das Partizipationsverständnis“ (ebd.) genannt wird, wider. Dass partizipative Elemente die Interpretationssitzungen strukturiert haben, wird auch in den kontrastierenden Äußerungen von Anna deutlich:
Auch wenn wir zum Thema Uni schon viel gesagt haben, eine Sache wollt ich auch noch sagen: Dass mir schon auch dolle aufgefallen ist, seit wir diese Interpretationssitzungen gemacht haben, wie wenig partizipativ oder inklusiv halt auch, die anderen Seminare sind, die ich so belegt habe mein Studium über. Also es war mir vorher ja eigentlich auch schon bewusst, aber so richtig angekommen ist es dadurch halt irgendwie erst. Weil ich genau gemerkt hab, dass das Ganze vorher, oder fast alles, vorher im Studium immer das war: Man redet als Gruppe halt über Menschen mit Behinderung, aber nicht mit ihnen so. Und das war schon auch nochmal ein bisschen, so am Ende des Studiums, grade so ein bisschen traurig auch, zu realisieren, dass so viele Jahre so nen anderen Fokus hatten. Deswegen fand ich‘s jetzt schön, dass am Ende des Studiums noch gehabt zu haben, aber es war halt eine bisschen traurige Erkenntnis (T., S. 10f.).
Hinter dieser kritischen Einsicht in Bezug auf die Studienstrukturen verbirgt sich auch eine Form der Kompetenz- oder Wissensentwicklung. So scheint das nun erlebte Miteinander diskutieren die Erkenntnis über das zuvor erfahrene Über andere reden (durchaus auch als Form des Othering zu deuten, z.B. Lindmeier 2019, S. 45f.) und die damit verbundenen Bedeutungen und Prozesse im besonderen Maße hervorgebracht zu haben. Kompetenzentwicklungist nach Mandy Hauser eines der zentralsten Kriterien, das Rückschlüsse auf die Qualität inklusiver bzw. partizipativer Forschung zulässt ( 2016, S. 87f.). Auch Hella von Unger beschreibt, dass die Anerkennung von Wissen und Fähigkeit aller Akteur*innen zentral ist und partizipative Forschung zur „Weiterentwicklung dieser Wissensbestände und Kompetenzen beitragen will“ (von Unger 2014, S. 44). Im Falle des hier vorgestellten Projektes hat neben der erwähnten sozialen Kompetenzentwicklung, die methodische und inhaltliche Kompetenzentwicklung nicht gesteuert in Form von Workshops o.ä. stattgefunden, sondern durch eine kurze methodische Einführung, der ein kontinuierliches Learning by Doing folgte. Inhaltlich sticht für Heike und Andreas in der Rückschau besonders hervor, dass sie sich in Bezug auf historische Perspektiven im gesellschaftlichen Umgang mit Dis*ability und Gender gebildet haben, beispielsweise wie es
früher auch mit der Wahrnehmung und ich sag mal Behandlung von Behinderten war und wie viel sich eigentlich schon getan hat. Weil klar, wir müssen noch sehr viel mehr tun, das ist keine Frage. Aber wenn man bedenkt, früher halt auch mit den Mädchen und so […] Das, finde ich, ist was ganz Wichtiges, dass man den Unterschied zwischen damals und heute noch sieht (Andreas, T., S. 19).
Für Katrin hat die methodengestützte Auseinandersetzung mit den Texten dazu geführt, dass sie „viel nochmal anders verstanden und tatsächlich auch doch anders in der Tiefe verstanden“ hat (T., S. 19). Heike beschreibt ein ähnliches Phänomen:
Man hat sich ja über das Gesagte, ob‘s jetzt ‘ne Stelle im Text war, oder von dem, was hier von sich gegeben wurde, hat man mit nach Hause genommen, drüber nachgedacht und (unverständlich) im Gespräch weitergegeben. Also hat man was mitgenommen (T., S. 26).
Anna bestätigt das und führt diesen Eindruck wiederum auf die gemeinsame Arbeitsatmosphäre zurück:
Ich denke, es lag auch viel daran, dass wir so offen alle waren, oder? Also ihr habt ja auch schon gesagt, dass es so ein respektvolles Miteinander war, das hat man ja auch gemerkt, dass total viele Erfahrungen ausgetauscht wurden und dadurch, also ich glaube nur dann kann das ja auch passieren, wenn man sich so öffnet.
