Lena Marie Staab: „[So] wie ich auf die Welt blicke, ist Klasse eine wichtige Kategorie [. . . ]“ – ein Interview mit Francis Seeck zu Intersektionalität, (Anti-)Diskriminierung und Klassenfragen

Abstract: Der Beitrag basiert auf einem Interview mit Kulturanthropolog*in, Geschlechterforscher*in und Antidiskriminierungstrainer*in Dr. Francis Seeck und wirft Fragen nach (der Relevanz von) Differenzkategorien, der Aktualität von Klasse und intersektionalen Perspektiven auf.

Stichworte: Intersektionalität, Klassismus, Psychiatriekritik, Dis-/Ability, Antidiskriminierung

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Interview
  3. Literatur

1. Einleitung

In diesem Beitrag wird sich der Thematik der Intersektionalität aus einer Praxis-reflektierenden Perspektive genähert. So berichtet Seeck im vorliegenden Interview aus der Praxis der Antidiskriminierungsarbeit und verbindet diese sowohl mit der Betrachtung historisch-theoretischer Perspektiven auf Intersektionalität als auch mit der eigenen Forschung als wissenschaftliche*r Mitarbeiter*In im Forschungsprojekt „Antipsychiatrie und Stadt. Zur Verschränkung von psychiatriekritischer Praxis, städtischen Räumen und sozialen Bewegungen“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. In diesem Sinne bewegt sich Seeck im Feld der Intersektionalität in verschiedenen Räumen und unterschiedlichen Rollen: Als Person, die aus einer theoretisch-wissenschaftlichen Perspektive auf das Thema blickt, als Person, die im Feld tätig ist, aber auch aus einer aktivistischen Positionierung und als betroffene Person.
Die Verbindung von aktivistischer Praxis und wissenschaftlicher Theorie lässt sich auch in der Geschichte politischer Bewegungen wiederfinden, die Intersektionalität als Konzept reflektierten bzw. als Fundament der eigenen Betrachtung aufweisen: Das Combahee River Collective – ein 1974 gegründetes Kollektiv Schwarzer Feminist*innen und Lesben aus der Arbeiterklasse – stellt einen Meilenstein für die Entwicklung intersektionaler Theorie und Praxis dar. Im Text „Ein Schwarzes feministisches Statement“ aus dem Jahr 1977 schreibt das Kollektiv hierzu:
“Wir setzen uns aktiv dafür ein, gegen rassistische, sexistische, heterosexistische und klassistische Unterdrückung zu kämpfen, und sehen es als unsere spezielle Aufgabe, eine integrierte Analyse und Praxis zu entwickeln, die auf der Tatsache beruht, dass die Hauptunterdrückungssysteme miteinander verschränkt sind.“ (The Combahee River Collective, 1977; 2019, 50)

2. Interview

LS:  Hallo Francis, du arbeitest als Kulturanthropolog*in und Antidiskriminierungstrainer*in – magst du mir von deiner Arbeit erzählen? Was machst du konkret, wie sehen Deine Arbeitsfelder aus?
FS: Ja gern. In der Antidiskriminierungsarbeit liegen meine Schwerpunkte auf Klassismus und geschlechtlicher Vielfalt. Für alle, die den Begriff noch nicht kennen: Klassismus beschreibt die Diskriminierung entlang Klassenherkunft oder Klassenposition. Klassismus zeigt sich zum Beispiel in der Diskriminierung von erwerbslosen Menschen, wohnungslosen Menschen und Arbeiter*innenkindern im Bildungssystem.
In meiner Arbeit an der Universität beschäftige ich mich mit geschlechtlicher Vielfalt und Klassenverhältnissen: Ich habe in meiner Dissertation zu trans und nicht-binären Sorgeverhältnissen, und dazu, welche Rolle in diesem Zusammenhang der Aspekt der Klasse spielt, geforscht. Aktuell bin ich als Post-Doc- in einem Forschungsprojekt angestellt, das sich mit Antipsychiatrie und Stadt beschäftigt. Hier liegt der Fokus auf der Verschränkung von psychiatriekritischer Praxis, sozialen Bewegungen und städtischen Räumen.

