Abstract: Der Beitrag geht einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis nach: Zuerst wird Inklusion als derjenige Prozess bestimmt, der das Recht behinderter Menschen gegen etablierte und ausschließende gesellschaftliche Ordnung durchsetzen soll. Fasst man diese Ausgangslage sozialkonstruktivistisch mit Thomas Luckmann und Peter Berger, so spiegelt sich diese Spannung dort darin wider, dass soziales Handeln einerseits subjektiv sinnhaft und andererseits mit Hilfe sozialer Typisierungen vonstattengeht. Diesem Befund wird nun - ergänzt um einen Gedanken der Politizität des Sinnlichen nach Jacques Rancière - auto-ethnographisch nachgegangen. Dabei stellt sich heraus, dass Inklusion grundsätzlich Gefahr läuft, durch Etablierung vorgeblich inklusiver Regeln und Maßnahmen neue Exklusionen zu produzieren. Exkludiert werden u. a. eigensinnige Individualitäten und Intersektionalitäten, welche den Standardisierungen untergeordnet werden. Denn zwischen den Menschen der Menschenrechte und der UN-BRK und die inklusive Gesellschaft stellen sich nach bestimmten Kategorien definierte Gruppen, die im politischen Prozess als Repräsentanten dieser Gruppen bestimmte Normierungen aushandeln. Abschließend wird der Inklusionsforschung empfohlen, dieser ursprünglichen Politizität stärker Rechnung zu tragen.
Stichworte: Inklusion, Menschenrechte, Standardisierung, Auto-Ethnographie, Aufteilung des Sinnlichen
Inhaltsverzeichnis
Wie politisch ist Inklusion?[1]
Ihr mögt denken: „Welch dumme Frage, natürlich ist Inklusion zu 100 % politisch!“
Sie steht seit 30 Jahren auf der politischen Agenda und seit zehn Jahren ganz weit oben. Auf behinderte Menschen bezogen ist sie zusammen mit Partizipation eine der soziopolitisch-kulturellen Kernforderungen der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK). Sie wendet sich gegen jede Form sozialer Exklusion von Personen und Personengruppen und fordert umfangreiche Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Sie thematisiert soziale Ungleichheit, Diskriminierungen sowie Unrechtserfahrungen und definiert Rechte von Menschen mit Behinderungen (Aichele 2010, S. 13).[2]
Gewiss!
Dies gilt selbst dann, wenn auf die Allgemeinheit der Menschenrechte verwiesen wird; denn im weiten Sinne soll Inklusion für alle Menschen gelten und diese Allgemeinheit ist in einer natur- und menschenrechtlich fundierten Ethik begründet. Eine Ethik, deren Geltung unabhängig von politischen Verwerfungen und Setzungen angesetzt ist. Dann wäre aber immerhin die Realisierung dieses ethischen Imperativs von politischen Rahmenbedingungen abhängig.
Es ist aber schon hier zu warnen, dass die Allgemeinheit jener Menschenrechte nicht bedeuten kann, Normierungen und Standardisierungen in jedem Fall und allen Situationen als Königsweg inklusiver Maßnahmen zu erachten.
Und wie politisch ist die Erforschung von Inklusion?
„Naja, dito! Wenn Inklusion politisch ist, so folgt daraus, dass auch die Erforschung von Inklusion politisch ist!“, wäre eine denkbare Erwiderung.
Auf diese zweite Frage mögt Ihr aber vielleicht auch etwas vorsichtiger antworten. Jemand könnte darauf bestehen, dass Forschung auf einen – wie auch immer beschaffenen – Rest an validen und zuverlässigen Standards der Forschung zurückgreifen muss, um sich diesen Namen zu verdienen.
Dem soll hier nicht grundsätzlich widersprochen werden. Es wird aber ein Einwand gegen den Methodenset gegenwärtiger und herkömmlicher Forschung erhoben. Grund hierfür ist, dass Methoden im sensorisch-kognitiven Wissen einer bestimmten Normalität von Gesellschaft verankert sind. Eine bestimmte Konzeption des sinnlich maßgeblichen liegt ihnen zu Grunde. Da das Sinnliche auch nicht vom Kognitiven getrennt werden darf, wirkt sich diese Grundlage auf den gesamten Methodenset und seine Zuverlässigkeit und Gültigkeit aus (Saerberg 2022).
Aus der Vielzahl jener möglichen Repliken auf die Frage nach der Politizität von Inklusion und Inklusionsforschung suche ich in diesem Beitrag Antwort auf dem Grund alltäglicher und sinnlich-körperlicher Erfahrung. Dieser Gedankengang folgt dabei dem Grundargument, dass Edmund Husserl (Husserl 1954) bereits vor achtzig Jahren in der Krisis der europäischen Wissenschaften gegeben hat: Wissenschaft setzt alltägliche lebensweltliche Strukturierungen voraus. Thomas Luckmann und Alfred Schütz (Schütz/Luckmann 1979/1984) haben diese lebensweltlichen Strukturen in einer Protosoziologie beschrieben und Peter Berger & Thomas Luckmann (Berger/Luckmann 1969) haben hierauf eine große Wissenssoziologie aufgebaut, deren Programm die empirisch materiale Erforschung von Gesellschaft ist. Daher verstehe ich hier unter Inklusion nicht nur bestimmte Maßnahmen, die innerhalb von Organisationen von definierten Akteur:innen wie Verwaltungen, pädagogischem Personal u. dgl. aufgrund von jeweiligem Fachwissen und gesetzlichen Bestimmungen, wie u.a. DIN-Normen, durchgeführt werden. Mit Inklusion ist vielmehr ein weites, soziales, alltägliches Inklusionsgeschehen angesprochen: die Einbettung eines formalisierten, durch geregelte politische Prozeduren bestimmten Verfahrens in ein alltagssoziologisches Handeln, Aushandeln und Interpretieren in Situationen mit vielfältigen verteilten Akteur:innenschaften. Inklusion baut sich auf Seiten einer je individuellen, lebensweltlichen Erfahrung eigensinniger behinderter Subjektivität, sozialer Mitwelten und materialer Umwelten als subjektiv sinnhaftes Erleben (Schütz/Luckmann 1979/1984)) auf. Aber schon in diesem sozialkonstruktivistischen Ansatz kann sich nach Alfred Schütz subjektiv gemeinter Sinn nur dadurch einstellen, dass er in der auslegenden Anwendung von sozial vorkonstruierten Typisierungen durch situierte Individuen vorgeht. Eine sozial konstruierte Wirklichkeit greift immer auch auf Handlungsroutinen und habitualisiertes Wissen (Berger/Luckmann 1969) zurück. Diesem Wissen ist doch ein standardisierendes Moment immanent.