Heike: Jaa.
Andreas: Mhm.
Anna: Also wenn man jetzt wirklich nur über den Text an sich geredet hätten, dann wäre das zwar auch spannend gewesen//
Heike: Dann wäre das trocken (S. 26f.).
Immer wieder wird, auch während des Gesprächsteils über Kompetenzentwicklung, deutlich, dass inhaltliche und methodische Kompetenzentwicklung mit dem Bearbeiten persönlicher Lebensgeschichte verknüpft ist – was sich im Übrigen auch mit den Arbeiten Louise Rosenblatts ( Rosenblatt 1994 [1978], S. 137) oder mit Kaspar Spinner, der „das Wechselspiel von Subjektivität und Textorientierung, das für literarisches Verstehen kennzeichnend ist“ (2006, S. 8) herausarbeitet, theoretisch fundieren lässt. Entsprechend benötigen die partizipativen Textinterpretationen einen sicheren Raum:
Andreas: Dass man sich auch so öffnen kann, auch mit den privaten Erfahrungen austauschen, und das finde ich ist bei so ‘ner Interpretation auch wichtig. Dass man guckt, was nehme ich mit, was hab‘ ich so vielleicht selber erlebt und wie kann ich das nochmal selber austauschen, dass es mir auch so ging (T., S. 27).
Auch die Erfahrung der Mehrdeutigkeit literarischer Texte, die u.a. Kaspar Spinner in Verbindung mit der „Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozess[es]“ (2006, S. 12) im Kontext des literarischen Lesens herausstellt, kann als ein Aspekt der Kompetenzentwicklung herausgestellt werden. So berichtet zum Beispiel Heike über den Forschungsprozess, „man hat ganz viele Ansichten zu dem einen Thema und tausend Antworten und muss dann gucken, dass man eine vielleicht findet“ (T., S. 3). Diese Einsicht der „tausend Antworten“ (ebd.) lässt sich also im Sinne des Verstehens unabschließbarer Sinnbildungsprozesse mit Aspekten des literarischen Lernens in Verbindung bringen, als das sie auch auf die Kontingenz relevanter Konzepte wie Dis*ability und Gender verweist.
In Bezug auf das Kriterium der Schadensfreiheit fragt die Interviewerin Fine, ob
die Interpretationssitzungen auch mal negative Gefühle in euch ausgelöst [haben]? Sind zum Beispiel Erinnerungen aufgetaucht, die euch unangenehm waren? Und wenn ja, wie wurde damit umgegangen? (T., S. 29)
Diese Fragen zielen darauf ab, zu reflektieren, inwiefern die nichtbehinderten Forschungsgruppenmitglieder ihrer Aufgabe nachgekommen sind, „achtsam mit den Vorerfahrungen und Bedürfnissen der Ko-Forschenden zu sein und diese nicht für eigene Zwecke zu missbrauchen“ (Hauser 2016, S. 90). Heike und Andreas berichten in diesem Kontext von Copingstrategien, die sie bereits vor der Forschungsgruppenarbeit entwickelt und etabliert zu haben scheinen und die sie im Zuge der Interpretationen aktualisiert haben.
Heike: (lacht) Das war bei mir alles nicht. Weil wenn was Unangenehmes war, pack ich‘s auf‘n Tisch, dann wird‘s beredet und dann ist es nicht mehr unangenehm.
Andreas: Mhm, und bei mir, ich weiß nicht, ich hatte einige unangenehme Erinnerungen. Ich kann damit umgehen, ich erzähle es einfach auch immer und dann kommen die bei mir in ‘ne Schublade (T., S. 29).
Anna, als nichtbehinderte Studierende, hingegen äußert durchaus negative bzw. ambivalente Gefühle.
Also mich hat‘s aber trotzdem manchmal traurig gemacht, wenn, also// ihr habt dann ja schon auch oft von Situationen berichtet, wenn im Text Diskriminierung stattgefunden hat, dass ihr dann eigene Erfahrungen geschildert habt, und das hat mich dann schon auch manchmal traurig gemacht, das so zu hören (S. 29).
