Abstract: Dieser Beitrag widmet sich dem Thema Partizipation aus der Perspektive der musikalischen Bildung.
Zunächst (1. Partizipation, Inklusion, musikalische Praxis) wird der Frage nachgegangen, wie sich Partizipationsprozesse beim Musizieren zeigen können und wo und warum sie unter bestimmten Umständen nur schwer Raum finden. So wird in inklusionsorientierten Kontexten Musik regelmäßig als sehr niedrigschwellig und als für alle Menschen gut zugänglich beschrieben. Andererseits können bestimmte Aspekte des aktiven Musizierens verschiedene Barrieren produzieren, beispielsweise die Frage nach Notenkenntnis, instrumental- oder vokaltechnischer Kompetenz, Zusammenhangswissen und andere mehr. Die Praxis des Improvisierens ermöglicht verschiedene Positionierungen in diesem Spannungsfeld, die in diesem Beitrag dargestellt werden sollen (Aspekte des Improvisierens unter inklusiven und partizipativen Vorzeichen). Hier wird untersucht, inwiefern sich durch improvisierendes Handeln musikalisch-künstlerische Auseinandersetzungen öffnen lassen. Einen ergänzenden Exkurs (3. Digitalisierung als Türöffner?) bildet die Frage, inwiefern durch digitale Technologien neue Räume und Praktiken für partizipative musikalische Prozesse entstehen können. Dabei greift der Artikel auf empirische Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt be_smart (BMBF; FKZ 01JKD1710 / A) zurück. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Überlegungen zur Frage nach einer Übertragbarkeit und Anwendbarkeit in bzw. für das Feld der inklusionsorientierten Hochschullehre. Hier wird anhand eines Seminarbeispiels ein Format vorgestellt, in dem Improvisieren als musikalische Praxis Studierenden einen spezifischen Raum bietet, Inklusion und Partizipation zu erkunden: sowohl im Sinne einer Qualität ihrer späteren professionellen Praxis als auch im Sinne der Entwicklung einer professionellen, reflexiven und differenzsensiblen Haltung.
Stichworte: Inklusion, Musikalische Bildung, Partizipation, Improvisieren, Hochschullehre
Inhaltsverzeichnis
Email-Adressen der Autor/-innen: juliane.gerland@uni-münster.de
Weitere Angaben zu den Autor/-innen: Universität Münster, Institut für Musikpädagogik, Professur Musikpädagogik mit dem Schwerpunkt sonderpädagogische Förderung und Inklusion.
Musik und insbesondere musikalische Praxis bieten eine besondere Gelegenheit für inklusive Lern- und Bildungsprozesse. Um das Verständnis des vorliegenden Beitrags zu erleichtern, soll Inklusion für diesen Beitrag mit Ainscow und Miles anhand von vier Kriterien definiert werden:
Allerdings bedarf es für musikbezogene Bildung weiterer Vorüberlegungen, denn eine inklusive Qualität von Musik und musikalischer Praxis ist keinesfalls ein Automatismus. Musik als soziale und künstlerische Praxis kann insofern als inklusiv gelten, als dass sie vielfältig auf Menschen wirkt. Musik lässt sich intuitiv und emotional erfassen, ebenso kann sie konkret sinnlich und körperlich erfahren werden, Gegenstand kognitiver Reflexions- und Analyseprozesse sein, aber auch im Sinne eines künstlerischen Ausdrucksmediums fungieren. Durch diese unterschiedlichen Zugangsqualitäten kann Musik Menschen mit verschiedensten Dispositionen ansprechen. Um die angesprochenen inklusiven Potenziale von Musik nutzen zu können, ist es unabdingbar, die verschiedenen Zugangsmöglichkeiten zu aktivieren, damit Musik im Sinne Feusers als „gemeinsamer Gegenstand“ (Feuser 2013) funktionieren kann und nicht ausschließlich als individuelle bzw. individualisierte Option, passend zu den persönlichen Voraussetzungen nutzbar ist. Zu berücksichtigen ist darüber hinaus, dass Musik im Gegensatz dazu auch sehr exkludierend wirksam sein kann: tradierte und bildungsbürgerliche Verständnisse von Musik und Musizieren, kulturelle Differenzen oder eine deutliche Fokussierung auf komplexe und spezifische Kompetenzen (musiktheoretische Kenntnisse, instrumentalpraktische Expertise etc.) können genau diese Potenziale von Musik als gemeinsamen Gegenstand unterlaufen und Exklusionsprozesse und Machtasymmetrien (re-)produzieren (Gerland & Niediek 2023).
Ähnlich der Frage des inklusiven Potenzials von Musik ist auch die Frage nach den Möglichkeiten und letztlich auch der Relevanz von Partizipation im Kontext von Musik und musikalischer Praxis gelagert.
Partizipation wird dabei im Anschluss an Bartelheimer et al. (2020) als aktive und bewusste (Mit-)Gestaltung unterschiedlichster Bereiche der Gesellschaft und als die „zentrale Voraussetzung für die Selbstentfaltung eines Menschen in sozialen Zusammenhängen“ (Bartelheimer et al. 2020, S. 50) verstanden.