Jacques Rancière (2002; 2006 und 2011) hat dieser soziologischen Antwort eine politische hinzugefügt, die knapp oberhalb des Bodens körperlich-sozialer Erfahrungen politische Ein- und Ausschlussprozesse ansetzt. Jene bestimmten normgeleiteten inklusiven Maßnahmen, die innerhalb von Organisationen durch definierte Akteur:innen durchgeführt werden, können mit Rancière als Teil des polizeilichen Handlungsfelds begriffen werden (Rancière 2002). Dem setzt er das Moment der eigentlichen Politik entgegen, dem das wesentliche Unrecht des Ausschlusses gewisser Teile des Staats zu Grunde liegt. Politik zielt auf den Teil der Anteillosen ab, ihr Kern ist Konflikt (Rancière 2002). Diesen Konflikt, dem Ausschluss vorausgeht, kann die Wissenssoziologie von Berger und Luckmann nicht erklären. Andererseits ist die Trennung in Polizei und Politik von Rancière zu scharf und zu abstrakt, um die alltäglich-körperliche Strukturierung der Ausgeschlossenen zu begreifen. Hier beschreibt die mundanphänomenologisch fundierte Wissenssoziologie; dort erklingt politische Widerständigkeit, die den Ausschluss zum Thema von Protest erklärt. Diese Gedanken werde ich am Schluss dieses Beitrages aufnehmen.
Seit der Writing Culture Debatte ist Schreiben nicht mehr unschuldig. Daher ein paar, sehr knappe Worte zu meinem Vorgehen. Methodisch werde ich meinen Erfahrungsgrund in einer vierfachen Akzentuierung festhalten: körperlich-sensorische Phänomene, Dinge und Räume, interpretierende sprachliche Sinnzusammenhänge und soziale Bezüge.
Ich werde zunächst gemäß den Traditionen ethnographischen Schreibens vorgehen. Hier sind für mich vor allem die dichte Beschreibung (Geertz 1994) und die Überlegungen im Anschluss an die Writing Culture Debatte (Clifford & Marcus 1986) ausschlaggebend. Während Geertz uns dazu auffordert, unsere ethnographischen Notizen so weitreichend und feingliedrig wie möglich anzulegen, reflektiert die Writing Culture Debatte auf Voraussetzungen und Bedingungen des Schreibens. Sie finden solche in kulturellen Setzungen des Ethnographen, die zumeist unbemerkt im Hintergrund bleiben und sowohl Form als auch Inhalt der Notizen prägen können. In einer „hellsichtigen“ Passage führt James Clifford dabei eine Verbindung zwischen dem kognitiven und dem sensorischen Stil der Darstellung aus:
"Once cultures are no longer prefigured visually - as objects, theaters, texts - it becomes possible to think of a cultural poetics that is an interplay of voices, of positioned utterances. In a discursive rather than a visual paradigm, the dominant metaphors for ethnography shift away from the observing eye and toward expressive speech (and gesture). The writer's 'voice' pervades and situates the analysis, and objective, distancing rhetoric is renounced." (Clifford 1986: 12)
Ein vor allem visueller Stil, den Clifford durch die Metaphern des Theaters und des geschriebenen Texts veranschaulicht, wird in dieser Passage einem so genannten diskursiven Stil gegenübergestellt, den der Autor durch Metaphern des Hörens und Sprechens wie Stimme oder positionsgebundene Äußerung konkreter fasst. In Summe wird dem durch Beobachtung Distanz produzierenden Auge die Poetik einer in der Geste räumlichen, kulturellen und sozialen Kontexten gegenüber sensiblen Stimme entgegengesetzt. Natürlich muss hier immer gefragt werden, was mit dem Ausdruck des Visuellen bzw. des Sichtbaren überhaupt gemeint ist. Denn es mag gut sein, dass zwischen einem blinden Interpreten wie mir und den schreibenden Sehenden hier eine Auffassungsdifferenz besteht. Dies erscheint schon nach den Voraussetzungen der Writing Culture Debatte plausibel zu sein, denn wenn wirklich diverse Kontexte den Darstellungsstil beeinflussen, dann muss hierzu auch der sensorische Raum hinzugefügt werden. Denn was wirklich materiales, kontextgebundenes Sehen und Hören – hinzuzufügen seien unbedingt auch die zumeist wenig bedachten vielen anderen Sinne – bedeutet, mag für einen blinden Menschen ganz andere Explikationen haben als für sehende. Mir drängt sich – ohne dies hier weiter ausführen zu können - der Verdacht auf, dass Visualität bzw. Sichtbarkeit im Gebrauch schreibender Sehender wesentlich abstrakter gebraucht wird, oft als Metapher für Denkbarkeit, Wahrnehmbarkeit oder Wirksamkeit steht. Visualität und Sichtbarkeit setzen hier m. E. viel später als bei wirklich materialen Praktiken des Sinnengebrauches an, nämlich bei den sichtbaren Folgen jener fundamentalen Verbindung von Kultur und Sensorik.
