Abstract: Dieser Beitrag verbindet zwei Erörterungen, die auf den ersten Blick so scheinen mögen, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Der erste Teil widmet sich (inter-)disziplinären, systematischen und methodischen Erörterungen zu abwegigen und umwegigen Möglichkeiten, Inklusion und Intersektionalität zusammen zu denken, also auf das Thema der Ausgabe „Inklusion und Intersektionalität“ auf einer abstrakten Ebene einzugehen. Der zweite Teil dreht sich um die ganz praktische gemeinsame Intuition in beiden Feldern, dass man mit dem Schwersten beginnen sollte. Im dritten Teil werden diese zwei Erörterungen zu einer gemeinsamen Pointe geführt.
Stichworte: Inklusion, Intersektionalität
Inhaltsverzeichnis
Offenkundig gibt es eine Sehnsucht nach einem programmatischen Beitrag dazu, wie man ‚Inklusion‘ und ‚Intersektionalität‘ verbindet. Wie lassen sich diese beiden Terme systematisch zusammenführen? Von der Dringlichkeit dieser Frage zeugt auch die vorliegende Ausgabe der inklusion-online. Ebenso offenkundig ist jedoch, dass sich ein solcher Beitrag nur schwer schreiben lässt. Der erste Abschnitt versucht zu erörtern, warum dies so ist: Eine programmatische Abstraktion zur Verbindung der Terme ‚Inklusion‘ und ‚Intersektionalität‘ verfehlt stets ihr Ziel, wie sich bei näherer Betrachtung zeigt. Zunächst wird daher erläutert, warum genau es sich nicht lohnt, auf eine abstrakte sowie systematische Relationierung der beiden Terme zu hoffen.
Der zweite Abschnitt widmet sich sodann — wie alle anderen Arbeiten, in denen die Begriffe ‚Inklusion‘ und ‚Intersektionalität‘ auf ergiebige Weise gemeinsam auftauchen — einem kleinen, wohlumrissenen Feldchen, das für große Programmatik also nicht taugt. In diesem Fall geht es um die in beiden Feldern kursierende Intuition, dass man mit dem Schwersten beginnen bzw. von den schwersten Fällen aus ins Nachdenken über Inklusion und Diskriminierung kommen sollte.
Unterwegs, so hoffe ich, möge sich erhellen, warum diese beiden zunächst disparat anmutenden Abschnitte dennoch in demselben Fazit münden.
Seit den Pionierarbeiten von Schildmann (2011; 2012) und Amirpur (2013) haben sich die Versuche, die Begriffe Intersektionalität und Inklusion aufeinander zu beziehen, gehäuft. Dies kann und ist auf sehr unterschiedliche Weise geschehen (für eine Übersicht zum Diskursstand konsultiere man den Beitrag von Lindmeier sowie die Einleitung von Penkwitt in ebendieser Ausgabe).
Sorgsam sollte man bei dieser Zusammenführung vorgehen, da sich leicht Kategorienfehler und schräge Vergleiche einschleichen, wenn sich zum Beispiel herausstellt, dass sich das Zusammenzuführende nicht auf derselben oder sogar nicht einmal auf einer vergleichbaren Ebene bewegt. Nicht umsonst spricht Schildmann (2012) daher tentativ von „Thesen“ zu den „Verhältnissen“ (im Plural) zwischen inklusiver Pädagogik und Intersektionalität, ebenso wie Amirpur und Platte (2015) auf den politischen Begriff der „Allianzen“ (ebenso im Plural) statt auf einen wissenschaftlichen Terminus rekurrieren.
Beide eint also die (auch diesem Beitrag zugrundeliegende) Intuition, dass die Terme ‚Intersektionalität‘ und ‚Inklusion‘ bereits für sich genommen zu vielgestaltig und komplex sind, um sie in einer einfachen reduktiven Systematik aufeinander zu beziehen.
Zwei Fragen gilt es zu stellen, um die (Un-)Möglichkeit eines systematischen Vergleichs zu erhellen:
1) Wie ist dieses In-Beziehung-Setzen auf profunde Weise möglich? Was genau soll hier aufeinander bezogen werden? Zwei Begriffe? Oder die zwei entsprechenden Theorie- bzw. Forschungsfelder (innerhalb der Pädagogik oder mit einem größeren Skopus)?
2) Warum kann man dies wollen? Welchen Ertrag erhofft man sich von dieser Konfrontation oder Begegnung?
Im Folgenden wird diesen beiden Fragekomplexen in der gebotenen Ausführlichkeit und Langsamkeit nachgegangen.
Das Problem der Produktion eines Vergleichsrahmens oder eines tertium comparationis zeigt sich bei der Zusammenführung von ‚Intersektionalität‘ mit den verschiedensten jeweils zweiten Begriffen/Theorien/Feldern/Zugängen. Es steckt bereits in ebenjener Schrägstrich-Kette, die nicht einmal Anspruch auf Vollständigkeit erheben darf: Was ist ‚Intersektionalität‘ überhaupt?