Während einigen musikalischen Praktiken und Genres partizipative Elemente inhärent sind – wie etwa in der freien Improvisation, im Hip-Hop oder in experimentellen Settings – sind in Zusammenhängen wie im Orchesterspiel, beim Chorsingen oder bei der Interpretation eines komponierten Stücks die Freiheitsgrade deutlich geringer. Macht in den erstgenannten Beispielen gerade das partizipative Potenzial die Formate attraktiv, so liegt der Reiz der anschließenden Beispiele gerade darin, nicht künstlerisch spontan und frei zu sein, sondern darin bestimmten Vorgaben, Regelkonstellationen und Konventionen (gemeinsam) zu folgen.
Auch bei diesen letztgenannten Formaten ergeben sich dennoch Gelegenheiten zur Partizipation – sie setzen allerdings auf einer anderen Ebene an: Eine Sonate von Mozart in einem anderen, und gewissermaßen „falschen“ Rhythmus zu spielen, führt nicht zu Zufriedenheit, wenn die Zielsetzung ist, dieses Stück möglichst originalgetreu wiederzugeben. Zufriedenstellende Freiheitsgrade ergeben sich hier beispielsweise eher bezüglich der Wahl des Tempos oder der Gestaltung der Lautstärke und Klangfarbe. Diese Gestaltungsfreiräume knüpfen an eine umfangreiche und spezifische musikalische Vorerfahrung an. Auch im Kontext des Chorsingens oder des Orchester- oder Ensemblespiels lohnt sich ein differenzierter Blick auf die Frage nach Partizipation: Chöre, Orchester oder andere Ensembles sind häufig durch ein hierarchisches Gefüge geprägt. Es gibt ein*e Leiter*in oder Dirigent*in, der/die musikalisch-gestalterische Impulse vorgibt, die durch die Musizierenden umgesetzt werden. Würden an dieser Stelle sämtliche Entscheidungen zur musikalischen Gestaltung individuell getroffen, würde der Sinn des Musizierens im Ensemble unterlaufen werden. Chancen zur Partizipation entstehen hier beispielsweise, indem die Ensembleleitung verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten vorschlägt und der Gruppe die finale Entscheidung überlässt. Auch eröffnet bereits die Kommunikation über Gestaltungsentscheidungen oder Aspekte wie Stückauswahl, Besetzungsfragen etc. Mitgestaltungsmöglichkeiten, die durch die einzelnen Musizierenden umgesetzt werden. Entscheidend ist hier m.E. die Übernahme einer Haltung des*der Leitenden, anstehende Entscheidungsprozesse überhaupt transparent zu gestalten, sie für die Beteiligten nachvollziehbar zu kommunizieren und diskutierbar zu machen.
Unter dem Begriff des Improvisierens sind zahlreiche verschiedene Facetten einer musikalischen Praxisform subsummiert. Ihr gemeinsames Kernelement lässt sich am ehesten über eine Abgrenzung begreifen: Improvisieren ist nicht das Reproduzieren bzw. Interpretieren eines durchkomponierten Musikstücks (Friedemann 1973; Schwabe 2019). In verschiedenen Genres, Stilrichtungen oder Praxisfeldern kann Improvisieren jedoch sehr unterschiedliche Gestalt annehmen, insbesondere in Bezug auf die jeweiligen musikalischen Freiheitsgrade. Eine Jazzimprovisation in einer bestimmten Tonart oder eine Orgelimprovisation über ein bestimmtes Motiv setzt den Musizierenden einen wesentlich engeren Rahmen als eine frei angelegte Gruppenimprovisation. Treß beschreibt aus musikpädagogischer Perspektive diese Komplexität des Improvisationsbegriffs und identifiziert verschiedene gewachsene Forschungsperspektiven auf das Feld der musikalischen Improvisation, die allerdings eher musik- oder kulturwissenschaftlich geprägt sind als genuin musikpädagogisch (Treß 2022, S. 5). Weber untersucht in seiner Studie Potenziale der Gruppenimprovisation in inklusiven Unterrichtskontexten (Weber 2020) und führt außerdem aus, dass Improvisation auf „sämtlichen musikalischen und musikbezogenen Ausführungsniveaus individuelle musikalische Handlungs- und Lernmöglichkeiten“ (Weber 2023, o.S.) bietet. Für den in diesem Beitrag beschriebenen Seminarkontext erschient Weber anschlussfähig. Er bezieht sich auf eine weites Improvisationsverständnis, „da nicht nur intentionale und bewusste improvisatorische Handlungen, sondern auch basale Formen“ (ebd.) in die musikalische Gruppenimprovisationen einzubeziehen sind. Gerade diese hohen Freiheitsgrade einer Gruppenimprovisation (Gagel 2013) in Verbindung mit der besonderen Relevanz von Interaktion und Kollaboration (Figueroa-Dreher 2016, Treß 2022) eröffnen in Bezug auf Inklusion und Partizipation vielversprechende Optionen.
