Abstract: Ausgehend von der Vielstimmigkeit aktueller erziehungswissenschaftlicher Forschungen zu Inklusion und vor dem Hintergrund wiederkehrender Forderungen einer (Re-)Politisierung der Debatten (vgl. z.B. Dannenbeck & Dorrance 2009; Jantzen 2017) fragt der Artikel nach heterogenen Möglichkeiten, die politische Dimension von Inklusionsforschung zu bestimmen. Hierfür bedient er sich unterschiedlicher Begriffe von Politik und Politischem, wie sie in der Politikwissenschaft und der politischen Theorie diskutiert werden. Die Autor:innen plädieren zuletzt dafür, die Debatten um die politische Dimension der Inklusionsforschung offen zu halten und zugleich den mit den Forderungen einer Repolitisierung verbundenen Fragestellungen verstärkt Aufmerksamkeit zu schenken.
Stichworte: Inklusionsforschung, Erziehungswissenschaft, Politik, Politisches, Politische Differenz, Erkenntnispolitik
Inhaltsverzeichnis
Wissenschaftssoziologische Analysen machen deutlich, dass Wissenschaft und wissenschaftliche Erkenntnis nicht losgelöst von sozialen und kulturellen Prozessen stattfinden, sondern in diese eingebettet sind (vgl. Fleck 1980, Kuhn 1967). Im Anschluss an feldtheoretische (vgl. Bourdieu 1975), diskurstheoretische (vgl. Foucault 1974) oder feministische Arbeiten (vgl. Haraway 1995) können die konflikthafte Konstituierung von wissenschaftlichem Wissen sowie die Verstrickungen von Wissenschaft in gesellschaftliche Auseinandersetzungen und Machtverhältnisse geltend gemacht werden (vgl. Hamann et al. 2016, Graf und Zahnd i.d.A.; Hauser, Schuppener, van Ledden i.d.A.). Aus solchen wissenschaftssoziologischen Analysen heraus werden – auf unterschiedliche Art und Weise – Geltungsansprüche wissenschaftlichen Wissens fragwürdig, die einen Standpunkt jenseits dieser sozialen Auseinandersetzungen proklamieren und von dort aus einen privilegierten Zugang zu Erkenntnis in Anspruch nehmen. Im Anschluss an repräsentationskritische Arbeiten kann vielmehr festgestellt werden, “dass ein System ‚fester‘ Bedeutungen weder durch philosophische Begründung noch durch den Glauben an eine empirische Wahrheit zu erreichen ist. Es zeichnet sich dann ein Feld von Auseinandersetzungen ab, in dem kategoriale und empirische Einsätze einen strategisch-politischen Status erhalten” (Schäfer 2013, S.536). Vor einem solchen Hintergrund stellen sich auch innerhalb erziehungswissenschaftlicher Diskurse Fragen der Autorisierung von Wissen und der Absicherung von Deutungshoheit, die mit dem Begriff der Erkenntnispolitik umschrieben werden können (vgl. Reichenbach et al. 2010).
Eine solche konstitutive Umstrittenheit erziehungswissenschaftlicher Begriffe sowie Forschungsfelder lässt sich auch entlang der Diskussionen um den Inklusionsbegriff und den damit verbundenen Konflikten um Inklusionsforschung nachzeichnen.[1] Hier ist es in den letzten Jahren zu einer Ausdifferenzierung der Debatten entlang erkenntnistheoretischer, normativer und bildungspolitischer Konfliktlinien gekommen, welche die Einheit des Feldes herausfordert. Im Folgenden rufen wir drei differente Lesarten erziehungswissenschaftlicher Inklusionsforschung auf und deuten mögliche, hiermit verbundene strategische Einsätze an. Die Unterscheidung der hier aufgerufenen Positionierungen fokussiert somit differente Argumentationsstrategien, nicht jedoch vermeintlich konsistente Positionen einzelner Autor:innen.