Betrachtet man Felder, in denen das Zusammendenken mit Intersektionalität bereits etwas bewährter ist, springt einem schnell und unabhängig von einzelnen Autor*innen das schwer zu systematisierende Chaos entgegen. Ein Beispiel: In ihrem Versuch, Intersektionalität und queer theory aufeinander zu beziehen, bezeichnen Dietze, Haschemi Yekani & Michaelis (2007) zunächst beide als „Ansätze“ (ebd., 107). Bei der Bestimmung des Ziels (also bei der Beantwortung der Frage nach dem Wozu; Absatz 1.2.) ist davon die Rede, beide als „korrektive Methodologie“ füreinander fruchtbar zu machen (ebd., 108). Im Fazit ist wiederum von einem „Theoriekorpus intersektionalen Denkens“ die Rede (ebd., 138). Sodann taucht ein interessanter Neologismus auf: Gesprochen wird zuletzt von einer „Intersektionalisierung von Queer Theory“ (ebd., 139). Bereits innerhalb eines einzigen Fachbeitrags werden hier vier Möglichkeiten eingeführt. Intersektionalität kann verstanden werden als
Für alle vier Optionen lassen sich gute Gründe anführen. Worauf es ankommt, ist in diesem Fall, dass sich die Liste auf die queer theory als das, womit verglichen werden soll, ebenso beziehen lässt. Die queer theory kann diffus und durchaus auch in einem praktischen (und damit auch in einem pädagogisch gewendeten) Sinne als „Ansatz“ beschrieben werden; sie umfasst einen Theoriekorpus, der ebenso methodische Aspekte enthält; und sie kennt auch das Prozesswort ‚queeren‘, das sich in einem vergleichbaren Sinne auf verschiedenste ‚zu queerende‘ Felder/Bereiche/Disziplinen beziehen lässt. Die Frage ist nun, ob dies für den hier relevanten zweiten Term „Inklusion“ genauso gilt. (Wie) Lässt sich ‚Inklusion’ mit den genannten Dimensionen oder Ebenen von ‚Intersektionalität’ verbinden? Prüfen wir die Optionen in Ruhe und gewissenhaft nacheinander (aus Gründen der argumentativen Reihung in veränderter Reihenfolge):
a) ‚Intersektionalität‘ als Theoriekorpus bzw. Diskursfeld und ‚Inklusion‘
Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, als wäre das Relationieren der beiden Terme am leichtesten, wenn man sie als Bezeichnungen für Diskursfelder oder jeweils als ein Bündel von Theorien versteht. Dies ist jedoch nicht der Fall, da die jeweiligen Sets an Theorien erstens auf verschiedene Gegenstände bezogen sowie zweitens verschieden konstituiert sind. Gehen wir die verschiedenen soziologischen bzw. pädagogischen Möglichkeiten durch:
Aus soziologischer Perspektive ist der Theoriekorpus zu Intersektionalität weder elaboriert noch geschlossen genug, um im Rahmen einer komparativen Arbeit zwischen einem Inklusionsbegriff eines beliebigen etablierten soziologischen Paradigmas und jener freien Theorie-Praxis-Assemblage namens ‚Intersektionalität‘ Stand zu halten. Dies ergäbe auch deshalb keinen Sinn, da sich besagter Theoriekorpus zu ‚Intersektionalität‘ den verschiedensten soziologischen und philosophischen Paradigmen bzw. Schulen im Flickenteppich-Modus bedient. Es handelt sich also auch um verschiedene Formen von Theorien. Der sog. Theoriekorpus zu Intersektionalität ist eher eine Collage oder eben eine offene Assemblage, weswegen nicht nur Dietze et al. (2007, 139), sondern die meisten auf diesen rhizomatischen Charakter rekurrieren, um überhaupt begründen zu können, was sie zu diesem Theoriekorpus zählen. Das Einzige, was man sinnhaft tun könnte, wäre daher, den Begriff ‚Intersektionalität‘ und die dazugehörigen Theorieversatzstücke in die Sprache des jeweils eigenen Paradigmas, dessen Inklusionsbegriff relationiert werden soll, zu übersetzen – und sie damit zu ersetzen. Dies wäre eine assimilatorische oder aneignende/integrierende Denkbewegung statt eines systematischen Theorievergleichs. Zudem wäre diese Denkbewegung ergo nur auf einen bestimmten Inklusionsbegriff bezogen — was dem einleitenden Versuch, die beiden Terme als Bezeichnungen für Diskursfelder aufeinander zu beziehen, bereits widerspricht. Bei näherer Betrachtung erweist sich das systematisch-vergleichende In-Beziehung-Setzen der Diskursfelder also als ein unmöglicher Versuch.
Begriffs- und/oder theorie-geschichtliche Vergleiche wiederum wären unter Hinzunahme weiterer Terme, die für das gewählte tertium compartionis Sinn ergeben, ertragreicher: Wollte man zum Beispiel vergleichen, inwiefern ‚Inklusion‘ und ‚Intersektionalität‘ zwischen politischer Kampfformel und wissenschaftlichem Fachbegriff oszillieren, würde es sich lohnen, weitere Begriffe, auf die dies zutrifft, hinzuziehen. Ob solche Arbeiten einen nennenswerten pädagogischen Ertrag hätten, ist äußerst ungewiss. Interessant könnte eine solche Erörterung vielleicht eher aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive sein, wenn sich dabei zeigen ließe, dass sich das Aufkommen von solchen offenen, disziplinär nicht eindeutig zu verortenden Begriffen, die zwischen Politik/Aktivismus und Theoriebildung schwanken, in den letzten Jahren gehäuft hat.
Auch im pädagogischen Feld bzw. auf dieses begrenzt kann die systematische Zusammenführung nicht gelingen: Während man ‚Inklusion‘ als einen pädagogischen Begriff und/oder als pädagogisches Theoriefeld im Sinne der disziplinären Verankerung verstehen kann, aber nicht muss, ist dies bei Intersektionalität definitiv nicht der Fall. Innerhalb der Pädagogik wird der Vergleich daher von vorne herein schief.