Im Folgenden widmet sich dieser Artikel der Frage, inwieweit sich die musikalische Praxisform des Improvisierens eignet, um Inklusion und Partizipation zu befördern. Viele der zu Beginn angedeuteten Exklusionsrisiken musikalischer Praxis sind in der Praxis der Gruppenimprovisation deutlich weniger relevant als in anderen musikalischen Kontexten. Dadurch, dass es darum geht, das Stück überhaupt erst aus dem Moment heraus zu entwickeln, gibt es nicht das Risiko, Töne zu spielen, die nicht zum Stücke gehören – wie bei der Reproduktion eines bereits existierenden Stücks, das nachgespielt werden soll. Die Ansprüche an die Perfektion der Passung zu einer bestimmten Vorstellung spielen hier eine unbedeutendere Rolle. Die Reproduktion eines Stückes ist außerdem an entsprechende instrumentalpraktische Kompetenzen gebunden, beispielsweise müssen die Musizierenden das passende Tempo spielen können, den vorgegebenen Rhythmus halten, das entsprechende Harmonieschema umsetzen etc. Insgesamt orientiert sich bei der Reproduktion eines Stückes das gesamte musikalische Vorgehen an den spezifischen Bestandteilen des bereits fertigen Stücks.
In der Praxis der freien Gruppenimprovisation ist es quasi umgekehrt – aus den Kompetenzen, Ideen und Wünschen der Musizierenden entsteht im Moment des Musizierens das Musikstück. Fehler im Sinne einer Abweichung vom Original spielen hier keine Rolle, da die Akteur*innen auf ihr individuelles musikalisches Handlungsrepertoire zurückgreifen, das ihnen in der Situation zur Verfügung steht. Die musizierende Gruppe selbst verhandelt in der Situation die zu beachtenden Regeln. Diese regelbezogenen Aushandlungsprozesse sind dabei von entscheidender Bedeutung. Ohne ein passendes und akzeptiertes Regelwerk wird kein zufriedenstellender Improvisationsprozess entstehen, da alles in Beliebigkeit verschwimmt und die individuellen musikalischen Äußerungen bedeutungslos werden, anstatt in einen gemeinsamen Prozess einzufließen. Statt musikalischer Partizipation entstünde eine Art Scheinpartizipation, da die Musizieraktionen der Teilnehmenden keine ästhetisch-künstlerischen Konsequenzen zeigen. Wiederum kann Partizipation hier entstehen, wenn die Teilnehmenden selbst über das Regelwerk entscheiden und dieses auch während des Prozesses weiterentwickeln und verändern können. Durch die maßgebliche Orientierung an den Kompetenzen und Wünschen der Teilnehmenden ergibt sich darüber hinaus das inklusive Potenzial dieser musikalischen Praxisform.
Gerade diese Orientierung kann jedoch gleichzeitig auch eine deutliche Grenze in Bezug auf Partizipation und Inklusion bedeuten: genau durch die beschriebene Offenheit und die musikalische Prozessorientierung entstehen in Situationen des Gruppenmusizierens Stücke, die ästhetisch und stilistisch vergleichsweise weit vom musikalischen Mainstream entfernt sind. Gruppenimprovisationen wirken häufig experimentell und entsprechen so nicht unbedingt den Erwartungen an Musik, die in solchen Formen unerfahrene Personen häufig haben. Wer einen aktuellen Pop-Song spielen möchte, kann sich diesen Wunsch mit einer Gruppenimprovisation nicht erfüllen. Insbesondere Personen mit wenig praktischer Musiziererfahrung, mit wenig Erfahrung im Reflektieren der Unterschiede zwischen produkt- und prozessorientierten Musikverständnissen und einer mediengeprägten musikalischen Sozialisation haben jedoch häufig eher konkrete Wünsche an das Musizieren – wie eben beispielsweise einen aktuellen Hit spielen oder singen zu können. Hier bedarf die Praxis des Improvisierens einer entsprechend aufmerksamen Begleitung in Form einer Öffnung der Musikverständnisse und einer möglichst aktiven Auseinandersetzung mit freien musikalischen Praxisformen.