LS: Was ist das Ziel deiner Antidiskriminierungsarbeit?
FS: Das Ziel der Arbeit hängt vom jeweiligen Kontext ab: Ich gebe beispielsweise Fortbildungen für Sozialarbeiter*innen, Erzieher*innen und Lehrende an Schulen und Hochschulen. Diese Personen haben in ihren Arbeitsfeldern Macht und treffen Entscheidungen, die das Leben der Menschen, mit denen sie arbeiten, beeinflussen. Ein Ziel dieser Fortbildungen ist es, nachvollziehbar zu machen, dass wir alle in einer klassistischen, sexistischen und heteronormativen Gesellschaft aufgewachsen und in diese Strukturen eingebunden sind.
Ein Schwerpunkt meiner Arbeit ist das Thema Klassismus, denn auch in der Antidiskriminierungsarbeit zeigt sich Klassismus als vernachlässigtes Thema und stellt eine Leerstelle dar. Ziel meiner Antidiskriminierungsarbeit ist es, dass die Teilnehmenden feststellen, dass Klassismus eine wirkmächtige Diskriminierungsform ist und dann in ihrem jeweiligen Handlungsfeld – z.B. der Jugendhilfe, der Schulsozialarbeit oder der Wohnungslosenhilfe – schauen, wie sie vielleicht ebenfalls Klassismus reproduzieren und was sie dagegen tun können.

LS: Welche Rolle spielt Intersektionalität für Deine Arbeit? Gibt es bestimmte Theorieperspektiven, die du besonders spannend findest und auf die du dich beziehst?
FS: Wenn man sich die Geschichte des Klassismus-Konzeptes anschaut, dann ist es eng gebunden an feministische, lesbische und antirassistische Bewegungen und Theoretiker*innen: Kollektive wie The Furies und die Prololesben, aber auch Autor*innen wie bell hooks wiesen früh auf die Verschränkung von Klassismus, Rassismus und Sexismus hin und dies spielt für klassismuskritische Bildungsarbeit eine wichtige Rolle.
Gleichzeitig finde ich es wichtig jede Form von Diskriminierung einzeln zu betrachten, weil sie jeweils eine ganz eigene Geschichte hat: So ist die Geschichte des Klassismus eng gebunden an die Geschichte der Verfolgung der sogenannten „Asozialen“ im Nationalsozialismus. In der NS-Zeit wurden beispielsweise Bettler*innen, wohnungslose Menschen oder Sexarbeiter*innen mit dem schwarzen Winkel als sogenannte „Asoziale“ markiert und ermordet; bis heute gibt es keine Erinnerungsstätte oder Gedenken an die Ermordeten.
Diskriminierungskategorien haben jeweils eigene Wurzeln und sind an verschiedenen Stellen verschränkt. Daher halte ich es für sinnvoll jede Diskriminierungskategorie separat und anschließend deren Verschränkungen zu betrachten. Beispielsweise Rassismus und Klassismus verschränken sich sehr häufig, aber natürlich auch Ableismus und Klassismus.
Aber es fällt auf, dass in Intersektionalitäts-Konzepten Klasse oder Klassismus zwar oft mit genannt wird, aber nicht so häufig im Fokus steht.

LS: Anmerkung zum Kollektiv „The Furies“:
Mit Tanja Abou lässt sich betonen, dass der Begriff „Klassismus“ keine neue Erfindung ist; wie auch das Combahee River Collective verwendeten die „Furies“ den Begriff „Klassismus“ bereits seit den 1970ern Jahren:
„Das feministisch-lesbische Kollektiv „The Furies“, zu dem auch die Schriftstellerin Rita Mae Brown gehörte, nutzte den Begriff [Klassismus – Ergänzung L.S.] in einem von ihnen heraus gegebenen gleichnamigen Magazin. Sie thematisierten, wie weiße Feminist*innen aus der Mittelklasse die Feminist*innen aus der Arbeiter*innenklasse zugunsten ihrer eigenen Wohlstandsbiographien abhängten.“ (Abou, 2019, 65)