Eine erste Möglichkeit der Autorisierung von Inklusionsforschung scheint in der Einschreibung der eigenen Arbeiten in eine (vermeintliche) Kontinuität zu liegen. Gegen historisch gewachsene, segregierende Systeme der Unterstützung und Ermöglichung von gesellschaftlicher Teilhabe von behinderten Menschen sind spätestens seit den 1970er Jahren in den deutschsprachigen Ländern politische Kämpfe für eine gemeinsame Beschulung von (nicht)behinderten Schüler:innen und eine Enthospitalisierung der Behindertenhilfe zu verzeichnen (vgl. Schnell 2003). Erste systematische, bildungspolitisch initiierte Schulversuche in den 1980er und 1990er Jahren werden hierbei durch Schulbegleitforschungen flankiert, die heute als Ausgangspunkte der ‚Integrationspädagogik‘ aufgerufen werden (vgl. Moser und Sasse 2008, S. 100). Mit dem Auslaufen dieser Versuche und der Rezeption postmoderner Einsätze durch die ‚Pädagogiken der Vielfalt‘ (vgl. Hinz 1993; Prengel 1993; Preuss-Lausitz 1993) in den 1990ern bleibt der bildungspolitische Impuls für ‘eine Schule für Alle’ erhalten, der Fokus verschiebt sich jedoch von einem Kampf gegen soziale Ungleichheit hin zu den Themen „Gleichberechtigung, basisdemokratische Mitbestimmung sowie Anerkennung von Identität“ (Emmerich und Hormel 2013, S. 123). Spätestens seit den frühen 2000er-Jahren stellt der Signifikant ‚Inklusion‘ einen zentralen Bezugspunkt sozial- und bildungspolitischer und damit verbundener (erziehungs- und bildungs-)wissenschaftlicher Debatten dar. Hierbei lässt sich an das Selbstverständnis der Integrationspädagogik sowie der Pädagogiken der Vielfalt anschließen. ‚Inklusion‘ erscheint dann als ein „theoretischer Reflex eines geschärften Fokus angesichts einer konzeptionell verflachten und zunehmend problematischen Praxisentwicklung“ (Hinz 2000, S. 230), der es ermöglichen soll, „die Qualität und die ursprünglichen Ansprüche von Integration“ (ebd., S. 234) und die damit verbundenen, bildungspolitischen Hoffnungen wieder in den Blick zu nehmen. Eine weitere Begründung findet ein solches Selbstverständnis in dem Verweis auf die UN-Behindertenrechtskonvention (Dederich 2020, S.175), deren Ratifizierung in den deutschsprachigen Ländern (Österreich 2008, Deutschland 2009, Luxemburg 2011, Schweiz 2014) als Ausgangspunkt der aktuellen Konjunktur des Inklusionsbegriffs gilt (vgl. Wansing 2015, S.43). Ein solches ‘normatives’ Selbstverständnis von Inklusionspädagogik und die hiermit verbundene Narration einer historischen Kontinuität spielt im erziehungswissenschaftlichen Diskurs eine bedeutende Rolle, wird aber durch andere Positionierungen herausgefordert.
Mit der zunehmenden Bedeutung von ‚Inklusion‘ für die Bildungspolitik, die pädagogische Praxis sowie für die Erziehungswissenschaft wachsen zugleich Bedarfe und Interessen an einer erziehungswissenschaftlichen Inklusionsforschung jenseits der traditionellen Pfade einer normativ argumentierenden Schulbegleitforschung (vgl. z.B. DGfE 2017). Hier deutet sich eine weitere Legitimation für erziehungswissenschaftliche Inklusionsforschung an. Unter dem Namen einer ‚(re-)konstruktiven Inklusionsforschung‘ (Budde et al. 2017) findet eine Reformulierung des Verhältnisses von Inklusionspädagogik, Inklusionsforschung und Bildungspolitik statt. Hier werden inklusionsorientierte Angebote zum Gegenstand einer differenzsensiblen Forschung und in diesem Zuge mit den eigenen Ansprüchen konfrontiert (vgl. z.B. Fritzsche 2014; Wagener 2018). Damit zeigen diese Forschungen auf, wie im inklusionsorientierten Unterricht Grenzen der