Digitalisierung als große gesellschaftliche Transformation und ihre zunehmende Bedeutung verändert auch die Praxisfelder der Kulturellen und Musikalischen Bildung (Jörissen et al. 2019; Ahlers & Godau 2019). So tragen digitale Musikinstrumente und insbesondere auch die Möglichkeiten des Musizierens mit Apps auf mobilen Endgeräten dazu bei, dass neue instrumentalpraktische Handlungsmuster entstehen und sich in digitalisierten Mensch-Instrument-Interaktionen damit auch Fragen nach der Urheberschaft musikalischer Produktionen neu stellen (Gerland & Niediek 2023). In unserem Forschungsprojekt zur Frage nach der Bedeutung digitaler Musiziertechnologien für die Teilhabechancen an musikalisch-kultureller Bildung für Jugendliche und junge Erwachsene mit komplexer Behinderung[1] konnten wir zeigen, dass die bislang eher analog geprägten Handlungsmuster und Orientierungsrahmen (Gerland et al. 2022) in der Praxis der musikalischen Bildung durch digitale Entwicklungen deutlich irritiert werden. Mit Blick auf inklusionsorientierte Weiterentwicklungen der musikalischen Bildung entstehen einerseits Chancen, Schüler*innen mit komplexer Behinderung, denen die Zugänge zum aktiven Musizieren bislang aus verschiedenen Gründen erschwert waren, ganz neue Praxisformen des Musizierens anzubieten (beispielsweise Klangerzeugung mit Wischbewegungen über ein Touch-Pad anstatt mit herkömmlichem Instrumentarium, das beispielweise zu viel Gewicht hatte).
Andererseits entstehen unter den gleichen Bedingungen auch Exklusionsrisiken. Wenn etwa vorschnelle Zuordnungen durch Lehrpersonen erfolgen, nach denen digitale Instrumente zunächst immer Schüler*innen mit Behinderung vorbehalten sind, während die analogen Instrumente von Schüler*innen ohne erkennbare Behinderung gespielt werden. Dies ist in besonderer Weise problematisch, da zahlreiche Lehrkräfte in verschiedenen Praxiskontexten musikalischer Bildung digitalen Musizierpraktiken sehr zurückhaltend gegenüberstehen. Digitale Instrumente werden häufig als ein minderwertiger Ersatz der analogen Instrumente und nicht als eine andere Kategorie von Musikinstrumenten verstanden, die neue und in erster Linie eigene spezifische musikalische Handlungsformen ermöglichen (Gerland et al. 2022). Darüber hinaus scheint das gemeinsame Musizieren und konkret das gemeinsame Improvisieren mit Apps jedoch das Potenzial zu haben, Asymmetrien hinsichtlich formaler musikbezogener Wissensbestände zwischen den beteiligten Akteur*innen aufzuheben und so gleichberechtigte Teilhabe an Musizierprozessen beispielsweise für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung fördern zu können (Gerland 2022).
Dies lässt sich möglicherweise u.a. darauf zurückführen, dass sich durch den vergleichsweise hohen Innovativitätsgrad die Unterschiede der gemachten Erfahrungen nivellieren. Im Bereich des Musizierens mit digitalen Instrumenten ist – anders als mit konventionellen Instrumenten – auch bei erfahrenen Musizierenden, wie beispielsweise Lehrkräften, wenig eigene Erfahrung die Regel. Die hier entstehenden Spielräume eröffnen Chancen für partizipativer angelegte Prozesse in der musikalischen Bildung. Weiter unterstützen gerade Apps, die sich in der visuellen Gestaltung von konventionellen Instrumenten deutlich unterscheiden, eine explorative und offene Herangehensweise an die Musizierprozesse, die sich gerade in Bezug auf das Improvisieren als vielversprechend zeigen (Gerland 2022).
Im folgenden Abschnitt soll die Beschreibung eines inklusionsorientierten Seminars exemplarisch erläutern, inwieweit Partizipation durch die Praxis des Improvisierens in der Hochschullehre umgesetzt werden kann und wo sich Grenzen zeigen. Das Seminar wird als Element einer „inklusionsorientieren“ Hochschullehre bezeichnet. Unter Inklusionsorientierung sind in diesem Zusammenhang Prozesse und Maßnahmen zu verstehen, in deren Verlauf sich eine Hochschule als „reflexive Institution versteht und eine ,Inklusionsorientierung‘ anstrebt, in dem sie sich zunehmend gegenüber Menschen öffnet, denen aufgrund zahlreicher Barrieren in ihrer Bildungsbiographie akademische Bildungsinstitutionen bislang nicht zugänglich gewesen sind“ (Hauser et al. 2016, S.278). Auch Goldbach et al. betonen die Bedeutung neuer Zugänge zu tertiärer Bildung (Goldbach et al. 2020, S. 45). Lücke et al. unterscheiden hier ebenfalls zwischen inklusiven und inklusionsorientierten Seminaren, da Hochschulen nicht automatisch zu inklusiven Lernorten werden, wenn sie sich in einzelnen Seminaren für neue Personenkreise öffnen (Lücke et al. 2021, S. 13). Der Logik des Seminarprojekts folgend wird, vergleichbar mit dem sogenannten engen Inklusionsverständnis, ein besonderer Fokus auf die Zusammenarbeit mit Menschen mit Lernschwierigkeiten gelegt.