b) ‚Intersektionalität‘ als (korrektive) Methodologie und ‚Inklusion‘
Intersektionalität lässt sich insofern als korrektive Linse verstehen, als dass sie unterkomplexe Vorstellungen von uniaxialer Diskriminierung durchkreuzt. Diese korrekturbedürftigen Vorstellungen können sowohl im Sinne handlungsleitender/impliziter Theorien in einer (z.B. aktivistischen oder pädagogischen) Praxis als auch in akademischen Theoriebildungen und Forschungen auftauchen. Ersteres führt zur Diskussion von Intersektionalität als Ansatz (siehe Option d), weswegen in diesem Abschnitt nur Letzteres ausgeführt wird. Das Wort „Methodologie“ erscheint mir jedoch etwas zu groß; ich werde im Folgenden schlicht von einer „Korrekturmethode“ sprechen – zumal diese Korrektur sich bei genauerem Hinsehen als sehr technisch erweist. Zwar ist Intersektionalität zunächst als ein politischer Begriff konturiert worden, der mit entsprechenden Normativen der ‚Sichtbarmachung‘ von mehrfacher und komplexer Diskriminierung einhergeht. Doch zeigt sich beim konkreten Vorgehen, dass dieses Sichtbarmachen im Forschungskontext einer schlichten, sehr nüchternen Korrekturmethode entspricht. Nach Übergang von der politischen/normativen Forderung zum tatsächlichen Tun verbindet sich das Anliegen leichtfüßig mit gängigen Verfahren der kritischen Selbstkorrektur und methodischen Prüfung: Es geht um die Bestimmung von Geltungsbereichen empirischer Aussagen (Für wen genau? Unter welchen Bedingungen/in welchen Situationen? etc.) sowie um theoretische Reichweiten, um eine Komplexitätssteigerung im Bereich der multivariaten Statistik (Modellierungsarbeit as usual) und um Formen methodischer Selbstkontrolle in qualitativen Verfahren (Offenlegen von Vorannahmen, Beobachtungs-/Interpretationsfehler durch willkürliches Ignorieren oder aber Reifizieren von Kategorien etc.). Qualitative Samples können damit reflektiert und quantitative Stichproben auf differenzierte Weise auf Repräsentativität geprüft werden. All‘ dies ist kein Hexenwerk; man muss es nur tun und den entsprechenden Satz an Korrekturlinsen für die eigene Methode heraussuchen und durcharbeiten. Diese Korrekturlinsen lassen sich auch auf (pädagogische sowie nicht-pädagogische) Inklusionsforschung beziehen – und freilich wäre dies auch dort wünschenswert. Wie vernehmbar wird, würden sodann aber nicht Intersektionalität und Inklusion aufeinander bezogen werden, sondern die intersektionalen Korrekturlinsen würden auf Theoriebildungen und Forschungen (zu Inklusion, die als Forschungsgegenstand dabei keinen Unterschied macht und streng genommen in der Gleichung also gar nicht mehr auftaucht) angewandt werden. Dies wäre zudem keine pädagogische Arbeit, sondern tatsächlich eine in der Methodenlehre zu verortende. Auch auf diesem zweiten Weg gelangt man daher nicht an das ersehnte Ziel einer systematischen Zusammenführung (mit pädagogischem Ertrag).
c) ‚Intersektionalisieren‘ als Prozess und ‚Inklusion‘
'Intersektionalisieren‘ als Prozess kann, wenn ich nichts übersehen habe, in drei Lesarten verstanden werden: Erstens kann damit gemeint sein, die intersektionalen Korrekturlinsen auf Theorien und Forschungen zu Inklusion anzuwenden. Dies entspräche dem, was bereits in dem Absatz zu Option b dargelegt wurde. Zweitens kann damit gemeint sein, konkrete bisher vernachlässigte Heterogenitätsdimensionen in die Inklusionspädagogik und -forschung einzubringen, damit nach und nach eine Pädagogik entsteht, die tatsächlich für alle ist. Das ist viel Arbeit. Der Beitrag von Seiten der ‚Intersektionalität‘ bestünde dann jedoch lediglich darin, diese Forderung zu erheben – oder aber, sofern man sie immer schon teilte: sie zu bekräftigen. Das wäre tatsächlich Programmatik, aber es ist schnell gesagt und bedarf keines ganzen Aufsatzes. Wie bereits erörtert, handelt es sich bei Intersektionalität schließlich nicht um eine pädagogische Theorie: Da der Satz an Korrekturlinsen und Theorien zu Intersektionalität auf der Ebene des Gegenstandes also nicht zur Konturierung einer inklusiven Pädagogik beiträgt, sondern diese eben nur erstens einfordern und zweitens ex negativo auf Leerstellen oder Übersehenes hinweisen kann, bliebe der ‚Dialog‘ auf die Bekräftigung der Forderung beschränkt. Auch die zweite Lesart mündet daher nicht in einer systematischen Zusammenführung.
In einer dritten Lesart, die vielleicht auch meinem Pandemie-Hirn geschuldet ist, klingt ‚Intersektionalisieren‘ ein bisschen nach Ansteckung, so als wolle man infiltrieren oder eine bestimmte Duftnote über alles legen. Leicht entgleitet der Begriff in Richtung einer Konnotation von ‚intersektionaler Verballhornung‘ – und tatsächlich steht uns meines Erachtens eine Intersektionalisierung im Sinne einer floskelhaften Verballhornung bevor, wenn dieser Begriff ohne systematischen Ertrag oder Mehrwert an die kuriosesten Stellen gesetzt wird. Sodann wird er zu einer ‚Duftnote‘: Soll sie dazu dienen, Menschen progressiv aussehen zu lassen? Wissenschaftlich angemessen wäre jedenfalls, diesen (so wie jeden anderen Begriff) möglichst präzise zu verwenden und von Floskeln – auch jenen, die gerade als progressiv oder modisch gelten – Abstand zu halten.
d) ‚Intersektionalität‘ als Ansatz und ‚Inklusion‘
‚Ansatz‘ ist als Begriff so offen und diffus, dass man gar nicht weiß, ob er in akademischen Kreisen überhaupt ernstgenommen werden kann. Er verrät zunächst nicht mehr, als dass Intersektionalität in jedem Fall keine Obstsorte oder sonst etwas Materiell-Gegenständliches ist. Ansätze scheinen etwas strategisch-instrumentelles zu haben bzw. — sparsamer formuliert — mit Vorgehensweisen oder eben Ansatz-Punkten zum (weiteren) Vorgehen assoziiert zu sein. Aber ob sie Ideen, Konzepte, Theorien oder handfeste Praktiken sind, bleibt unentschieden.
Ein Indiz gibt es wohl: Es scheint ein in Kreisen der Sozialen Arbeit wohl etablierter Witz zu sein, an alles Mögliche das Wort ‚Ansatz‘ zu hängen. Man spricht in der pädagogischen Praxis leichtfüßig von ‚Empowerment-Ansatz‘, ‚Normalisierungs-Ansatz‘ usw. In der Soziologie wiederum habe ich noch nie jemanden sagen hören, er promoviere mit dem ‚Luhmann-Ansatz‘ oder argumentiere mit dem ‚Foucault-Ansatz‘. Kurz: Die Ansatz-Floskel legt eine gewisse Affinität zur pädagogischen Praxis nahe.