Diese Traurigkeit wird von Anna allerdings nicht als ‚Schaden‘ gewertet, sondern in der Reflexion mit einer Art produktiven Wut in Verbindung gebracht:
Aber ja, ich hatte das Gefühl, dass es dabei ja auch ganz viel um Wut ging, aber das würde ich jetzt gar nicht als negatives Gefühl unbedingt nur sagen, weil das ja auch sehr produktiv sein kann und ja auch einfach Ungerechtigkeit anzeigen kann und so. Ja, deswegen, so viel Negatives war‘s für mich jetzt auch nicht (ebd.).
Hinsichtlich der Kriterien zur Wirkung und Bewertung der Ergebnisse inklusiver bzw. partizipativer Forschung wird im Sinne von Nützlichkeitund Veränderungdeutlich, dass es Heike wichtig ist, dass unsere Forschung dazu nützlich ist, das gesellschaftlich vorherrschende Bild von Behinderung und behinderten Menschen zu verändern. Über ihren Eindruck der Forschungsarbeit äußert sie zum Beispiel:
Das fand ich total entspannend, deswegen bin ich mit Begeisterung auch dabei (lacht). Weil ich‘s einfach toll finde, weil ich der Meinung bin, wenn man sieht, dass es Behinderte gibt, die nicht nur in der Ecke sitzen, sondern aktiv am Leben teilnehmen, geht bei vielen Leuten im Kopf wie ‘ne Blase auf (T., S. 2).
Mit der partizipativen Forschungsarbeit die öffentliche Wahrnehmung zu verändern, ist auch für Anna relevant. Während Heike betont, dass gesellschaftlich vorherrschende Bild von Menschen mit Behinderung ändern zu wollen, ist es für Anna auch die Wahrnehmung von Forschungspraxis, die sie durch die eigenen Forschungsarbeiten verändern möchte:
Anna: Und gerade dadurch, dass es was ist, was vielleicht noch nicht so verbreitet ist// Also selbst wenn die Leute das dann irgendwie negativ beurteilen oder sagen// Auch das ist dann ja schon was, wo man, also so ‘nen Statement, das man sagt: Ja, wir haben aber auf so ne Art geforscht. Und wenn dann Leute sich darüber aufregen oder das negativ beurteilen, verändert es ja auch was, dass man zeigt, wir haben es aber so gemacht. Also das finde ich ‘nen schönen Gedanken (T., S. 31).
Die durch die Forschungsarbeiten initiierte Veränderung, auch im Sinne eines normativ-emanzipatorischen Anspruchs, der mit dem Forschungsstil einhergeht ( u.a. Kremsner & Proyer 2019, S. 63), konnte auf unterschiedlichen Ebenen festgestellt werden. Dafür macht Katrin beispielsweise aus:
Es gibt so kleine Marker, an denen man vielleicht sehen kann, es hat sich irgendwie was bewegt, also schon so ganz klar auf ‘ner persönlichen, individuellen Ebene, auch so bei uns als Gruppe. Ich fand zum Beispiel sehr eindrücklich, als wir letztes Jahr um diese Zeit in dem Seminar zusammen den Vortrag gemacht haben, zu partizipativer Forschung. Und ich da irgendwie gemerkt habe, es läuft quasi wie am Schnürchen. Also es hat sich sehr entspannt angefühlt, wir haben uns alle gegenseitig den Ball zugeworfen//
Heike: (unverständlich) Schönes, harmonisches Miteinander.
Katrin: Ja! Und das war mir vorher auch nicht klar, dass das passieren würde. Also ich wusste das nicht – mal gucken, und das fand ich total schön.
Heike: (gleichzeitig) Ja, also das fand ich auch. Ich hatte mir auch viel mehr negative Gedanken dazu gemacht und gedacht: Oh Gott, wie wird das? Nachher war‘s einfach nur entspannt.
Katrin: Und das war ja auch wiederum im Kontext von Lehre, ne. Das waren ja auch Studierende, die mit dabei waren und die mitdiskutiert haben. Und ich glaub‘ schon, dass quasi so kleine Projekte nicht die Strukturen ändern und nicht irgendwie zwangsläufig jetzt zu ‘ner ganz größeren Gerechtigkeit führen. Aber im Kleinen würd‘ ich schon sagen, es gibt so Momente des Progressiven, also da, wo sich was positiv verändert vielleicht (S. 31f.).