Das Seminar „Sparkling! – Gemeinsam improvisieren“ findet im Sommersemester 2023 als Kooperationsprojekt zwischen dem Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Bielefeld und der Wohneinrichtung Haus Ebenezer des Trägers Bethel Regional und der dortigen Ukrainehilfe statt. Anlass für die Durchführung dieses Seminars ist ein Arbeitstreffen des Themenclusters Inklusion und Kulturelle Bildung am Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung. Lehrende an den beteiligten Hochschulen (Hochschule Bielefeld, Hochschule Darmstadt, Hochschule für Musik, Tanz und Medien Hannover, PH Ludwigsburg, PH Schwäbisch-Gmünd, TU Dortmund) entwickeln Seminarkonzepte entlang unterschiedlicher künstlerischer Zugangsmöglichkeiten – bildende Kunst, Musik und Theater – für Studierende in pädagogischen oder sozialarbeiterischen Studiengängen und für Personen mit Behinderungen bzw. chronischer psychischer Erkrankung. In allen Seminaren sollen die teilnehmenden Personen insbesondere durch die Praxisformen des gemeinsamen Improvisierens miteinander möglichst vielfältige Interaktionsformen erproben und hinterfragen.
Im Bielefelder Seminar geht es um die musikalische Gruppenimprovisation, wie sie ursprünglich etwa Friedemann (1973), Schwabe (2019) oder Gagel (2010) thematisieren. Der Fokus liegt auf einer aus dem Moment heraus entwickelten und an der Interaktion orientierten freien Musikproduktion, die bestimmten konzeptionellen oder formalen Regelwerken folgt. Ein Beispiel ist die folgende Spielstruktur: es improvisieren immer zwei Personen gemeinsam, die nebeneinander sitzen bzw. stehen. Wenn einer der beiden oder auch beide Spielenden aufhört/aufhören, ist das nächste Paar an der Reihe. Geregelt ist hier die Frage, wer gerade spielt und wer zuhört. Außerdem ist der Klangvorrat geregelt, denn musiziert wird mit den Instrumenten, die die Personen gerade bereits in der Hand bzw. vor sich haben. Offen bleibt sowohl, was die Personen spielen und zwar in Bezug auf alle Gestaltungsparameter (Dynamik, Klangfarbe, Tonhöhe, rhythmische Strukturen, Dichte, etc.) als auch wie sie den Aspekt der Interaktion interpretieren. In manchen Sequenzen sind die Musizieranteile sehr asymmetrisch verteilt, in manchen wird eng zusammengespielt, manchmal parallel nebeneinander her ohne erkennbare Bezugnahme. Diese Freiheit funktioniert, weil durch die strukturellen Regeln ein Bedingungsfeld entsteht, in dem die Teilnehmenden sich orientieren können und ihre Freiheitsgrade nutzen können. Die im Prinzip völlig freien musikalischen Aktionen bekommen einen greifbaren und ästhetisch plausiblen Rahmen und die teilnehmenden Personen werden nicht durch zu hohe Freiheitsgrade überfordert. Ihre individuellen und situativen musikalischen Entscheidungen können so künstlerisch wirkungsvoll eingebettet und zueinander in Beziehung gesetzt werden.
Die teilnehmenden Studierenden sind fortgeschrittene Bachelorstudierende aus den Studiengängen Pädagogik der Kindheit bzw. Soziale Arbeit und belegen das Seminar als Veranstaltung innerhalb ihres Wahlpflicht Profilmoduls Bildung, Kultur und Medien und/oder im Rahmen ihres zusätzlichen Qualifizierungsbereichs Musikalische Bildung. In Haus Ebenezer wohnen ukrainische männliche[2] Jugendliche und junge Erwachsene mit leichten bis mittelgradigen Behinderungen, die im Zuge des Ukraine-Konflikts nach Deutschland fliehen mussten.
Die wöchentlichen Seminarsitzungen finden in einem Gemeinschaftsraum in Haus Ebenezer statt, da ein anderer Ort (beispielsweise das Theaterlabor der Hochschule) aus organisatorischen Gründen für die Teilnehmenden aus Haus Ebenezer nicht zu erreichen ist. Jeder Termin dauert ca. 90 Minuten, in diesem Zeitraum wird auch der Seminarraum gemeinsam vorbereitet und aufgeräumt. Zu Beginn und zum Abschluss der Einheiten werden kurze Planungs- bzw. Reflexionsgespräche durchgeführt, an denen zunächst nur die Teilnehmenden der Hochschule mitwirken, zunehmend jedoch auch die Teilnehmenden aus Haus Ebenezer. Die Mitarbeiter*innen in Haus Ebenezer unterstützen jeden Termin durch organisatorische Hilfestellung, nehmen aber auch an den meisten Improvisationssessions teil. Musiziert wird mit niedrigschwelligem Instrumentarium, hauptsächlich Trommeln, Percussions und Stabspiele. Aber auch Gitarren und ein Akustikbass sind beliebt und nachgefragt. Eine größere Vielfalt wird durch den Einsatz von Bodypercussion und Gesang ermöglicht.