Teilhabe gerade nicht aufgehoben, sondern verschoben werden. Sie ermöglichen so “einen dezidiert analytischen Blick auf Strukturen, Ordnungen und Prozesse” (vgl. Budde et al. 2017, S.14) der Inklusion und Exklusion. Dies wiederum wirft die Frage des Verhältnisses von pädagogischen und sozialwissenschaftlichen Diskursen in ihrer Bedeutung für pädagogische und erziehungswissenschaftliche Fragestellungen auf (vgl. z.B. Dederich 2017a, 2020), die zuletzt maßgeblich in Hinblick auf die Normativität erziehungswissenschaftlicher Inklusionsforschung diskutiert wurden (vgl. Fritzsche et al. 2021). Hier wird nun zum Teil auch der Anspruch eingelöst, der sich mit der Idee eines ‚weiten Inklusionsbegriffs‘ verbindet und Inklusion zugleich als Querschnittsaufgabe der Erziehungswissenschaft erkennbar macht (vgl. Lindmeier und Lütje-Klose 2015). So werden unter diesem Begriff neben Behinderung eben auch andere Ungleichheitsdimensionen und Differenzkategorien wie Geschlecht, Migration oder Leistung aufgerufen – bei einem gleichzeitigen Festhalten an einem Fokus auf schulische Teilhabe. Damit wird aber zugleich die Eingangserzählung der Entwicklung der Inklusionspädagogik und -forschung aus der Integrationspädagogik heraus problematisch. Denn auch wenn die Integrationspädagogik von Beginn an den Blick über das Phänomen Behinderung hinaus gerichtet hatte, so erklärt sich ihre Institutionalisierung doch maßgeblich als eine Kritik an der klassischen Sonder-, Heil- oder Rehabilitationspädagogik (vgl. Moser 2017).
Einer analytischen Ausweitung der erziehungswissenschaftlichen Inklusionsforschung auf unterschiedliche Differenzlinien steht dabei zugleich die Beobachtung einer ‚Sonderpädagogisierung der Inklusion‘ (vgl. Biermann 2019) in den fachwissenschaftlichen Debatten ebenso wie in der bildungspolitischen Umsetzung des Artikels 24 der UN-Behindertenrechtskonvention entgegen, die hier als dritte Lesart erziehungswissenschaftlicher Forschungen zu Inklusion gelesen werden. So zeigt sich ‘Inklusion’ im Kontext einer evidenzorientierten Sonderpädagogik als Möglichkeit, die Rolle der Disziplin über die Bereitstellung wirksamer pädagogischer Maßnahmen für den inklusiven Unterricht neu zu definieren (vgl. Hillenbrand 2015; kritisch Dederich 2017b). Hier ist es nun weder der bildungspolitische Versuch der Einflussnahme auf die Gestaltung des Bildungssystems noch die analytisch-reflexive Distanz zu den damit verbundenen Umsetzungsversuchen, die eine Inklusionsforschung auszuzeichnen hätte. Vielmehr geht es hier – vor dem Hintergrund einer Trennung von Deskription, Präskription und Normativität (vgl. Kuhl 2020, S.15) – um die Bereitstellung von Wirksamkeitswissen für die Umsetzung bildungspolitisch gesetzter Ziele. So erscheint zum Beispiel das response-to-intervention-Modell als eine mögliche Grundlage für einen Paradigmenwechsel der Sonderpädagogik (vgl. Huber und Grosche 2012) und fundiert damit zugleich ein eigenständiges Modell schulischer Inklusion (vgl. Mahlau et al. 2011). Die Konjunktur eines solchen Verständnisses von ‚Inklusion‘ untergrabe jedoch – so seine Kritiker:innen – das Anliegen einer Transformation des segregierenden Schulsystems wie der Gesellschaft als Ganzes, gerade weil sie auf eine kritische Auseinandersetzung mit den sozialen und politischen Bedingungen ihres Handelns verzichte – insbesondere in Hinblick auf gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen (vgl. Hinz 2016; vgl. hierzu auch die Beiträge in Dederich, Ellinger und Laubenstein 2019 oder die Debatte in Grosche et al. 2020).