Auch Seeck verweist in der Streitschrift „Zugang verwehrt. Keine Chance in der Klassengesellschaft: wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert“ darauf, dass Klassismus kein neues Konzept ist:
„Klassismus wurde als Thema lange Zeit ignoriert, obwohl er äußerst wirkmächtig ist. Anders als die Diskriminierungsformen Sexismus und Rassismus war Klassismus bis vor Kurzem beinahe unbekannt. [. . .] In (West-)Deutschland organisiersten sich in den 1970er- und 1980er-Jahren Arbeiter:innentöchter an Hochschulen und machten auf Klassismus im Bildungskontext und auf seine Verschränkung mit Sexismus aufmerksam. Ab den späten 1980ern gründeten sich im Umfeld der Frauenbewegung Proll-Lesbengruppen, in denen sich Lesben aus der Arbeiter:innen- und Armutsklasse organisierten und gegen Klassismus kämpften. [. . .] Klassismus ist also keinesfalls ein neuer Begriff, in der Breite wurde er aber nicht zur Kenntnis genommen. Es wird schon lange über Klassismus als Diskriminierungskategorie gesprochen, aber nur selten zugehört. Das ändert sich nun.“ (Seeck, 2022, 16ff.)

LS: Mich würde weiterhin interessieren, welche Rolle (Differenz-) Kategorien in Deiner Arbeit spielen? Inwiefern ist es wichtig mit diesen zu arbeiten oder sie zu dekonstruieren / sie zu durchbrechen / verschieben?
FS: In der Antidiskriminierungsarbeit spielt es eine wichtige Rolle, zunächst Kategorien zu verstärken. Denn hier wird oft gesagt (beispielsweise in Bezug auf Klassismus) „Aber es gibt doch gar keine Klassen.“ oder „Ich sehe keine Klassen.“ oder „Wir sind doch alle Mittelklasse“. Machtverhältnisse werden u.a. dadurch stabilisiert, dass deren Wirkmächtigkeit negiert wird. Deswegen geht es in der Antidiskriminierungsarbeit, oft zuerst darum, diese Differenz-Kategorien zu verstärken. Gegebenenfalls wird auch in getrennten Räumen gearbeitet, z.B. in Räumen für Klassismus-erfahrenen und Klassen-privilegierten Personen.
Das Hinterfragen von Kategorien spielt ebenfalls eine wichtige Rolle in meiner Arbeit.
So lässt sich eine Kulturalisierung von Armut beobachten, also die These, dass von Armut betroffene Menschen bestimmte Eigenschaften hätten. In der Rezeption von Büchern wie „Ein Mann seiner Klasse“ oder „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon, lässt sich beobachten, dass Armut ganz schnell mit Gewalttätigkeit, mit Rechtsextremismus, und mit Alkoholismus in Verbindung gebracht wird und hierdurch klassistische Stereotype verstärkt werden.
Ein großes Anliegen meiner Arbeit ist es, diese Stereotypen zu hinterfragen und zu betonen, dass es Gewalt in allen Familien gibt, egal, ob diese reich oder arm sind. Ein anderer Stereotyp zeigt sich beim Thema Alkohol: Während es angesehen ist sich in eine schicke Weinbar zu setzen, erscheint es als Problem, wenn einkommensarme Menschen, sich mit einem Sterni auf eine Parkbank setzen. Diese werden dann oft aktiv verdrängt. Diese klassistischen Bilder zu hinterfragen, finde ich wichtig.

LS: Anmerkung zu bell hooks:
Die bereits aufgerufene Autorin bell hooks setzte sich mit der „Bedeutung von Klasse“ in der Verknüpfung eigener biografischer Erfahrungen und Gesellschaftsanalysen auseinander. Mit hooks lässt sich die Relevanz der Reflexionen von Klasse bzw. Klassismus betonen, um in (politisches) Handeln kommen zu können. Sie schreibt hier zu:
„Um einen Wandel herbeizuführen, müssen wir wissen, wo wir stehen.“ (bell hooks, 2020, 19)