Die Tatsache, dass die Teilnehmenden aus Haus Ebenezer, die überhaupt verbale Lautsprache nutzen, ausschließlich ukrainisch sprechen, die Teilnehmenden aus der Hochschule hingegen nur ausgewählte wenige Worte ukrainisch verstehen und sprechen (Grußformeln etc.), prägt die Situation auf eine besondere Weise. Da keine gemeinsame Sprache vorhanden ist, müssen auch diejenigen, die üblicherweise gesprochene Sprache nutzen, auf nonverbale Kommunikation setzen. Diese Situation erfordert es, dass alle möglichst aufmerksam auf alle achten und im Laufe der Zeit lernen, sich durch Gesten oder andere nichtsprachliche Impulse einigermaßen zu verständigen.
Da die beschriebenen Rahmenbedingungen für alle Teilnehmenden deutlich vom Gewohnten abweichen, entsteht für alle Personen eine gewisse Unsicherheit vor deren Hintergrund sie ihre persönliche Teilnahme am Sparkling-Seminar entfalten können. Für die Studierenden ist die Situation dadurch gekennzeichnet, dass sie innerhalb eines Hochschulseminars in direkte Interaktion mit potenziellen Adressat*innen gelangen, darüber hinaus sind sie damit konfrontiert, dass sie im Seminar selbst hauptsächlich musikpraktisch agieren und die Bedingungen vor Ort es erfordern, dass man sich persönlich stark einbringt. Die Option eines eher passiv orientierten Zuhörens oder eines Sich-Versteckens hinter anderen Personen ist kaum gegeben. Auch die Rolle der Lehrenden ist in diesem Seminar deutlich anders als in regelhaften Seminarsettings. Die Kommunikation erfolgt nonverbal und zum Teil sehr körperlich, die Kenntnisse über Örtlichkeiten, Strukturen und Abläufe vor Ort sind – verglichen mit Seminaren im üblichen Hochschulkontext – eher rudimentär und den Kenntnissen der Teilnehmenden aus Haus Ebenezer selbst deutlich unterlegen. Vorschläge und Impulse zum Ablauf der Termine können nicht verbalsprachlich angekündigt werden, sondern müssen nonverbal und gut verständlich eingebracht werden, was ein hohes Maß an körperlicher und mentaler Präsenz und eine permanente Aktualisierung der Interaktionsprozesse erfordert. Auch hier ist ein Verstecken hinter Objekten wie gründlich vorbereiteten Präsentationsfolien und sorgsam zurechtgelegten Manuskripten oder ein Ausweichen auf ein Nebengespräch nicht möglich. Die Interaktion zwischen den Studierenden und der Lehrenden verläuft dementsprechend in eher ungewohnter Weise, weil die eingeübten Routinen hier nicht passend erscheinen. In diesem Ungewohnten entstehen Räume, in denen Studierende sich auch auf eine andere Weise einbringen können, Entscheidungen der Lehrenden werden nicht selbstverständlich angenommen, sondern verworfen, abgeändert oder weiterentwickelt. In diesem Verständnis trägt die beschriebene Seminarform auch zu erhöhten Partizipationsmöglichkeiten für Studierende in Hochschulseminaren bei.
Die Abwesenheit einer gemeinsamen Sprache unterläuft eine weitere, in der Realität solcher Kulturprojekte häufig anzutreffende Asymmetrie: die Teilnehmenden aus dem Hochschulkontext, meist redegewandter als Teilnehmende aus Wohneinrichtungen, flankieren ihre Impulse durch entsprechende sprachliche Äußerungen, die häufig schnell als allgemeiner Konsens interpretiert werden, weil kein Widerspruch folgt. Hülsken und Rodatz sprechen hier aus theatraler Perspektive vom „diskursiven Problem“ (Hülsken & Rodatz 2021, S.86), das sich aber genauso auch auf andere künstlerische Ausdrucksformen übertragen lässt. Die Abwesenheit einer gemeinsamen Sprache minimiert diesen Anpassungsdruck für die Adressat*innen – so kommt es beispielsweise wiederholt zu Situationen, in denen ein Teilnehmer aus Haus Ebenezer mit viel Charme und beeindruckendem ukrainischem Redefluss die Lehrende oder auch Studierende im Anleiten einer Improvisationssequenz ablöst und die nächste(n) Phase(n) übernimmt. Eine gemeinsame verbale Sprache hätte möglicherweise dazu geführt, dass auf bestimmte Reihenfolgen und Regeln verwiesen worden wäre und so Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten der Teilnehmenden aus der Wohneinrichtung reduziert worden wären.
Die Verschiebung solcher Aushandlungsprozesse erstreckt sich über die direkte musikalische Interaktion der Improvisationssessions hinaus: so werden die Vor- und Nachbesprechungsrunden, die in einer kleinen Sitzrotunde vor dem Haus stattfinden und ursprünglich eigentlich nur für die Teilnehmenden der Hochschule angedacht sind, mit der Zeit immer häufiger und intensiver von Teilnehmenden aus Haus Ebenezer genutzt. Der ein oder andere setzt sich dazu und bietet eigene Impulse durch das Andeuten musikalischer Motive oder Elemente aus bereits bekannten Musikspielen. Körpersprachlich werden weitere Personen aufgefordert, mit einzusteigen oder es werden eigene neue Ideen vorgestellt. So entsteht eine Möglichkeit, die musikalischen Inhalte der Sitzungen auf eine spezifische Art zu reflektieren und sich einen Eindruck davon zu machen, was gut ankam und was weitere Ansätze sein könnten – auch hier entstehen Partizipationschancen.