Mit der zunehmenden (bildungs-)politischen Bedeutung des Signifikanten ‚Inklusion‘ und der sich hiermit entwickelnden Forschungs(förderungs-)landschaft kommt es also zugleich zu einer Diversifizierung der Inklusionsforschung innerhalb der Erziehungswissenschaft und ihrer Teildisziplinen, die sich mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Selbstverständnissen ebenso wie mit unterschiedlichen begrifflichen Fassungen dessen verbindet, was Inklusion sein solle und wie sich Forschung zu der hiermit verbundenen Normativität zu verhalten habe. Diese scheinen sich in Hinblick auf die erkenntnistheoretischen, normativen und bildungspolitischen Einsätze mitunter so stark zu unterscheiden, dass eine sachliche Diskussion nur noch selten stattfindet (vgl. Gottwald 2019, S.298) und gar von miteinander im Widerstreit stehenden Positionierungen ausgegangen werden kann (vgl. hierzu die Auseinandersetzungen mit Lyotard 1987 in Lindmeier 2017 oder Puhr 2011). Dann scheint eine immer wieder angemahnte Integration oder Synthese der aufgerufenen Perspektiven (vgl. z.B. Kuhl 2020) aber nur vorstellbar, wenn eine der geltend gemachten Positionen sich auf Kosten der anderen durchzusetzen in der Lage ist – und der anderen damit zugleich Unrecht zufügt (vgl. Lyotard 1987, S.9). Wissenschaftliche Inanspruchnahmen eines ‘richtigen’ – oder damit einhergehende Zuschreibungen eines ‘falschen’ – Inklusionsverständnisses sind also selbst verstrickt in Aushandlungen von Inklusion und Exklusion. Dies stellt (inklusions-)pädagogische Hoffnungen in Frage, komplexen und widersprüchlichen Fragen von Inklusion und Exklusion, von Teilhabe und Ausgrenzung oder von Diskriminierung und Gleichberechtigung mit vereinfachenden und vereindeutigenden Antworten begegnen zu können (vgl. Boger 2019).
Im vorangestellten, kurzen und deshalb notwendig verkürzenden Überblick über die heterogenen Debatten um ‘Inklusion’ innerhalb der Erziehungswissenschaft deutet sich eine besondere Herausforderung an: Wenn der Begriff – wie häufig gefordert – nicht nur in einem engen Verständnis gefasst werden soll, nach dem hierunter die (realisierbare oder gar realisierte) gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an (schulischen) Bildungsangeboten verstanden wird, dann werden mit einer damit verbundenen Öffnung des Diskurses zugleich Selbstverständnisse und Selbstverständlichkeiten fragwürdig, die zuvor als sicher geglaubt werden konnten. So finden sich traditionelle (teil-)disziplinäre Grenzen und Grenzziehungen ebenso dem Streit um ihre Gültigkeit ausgesetzt wie die damit verbundenen Theoriebestände. Auch die Gegenstände der Forschungen sowie die geltend gemachten Perspektiven auf, Einsätze in und Verhältnisse zu bildungspolitischen Debatten und Prozessen verlieren ihre vermeintlich klare Kontur und Identifizierbarkeit. Diese Entwicklung hat sicherlich dazu beigetragen, dass der Diskurs um ‚Inklusion‘ nur schwer fassbar scheint und eine inhaltliche und konzeptionelle Klärung des Begriffs vielfach angemahnt wurde (vgl. z.B. Dederich 2020). So wird in Hinblick auf den Begriff mitunter von einem ‚leeren Signifikanten‘ (vgl. Hazibar und Mecheril 2013) oder gar von einer Verwahrlosung des Begriffs (vgl. Katzenbach 2015) gesprochen. Es stelle sich deshalb die Frage, ob der Inklusionsbegriff – wie bereits zuvor der Integrationsbegriff – sein (bildungs-)politisches Potential bereits wieder eingebüßt habe (vgl. Hinz 2013) oder zur ‘Paradiesmetapher’ (Jantzen 2017) verkommen sei. Solche Kritiken scheinen aber nicht selten noch von der Vorstellung zu leben, ein ‘richtiges’ von einem ‘falschen’ Inklusionsverständnis scheiden zu können – und imaginieren damit einen Ort außerhalb der skizzierten Auseinandersetzungen, von dem aus ein solches Verständnis abgesichert werden könnte.