Um diesem Fakt hier Rechnung tragen zu können, werde ich diese Grundausrichtung durch das auto-ethnographische Schreiben (Ellis et al. 2010) ergänzen. Es ist prinzipiell subjektiv ausgerichtet, indem es sowohl emotive als auch sinnliche Momente in die Darstellung aufnimmt, bezieht obendrein aber auch das lesende, imaginierte Gegenüber als Du der geschriebenen Ansprache mit ins Kalkül. Natürlich gibt es auch hierbei durchaus variierende Modalitäten und Intensitäten des appellierenden und emotiv ansprechenden Schreibstiles. Ich werde in diesem Text eher einen gedeckten denn einen schrillen Farbton wählen.
Diese eher formalen Aspekte werden durch thematische Setzungen begleitet. Solche inhaltlichen Zentren des Interesses sind körperlich-sensorische Praktiken (Saerberg 2006) und materiale und sozio-technisch-körperliche Ensembles (Saerberg 2016). Ich möchte dadurch die Wechselwirkung zwischen intersubjektiven Handlungs- und Deutungsmustern und deren subjektiver Erfahrung von mit- und umweltlichen Strukturen thematisieren.
Da oft uneingeweihte Vertreter:innen objektiver Wissenschaft ihren Gefühlen Ausdruck verleihen, das Alltägliche sei banal oder trivial und dessen ethnographische Beschreibung zu subjektiv, möchte ich hier einen kleinen Einblick in die mühevollen Prozeduren des auto-ethnographischen Schreibens gewähren. Prinzipiell gibt es mehrere Strategien und Techniken: etwa das begleitende Schreiben oder Sprechen auf ein mitgeführtes akustisches Aufzeichnungsgerät und das erinnernde Schreiben mit variierendem zeitlichem Abstand zum Erlebten. Hier ein kleiner Ausschnitt aus einer Reflexion auf Schreiben und Beobachten eigenen Tuns und Denkens aus einer Konstellation, in der das Laptop als Schreibgerät auf dem Esszimmertisch steht und alles notiert wird, was gerade passiert und getan wird in einer Sukzession von Tun/Denken zu Schreiben und wieder Tun/Denken und so fort.
„Ich hab zu viel im Kopf, ich werde wahnsinnig! Und ich möchte gerne alles, was im Kopf ist, behalten. Aus dem Wissen heraus, dass alles für die wissenschaftliche Genauigkeit Relevanz hat. Ich möchte Alles Aufschreiben.
Das hängt damit zusammen, dass Dir auf einmal so viele Gedanken durch den Kopf schießen, die Dir grade alle ganz wichtig erscheinen und Du sie alle aufschreiben willst. Und Du gleichzeitig vieles vergessen haben wirst.
Genau, Mist, was habe ich nun vergessen? Ein ungutes Gefühl.
Aber Du weißt ja eben nicht, was Du vergessen hast, das ist der Definition von Vergessen immanent!
Dann kommt das „ich habs fast!“
Während Du über das Vergessen schreibst, das ist ein Gefühl, als hörst Du den Klang eines Wortes, aber Du musst ja noch schreiben, da ist es wieder weg, Mist!
Genau, ich mach eine Pause, um es vielleicht doch zu erinnern.
Du solltest immer eine Audioaufnahme parallel mitlaufen lassen, denn sonst vergisst Du garantiert so viel! Und auch nie das Laptop ausschalten, denn so viel Zeit vergeht zwischen einschalten und startklar sein.
Alles nach links-stellen: Weil ich Tee trinken will und es irgendwie gut finde, dabei zu schreiben oder umgekehrt könnte es auch sein, weil ich eben schreiben möchte und gehört habe, vielleicht, dass eine große Schriftstellerin oder Schriftsteller immer beim Teetrinken geschrieben hat, will ich eben Tee dabei trinken. Nun kommen aber Laptop und Teekanne mit Teetasse sich doch ins Gehege, dergestalt, dass Tee kleckert und Laptop unter Tee gerät. Also, der Gedanke, dass das besser räumlich zu arrangieren sei. Früher, also bis eben, stand das Laptop links, Teetasse und Teekanne rechts. Da das Kabel des Laptops zwar auf der linken Seite oben am Laptop eingesteckt wird, die Steckdose aber dummerweise rechts davon liegt, schlängelt sich das Kabel immer an der Tasse vorbei. Zudem muss ich praktischerweise nach rechts von der Bank aufstehen, um in den Raum zu gehen, um etwas zu erledigen. Das ist doppelt unpraktisch. Zumindest das mit Teekanne und Teetasse muss anders geregelt werden, denke ich.
Krisenhaft ist, wenn ich das Laptop zu früh ausgeschaltet oder nicht auf ein mitlaufendes akustisches Aufzeichnungsgerät gesprochen habe. Denn was relevant ist, ergibt sich oft erst im Nachhinein.
Und Du kannst nicht immer aufzeichnen. Weil Dir ständig neue Gedanken kommen
Was alles passiert, ist unbeschreiblich! Es braucht eine eigens ersonnene und ausgetüftelte Technik der Aufzeichnung in Schrift oder Wort, um so viel wie möglich zu erinnern.“
So gehen ständig in kurzem Wechsel Handlungen-Wahrnehmungen-Gedanken zu Text niederschreibende Protokolle Hand in Hand mit begleitenden akustischen Protokollen während des Tuns und mit quasi Experimenten, die zwecks genauerer Verifizierung durchgeführte Handlungssequenzen niederschreiben, und mit Protokollen, die kurz nach einer durchgeführten Handlungseinheit stattfanden. So entsteht ein sehr komplexes Gewebe aus rekonstruierten Erfahrungen. Im Folgenden werde ich eine Form der dichten Beschreibung zur Darstellung nutzen, die all diese Formen zusammenführt und gelegentlich zeitliche Schichtungen der Erfahrungsgenese aufzeigt.