Bereits zu Beginn des Semesters wird deutlich, was funktioniert und was nicht: häufig gelingen Spielvorschläge mit einfachen, konkreten und klaren Regeln, in denen die Räume zur freien Gestaltung begrenzt sind und von klar durchstrukturierten Elementen gerahmt werden. Ein Beispiel ist eine Spielstruktur, in der die ganze Gruppe mit Trommeln gemeinsam ein prägnantes rhythmisches Motiv als Refrain bzw. Kehrvers spielt. Zwischen den Refrainteilen bekommen alle Teilnehmenden nacheinander die Gelegenheit, ein Motiv mit der Stimme (gesprochen, lautiert, gesungen etc.) einzubringen, auf das wiederum der getrommelte Kehrvers erfolgt. In den Solo-Teilen ergibt sich Freiraum für eigene musikalische Impulse, die in jedem Falle Gültigkeit haben und durch den gemeinsamen Kehrvers bestätigt werden. Im Laufe einiger Wochen entwickelt sich ein Repertoire aus Liedern, Spielideen und musikalischen Ritualen, die in der Gruppe gut funktionieren. Ein Überraschungserfolg ist das gemeinsame Spiel mit einem imaginären Gegenstand (der „Boom-Box“), dieser Gegenstand wird stetig von einer Person zu einer anderen weitergegeben, -gerollt, -geschoben, -geworfen oder Vergleichbares. Dabei verändern sich Größe, Form und Beschaffenheit dieses imaginierten Objekts. Manchmal kann man es kaum bewegen, manchmal zieht eine Person die Boom-Box plötzlich aus der Hosentasche. Begleitet wird die Veränderung der Boom-Box durch vokale Aktionen und einen Body-Percussion-Rhythmus, den immer einige Personen weiterspielen. Gegen Ende des Semesters taucht die Boom-Box auch unvorhergesehen im Gruppengeschehen auf, weil sie plötzlich von einem Teilnehmenden aus der Tasche gezogen wird oder jemand mit dem Rhythmus der Boom-Box beginnt. So entstehen weitere Gelegenheiten für selbstbestimmte musikalische Entscheidungen. Gerade durch die Veränderlichkeit dieser Spielidee entstehen immer wieder besondere Momente der gemeinschaftlichen musikalischen Produktion, die die Handschrift der Mitwirkenden trägt.
Die beschriebenen Rahmenbedingungen des Seminars erfordern ein spezifisches und transparentes sowie übersichtliches Regelsystem und möglichst vorhersehbare Abläufe, damit für alle Mitwirkenden eine zufriedenstellende Erfahrung entstehen kann. Durch die sprachlichen Gegebenheiten müssen die Regeln vor Ort gemeinsam entwickelt und praktiziert werden, da eine sprachliche Verständigung im Sinne einer Meta-Ebene nicht möglich ist. So besteht ein großer Teil der ersten Seminarsitzungen daraus, Regelwerke und Kommunikationszeichen zu entwickeln und zu erproben, die gut zu verstehen und einfach anzuzeigen sind. Angelehnt an die Methode des Improvisationsorchesters (Meyer & Sheridan 2014) bzw. des Conductings nach Morris (Stanley 2009; Morris 2007), entsteht ein Zeichenvorrat, der beispielsweise regelt, wer wann dran ist und wann nicht. Außerdem werden Einigungen über Zeichen für verschiedene musikalische Parameter wie Lautstärke und Dauer eines Tons gefunden. Im weiteren Verlauf werden diese gestischen Zeichen gelegentlich durch Farbkarten ersetzt, die bestimmte musikalische Aktionen bzw. Impulse darstellen. Eine solche partizipative und schrittweise Etablierung spezifischer Regelsysteme in Improvisationskontexten (Rodatz 2023) eröffnet die Möglichkeit, auch kleine Impulse und Wünsche aller Teilnehmenden aufzugreifen und Musiziervorschläge entlang der aktuell vorhandenen Kompetenzen der Akteur*innen zu entwerfen.