Forderungen einer (Re-)Politisierung der Debatten um Inklusion, wie sie in den letzten Jahren immer wieder artikuliert wurden (vgl. z.B. Dannenbeck und Dorrance 2009), können vor diesem Hintergrund auch als eine Antwort auf dieses problematisch Werden der Selbstverständnisse gelesen werden. Gerade wegen der Heterogenität der wissenschaftlichen Einsätze, die sich mit Inklusion(sforschung) verbinden, lässt sich an solche Forderungen aber die Frage richten, was dies in einer Situation bedeuten kann, in der so wenig wie nie von einer gemeinsam geteilten Idee von Inklusionsforschung ausgegangen werden kann. Es kann nur schwer davon ausgegangen werden, dass gerade in Bezug auf die Frage nach dem Politischen der Inklusionsforschung Einigkeit erzielt werden könnte. Während für manche Autor:innen die Frage des gemeinsamen Unterrichts schlicht eine Fragestellung der Durchsetzung einer bestimmten Bildungspolitik ist (vgl. Muth 2009) – was letztlich auf die Kontingenz des Sozialen als Voraussetzung von (politischen) Entscheidungen verweist (vgl. Puhr 2011) –, verorten andere die politische Dimension von Integration bzw. Inklusion auf der Ebene des individuellen Handelns und der Verantwortungsübernahme in Hinblick auf eine gemeinsam geteilte Welt (vgl. Stein 2013, 2017). Andernorts wird eine Entpolitisierung der Debatten problematisiert, wo bestimmte utopische Setzungen und Gemeinschaftsvorstellungen “eine permanente Reflexion der individuellen Konsequenzen und strukturellen Bedingungen des eigenen Handelns” (Dannenbeck und Dorrance 2009) verstellen. Die Frage nach einer Politisierung der Debatten um Inklusion lässt den Blick aber auch auf die globalen gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen richten, innerhalb derer der “Glaubenskrieg um Inklusion” (Jantzen 2017) geführt wird. Zugleich begründete die Aufmerksamkeit für solche Prozesse der Ökonomisierung bereits die Kritik einer “ungenügenden Berücksichtigung der politischen Dimension der Integrationsdebatte” (Ellger-Rüttgardt 1998, S.6) – hier aber gerade als Einsatz für separierende Bildungs- und Unterstützungsangebote.
Forderungen einer (Re-)Politisierung erscheinen aus einer wissens- und erkenntnispolitischen Perspektive deshalb selbst als hegemoniale Einsätze um die Deutungshoheit einer Inklusionsforschung (oder deren Kritik), die sich zugleich unter Verweis auf eine sicher geglaubte, politische Dimension der Inklusion(sforschung) legitimieren. Es ließe sich dann fragen, was hier jeweils unter ‘Inklusion’ zu verstehen wäre, was daran ‘politisch’ sein sollte und wie die möglichen Antworten hierauf die eigenen Ansätze dem Streit aussetzen oder entziehen. In Hinblick auf die hier geschilderte Gemengelage wären die Diskussionen um ‚Inklusion‘ im erziehungswissenschaftlichen Feld möglicherweise gerade entlang möglicher Antworten auf die Frage zu ordnen, was die politische Dimension der Inklusionsforschung sein kann oder soll.
Mit der vorliegenden Ausgabe der Zeitschrift für Inklusion verbindet sich die Hoffnung, unterschiedliche Einsätze und Zugänge zur Inklusionsforschung über die Frage nach der politischen Dimension der Inklusionsforschung miteinander ins Gespräch oder in den Streit zu bringen. Der vorliegende Beitrag nimmt nun nicht in Anspruch, das Feld erziehungswissenschaftlicher Inklusionsforschungen umfassend zu beschreiben und die Position der einzelnen Beiträge oder gar deren Autor:innen eindeutig in diesem Feld zu verorten. Ein solches Vorgehen wäre selbst als Versuch der Schlichtung des Streits um die Inklusionsforschung zu problematisieren. Vielmehr stellen auch die Herausgeber:innenschaft und der vorliegende Artikel einen spezifischen Einsatz in das Feld dar: Wir verstehen beides als Versuch, einen Raum zu eröffnen, der es unterschiedlichen Perspektiven auf das Feld ermöglicht, sich bezüglich der Frage nach der politischen Dimension der Inklusionsforschung zu positionieren – sodass die unterschiedlichen Argumente selbst als erkenntnispolitische Einsätze erkennbar werden. Um einen solchen Raum zu öffnen, greifen wir im nächsten Schritt auf begriffliche Differenzierungen zurück, wie sie sich in der Politikwissenschaft sowie der politischen Theorie finden. Zugleich ermöglicht uns dies, die Antworten der einzelnen Beiträge dieser Ausgabe auf die Frage nach der politischen Dimension der Inklusionsforschung anzudeuten.