LS: Ich würde gern an dein Forschungsprojekt anknüpfen: Du arbeitest an der Humboldt-Universität zu Berlin im Projekt „Antipsychiatrie und Stadt. Zur Verschränkung von psychiatriekritischer Praxis, sozialen Bewegungen und städtischen Räumen“. Habt ihr hier inhaltliche Anknüpfungen an die Disability Studies oder die Mad Studies?
FS: Ja, es gibt Anknüpfungspunkte an die Mad Studies. Das Projekt ist Teil der Forschungsgruppe „NORMAL#VERRÜCKT“, die sich mit der Auflösung der Grenzziehung zwischen Verrücktheit und Normalität auseinandersetzt.
In dem Forschungsprojekt führe ich Interviews mit Sozialarbeiter*innen, Psychiater*innen und Aktivist*innen, die sich Psychiatrie-kritisch engagieren. Psychiatrie-kritisch kann bedeuten, Psychiatrie komplett abzulehnen oder auch gegen Gewalt oder Zwangsbehandlungen im psychiatrischen Kontext zu kämpfen. Es gibt bei dem Thema natürlich Überschneidungen zu den Disability Studies, da viele Psychiatrie-erfahrene Menschen an das Werkstatt-System oder das betreute Wohnen angegliedert sind und teilweise auch eine Vormundschaft haben. Es gibt natürlich auch Psychiatrie-Erfahrene, auf die das nicht zutrifft, das Feld ist sehr divers.
Generell zeigen sich als Überschneidung zu den Disability Studies die Themen Entmündigung, die Frage nach Gewalt in Institutionen – also Zwangsmaßnahme, Gewalt in Psychiatrien, aber auch in Betreuungseinrichtungen – sowie fehlende Autonomie.

LS: Anmerkung zu Psychiatrischer Gewalt als Diskriminierungsstruktur:
Im Sammelband „Gegen Diagnose II. Beiträge zur radikalen Kritik an Psychatrie und Psychologie“ geht Eliah Lüthi auf psychiatrische Gewalt ein und versteht diese als Teil einer Diskriminierungsstruktur; ebenso betont Lüthi in diesem Zusammenhang die Konstruktion von Ver_Rücktheit:
„[. . . ] (Zwangs-)Maßnahmen verstehe ich als Teil einer umfassenderen, grundlegenderen Gewalt, die ich als PsychGewalt beschreiben. Mein Verständnis davon wächst aus unterschiedlichen widerständigen Traditionen. Ganz zentral sind dabei die Verhandlungen um psychiatrische Gewalt und Verständnisse von Psych-Zusammenhängen als Diskriminierungsstruktur oder strukturelle Gewalt. Psych-Verständnisse von Verhalten, Fühlen und Wahrnehmen wirken weit über (‚sozial‘)psychiatrische Institutionen hinaus. Sie finden sich in Alltagssprache, Gesetzen, Diagnosen, Selbstverständnissen und vielem mehr. Sie schaffen Psych-Normen und verRücken diejenigen von dieser Norm, die ihnen nicht entsprechen. Dabei werden Psych-Verständnisse oftmals als einzige und allgemein gültige Definition von verRückten Verhalten, Fühlen und Wahrnehmen hergestellt. Mit dieser Schreibweise von verRückt vertrete ich ein machtkritisches Verständnis von verRückt werden: Menschen sind nicht verRückt sondern werden über Psych-Verständnisse als ‚verRückt‘ hergestellt.“ (Lüthi, 2019, 215)

Zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Disability Studies und Mad Studies, siehe: Boger, 2020.