Insofern zum in den Absätzen a) bis c) Dargelegten erschwerend hinzukommt, dass mit diesen Turnübungen noch nichts für eine pädagogische Betrachtung erreicht wurde, dürfte der Begriff ‚Ansatz‘, mit dem sich sonst nichts tun lässt, ein guter Anlass sein, um nun endlich in den pädagogischen Hafen einzukehren: Was also tun mit dem dritten Term — ‚Pädagogik‘/‚pädagogisch‘? Macht er die Vermittlung zwischen den beiden leichter oder noch komplexer?
Zunächst erscheinen durch den dritten Term zwei weitere Optionen, die ebenso in Ruhe zu betrachten sind: die interdisziplinäre Vermittlung (e) sowie die Möglichkeit, beide lediglich (i.S.v. ausschließlich) auf der Ebene der pädagogischen Ableitungen in Beziehung zu setzen (f).
e) ‚Intersectionality Studies‘ und ‚Inklusionspädagogik‘ als Disziplin
Ob Inklusionspädagogik eine Disziplin ist, lässt sich mittlerweile diskutieren. Intersektionalität ist jedoch sicherlich keine. Hier existiert nur die derzeit geläufige Alternative zur Option der Disziplinarität, die mit dem Anhängsel ‚Studies‘ arbeitet. So sprechen zum Beispiel Cho et al. (2013) von „Intersectionality Studies“. Eine interdisziplinäre Vermittlung im strengen Sinne des Wortes scheidet also aus.
Aber selbst, wenn dies nicht das Problem wäre, bliebe das ersehnte Ziel unerreicht: Was würde passieren, wenn es zwei ausgewachsene Disziplinen wären? Es bedürfte für den interdisziplinären Vergleich sodann eines Gegenstands. Dieser müsste ein gemeinsam geteilter sein. Da die Intersectionality Studies keine pädagogische Disziplin sind, bleibt für einen symmetrischen Vergleich nicht viel an Optionen übrig (alles andere wäre ein üblicher Theorie-/Methodenimport in dem Stil, wie die Pädagogik schon immer aus diversen Nachbardisziplinen Theorien und Methoden importiert hat; s. Optionen a, b und c). Man könnte z.B. fragen: Wie wird Behinderung in der Inklusionspädagogik und in den Intersectionality Studies (nicht) thematisiert? Das Ergebnis einer solchen Vergleichsarbeit erscheint mir sehr vorhersehbar und wahlweise langweilig bis larmoyant zu sein: Aufgrund disziplingeschichtlicher Pfadabhängigkeiten sprechen die einen kaum über Behinderung und die anderen kaum über Migration, Geschlecht, queer etc. Diese Leerstellen füllt man jedoch nicht dadurch, dass man die beiden an ihre jeweils wohlbekannte Geschichte erinnert. Selbst wenn beide darauf zielen, alle Dimensionen von Heterogenität/Diskriminierung/Unterdrückung zu berücksichtigen, wurden sie eben in verschiedenen Kontexten (mit Fokus auf Schwarze Frauen* oder eben mit Fokus auf behinderte Menschen) geboren, die man ihnen anmerkt – was ja auch nichts per se Schlimmes sein muss. In jedem Fall ist es kein Grund, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen, insofern dies schließlich für beide Seiten bedeuten würde, im Glashaus mit Steinen zu werfen.
Kurz: ein interdisziplinärer Vergleich ist nicht möglich und selbst wenn er es wäre, erwiese sich ein solcher durch die verschiedenen Gegenstände/Foki des nicht-pädagogischen Feldes der Intersektionalität als obskur motiviert.
f) ‚Intersektionale‘ und ‚Inklusive‘ als Vor-Sätze von Pädagogiken
Eine letzte Chance bleibt also: Was geschieht, wenn man es ganz klein und schlicht denkt, also einfach auf die praktischen Ansätze schaut? Es gibt tatsächlich eine „intersektionale Pädagogik“ (i-Päd 2013) und die Existenz einer „inklusiven Pädagogik“ dürfte in dieser Zeitschrift bekannt sein. Diese kann man vergleichen. Was geschieht sodann?
Was steht in der Publikation, die mit der Wortneuschöpfung „intersektionale Pädagogik“ arbeitet? Der aus der konkreten und erfahrungsgesättigten Beratungspraxis entstandene Entwurf ordnet die Eigenkreation der „intersektionalen Pädagogik“ bereits in der Überschrift der inklusiven Pädagogik unter: sie sei „ein Beitrag zu inklusiver pädagogischer Praxis“ (ebd.). In der Folge beschreibt er Intersektionalität als ein Korrektiv. Das Thema ist also schnell erledigt: es mündet direkt in Option b (s.o.).
Fassen wir es zusammen:
Welche ertragreichen Optionen gab es? Lediglich Variante b Intersektionalität als Satz an Korrekturlinsen erwies sich als produktiv, hatte jedoch keinen programmatischen Charakter und eröffnete auch keinen Weg zu einem tragfähigen systematischen Vergleich. Viel eher bestand die Pointe dieses Absatzes darin, dass sich die intersektionalen Korrekturlinsen im Sinne einer sorgsamen (Selbst-)Kritik wissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung (und zuletzt auch der impliziten Theorien der pädagogischen Praxis; s. Absatz 1.1.f) verwenden lassen. Da es sich dabei notwendigerweise entweder um Selbstkritik an den eigenen Studien/Theorieentwürfen oder aber um Kritik an Kolleg*innen handelt, wäre jedwede Programmatik hier verfehlt. Viel eher wäre angeraten, sich für ein solches Unterfangen ganz bestimmte Arbeiten rauszusuchen und diese methodisch kontrolliert (z. B. im Sinne einer diskursanalytischen Aufarbeitung eines bestimmten Diskursraums) anzugehen – am besten stets mit einer Selbstkritik beginnend.