Nimmt man den Aspekt der Inklusionsorientierung und den Aspekt des Improvisierens in ihrer Bedeutsamkeit für das beschriebene Seminar gemeinsam in den Blick, wird deutlich, dass beide durch dialektische Logiken determiniert sind. Differenz und Gemeinsamkeiten werden im Seminarverlauf zu variabel auszuhandelnden Konstrukten. Meyer (2019) beschreibt die Notwendigkeit des Ausbalancierens zwischen strukturierten und freieren Elementen in ihrer dialektischen Verschränkung in inklusiven Gruppen als eine bedeutsame Grundlage, um die jeweiligen Handlungsspielräume für die Gruppe möglichst gut nutzen zu können (Meyer 2019, S.65-68). Helsper (2016) betrachtet pädagogisch-professionelles Handeln grundsätzlich als antinomisch (S. 53). Für den hier erörterten Zusammenhang sind insbesondere vier der von ihm ausgearbeiteten antinomischen Felder relevant:
Eine spezifischere Entsprechung für das Improvisieren in musikpädagogischen Zusammenhängen findet sich bei Treß (2022), der hier drei Spannungsfelder ausmacht:
Auch für die musikalischen Prozesse des Sparkling-Seminars und in der Folge auch für den Aspekt der Inklusionsorientierung sind diese Spannungsfelder relevant. So stellt sich für den beschriebenen Praxiskontext immer wieder die Frage, wie viel Struktur, Orientierung und Vorgaben (im Sinne von Komposition) es bedarf, damit sich auch die Teilnehmenden mit wenig entsprechenden Vorerfahrungen als Musizierende erleben und musikalische Wünsche, wie etwa bestimmte Lieder zu musizieren, umsetzen können. Wie im zweiten Spannungsfeld beschrieben spielt das Pendeln zwischen Freiheit und Gebundenheit eine Rolle, da nur im Rahmen einer gewissen Struktur überhaupt Gestaltungsspielräume entstehen. Gleichzeit muss darauf geachtet werden, dass diese Spielräume nicht wiederum durch ein „zu viel“ an Struktur verhindert werden. Auch Fragen nach individuellen musikalischen Äußerungen und ihrer Einbettung in interaktive Prozesse wie sie im dritten Spannungsfeld beschrieben werden, sind im gesamten Seminarverlauf stark präsent. Gruppendynamische Prozesse und Beziehungsgestaltung sind wichtige Aspekte im Seminarverlauf.
Sowohl in Bezug auf die Inklusionsorientierung des beschriebenen Seminars als auch für die Praxisformen der musikalischen Gruppenform erscheint gerade das beschriebene Oszillieren zwischen Struktur und Freiheit, Fremdem und Vertrautem, Individuum und Kollektiv entscheidend um einerseits musikalisch immer differenzierter ausdrucksfähig zu werden und andererseits Gemeinsamkeiten und Differenzen produktiv erlebbar zu machen.
Auch wenn in diesem Artikel skizziert wird, wie durch Praxisformen wie musikalische Gruppenimprovisation mehr Partizipation in Kontexten inklusionsorientierter Hochschullehre umgesetzt werden kann, ist nicht davon auszugehen, dass sich ein höherer Partizipationsgrad automatisch und nachhaltig einstellt. Machtasymmetrien, wie beispielsweise im hier beschriebenen Seminar zwischen der Lehrenden und den Studierenden sind etabliert und wirksam und lassen sich nicht ohne weiteres abbauen. Deutliche Hinweise für diese Hürden sind beispielsweise die spürbare Zurückhaltung einiger Studierender im Einbringen eigener musikalischer Ideen und in der Übernahme der Anleitung einzelner Sequenzen in den Seminarsitzungen. Bzgl. der Teilnehmenden aus Haus Ebenezer ist anzumerken, dass hier keineswegs immer sicher zu erkennen ist, was konkrete musikalische Wünsche oder Ideen sind, da keine Möglichkeit einer (vermeintlichen) sprachlichen Absicherung besteht. Zu ergänzen ist, dass diese Tatsache auf eine weitere Asymmetrie hinweist: für Personen mit hochschultypischen Bildungsbiographien erscheint eben diese verbalsprachliche Verständigung als ein sehr zuverlässiges Kommunikationsinstrument. Für Personen, die üblicherweise nicht in erster Linie und nicht selbstverständlich verbalsprachlich kommunizieren, stellt eine solche Verständigung hingegen kein zuverlässiges und entlastendes Instrument dar, sondern möglicherweise eine weitere Hürde oder Verunsicherung. In der Folge gilt es, für Personen mit hochschultypischen Bildungsbiographien diese verschiedenen Mechanismen verbalsprachlicher Absicherung musikalischer Prozesse kritisch zu hinterfragen und ggf. offener und vielfältiger in kommunikative Situationen hineinzugehen. Es bleibt die Frage, welche Folgen es für inklusionsorientierte musikalische Bildungssituationen hat, wenn über bestimmte Prozesse keine sprachliche Einigung herbeigeführt werden kann, sondern es bei der konkreten gemeinsam geteilten Erfahrung und einer entsprechenden Unbestimmtheit bleiben muss bzw. darf.
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[2] Die Zuschreibung „männlich“ wird hier ohne weitere Differenzierungen so verwendet, da im Herkunftskontext der gemeinten Personen kein gendersensibler Diskurs existiert und daher grundsätzlich von einem binären Geschlechterverständnis ausgegangen wird.