LS: Du hast in deiner Dissertation mit dem Titel „Care Trans_formieren“ zu trans und nicht-binärer Sorgearbeit geforscht. Möchtest Du von Deiner Forschungsarbeit erzählen, haben sich hier ebenfalls intersektionale Verwobenheiten gezeigt?
FS: Ich habe in diesem Forschungsprojekt trans und nicht-binäre Personen begleitet und interviewt, die für andere trans und nicht-binäre Personen Sorgearbeit leisten. Es ging um die Frage, wie Fürsorge jenseits der Zweigeschlechtlichkeit organisiert wird. Oftmals wird Sorgearbeit ausschließlich im Feld der Erziehung oder Pflege verortet. Ich habe mir Sorgearbeit angeschaut, die in sozialen Bewegungen und aktivistischen Zusammenhängen erbracht wird, also nicht im klassischen privaten Kleinfamilien-Bereich und auch nicht in Institutionen.
Hier zeigten sich ausdifferenzierte Sorgekonzepte, die Aktivist*innen entwickeln. Spannend war beispielsweise, dass die Binarität zwischen Selbstsorge und Fürsorge oft brüchig war, also dass Personen Fürsorge für andere Personen auch als Selbstsorge verstanden haben oder sich das verändert hat. So gab es Personen, die eine Sorge-Beziehung eingegangen sind, beispielsweise während einer Transition – z.B. während einer Vornamens- und Personenstandsänderung – die sich dann gegenseitig unterstützt haben, sich dann aber die Sorgebeziehung auch wieder verändert hat, sodass eine Person mehr Sorge für die andere geleistet hat. Ein wichtiges Thema war die kollektive Aushandlung von Sorge.
Ich denke, dass es Überschneidungen zum Mad Pride Bereich gibt, da hier auch selbstorganisierte Sorgenetzwerke aufgebaut und organisiert werden, jenseits von den staatlichen und medizinischen Institutionen.

LS: Anmerkung zu Sorgepraktiken: Seeck führt im Fazit von „‚Care trans_formieren‘. Eine ethnographische Studie zu trans und nicht-binärer Sorgearbeit“ Fragen nach der Entwicklung neuer Sorgepraktiken im Kontext der Studie wie folgt zusammen:
„Es geht trans/nicht-binären Sorgearbeiter_innen nicht nur darum, Care zu transformieren, also Praktiken der Sorgen zu verändern und jenseits von Zweigeschlechtlichkeit und Binaritäten zu denken. Es geht auch darum Für_Sorge zu formieren, das heißt, neue Sorgepraktiken zu entwickeln. Ich zeige in dieser Studie, dass der Aufbau kollektiver Sorge ein langwieriger Prozess ist. Prozesse der Kollektivierung von Für_Sorge sind vom Engagement Einzelner geprägt. Oft entsteht die Idee, einen Raum für trans und nicht-binäre Für_Sorge aufzubauen, aus einem Gefühl der Einsamkeit und dem Wunsch nach Verbundenheit. Anschließend wird nach Unterstützer_innen gesucht, sei es übers Internet oder beim Trans- Café oder -Stammtisch. Im Laufe der Zeit stellt die betreffende Person fest, dass sie über Geschlechterwissen verfügt, das sie weitergeben kann und will. Sie baut eine Stimmgruppe, ein Trans- Café oder einen anderen trans Care-Raum auf.“ (Seeck, 2021, 226)

LS: Die Frage nach der Perspektive leitet sowohl theoretische Zugänge als auch die Praxis des Arbeitens mit Differenz. Je nach Perspektive kann eine andere Differenz-Kategorie als „Masterkategorie“ fungieren. Wie ist es in Deiner Arbeit, hast du eine „Masterkategorie“, mit der Du arbeitest/mit der Du beginnst oder sind alle Differenz-Kategorien gleichgestellt oder verschiebt sich das je nach Kontext und Arbeitsfeld, in welchem du tätig bist?
FS: In meiner wissenschaftlichen Arbeit arbeite ich mit der (Reflexiven) Grounded Theory und gehe nicht mit vorgefertigten Kategorien und Theorien ins Feld. Natürlich habe ich Vorannahmen, die ich reflektiere. Aber ich entwickle Kategorien aus den Interviews und ethnographischen Feldprotokollen heraus und versuche einen offenen Blick zu behalten. Innerhalb des Forschungsprojektes zu Psychiatriekritik und Stadt bin ich aktuell im Auswertungs-Prozess der ersten Interviews und kann noch nicht sagen, welche Kategorien in diesem Projekt eine besondere Rolle spielen werden. Ich glaube schon, dass Fragen von Gentrifizierung und Verdrängung in der Stadt, eine Rolle spielen werden, weil das dominante Themen innerhalb der Interviews waren und eine Verschränkung zwischen psychiatriekritischer Praxis und Stadtpolitik darstellt, aber ansonsten lasse ich mich überraschen.
In der Antidiskriminierungsarbeit habe ich einen starken Fokus auf Klassismus und die Kategorie Klasse. Das bedingt sich durch meinen biografischen Zugang und da ich bereits lange zum Thema Klassismus arbeite und möchte, dass mehr Menschen sich damit beschäftigen und das in ihrer Praxis umsetzen. Dadurch, dass ich hierzu viel im Austausch mit anderen bin, dazu eingeladen und befragt werde – also viel im Dialog bin – ist das eine Kategorie, die für mich eine wichtige Rolle spielt. So wie ich auf die Welt blicke, ist Klasse sicherlich eine wichtige Kategorie, auch da sie immer wieder auftaucht; natürlich ist Forschung sehr geprägt von den eigenen Interessen und Erfahrungen.