Die verschiedenen Versuche, Intersektionalität und Inklusion auf einer programmatischen, abstrakten oder systematisch-vergleichenden Ebene zu verbinden, haben sich also als ungenügend bis unmöglich bzw. als nicht sonderlich vielversprechend erwiesen – jedenfalls hoffe ich, dass es mir gelungen ist, dies überzeugend oder eher überzeugend langweilig bis obskur darzustellen. Umso dringlicher stellt sich daher die Sinnfrage: Wozu überhaupt? Warum gibt es ein Bedürfnis, diese beiden Begriffe/Felder/Forschungszugänge/Ansätze auf einer abstrakten Ebene zusammenzuführen? Woher die Unzufriedenheit damit, es auf der soliden, konkreten und in dieser Konkretheit auch empirisch gesättigten Ebene zu belassen, die zum Beispiel Schildmann, Schramme & Libuda-Köster (2018) mit Blick auf Behinderung und Geschlecht oder Amirpur (2013) mit Blick auf Behinderung und Migration so elegant – und eben ertragreich – ausgeführt haben? Erhellt vielleicht die Motivation oder Intention etwas darüber, was hier eigentlich der Fall ist?
Befragt man die Texte der beiden soeben zitierten exemplarischen Forschungszusammenhänge, finden sich plausible Gründe für die Verkettung von Inklusion und Intersektionalität im Konkreten. Beide führen jedoch keine Gründe für eine abstrakte, also zum Beispiel theoretisch-vergleichende oder programmatische Liaison an – wie ich finde: Zurecht.
Was sind diese Gründe im Konkreten? Bereits 2015 warnten Amirpur und Platte davor, das Projekt Inklusion gerade dadurch zu verraten, dass man sich möglichst schnell auf die ‚Umsetzung‘ derselben für eine bestimmte Teilgruppe der Bevölkerung konzentriert. Ein euphorisierter „Pragmatismus“ stehe dabei „erkenntnis- und erfahrungsgeleiteter Fundierung“ konflikthaft gegenüber (Amirpur & Platte, 2015, 431). Hier geht es um den konkreten Grund, dass sich in der schulischen Praxis eine halbierte, geviertelte oder gar geachtelte partielle ‚Inklusion‘ vollziehen wird, wenn man nicht im Sinne der intersektionalen Korrekturlinsen (Option b) darauf achtet, wer genau von dem aktuellen Aufschwung dieses Themenfeldes und dieser Politik mitgenommen wird – und wer eben nicht. Diese Form der Unsichtbarmachung der im uniaxialen Denkmodus ‚Vergessenen‘ betrifft das Kernphänomen intersektionaler Analysen, die sog. „intersectional invisibility“ (Purdie-Greenaway & Eibach, 2008). Daher votieren Amirpur und Platte für eine reflexive Verlangsamung im Umsetzungseifer in der Hoffnung, dadurch im Konkreten, also in der schulischen Praxis, verhindern zu können, dass sich die gewohnten Machtverhältnisse bei einer Selektion der ‚am leichtesten Integrierbaren‘ erneut reproduzieren.
Bei Schildmann et al. (2018) wiederum findet sich der andere der beiden ältesten – man könnte fast sagen: traditionellen – Gründe für eine intersektionale Reflexion. Dieser hat stets dieselbe Grundform: Warum sollte man sich mit Intersektionalität befassen? Weil sonst bei einem Fokus auf Diskriminierungsform A Menschen an der Schnittstelle der Diskriminierungsformen A und B (optional: und C, D, E ...) vergessen werden (Also zum Beispiel: Weil in der Behinderungsforschung die spezifischen Problemlagen, Bedürfnisse und Interessen behinderter Frauen sonst vergessen werden). Auch dieses Argument entfaltet seine Kraft erst im Konkreten: Für die entsprechende Intersektion muss sodann schließlich auch ausgeführt werden, was sie kennzeichnet, damit das Argument produktiv werden und auch tatsächlich etwas sichtbar machen kann.
Beide Begründungsfiguren haben also gemeinsam, dass sie:
Im Modus der falschen Abstraktion hingegen wird das Zusammenführen von Intersektionalität und Inklusion wahlweise und sich wechselseitig nicht ausschließend:
Insbesondere der letzte Punkt legt nahe, dass eine Motivation hinter dem sich als fragwürdig erweisenden Versuch, Intersektionalität und Inklusion auf einer abstrakten Ebene zu verbinden, darin bestehen könnte, sich nicht mit dem politischen Kern der Intersectionality Studies befassen zu wollen, also Akademisierung als Vereinnahmung und Entschärfung betreiben zu wollen (Hark, 2005, 118). Schauen wir im zweiten Abschnitt also auf ganz praktische politische Fragen.
Der erste Abschnitt versuchte zwei Dinge zu vermitteln: 1) Die fruchtbarsten Verbindungen der Terme ‚Inklusion’ und ‚Intersektionalität’ geschehen auf einem kleinen, bescheidenen Acker, also im Konkreten. 2) Sie verwenden dabei Intersektionalität als Korrekturlinse und/oder verweisen auf einen Ort der „intersectional invisibility“.
Aber wo beginnen? Ohne die Möglichkeit eines systematischen Vergleichs, gibt es nur unsystematische Anfänge.
Es ist daher konstitutiv für intersektionale Arbeiten, die ihren Wurzeln treu bleiben, essayistisch zu sein: Was intersektional unsichtbar war, verfügt eben noch nicht über einen systematisch darstellbaren Diskursstand. Genau das ist ja die Pointe der intersectional invisibility. Essayistisch, narrativ, selbst im Schreiben noch dialogisch anmutend schreiten wir unsystematisch voran – mehr fragend als antwortend.
Dazu braucht es etwas Mut, da man dabei leicht in die Situation gerät, in einem derogativen Sinne als ‚unsystematisch’ und daher ‚unwissenschaftlich’ angesehen zu werden. Genau in diesem Wagnis – eine Kritik im strengsten foucaultschen Sinne also (Foucault, 1992) – pulsiert das Herz der Intersektionalitätsforschung: Etwas zur Sprache bringen, das noch nicht akademisch etabliert ist, das noch nicht auf einen altehrwürdigen Diskursstand zurückverweisen kann, das daher essayistisch sein muss (denn Essay, das kommt von Versuch: wir müssen es versuchen), das kaum (Dritt-)Mittel hat, um sich in einem universitären Kontext zu legitimieren und solide zu verankern, das aber dennoch gesagt werden muss, um es aus der intersectional invisibility auftauchen zu lassen.