Dabei geht es nicht darum, einmal einen betroffenen Behinderten zu Wort kommen zu lassen, der einfach mal schlichtweg das notiert, was er so erlebt. Wir haben es mit einem vielschichtigen Erfahrungsprotokoll zu tun, das alles andere als schlicht ist. Eine direkte Beziehung zu Behinderung allerdings ist im Material angelegt: Nämlich, die eigene Technik der Erinnerung und Bewahrung zu erarbeiten, welche dem eigenen Erleben gerecht zu werden vermag. Diese Technik mag jeder und jedem eine eigene sein, die einzig zu entwickeln Aufgabe des Chronisten, der Forscher:in sei.
Hinzu kommen als Stilmittel der Anrede die verschiedenen Personen, in und mit denen gesprochen wird.
Wie gesagt, um mich und meine Leser:innen auf die Reise zu schicken, in deren Verlauf wir zu gewissen Erkenntnissen kommen können, erachte ich es für wesentlich, dass einfache, sinnliche und interpretative Erfahrungen alltäglichen Lebens Ausgangspunkt für die Reflektionen sein müssen.
Als ich letzten Donnerstag von der U-Bahnhaltestelle am Hauptbahnhof in Hamburg, Haltestelle Hamburg Hauptbahnhof Nord, zum Hansaplatz gegangen bin, hatte ich mich ein bisschen verlaufen. Von unten aus, wenn jemand mit der U 2 aus Richtung Rauhes Haus angekommen ist und zur Bremer Reihe möchte, so wendet sich diese Person meiner Meinung nach am besten nach rechts, entgegen der Fahrtrichtung. Hier kannst Du eine Zeit lang an der ungefähr noch für eine viertel Minute an der Haltestelle wartenden U-Bahn entlanglaufen, einen gewissen Vorsichtsabstand von einem Meter etwa im Ohr. Wenn Du klug bist oder es die Situation ermöglicht hat, dadurch z. B., dass Du am U-Bahnhof Rauhes Haus genügend Zeit hattest, Dich an einer günstigen Position zu postieren, bist Du ziemlich weit hinten eingestiegen, denn dies verringert den Fußweg Richtung Rolltreppe. Mit dem Langstock vor Dir her pendelnd schleichst Du, nachdem die U-Bahn davongefahren ist – die Linie ist in Hamburg verhältnismäßig leise, was für das Hören eher orientierungsfreundlich ist – weiter nach vorne, so geradeaus wie Du es schaffst, lauschend auf die Ankunft des Geräusches, welches charakteristisch ist für die Rolltreppe. Ist das geschehen, so navigierst Du auf dieses Geräusch zu.
Nun ist dieser Ablauf der Handlungen natürlich nicht zwangsläufig für mich noch für andere Blinde zu Fuß gehende. Selbstverständlich kannst Du eine viel längere Zeit an der U-Bahn entlang navigieren. Hier sind andere Fahrgäst:innen zu umschiffen, aber, je nach Deiner Gemütslage, mag dies auch von Vorteil oder einigem Unterhaltungswert sein. Denkbar wäre etwa, dass Du nach einer Begleitung suchst, die etwa den gleichen Weg hat wie Du und mit der Du zusammen einen Weg gehen kannst, der Dir alleine gerade zu beschwerlich ist. Oder Du brauchst im Moment Gesellschaft, die vielleicht nur in einem kurzen Austausch von Höflichkeiten besteht. In einem solchen Fall könnte es sein, dass die Gesetze der Wahrscheinlichkeit für die Wahl der längeren Strecke sprechen könnten. Allerdings sind auch andere Konstellationen denkbar. Letztendlich ist es eine Entscheidung nach dem eigenen Gusto, es gibt aber eine gewisse Tendenz, dieses Handeln zu routinisieren.
Du hast also die Rolltreppe erreicht. Je nachdem, wie sicher Du auf den Beinen bist, hältst Du Dich mit einer Hand auf dem mit Gummi belegten Rand der Rolltreppe fest. Diese Rolltreppe hat die Eigenheit, dass sie nicht in einem Lauf durchführt bis in die Unterführung, sondern sie wird auf einer mittleren Ebene unterbrochen. Du gehst also ungefähr fünf Meter lang vom Ende der ersten Rolltreppe zum Anfang der zweiten, wobei sich diese beiden Enden der jeweiligen Treppen mehr oder minder gegenüberliegen. Dazwischen liegt noch ein runder Pfeiler, der umschifft werden will. Hier erneut hilft das Geräusch der Rolltreppe. Du fährst also im günstigen aber häufigen Fall erfolgreich nach oben.
Oben angekommen bringt es die Topographie des Ortes mit sich, dass Du zwischen drei Handlungsoptionen wählen kannst, die Dich jeweils zu verschiedenen Auf- bzw. Ausgängen aus der Unterführung kommen lassen: Nach links führt Dich der Weg zu einem Aufgang, der auf der dem Bahnhof nahen Seite der Kirchenallee führt. Nach rechts kommst Du auf dieselbe Seite der Kirchenallee, allerdings sehr nah am Eingang zum Hauptbahnhof - der Weg der Wahl, wenn Du zu einem Zug möchtest. Geradeaus, was auch immer dieses Wort nun heißen mag (Saerberg 2006), befindet sich ein etwas schmalerer Gang, der unter der Kirchenallee hindurchgeht und auf der anderen Seite der Kirchenallee beim Schauspielhaus herauskommt. Jenen Weg wollte ich wählen, da ich einer Überquerung der Kirchenallee zum gegebenen Zeitpunkt ungeneigt gegenüberstand.
Nun kennen wir ja alle die Leitsysteme, die für Blinde angelegt werden. Sie werden zumeist in enger oder auch lockerer Absprache mit lokalen Blindenorganisationen vereinbart und richten sich nach bestimmten Din-Vorschriften, bei deren Formulierung ebenso Vertreter:innen des Blindensystems konsultiert wurden. An diesen zumeist sehr deutlich in die Dreidimensionalität ragenden tastbaren Linien, die über Kreuzungszeichen verfügen, sollen sich blinde Straßenverkehrsteilnehmer:innen entlang navigieren.