Eine erste Möglichkeit, über die politische Dimension der Inklusionsforschung ins Gespräch zu kommen, liegt zunächst in einer politikwissenschaftlichen Bestimmung des Politikbegriffs. In einer solchen Annäherung verweist Politik auf einen spezifischen gesellschaftlichen Teilbereich, also das politische System einer Gesellschaft – ob in engerem Sinne (auf die Regierung bezogen) oder in einem weiteren Verständnis (soziale und ökonomische Prozesse berücksichtigend) (vgl. Korte 2019, S.64). Es wäre dann zu klären, wie sich eine erziehungswissenschaftliche Inklusionsforschung zu diesem gesellschaftlichen Teilbereich ins Verhältnis setzen lässt (Budde et al. 2020). Zu diskutieren wäre das Verhältnis der Sphären der Politik, der Pädagogik sowie der Wissenschaft. Mögliche Antworten hierauf hängen nun insbesondere damit zusammen, wie dieser Raum der Politik gefasst wird. In der Politikwissenschaft hat sich eine begriffliche Differenzierung durchgesetzt, die diesen in mehrere Dimensionen aufteilt, die im Folgenden skizziert werden.
Die politische Struktur oder Verfasstheit einer Gesellschaft wird demnach unter dem Begriff polity diskutiert (vgl. Korte 2019, S.74). Inklusion wäre vor diesem Hintergrund weniger an die Frage des Zugangs zum (Aus-)Bildungssystem zu fassen. Vielmehr verbindet sich mit dem Begriff hier die Frage nach der (formalen und institutionalisierten) Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen – womit der Inklusionsbegriff in die Nähe des Partizipationsbegriffs rückt (vgl. Plangger und Schönwiese 2013). Versteht man (Bildungs-)Institutionen nun als spezifisch verfasste ‘Gesellschaften im Kleinen’, lassen sich auch Fragen der Beteiligung von Schüler:innen an Entscheidungsprozessen, wie sie im Kontext der Debatten um Inklusion und Demokratische Schulen (vgl. Hershkovich et al. 2017) sowie des Konzepts des Klassenrats (vgl. Wocken 2017) diskutiert werden, als Aspekte verstehen, die dem Bereich der (Schul-)Politik zuzuordnen sind (vgl. hierzu differenziert Zenke i.d.A.).
Politische Inhalte und normative Fragen werden hingegen unter dem Begriff policy diskutiert. Im Fokus steht damit die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Politikfelder (wie zum Beispiel die Sozial- oder die Bildungspolitik) sowie die Implementierung und Evaluation bestimmter Programme und Maßnahmen (vgl. Korte 2019, S.81). So lässt sich z.B. die UN-BRK als ein politisch durchgesetzter, normativer Rahmen für unterschiedliche Politikfelder fassen (vgl. Degener und Diehl 2015), der Anlass für vielfältige Reformprozesse bietet, die auch in den Bereich der Erziehungswissenschaft fallen – von der frühkindlichen Bildung bis hin zur Hochschule (vgl. Platte 2015). Die Artikulation von Integration oder Inklusion als gemeinsamer Unterricht – und damit als eine genuin (bildungs-)politische Aufgabe (vgl. Muth 2009) – ließe sich unter ein solches Verständnis der politischen Dimension der Inklusionsforschung ebenso subsumieren wie Versuche der inklusiven Schul- und Unterrichtsentwicklung mit Hilfe des Index für Inklusion (vgl. Booth und Ainscow 2019), Projekte zur Realisierung inklusiver Hochschul(lehr)e (vgl. Schuppener et al. 2020) oder auch evidenzbasierter Entwürfe von Inklusions- und Sonderpädagogik (Huber und Grosche 2012, kritisch Dederich 2017b). Inklusive Bildung und Inklusionsforschung hätte dann insofern eine politische Dimension, als dass sie mit der Umsetzung bildungspolitischer Zielvorstellungen und deren Begleitung betraut ist.