Reflexive Prozesse im Kontext partizipativer Forschung bilden einen Balanceakt ab: Auf der einen Seite erfordert partizipatives Forschen die Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Forschenden. Im Kontext von Behinderung materialisiert sich ebendiese in unserem Beispiel als das Angewiesensein auf rollstuhlgeeignete Räumlichkeiten oder eine erhöhte Flexibilität, die sich zeiträumlich beispielsweise im Kontext der Covid-19-Pandemie entfaltete – aber auch inhaltlich durch die vielen Themen, die als „Druck hin zur Diskussion“ (Katrin, T., S. 18) oder als „das Bedürfnis, die einzelnen// seine eigenen Erfahrungen noch zu berichten“ (Andreas, T., S. 22) benannt wurden. Dieses Bedürfnis lässt sich durchaus strukturell erklären, so werden Menschen mit Behinderung nach wie vor marginalisiert. Entsprechend stehen ihnen gesellschaftlich weniger Räume zu, sich selbst und ihre Lebensgeschichten narrativ zu entfalten und andere an ihnen teilhaben zu lassen ( z.B. Zahnd, Krause, Kremsner & Proyer 2021, S. 28). Gleichzeitig wäre in zukünftigen Projekten zu überprüfen, ob Forschende mit Behinderungserfahrungen (möglicherweise latent) vermehrt dazu aufgefordert werden, ihre Lebensgeschichten und persönlichen Empfindungen im Sinne eines „Mythos des magischen Wissens“ (Boger 2019, S. 128) zu teilen, um auf diese Weise einen erwünschten Beitrag zur Forschung zu leisten.
Auf der anderen Seite wollen auch im Kontext partizipativer Forschung Essentialismen vermieden werden: Flexibilität, Respekt und Wertschätzung usw. sind Qualitätskriterien, die in qualitativ arbeitenden Forschungsgruppen stets von Wert sind bzw. die Arbeitsgrundlage bilden. Sie sind also nicht im eigentlichen Sinne behinderungsspezifisch, sondern werden im Kontext von Behinderung verstärkt sichtbar. Forschung in sozialen Zusammenhängen ist so immer in Interaktionen gestaltet und entsprechend machtdurchzogen. Hinsichtlich der Fragen, ob und wie im partizipativen Forschungsprozess gleichwertig miteinander diskutiert wird und wie Entscheidungsfindungsprozesse in Bezug auf unterschiedliche Lesarten und Deutungsansätze funktionieren, ist weitere Forschung erforderlich. Hier bietet sich beispielsweise eine Sekundärnutzung der zahlreich entstandenen Transkripte der Interpretationssitzungen an, um Machtverhältnissen interaktionsanalytisch nachzuspüren. Das Primat reflektierter Subjektivität scheint dort, wo gesellschaftlich bedingte Machtgefälle vorliegen, verstärkt und ist gleichzeitig stets leitende Kategorie in qualitativen Forschungsprozessen, in denen Untersuchungsgegenstände nahezu immer mehrdeutig und kontingent sind. Gruppeninterpretationen mit heterogenen Standorten legen diese Kontingenz offen und sind auch aus diesem Grund erkenntnistheoretisch produktiv.
Auch hinsichtlich kultureller Bildungsprozesse im Kontext inklusiver bzw. partizipativer Literaturanalysen ist sicherlich mehr und feinsinnigere (ggf. rekonstruktive) Forschung denkbar, um exakt nachzeichnen zu können, wie Bildung für wen vollzogen wird, welche Rolle literaturanalytische Prozesse hier einnehmen und wie Differenz in diesem Kontext verhandelt wird. Dass gemeinsam partizipativ literarische Texte zu interpretieren auch bedeutet, gemeinsame Lernprozesse zu gestalten, hat die vorliegende Reflexion zeigen können. So haben sowohl akademisch Forschende, wie auch Studierende wie auch die Forschenden mit Behinderungserfahrungen wechselseitig Kompetenzen entwickeln können, etwa wenn Anna beschreibt, dass sie durch das nun erlebte miteinander diskutieren das zuvor erfahrene über Menschen mit Behinderung reden anders (kritischer) bewertet, wenn Heike und Andreas einen Wissenszuwachs in Bezug auf historische Perspektiven auf Behinderung bemerken oder Katrin durch die gemeinsame Interpretation der autobiographischen Texte die Behindertenrechtsbewegung „doch anders in der Tiefe verstanden“ hat (T., S. 19). Die Entdeckung neuer Rollen wie beispielsweise Anna sie beschreibt oder das erlebte Zusammenwachsen als Gruppe und die Weitergabe des gemeinsam erarbeiteten Wissens in neuen Rollen, z.B. als Vortragende in Seminaren, können durchaus als transformative Elemente bezeichnet werden, die einen (kulturellen) Bildungsprozess auszeichnen.