Patricia Hill Collins (2013, 214) eröffnet eines ihrer Essays in On Intellectual Activism – nota bene! Der einzige bewährte Diskursstand, den wir haben: Die Gründungstexte der Intersectional Studies sind sämtlich Essays – mit einem Zitat von Audre Lorde: „The true focus of revolutionary change is never merely the oppressive situations which we seek to escape, but that piece of the oppressor which is planted deep within each of us“ (Lorde, 1984, 123). Ein*e jede*r begehe daher ein Wagnis, taste sich an die Grenzen des Essayistischen, des Versuchens. Zwei Dinge gibt Collins (2013) uns bezüglich der Frage, wie dies gelingen kann, mit auf den Weg:
„To get at that ‚piece of the oppressor which is planted deep whitin each of us’, we need at least two things. First, we need new visions of what oppression is, new categories of analysis that are inclusive of race, class, and gender as distinctive yet interlocking structures of oppression.“ (214). Und zweitens: „we need to change our daily behavior“ (215).
Unsystematisch-tentativ, essayistisch eben, möchte ich daher eröffnen. Kürzlich ist mir ein Detail, eine kleine Gemeinsamkeit aufgefallen: In beiden Feldern wurde die Intuition artikuliert, dass man mit dem Schwersten beginnen solle. Da beide ‚Felder‘ (ich habe es nicht jedes Mal dazugeschrieben, aber man erinnere die Schrägstrichkette) keine wohldemarkierten Räume sind, ist eine systematisch-vergleichende Herleitung dieses Details, wie gesagt, nicht möglich. Ich kann nur sagen, dass ich diese Intuition in dem einen ‚Feld’ zum Beispiel mit der Formulierung von Feuser (2012) verbinde, dass Integration „unteilbar“ sei und daher nichts als Integration oder Inklusion gelten dürfe, was nicht auch für komplexere oder schwerere Beeinträchtigungen gelte. Daher solle man von diesen schweren Formen von Beeinträchtigung aus ins Nachdenken kommen. Unteilbar – in einer weiteren unsystematischen, ja fürwahr freien Assoziation ist dies in meiner Welt ein Begriff, der kürzlich durch Demonstrationen unter dem hashtag #unteilbar als Zeichen für eine Solidarität, die sich nicht spalten lässt, in einem anderen Kontext (wieder) in Mode kam. In Kreisen der Intersektionalität wiederum assoziiere ich diese Intuition zum Beispiel mit den endlosen Debatten zu ‚Hauptwidersprüchen’ (im Englischen zumeist „hierarchy of oppression“; vgl. Briskin 1990; hooks 1984). Auch hier erscheint die Frage: Wo soll man beginnen (in einer Welt, in der Diskriminierungsformen häufig gegeneinander ausgespielt werden?
Sätze schieben sich ineinander zu einem Chor, da es darum geht, Inklusion gemeinsam zu denken (Boger, 2017): „Each of us is called upon to take a stand. So in these days ahead, as we examine ourselves and each other, our works, our fears, our differences, our sisterhood and survivals, I urge you to tackle what is most difficult for us all, self-scrutiny of our complacencies, the idea that since each of us believes she is on the side of the right, she need not examine her position. (Lorde, 1985) I urge you to examine your position.“ (Collins, 2013, 228).
Im Folgenden soll daher erörtert werden, wie sich diese Intuition, dass man mit dem Schwersten beginnen solle, argumentativ untermauern lässt. Zwei Begründungswege sind mir eingefallen bzw. aufgefallen.
In der ersten möglichen Begründung sind ‚die schwersten Fälle‘ gewissermaßen die Prüfsteine dafür, ob eine Theorie oder eine (pädagogische) Praxis tatsächlich inklusiv ist. Die entsprechenden Fälle bezeichne ich als ‚Fälle‘, da sie in dieser Logik keine real existierenden Menschen sein müssen. Es ist ebenso möglich, hypothetische Fälle zu erahnen bzw. kommen zu sehen, an denen der eigene inklusive und intersektionale Anspruch scheitert.
Der Impetus, mit dem Schwersten zu beginnen, wäre von dort aus assoziiert mit der besagten unteilbaren Solidarität sowie mit dem Versuch, eine pädagogische Theorie und Praxis der Inklusion zu entfalten, die nicht von vorne herein, also bereits von ihrer Anlage her zum Ausschluss einer (intersektional unsichtbaren) Teilgruppe führt. Dabei ist es meines Erachtens wichtig, nicht darauf zu zielen, eine Theorie und Praxis zu skizzieren, die niemanden ausschließt und für alle ‚funktioniert‘. Der Satz in dieser schlichten Form mag gut gemeint sein, bringt aber eine narzisstische Größenphantasie mit sich: Eine Pädagogik zu erträumen, die für alle ‚funktioniert‘, trägt Züge eines Wunsches nach einer technologischen Formel, die man sodann nur noch auf alle Fälle ‚anwenden‘ muss (Leugnung der Nicht-Technologisierbarkeit in der Phantasie einer großen technologischen ‚Lösung‘). Würde eine solche Pädagogik existieren, ginge sie zudem mit einem erschlagenden Herrschaftsanspruch einher (Warum sollten die übrigen pädagogischen Ansätze, die diesen wenig bescheidenen Anspruch bei sich nicht erfüllt sehen, dann überhaupt noch eine Existenzberechtigung haben?). Zuletzt verführt der Glaube an eine solche Universal-‚Lösung‘ dazu, ebenjene (hypothetischen oder real existierenden) Fälle nicht sehen zu wollen, die den eigenen Anspruch zu Fall bringen würden. Die gemeinsam geteilte Intuition, mit dem Schwersten zu beginnen, zielt jedoch genau darauf, dies zu erkunden. Daher mein Vorschlag, davon zu sprechen, dass eine pädagogische Theorie und Praxis der Inklusion im Sinne der intersektionalen Korrekturlinsen daraufhin geprüft werden soll, dass sie nicht von vorne herein, also bereits von der Anlage her zum Ausschluss einer Teilgruppe führt. Dies lässt Raum für ebenjene singulären Prüfstein-Fälle, die sich nicht immer vorab erahnen lassen – eben weil sie nicht systematisch ausgeschlossen wurden, sondern einem in dem Versuch, inklusiv(er) zu sein, widerfahren. Es heißt schließlich nicht „intersektionale Unsichtbarkeit“, weil es einem sofort ins Gesicht springen würde. Es bedarf der Erfahrung einer Grenze, eines widerständigen Moments des Entzugs, um diese Prüfstein-Fälle zu erkennen. Indem man in der Praxis gegen die Wand rennt, erfährt man, wo sich diese Wand befindet, wie Ahmed (2012, 174) es metaphorisiert: „Only the practical labor of ‚coming up against’ the institution allows this wall to become apparent“.