Die Einsicht, dass politische Programme nicht nur postuliert, sondern gerade auch umgesetzt werden müssen, erfährt wiederum besondere Aufmerksamkeit unter dem Begriff politics.Hier gilt die Aufmerksamkeit politischen Prozessen und Reformen, die z.B. in unterschiedlichen Ansätzen der Governance-Forschung zum Gegenstand werden (vgl. Korte 2019, S.75-80). Solchen Prozessen widmen sich in den letzten Jahren auch vielzählige Arbeiten innerhalb der Inklusionsforschung. Sie nehmen national wie international Reformbestrebungen hin zu inklusiven Bildungssystemen in den Blick und stellen entsprechendes Steuerungswissen bereit (vgl. Feyerer und Altrichter 2018). Eine solchermaßen informierte erziehungswissenschaftliche Inklusionsforschung richtet ihren Fokus nicht nur auf parlamentarische Prozesse, sondern fragt auch nach unterschiedlichen Handlungslogiken auf verschiedenen Handlungsebenen und in unterschiedlichen bildungs- und sozialpolitischen Arenen. So geraten neben der administrativen Ebene (Biermann 2019; Jenner 2021) auch mediale Diskurse um schulische Inklusion (vgl. Wiebigke i.d.A.) oder fachdisziplinäre Diskurse um Behinderung und die sonderpädagogische Disziplin und Profession (vgl. Pfahl 2011; Haas 2021) in den Blick.
Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive wäre es sicherlich hoch relevant, die sich hier andeutenden, vielfältigen Verschränkungen von (Bildungs- und Sozial-)Politik, Pädagogik und Wissenschaft zum Gegenstand der Reflexion zu machen bzw. diese Reflexion weiter auszubauen. Die aufgerufenen Perspektiven auf eine mögliche politische Dimension von Inklusionsforschung bieten dazu Anregungen, weisen jedoch zumindest zwei Schwachstellen auf: Erstens lässt sich an sie zu recht die Frage stellen, ob ‘Inklusion’ überhaupt ein pädagogischer Begriff ist oder ob dieser lediglich als ein politischer Begriff an die Pädagogik herangetragen wird (vgl. z.B. Ackermann 2013). Dies wirft die Frage nach dem systematischen Stellenwert des Begriffs für erziehungswissenschaftliche Fragestellungen auf (vgl. Sturm et al. i.E.). Oder drastischer formuliert: Es ließe sich fragen, ob eine solchermaßen konzipierte, erziehungswissenschaftliche Inklusionsforschung nicht Gefahr läuft, den wiederholt problematisierten Trend fortzuschreiben, “die Bildungswissenschaft in ein Instrument staatlicher Steuerung” (Gelhard 2018, S.85) zu transformieren. Zweitens scheint in einer solchen Überschau über die Arbeiten gesetzt, dass Inklusionsforschung eine politische Dimension aufweist, weil bzw. wenn sie sich mit Politik beschäftigt. Dies kommt einem empiristischen Zirkelschluss gleich, so lange nicht geklärt wird, was Politik zu Politik macht. Dies bleibt hier jedoch aus.
Eine andere Möglichkeit der Strukturierung des Feldes besteht deshalb möglicherweise entlang der Frage, welche Vorstellungen von Politik und der politischen Dimension von Inklusionsforschung von entsprechenden Einsätzen selbst aufgerufen werden. Diese Frage führt zu normativen Fassungen des Politikbegriffs, wie sie im Kontext der politischen Theorie zu finden sind – und lässt wiederum andere Einsätze erziehungswissenschaftlicher Inklusionsforschung und Inklusionspädagogik sichtbar werden.