Im Kölner Hauptbahnhof, vor bestimmt mehr als fünfzehn Jahren, bin ich das erste Mal mit diesen Leitlinien zusammengestoßen. Ich schlenderte, wie es damals meine Art war, mit dem Langstock vor mir her pendelnd, im Nebengang des Bahnhofs entlang, immer ein bisschen Menschen oder Koffern ausweichend von links nach rechts, von rechts nach links, einmal etwas zurück, einmal wieder weiter voran mäandernd wie ein Flüsschen. Da sprach mich eine junge Frau an und sagte: „Sie suchen bestimmt die Linie für sie?“
Das überraschte mich und ich wusste, so muss ich gestehen, zuerst nicht genau, was gemeint war.
Wie genau sich der Weg der Erkenntnis damals in mir bahnbrach, kann ich heute nicht mehr rekonstruieren. Doch deutlich erinnere ich noch, dass ich über diesen Eingriff sehender Mitwelt sowohl in meine Navigationspotentiale als auch meine Navigationsfreiheit damals durchaus erbost war. Obwohl hier gesagt werden muss, dass die freundliche aber bestimmte junge Frau daran sicherlich keine Schuld trägt. Dennoch stellt sich in solchen Kontexten regelmäßig das Gefühl ein, Insasse in einem Panoptikum (Foucault 1976) zu sein.
Zurück am Hamburger Hauptbahnhof des Jahres 2021 ist zu sagen, dass dieser Winkel der Stadt - merkwürdig genug - wohl vergessen genug ist, dass es dort kein Leitsystem gibt. Ein in drei verschiedene Richtungen sich auffächerndes Leitliniengeflecht wäre natürlich leicht denkbar und prinzipiell installierbar. Es bleibt aber aktuell also den Navigationskünsten der einzelnen blinden Verkehrsteilnehmenden überlassen, sich hier zurecht zu finden. Nach links oder nach rechts zu gehen, ist allerdings hier nicht besonders schwer, da der Weg in beiden Fällen an einer Wand entlang führt, die also gewissermaßen wie ein vorfindliches Leitsystem fungiert. Den Weg in Richtung Schauspielhaus aber finde ich zumindest nicht immer treffsicher.
Ein bisschen hat es mich immer gewundert, warum sich die Blinden so leicht wie Perlen an einer Schnur durch die Eingeweide der Stadt ziehen lassen wollen, vorbei an den vielen Verführungen, die auf dem Wege liegen, vorbei an Rotlichtbezirken, dunklen Spelunken und rauchigen Lasterhöhlen sicher auf ihrem Weg ins unbescholtene Heim der Normalität.
Ich gehe nun also von unten hinaufkommend, die zweite Rolltreppe verlassend nach vorne, möglicherweise geradeaus, was auch immer das bedeutet, und lasse mich in den Raum treiben. So erreiche ich eine Treppe, die hinaufführt. Der Langstock ertastet die Stufen, von oben kommt ein Luftzug. Ich bemerke, dass eine Rolltreppe rechts neben den üblichen Treppen hinaufführt. Daran erkenne ich, dass dies der falsche Aufgang ist, denn beim Schauspielhaus gibt es keine Rolltreppe, ich bin demnach auf der falschen Seite der Kirchenallee unten angelangt. Dazu muss gesagt sein, dass ich den Ort aus vorigen Begehungen kenne und mir die Topologie daher im Prinzip – was Verlaufen immer noch einschließt - vertraut ist.
Überhaupt fällt mir hier auf, dass das Verlaufen ein Vorgang ist, der etwas negativ konnotiert ist, das es gar nicht sein müsste. In anderen Kontexten – denke ich nur an Walter Benjamin (1983) oder jünger Michel de Certeau (1988) - wird Verlaufen als Herumstreunen, als Explorieren oder als Flanieren gedeutet. Warum nun überhaupt sollte ich in diesem Fall von Verlaufen sprechen? Gibt es nicht ein Recht auf Verlaufen und entspringt nicht aus dem Verlaufen das Erkunden von neuem Gelände?
Tatsächlich empfinde ich es oft als angenehm, wenn ich in einem verlassenen Ort bin, wo ich mir das Verlaufen erlauben kann, ohne dass gleich jemand herbeieilt, der oder die mir helfen will. Natürlich ist dies immer gut gemeint und öfters auch gar nicht unwillkommen. Aber das Gefühl, doch immer beobachtbar zu sein, immer durch ein Zögern oder ein um einen Punkt kreisen jemanden auf den Plan zu rufen, hat auch etwas Enervierendes. Nun ist es nicht so, dass diese Unterführung nicht auch hilfreiche Sehende kennen würde, schon des Öfteren ist hier ein Rat erfolgt, aber gelegentlich herrscht hier doch eine angenehme antipanoptische Unbeobachtetheit.
Ich gehe also zurück. Ich schleiche nah an der linken Wand entlang. Damit ich bemerke, wo der Gang links abbiegt, den ich gehen muss, wenn ich zum Schauspielhaus will. Das verläuft auch erfolgreich, dabei fällt mir auf, dass dort an der Biege der Untergrund sehr charakteristisch ist, ein bisschen höhlt er sich, schwer zu beschreiben in Worten, vielleicht wie eine Mulde. Hier denke ich mir, dass nun dieser Weg mit dem sehr konkreten Wissen um die Räumlichkeit bestimmt sehr präzise begehbar sein wird.