Die zweite Herleitung wird nachvollziehbar, wenn man sich die Gegenthese vorstellt: Was würde geschehen, wenn man mit den leichtesten Fällen beginnt? Man würde sich darin einüben, diese nach der eigenen pädagogischen ‚Lieblingstheorie‘, die durch diese Fallkonstellationen nicht herausgefordert wird (sonst wären es schließlich nicht die leichtesten), zu ‚bearbeiten‘. Dies trägt Züge einer leichtgängigen deduktiven ‚Anwendung‘ und ist offensichtlich wenig reflexiv. Bildungswirksame Irritationen und eine Professionalisierung durch eine Fallreflexion, bei der man auf eine Grenze des Leichtgängigen stößt, kommen darin nicht vor. Die Intuition, mit dem Schwersten zu beginnen, könnte daher auch auf eine (hochschul-)didaktische Erfahrung zurückgehen: Mit Blick auf eine Professionalisierung für Inklusion – ob in der Lehrer*innenbildung oder in anderen pädagogischen Bereichen – scheint es geboten aufzuzeigen, dass es gerade die Abwehr des wenig Leichtgängigen, des Fremden, des Nicht-Eingeübten ist, die zu Exklusion motiviert. Wie also lassen sich Gefühle der Überforderung, des Versagens oder des Scheiterns angelernter/anstudierter Praktiken und Theorien anders beantworten als mit Exklusion? Um diese Frage zu beantworten und gewissermaßen eine Übung im Umgang mit dem Nicht-Eingeübten, dem Befremdenden zu ermöglichen, bedarf es also besagten Fallkonstellationen, die schwer fallen.
Wenn man es (hochschul-)didaktisch wendet, wird jedoch auch deutlich, dass sich nicht standpunktunabhängig bestimmen lässt, was denn das Schwerste bzw. die ‚schwersten Fälle‘ sind. Statt im Stile einer falschen Abstraktion von ‚dem Schwersten‘ zu sprechen, bietet es sich folglich an, die Formulierung zu präzisieren, indem sie auf das Subjekt hin gewendet wird: Was fällt mir am schwersten? Und warum eigentlich? Bzw.: Was sagt das über mich? Diese Fragen würde sodann zum Ausgangspunkt des eigenen Professionalisierungsprozesses werden.
Zu diesen standpunktabhängigen Fragen treten kontextabhängige hinzu. Die ‚schwersten‘ Fälle in Sachen Integration in das Regelschulsystem müssen zum Beispiel keineswegs auch die schwierigsten mit Blick auf die Integration auf den Arbeitsmarkt im nachschulischen Leben sein usw. Sichtbar wird dadurch erneut, dass sich nur im Konkreten sagen lässt, wo die intersektionale Korrekturlinse ansetzen sollte, was genau – von einem subjektiven sowie kontextualisierten Standpunkt aus – also das Schwerste ist.
Wie sich in den Ausführungen bereits angedeutet hat, gehen beide Argumentationen (2.1 + 2.2) im ungünstigsten Fall mit einer latenten Verdinglichung jener ‚schwersten Fälle‘ einher: In der erstgenannten Argumentation (2.1) dienen sie als Prüfstein für die eigenen Theorien und Praktiken. In der zweiten Argumentationslinie (2.2) müssen sie – in einer überspitzten Formulierung gesprochen, welche die Gefahr der Verdinglichung leichter vernehmbar macht – gewissermaßen als ‚Übungsobjekte‘ herhalten, um Pädagog*innen bzw. Aktivist*innen zu erzeugen, die, wie man so sagt: ‚mit allen Wassern gewaschen‘ sind. Im ungünstigsten Fall hat diese Denkfigur narzisstische Züge und rühmt sich im Stile einer Moral der Abhärtung damit, unerschütterlich zu sein. Genau dadurch würde die Intuition jedoch in ihr Gegenteil verkehrt – geht es doch gerade darum, stets nach jenem zu fragen, das man nicht kann, nicht versteht, das einem fremd ist, das einen zu irritieren vermag, da es an einer noch unbekannten Straßenkreuzung weilt.
Es wähnt mir – aber es ist, wie in epischer Breite erörtert, tatsächlich nur ein Wahn und keine systematische Herleitung –, dass es vielleicht einen gemeinsamen Schmerz gibt, den inklusive und intersektional motivierte Pädagog*innen aus Erfahrung teilen und dass der Fokus auf diesen die geradlinigste Zusammenfassung erlaubt:
Da war ein Kind. Und man hat es vergessen. Bis jemand oder etwas auf es gezeigt hat. Das macht schuldbewusst. Am liebsten hätte man nie wieder einen ‚blinden Fleck‘, wie es in der Psychoanalyse heißt, nie wieder ein solches Schuldgefühl, weil einem etwas (intersektional) unsichtbar war. Aber das geht nicht. Weil wir Menschen sind. Also kann man nur versuchen, irgendwo anzufangen. Und wenn es nicht systematisch geht, dann eben unsystematisch – bei sich beginnend. Hier ist das Schwerste, mit dem ich beginnen sollte: das, was mir am schwersten fällt, mein ‚blinder Fleck‘, das, was mir zu fremd ist, um ihm auch nur ansatzweise gerecht zu werden. Von wo aus über die Vergessenen nachdenken, wenn nicht von dort?