LS: Wie zeigt sich die Thematisierung von Klassismus in Deiner Arbeit? Wie gehen Akteur*innen mit dieser Diskriminierungsform um? Da Klassismus im deutschsprachigen Raum noch sehr unterbestimmt ist, würde mich interessieren, ob es für Akteur*innen ein unbekanntes Konzept ist?
FS: Der Begriff Klassismus ist vielen Personen noch unbekannt, aber die Auswirkungen von Klassismus als Unterdrückungsform nicht. Ich mache die Erfahrung, dass die meisten Menschen bei der Frage, welches Symbol für ihre Klassenherkunft oder ihre aktuelle Klassenposition steht, schnell eine Antwort drauf finden. Meiner Erfahrung nach wissen gerade Menschen, die sich eher am „oberen“ Ende oder „unteren“ Ende einer gesellschaftlichen Einordnung befinden, sehr genau, was Klasse bedeutet. Vielleicht kennen sie den Begriff Klassismus nicht, aber die Auswirkungen und wo sie sich innerhalb dieser Hierarchien jeweils befinden, kennen sie auf jeden Fall.
Außerdem gibt es auch diese „Kevin“- oder „Chantal“-Witze und klassistische Sprache: Die klassistische Abwertung „Geringverdiener“ wurde in die engere Auswahl zum Jugendwort des Jahres 2021 gewählt.

LS: Wenn wir über Sensibilisierung für Klassismus sprechen, in welche Richtung könnte sich, durch eine Sensibilisierung für Klassismus-Konzepte, sowohl Antidiskriminierungs- als auch Soziale Arbeit deiner Meinung nach entwickeln? Welches Potential siehst du hier?
FS: Viele Adressat*innen der Sozialen Arbeit sind von Klassismus betroffen, z.B. Menschen, die in Werkstätten arbeiten, nicht mal den Mindestlohn bekommen und auch kein Geld ansparen können. Viele dieser Personen leben in Armut. Gleichzeitig haben viele der Sozialarbeiter*Innen akademische Abschlüsse und sind teilweise klassenprivilegierter. Hier zeigt sich ein Gefälle, mit dem sich auseinandergesetzt werden sollte, da sich hierdurch Abhängigkeits- und Machtverhältnisse auftun und Diskriminierung reproduziert wird. Zudem stellt sich die, Fragen, welches politische Mandat Soziale Arbeit hat um die Bedingungen in diesem Bereich zu verbessern.

LS: Du hast Verschränkungen zwischen verschiedenen Differenzkategorien angesprochen, darauf bezogen: Siehst du Verbindungslinien/Verschränkung zwischen den Kategorien Dis-/Ability und Klasse? Gibt es bestimmte „Muster“, die erkennbar sind?
FS: Ja, die sehe ich beispielsweise in Bezug auf die Frage nach dem sog. „lebenswerten“ Leben oder bei zugeschriebener Leistungs(un)fähigkeit. Hier zeigen sich sozialdarwinistische Argumentation, z.B. in dem Sinne „die einen leisten, was für die Gesellschaft, die anderen leben auf Kosten der Steuerzahler“. Hier gibt es viele Überschneidungen zwischen klassistischer Diskriminierung und gegenüber Menschen, die Arbeitslosengeld II oder andere Sozialleistungen beziehen und Ableismus.