Diese kleine Mulde, die mit dem sie umgebenden Ensemble an Wänden und allem, was noch dazu gehört, singulär ist, bietet ausgezeichneten Orientierungsraum und ich finde darin ein Gegenbeispiel zur nach DIN genormten Leitsystematik der standardisierten Blindennavigation. Für mich und meinen navigierenden Alltag kann ich sie zu einer generellen Landmarke in dem Sinne nutzen, dass ich sie jeden Tag, den ich hier entlang gehe, suche und aufsuche. Sie bietet also für mich ein Sicherheit versprechendes materielles Merkmal der Umwelt. Und eben hier die theoretische und praktisch-ethische Auswertung: Wenn ich alle Umwelten DIN-mäßig normiere, so dass alle Orte dieselben Treppen/Rolltreppen/Ensembles hätten, dieselben Boden-Untergründe mit den altbekannten Leitsystemen etc. - sind dann unsere Umwelten noch voneinander unterscheidbar? Und erleichtert das denn wirklich die Mobilität von Blinden z.B.? Und ist es das, was wir wirklich wollen, Umwelt und Mitwelt zum Zwecke der Barrierefreiheit gleichmachen?
Die Inklusionspolitik in Form von nach DIN-Normen errichteten Leitsystemen lässt bestimmte Dinge in der Welt auf eine stark standardisierte Weise tastbar werden, damit kommen sie zu Wort, aber andere Dinge, wie z. B. die Mulde, wird durch die Leitsysteme umgangen, ausgeklammert und zum Schweigen verdammt. Ihr Schweigen aber bedeutet umgekehrt, dass das erfahrende Subjekt nicht die Möglichkeit hat, das schweigende Ding zu erfahren.
Nun mag jemand sagen, dass dies Beispiel ja nun recht fern läge, an den Haaren herbeigezogen sei und dass es ja schließlich primär ganz pragmatisch darum gehe, dass Blinde sicher ihren Weg fänden.
Nehmen wir ein anderes Beispiel, um meine These zu belegen, dass oben ausgeführtes allgemeiner Natur ist: Der Müll in meinem integrierten Arbeits-, Wohn- und Kochbereich stinkt. Ich muss ihn entsorgen. Zuerst der Plastikmüll, der in unserer Gegend in einem so genannten „gelben Sack“ zu entsorgen ist und einmal im Monat von der öffentlichen Müllabfuhr geholt wird. Der Ausdruck „gelber Sack“, der begleitet wird von „grauer Tonne“, „brauner Tonne“ und „Grüner Tonne“ macht die materiellen Dinge funktionaler Umwelt sichtbar und erinnerbar. Diese Dinge werden so hergestellt, dass sie sich in die Sichtbarkeit der Welt einfügen, in der sie parallel mit den passenden Worten belegt werden, um für wahrnehmend-sprechende Gebraucher:innen handhabbar zu sein. Name, Sichtbarkeit, Ding und Funktion stimmen also zusammen. Es erscheint fast natürlich, dass der Sack gelb ist, dass dieses gelb sichtbar ist, dass er in der Sprache wieder auftaucht und dass seine Funktion klar ist. Alles ist eine Einheit der Sichtbarkeit. Eine hörbare oder tastbare qualitative Einheit wird seinem Namen aber nicht hinzugefügt bzw. erst gar nicht konstruiert. Eine Tonne könnte ja z. B. rauh sein, eine glatt, eine riffelig; ein Sack könnte knistern, ein anderer Sack könnte knirschen, einer könnte knarzen, einer wiederum knuspern. Aber diese Welt wird nicht erschaffen, obwohl es sogar Namen in unserem Sprachrepertoire dafür gäbe. Sie bleibt unhörbar. Auch die taktile Welt der vielfältigen Oberflächen bleibt unbegriffen.
Was passiert nun, wenn diese perfekte Welt von Nutzer:innen, Dingen, Wahrnehmbarkeiten und Funktionen zerfällt?
Dann beginnt die Welt der Workarounds und des kreativen Improvisierens, welches aber auch kein reines Improvisieren ist, denn wie in der Musik ist es eingebettet in soziale Arrangements:
Ich nehme also den kleinen Plastiksack aus dem kleinen Behälter unter der Spüle, der noch nicht der gelbe Sack ist, und gehe damit in die Garage. Dort liegt oben auf einem Schrank eine kleine Rolle, auf der die zu Kennzeichnungszwecken gelb gefärbten – ich habe mir dies gemerkt, denn diese Säcke sind qua sozialer Abmachung mit meinen Mitbewohnerinnen an diesen Ort gebunden worden - Plastiksäcke aufgerollt sind. Ich wickele ab und fühle mit der linken Hand nach der Falzlinie. Daran erfühle ich die Stelle, an welcher eine Plastiktüte von der Fahne der übrigen gefalteten und aufgerollten Tüten abgerissen werden kann. Danach fülle ich den ungelben, kleinen Sack aus der Küche in den großen, gelben Sack, in den noch mehrere solcher kleinen, ungelben Säcke hineinpassen.
An diesem Beispiel wird mehreres klar: Zum einen greife ich zur Erledigung dieser alltäglichen Aufgabe auf körperliche Routinen zurück. Schütz und Luckmann (1979/1984) haben solches Wissen in Fertigkeiten, Rezeptwissen und Gebrauchswissen differenziert beschrieben. Diese sind zum zweiten an bestimmte Ordnungen in der räumlichen Aufteilung meines Wohnraumes angebunden. Drittens bauen diese beiden Faktoren auf industriell angewendeten Mustern auf, die in den DIN-Vorlagen geronnen sind. Dies bedeutet in unserem Zusammenhang erneut mit Schütz und Luckmann, dass allgemeine Typisierungen eine handlungsorientierende Sicherheit gewähren. Sofern sind sie sinnvoll. Subjektiver Sinn bedarf eben der Vergesellschaftung und dies bedeutet bis zu einem gewissen Grad auch Standardisierung und Normierung.
Dennoch sind sie längst nicht alles, eine Reduktion auf sie würde konträr Starrheit bedeuten und letztlich die Orientierung und Sicherheit wieder zerstören.
Aber aus den Sichtbarkeiten der DIN-Normen und der Fertigungen quillen die Tastbarkeiten und Hörbarkeiten der Dinge hervor. Sie sind minder gewollt und geplant, dennoch aber existent und anders einsetzbar. Keine Normierung hat sie ersonnen, keine Pädagogik ausgedacht.