Zuletzt sollen beide Abschnitte in der Denkfigur Mit dem Schwersten beginnen zusammengeführt werden. Wie das? Folgendes möchte ich versuchen:
Der erste Abschnitt widmete sich der Unmöglichkeit bzw. Unsinnigkeit, einen programmatischen Beitrag zur Verbindung von ‚Inklusion‘ und ‚Intersektionalität‘ zu verfassen. Kleinschrittig wurde hergeleitet, warum zwei überdeterminierte und zudem politisierte Begriffe (vielleicht sogar ‚Zauberformeln‘) in ihrer jeweiligen Komplexität reduziert bis ruiniert werden müssen, will man sie im Modus falscher Abstraktionen aufeinander beziehen. Diese Reduktion ist besonders tragisch, insofern beide mit der Aufforderung zu Komplexitätssteigerung assoziiert sind. Der erste Abschnitt diente in diesem Sinne der Entschleunigung. Zudem ist er als Plädoyer für Bescheidenheit lesbar: Das Ertragreiche einer gemeinsamen Reflexion inklusiver und intersektionaler Perspektiven in der Pädagogik steckt in kleinen, überschaubaren Themen, nicht in großen Würfen. Dies zeigen auch all’ jene Arbeiten, die gerade deshalb brillieren können, da sie sich einer spezifischen Intersektion gewidmet und sich auf die Betrachtung dieser reduziert haben – wie z.B. im Falle Schildmanns auf Behinderung und Geschlecht und im Falle Amirpurs auf Migration und Behinderung. Es geht nicht darum, über diese Arbeiten ‚hinauszugehen‘ und sich in falschen Abstraktionen zu verlieren. Von solchen Abstraktionsversuchen konnte viel eher gezeigt werden, dass sie wahlweise keinerlei nennenswerten pädagogischen Ertrag mit sich bringen oder aber in frickeligen Kontestationen enden (besagte Steinwürfe im Glashaus), die zuweilen der politischen Hoffnung beider Felder auf ein solidarisches Zusammenleben und -denken zuwiderlaufen.
Was also sonst tun? Vielleicht: mit dem Schwersten beginnen. Warum sich nicht einfach jenes eng umrissene, überschaubar-bescheidene Feld aussuchen, von dem man einen inneren Widerstand verspürte, sich damit zu befassen? Das Schlagwort ‚Intersektionalität‘ kann zu leicht missbraucht werden, wenn es dazu genutzt wird, sich als progressiv darzustellen, während man(n) sodann weiterhin keinen Gedanken auf die Frauenfrage, queeres Leben oder Rassismuskritik, geschweige denn auf kapitalistische Verhältnisse verschwendet. Gerade die theoretische Abstraktion erlaubt jedoch die Deflektion dessen, worum es in den Intersectionality Studies geht. Bei aller Offenheit des Intersektionalitätsbegriffs: So kann das nicht gemeint gewesen sein. Im Gegenteil beschreibt Collins (1998) ebendiesen Mechanismus als Teil des Spiels, in dem intersektionale Theorien in Gesten, die zwischen „Voyeurismus“ und „Kolonisierung“ schwanken, pseudo-integriert werden:
“Despite long-standing claims by elites that Blacks, women, Latinos, and other similarly derogated groups in the United States remain incapable of producing the type of interpretive, analytical thought that is labeled theory in the West, powerful knowledges of resistance that toppled former social structures of social inequality repudiate this view. Members of these groups do in fact theorize, and our critical social theory has been central to our political empowerment and search for justice.” (xvi)
Daher die Pointe: Weniger Abstraktionen, die am Ende des Tages dazu dienen sollen, die Intersectionality Studies in die gewohnte Form westlicher Theorie zu gießen, und stattdessen die schmerzhaft-einfache Botschaft, dass beide Felder lehren, dass man mit dem beginnen sollte, das einem am schwersten fällt, um zu ergründen, warum es einem am schwersten fällt – wobei es für diese Nicht-Programmatik, wie erörtert, keine systematische Herleitung gibt. Jede*r muss selbst ergründen, welche intersektionale Korrekturlinse si*er braucht. Kein programmatischer oder systematischer Artikel kann es einem abnehmen. Nur pauschale Spekulationen wären in einem solchen möglich: Für Menschen außerhalb der Behindertenpädagogik könnte dies zum Beispiel bedeuten, die von ihnen verinnerlichten ableistischen Strukturen zu untersuchen, die sie bis dato davon abgehalten haben, Behinderung als Thema ernst zu nehmen (grobe Pauschalisierung, wie gesagt). Für Menschen innerhalb der Behindertenpädagogik könnte es bedeuten, sich zu fragen, ob sie vielleicht phantasieren, dass sie durch eine Öffnung bzw. Erweiterung des Themenfeldes im Sinne des ‚weiten Inklusionsbegriffs‘ etwas verlieren (ebenso pauschal, diffus, spekulativ: Je abstrakter die Rede, desto entleerter wird sie).
Viele von uns haben die Erfahrung gemacht, dass Behinderung häufig komplett vergessen wird, wenn Menschen sich in jenen obskuren Listen von Heterogenitätsdimensionen ergehen und sich dabei nur jene rauspicken, die ihnen am leichtesten fallen. Dasselbe mit anderen Heterogenitätsdimensionen zu tun, wiederholt jedoch die Politik des divide et impera. Ein*e jede*r suche sich daher gerade jenes Feld, vor dem si*er bis dato regelrecht weggerannt ist, das Überforderungsgefühle oder innere Widerstände ausgelöst hat – ohne systematische Begründungsmöglichkeit, aber vielleicht ja aus einem Ethos heraus?
Vielleicht geht es im ‚Feld‘ der Intersektionalität sowie im ‚Feld‘ der Inklusion – sowohl in der Praxis als auch in der Theoriebildung – darum,
Lässt sich die Schnittmenge aus beiden ‚Feldern‘ so bestimmen? Möglicherweise, aber, wie gezeigt wurde, nicht notwendigerweise. Am wichtigsten scheint mir daher zu sein, unsystematisch hergeleitete Listen wie diese hier nur als lose Inspiration zu nehmen, da in ihnen mit Sicherheit etwas vergessen oder (intersektional) unsichtbar gemacht wird.
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