LS: Als Abschlussfrage würde ich noch gern wissen: Auf welchen Ebenen setzt Deine Arbeit an? Arbeitest Du v.a. auf der Subjekt-/ Mikroebene oder hast Du auch die Makro- und Diskursebene im Fokus? Und welche Rolle spielen die Ebenen und die Mehrebenen-Perspektive für Deine pädagogische Praxis?
FS: Meine Arbeit setzt sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene an. In der konkreten Antidiskriminierungsarbeit geht es aber vor allem um die Mikroebene: Erlebt man selbst Klassismus oder Klassenprivilegien? Was ist die eigene Klassenherkunft und -position, wo reproduziert man selbst Klassismus? Ich arbeite viel mit dem Modell der verinnerlichten Diskriminierung, das für viele Personen, gerade in Bezug auf Klassismus, eine wichtige Rolle spielt. Betroffene Menschen denken z.B. „Ich bin ja eh doof“, oder „Ich kann ja eh nichts“, oder „Ich bin ja auch wirklich faul“ übernehmen solche Zuschreibungen in ihr Selbstbild.
Es geht in meiner Arbeit aber auch darum, Klassismus und auch kapitalistische Verhältnisse auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene zu verändern.  In dem Sammelband „Solidarisch gegen Klassismus. Organisieren, intervenieren, umverteilen“, den ich gemeinsam mit Brigitte Theißl herausgegeben habe“, haben wir 27 Beiträge versammelt, viele von erwerbslosen und wohnungslosen Aktivist*innen, wo es auch um eine grundlegende Veränderung geht.

Dr. Francis Seeck, 1987 in Ostberlin geboren, ist promovierte Kulturanthropolog*in und Antidiskriminierungstrainer*in. Seeck forscht und lehrt zu Klassismus, sozialer Ungleichheit und Geschlechterverhältnissen, nach einer Vertretungsprofessur für Soziologie und Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule Neubrandenburg nun als Post-Doc an der HU Berlin. Das neue Buch von Seeck mit dem Titel: „Zugang verwehrt. Keine Chance in der Klassengesellschaft: wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert“ erschien am 16.03.22 im Atrium Verlag. https://www.w1-media.de/produkte/zugang-verwehrt-557889?verlag=atrium

 

3.Literatur

Abou, T. (2020). Prololesben und Arbeiter*innentöchter – Antiklassistische Interventionen in den feministischen Mainstream der 1980er/1990er Jahre. In N. Orman, M. González Athenas, T. Klein, I. Yogendran & S. Völker (Hrsg.), Reader zum Projekt Gleichstellung an der Universität: Intersektional denken und handeln. Intersectional – More than Race, Class, Gender (S. 64-76). https://kups.ub.uni-koeln.de/52364/1/Reader%20Intersektionalität_Endversion%20barrierearm.pdf [05.11.2022]
Boger, M.-A. (2020). Mad Studies und/in/als Disability Studies. Eine Verhältnisbestimmung. In D. Brehme, P. Fuchs, S. Köbsell & C. Wesselmann (Hrsg.), Disability Studies im deutschsprachigen Raum. Zwischen Emanzipation und Vereinnahmung (S. 41–55). Weinheim: Beltz Juventa.
hooks, b. (2020). Zur Bedeutung von Klasse. Münster: Unrast.
Lüthi, E. (2019). PsychGewalt_ig. Psychiatrische Gewalt als Diskriminierungsstruktur verstehen. In E. Mader, C. Schmechel, K. Kawalska & A. Steinweg (Hrsg.), Gegendiagnose II. Beiträge zur radikalen Kritik an Psychiatrie und Psychologie (S. 214-233). Münster: edition assemblage.
Seeck, F. (2022). Zugang verwehrt. Keine Chance in der Klassengesellschaft: wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert. Hamburg: Atrium.
Seeck, F. (2021). Care trans_formieren. Eine ethnographische Studie zu trans und nicht-binärer Sorgearbeit. Bielefeld: Transcript.
Seeck, F. (2017). Recht auf Trauer. Bestattungen aus machtkritischer Perspektive. Münster: edition assemblage.
Seeck, F. & Theißl, B. (2020). Solidarisch gegen Klassismus. Intervenieren, organisieren, umverteilen. Münster: Unrast.
The Combahee River Collective (2019 [1979]). A Black Feminist Statement. In N. A. Kelly, (Hrsg.), Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte (S. 49–62). Münster: Unrast.