Betten wir zum Schluss die Wahrnehmbarkeiten noch stärker als bisher ein in das soziale Geflecht. Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Die Spülmaschine, in die ich ein Glas einsortieren will. Mein soziales Mitwesen, das mir sagt: „Die Spülmaschine läuft“. Sie ist aber warm und damit sagt sie, dass sie spült und nicht einsortiert werden sollte. Mein Ärger darüber, dass mir dies gesagt wird, obwohl ich es doch selbst spüren kann.
An dem Beispiel wird deutlich, dass Erfahrungen des sozial und politisch induzierten Zugangs zur Sinnlichkeit, deren fundamentale Trennung in Sichtbares und Unsichtbares, allgemeiner in Wahrnehmbares und Unwahrnehmbares, Erreichbares und Unerreichbares, ein Regelfall und kein Sonderfall sind.
Diese Trennung und der damit verbundene Ausschluss bestimmter Sinneszugänge verstellen mir die Dinge, machen sie stumm für mich. Sie sind die Macht, Dinge und Menschen zu benennen, zu erklären, sprechen zu dürfen. Sie errichten eine sensorische Ordnung. Aber sie sind noch mehr als diese fundamentale Aufteilung: sicher ist geregelt, Dinge zu sagen, gehört zu werden, aber auch eine bestimmte Weise, ein Modus, in dem jemand, jemensch, jewesen, jeding gehört, gesehen und nicht betastet wird. Und dazu die Hierarchie der Sinne, und zwar nicht allgemein, immer Sehen zuerst, obwohl es eine solche Grundtendenz gibt, sondern differenziert nach Kontexten, wie die Blinden und die Tauben zu singen, zu gebärden wissen.
Jacques Rancière (2006) nennt dies die Aufteilung des Sinnlichen: Als Beispiele werden von ihm genannt: Kunst, Wissenschaft, Bildung und Politik. Hier werden Subjektpositionen zugewiesen. Einher damit geht auch, wer oder was sagbar und was sichtbar, aber auch, wer oder was unsagbar und was unsichtbar ist.
Rancière (2002) nimmt eine fundamentale Zweiteilung der gemeinschaftlichen Sphäre in Polizei und Politik vor. Polizei nennt er alles das, was in den Bereich von Prozessen und Strukturen politischer Meinungsbildung, politischer Organisationen und Institutionen, Platzzuweisungen und Funktionen sowie legitimierender Diskurse fällt. Hier bildet sich das ab, was im englischen Sprachraum mit polity (politische Strukturen/Systeme), politics (Prozesse) und policies (Inhalte) angesprochen ist. Politik nach Rancière hingegen sprengt solche Festlegungen, sie entsteht im Dissens, sie negiert Platzzuweisungen, macht Unsichtbares sichtbar und Lärm hörbar. Politik meint den vor- und außerinstitutionellen Bereich, von dem her polizeiliche Strukturen, Prozesse und Institutionen in Frage gestellt werden können, die auch Institutionen ins Leben bzw. aus dem Leben rufen können.
Sein Begriff der Politik weist Ähnlichkeiten mit dem Begriff des Politischen auf, wie er von derart unterschiedlichen Denker:innen wie Carl Schmitt im dissoziativen Freund-Feind-Schema und Hannah Arendt im assoziativen gemeinschaftlichen Realisierungsvermögen formuliert wurde (Gisinger 2020). Ich finde so bei Rancière polizeiliche Ordnung und ein Regime derjenigen, denen Teilhabe zugebilligt wird auf der einen und einen Raum der Gleichheit, wo sich die Ausgeschlossenen als potenziell Gleiche rühren, auf der anderen Seite. Dies erstreckt sich auf Menschen und Dinge: Baumaschinen röhren einfach. Aber es gibt auch Wandel: Maschinen werden in Hallen verbannt, um den Geräuschpegel der Umwelt zu verringern; dennoch müssen dort bestimmte Menschen arbeiten und diese sind nicht die am meisten Privilegierten der Gesellschaft. Aber von Zeit zu Zeit wird selbst hier das Schweigen gebrochen, wenn z. B. in Schlachthöfen Corona ausbricht oder aufgrund politischer Entscheidungen in Fleischereien das Material knapp wird. Rancière spricht hier sehr treffend von der Transformation von Ausschlussverhältnissen unter dem Stichwort der Transformation von Aufteilungen des Sinnlichen. Es geht in radikaler Demokratietheorie darum, über eine radikale Neuaufteilung von Erfahrungsfeldern nachzudenken.
Rancière mag allerdings in seiner Unterscheidung in sichtbar und unsichtbar auch auf eine Zweiheit verkürzen. Ich würde erweitern, was ruchbar, spürbar, tastbar, was unspürbar, unriechbar, untastbar ist. Mir fällt da eine alte blinde Freundin ein, die mir erzählt hat, vor langen Jahren, dass sie sich gerne in einem Gasthaus alles betastet und dass ihr Freund, der sehen kann, sich immer darüber ärgert und es peinlich findet. Eine Schankstube soll gesehen werden, zumindest en gros. Sie umfangreich zu betasten, ist nicht im sensorischen Set von Alltagspraktiken enthalten. Wer dies tut, kommt den Dingen zu nahe, wie es vielleicht Kinder oder Trunkene tun. Wer dies tut, benötigt eine Entschuldigung dafür, ansonsten würde der tastende Akt als Angriff der allgemeinen Ordnung, möglicherweise sogar als Revolte gegen die herrschende Macht zu verstehen sein. Wer tasten, wer sehen, wer hören darf, wird letztendlich politisch bestimmt. Dinge, Worte, Wahrnehmbarkeiten bzw. Sichtbarkeiten sind also unbedingt in ein polit-soziales Regelwerk eingebunden. Dieses Regelwerk nun wiederum macht sowohl Welt wahrnehmbar bzw. sichtbar als auch Menschen wahrnehmbar bzw. sichtbar und in letzter Konsequenz genau die Beziehung zwischen ihnen auch. Hier exakt entspringt Partizipation. Allerdings mag es im Hinblick auf Sichtbarkeit auch hier besondere Bezirke mit besonderen Regeln geben: abgeschirmte Winkel, die zwecks Intimität schlecht einsehbar, dunkel beleuchtet sein mögen. Es gibt also soziale Axiome, welche bestimmte Dinge, Räume und Menschen in die Kategorien des Sichtbaren und des Hörbaren einordnen. Es gibt darinnen aber zahlreiche Sonderregelungen, die abgestufte Sichtbarkeiten gemäß sozialer Kontexte bestimmen. Wer darf wann, wo, was und wie sehen und sich sichtbar machen? Wer darf wann, wo, was und wie und wahrnehmbar machen? Erstere produzieren Exklusion, letztere heben diese partiell wieder auf, indem sie gewissermaßen Hintertüren für Ausgeschlossene etablieren. Keine absolute Herrschaft des Sehens, sondern überall durchquillende Geräusche und Stoffe und Häute.