Reflexivität und metakommunikative Prozesse, die struktureller Bestandteil der Arbeit in der Forschungsgruppe sind, können als Kern der partizipativen Interpretationen ausgemacht werden und unterstützen, die beschriebene Balance auszutarieren, Ergebnisse zu generieren sowie das zurecht besonders hervorgehobene Qualitätsmerkmal Respekt und Wertschätzung sicherzustellen.
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[1] Hauptautorin des Beitrags ist Katrin Kreuznacht. Alle genannten Autor*innen waren an der Gruppenreflexion beteiligt, ihre Stimmen gehen als Direktzitate aus dem Transkript (im Folgenden T.) in den Beitrag ein und bilden die Basis für die hier vorgestellten Überlegungen. Der Beitrag wurde im Juni 2023 mit ihnen gemeinsam diskutiert und abgestimmt.
[2] Mai Anh Boger erläutert bezüglich der Vorstellung subjektive Involviertheit von vermeintlich objektiver Forschungspraxis trennen zu wollen:
Entgegen der Vorstellung, es sei ‚unwissenschaftlich‘, ‚pathetisch‘ oder ‚illegitim‘ mit der eigenen Erfahrung zu arbeiten, zeigt die genauere Betrachtung, dass eine solche Abstinenz nicht zu Objektivität und Neutralität führt, sondern zu intellektueller Müdigkeit, Sinnkrisen und falschen Abstraktionen vom menschlichen Leben. In diesen falschen Abstraktionen verlieren die Theoriebildungen ihren Sinn; sie bedeuten sodann schlimmstenfalls weder den Autor_innen noch den Lesenden etwas. Die falsche Spaltung zwischen ‚reinem Denken‘ und ‚existentieller Betroffenheit‘ zieht andere Spaltungen nach sich wie jene zwischen Theorie und Praxis, zwischen Selbst- und Stellvertretung und zwischen Analyse eines gesellschaftlichen Phänomens und Selbstreflexion (Boger 2019, S. 128).
Das heißt für uns: wir streben eine Forschungsarbeit an, die Behinderung nicht ontologisiert, aber die Arbeit mit eigenen Erfahrungen (‚Betroffenheit‘) als für den wissenschaftlichen Prozess fruchtbar zulässt und schätzt.
[3] Sämtliche Qualitätskriterien werden hier notwendigerweise deutlich verkürzt dargestellt.
[4] Einige Personen unserer Forschungsgruppe finden, Boger gibt Impulse, die die partizipative Forschung als Forschungsstil unbedingt braucht:
„Wenn eine Betroffene sagt: „Ihr – ja, auch Sie! – aus der Wissenschaft, ihr zählt ja zu den Guten, mit denen man gemeinsam die Praxis kritisieren kann“, dann gilt: a) dass man dies auf keinen Fall glauben darf. Es ist eine Versuchung, eine Gegenübertragungsfalle und moralisierend, sich selbst zu den ‚Guten’ zu zählen. b) dass man dies glauben sollte, denn es ist die Wahrheit. Es ist eine Kernaufgabe der Erziehungswissenschaft, kritisch auf die Erziehungswirklichkeit zu schauen. Die Aussage ist gleichzeitig trivial und brandgefährlich. Sie verweist darauf, wie leicht es ist, sich selbst die moralische Absolution zu erteilen, indem man sich zu den ‚Guten‘ zählt, die auf der Seite der Betroffenen sind“ (Boger 2019, S. 129f., Hervorhebung i.O.).