Es zeigt sich also ein sehr komplexes Ineinander von Regeln, die Räume, Personen, Dinge und Körperlichkeiten einander zuordnen. Das mag wiederum einen Kontrast zu der DIN-mäßig daher kommenden und alles gleich behandelnden leitsystematischen Verlegung von Orientierungsplanken darstellen. Eine recht unterkomplexe Welt der Inklusion für wahr.
Ich habe ein grundlegendes Spannungsverhältnis aufgezeigt.
Dabei stellt sich heraus, dass Inklusion grundsätzlich Gefahr läuft, durch Etablierung vorgeblich inklusiver Regeln und Maßnahmen neue Exklusionen zu produzieren. Exkludiert werden u. a. eigensinnige Individualitäten und Intersektionalitäten, welche den Standardisierungen untergeordnet werden. Dies gilt aber nicht nur für menschliche Akteure sondern auch für Dinge und Umwelten (Latour 2001).
Kann unter diesen Kontexten etwa die gebaute Umwelt so divers bleiben, wie es Menschen sind: eine niedrige Bordsteinkannte hier, eine höhere dort, eine sanfte Mulde hier, eine tiefere dort, eine für Rollstuhlfahrer:innen, eine für Blinde nutzbare? DIN-Normen sind kontextunabhängig, machen die Dinge gleich.
Mit Schütz und Luckmann habe ich erkannt, dass dies auf der einen Seite handlungserleichternde und routinehafte Orientierungen zu geben vermag. Auf der anderen Seite werden aber individuelle Spielräume sinnhafter Weltkonstruktion dadurch eingeschränkt. Theoretisch bleibt zwar jenen Individuen die Möglichkeit, einen eigenen kleinen lebensweltlichen Ausschnitt in eine regelhafte und sinnhaft geordnete Alltäglichkeit zu überführen, mit Rancière ist allerdings festzustellen, dass solche Möglichkeiten durch das, was er polizeiliches Handeln nennt, von vorneherein eingeschränkt sind. Für die Inklusionsforschung bedeutet dies, dass sie weniger auf die Etablierung allgemeiner Standards fokussieren sollte, sondern verstärkt in Richtung sehr kontextsensitiver Ziele und Mittel forschen sollte.
Dem Problem der Standardisierung gesellt sich ein zweites Problem hinzu, das dessen Wucht noch verstärkt: Dieses ist das Problem der unterschiedlichen Gewichtung der Sinnlichkeit, ja der Körperlichkeit überhaupt. Hier spielen die von Jacques Rancière behandelten Aufteilungen des Sinnlichen, die genuin politisch sind, eine wichtige Rolle. Die Methoden empirischer Inklusionsforschung, die dem kognitiven und sensorischen Stil der herrschenden Körperlichkeit folgen, müssen die Wahrnehmbarkeiten exkludierter Gruppen überhaupt erst zur Geltung kommen lassen. Hierzu ist die Beteiligung jener Gruppen und Individuen am Forschungsprozess so notwendig wie explorative Forschung in deren Lebenswelt (Saerberg 2013).
Erneut mit Rancière bleibt allerdings in der Domäne der von ihm so genannten Politik die Chance bestehen, verfestigte Regulierungen im Dissens aufzulösen.
Dieses multiperspektivische Relationsgemisch wird durch die Disability Studies mit u. a. dem sozialen und kulturellen Modell zu fassen versucht (vgl. Brehme et al. 2020)). Aber sind diese Modelle überhaupt noch in der Lage, die komplexer werdenden intersektionalen und antikategorialen Subjektivierungskonstellationen (Raab 2007; Czollek 2020; Preciado 2018) zu erfassen? Und wie könnte subjektiv gemeinter Sinn sein Recht auf Objektivierung einfordern, wenn die von Berger und Luckmann (1969) beschriebene Dialektik zwischen Subjektivierung, Objektivation und Sozialisation in einer konträren Dominanzkultur (Rommelspacher 1995) gestört würde?
Dieses Spannungsverhältnis erscheint mir eines zu sein, das unauflösbar ist und im Guten zu einer kritischen Spannung genutzt werden kann. Radikale Demokratietheorie kann aber auf Transformation von Ausschlussverhältnissen hinwirken, was Transformationen von Aufteilungen des Sinnlichen umfasst – sodass Lärm gehört, Verborgenes sichtbar, Verbotenes tastbar wird.
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[2] Für ausführliche und sehr anregende Diskussionen zu diesem Thema möchte ich Dr. Anneke Wiese von der evangelischen Hochschule Rauhes Haus in Hamburg danken. Ursprünglich wollten wir beide diesen Artikel zusammen verfassen, leider musste Anneke Wiese aus Zeitmangel ihre Mitwirkung zurückziehen.