Ein normativ gefasster Politikbegriff versucht – allgemein gesprochen – Antworten auf die Frage zu finden, wie gutes (Zusammen-)Leben, gute Ordnung und Allgemeinwohl verwirklicht werden können (Minkenberg und Kropp 2005) – wenngleich hier keine Einigkeit darüber herrscht, ob ein solches Verständnis eher auf politisches Handeln oder auf Vorstellungen institutioneller Ordnungen, auf Konsensbildung oder die Artikulation von Dissens zielt (vgl. Kreide und Niederberger 2011). Versteht man unter ‘Inklusion’ (im weitesten Sinne) die Einbeziehung in die Gesellschaft, liegt die Argumentation nahe, dass zunächst zu klären wäre, was unter Gesellschaft verstanden werden soll, bevor diskutiert werden kann, “mit welchen Voraussetzungen, Wirkungen und paradoxen Effekten eine Einbeziehung beeinträchtigter Menschen in eben dieses Gebilde zu rechnen hat” (Wansing 2012, S. 382). Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass die Inklusionsforschung manchmal direkt, zumeist jedoch indirekt einen solchen normativen und damit mit klaren Wertungen einhergehenden Politikbegriff aufruft – und damit zugleich bestimmte Entwürfe von Gesellschaft implizit voraussetzt oder in die Debatten um Inklusion einschreibt. So finden sich neben Bezugnahmen auf unterschiedliche Verständnisse von Demokratie (vgl. Deppe-Wolfinger 2004; Prengel 1993; siehe aber auch Zenke i.d.A.) auch Verweise auf Lesarten des Anarchismus (vgl. Jahr 2017) oder des Kommunismus (Boger 2016) sowie auf Konzepte einer Dingpolitik (Moll i.d.A.). Damit kann wahlweise auf die Notwendigkeit verwiesen werden, Fragen der Inklusion explizit als gesellschaftspolitische Fragen zu diskutieren (vgl. Dannenbeck 2012) oder auf die Gefahr hingewiesen werden, solche Fragen zu pädagogisieren (vgl. Kluge et a. 2015). Innerhalb dieser Debatten scheint dann auch die Warnung vor einer unpolitischen Diskussion und Praxis (siehe z.B. Feuser 2022) der Inklusionspädagogik ihren Ort zu haben, die zugleich einhergeht mit der Forderung einer (Rück-)Besinnung auf die politische Dimension der Debatten.[2] Im Folgenden sollen drei verschiedene Stränge skizziert werden, die eine spezifische normative Fassung der politischen Dimension der Inklusionsforschung zulassen.
Ein erster Strang verbindet sich mit einer normativen Fassung der gemeinsamen Angelegenheiten. So fasst z.B. Stein (2013) Politik als intersubjektives Handeln (im Anschluss an Arendt) bzw. als Verantwortungsübernahme (bezugnehmend auf Negt). Hier lassen sich aber auch jene Ansätze einordnen, die auch unabhängig spezifischer theoretischer Rahmungen, oft jedoch in reformpädagogischen Ansätzen wurzelnd, von einer Verantwortung aller für ein ‘gutes’ soziales Zusammenleben ausgehen und damit den Ansatz umkehren, dass einzelne Personen(-gruppen) sich darum zu bemühen hätten, ‘fit’ für die Gesellschaft zu werden. Muth (2009, 45) z.B. fragt nicht nach der “Integrationsfähigkeit des Kindes”, sondern nach der “Integrationsfähigkeit der Schule”. Von einem solchen normativen Standpunkt aus lassen sich dann auch (Forderungs-)Kataloge an eine inklusive Pädagogik aufstellen, wie dies zum Beispiel bei Prengels Entwurf einer Pädagogik der Vielfalt in Form von 17 Thesen erfolgt (vgl. Prengel 1993)
Ein zweiter Strang, der sich der Inklusionsforschung von einem solchen normativen Verständnis von Politik aus eröffnet, verbindet sich mit unterschiedlichen Fassungen von (Bildungs-)Gerechtigkeit, sozialer Ungleichheit bzw. Umverteilung und Differenzgerechtigkeit. Letztere steht z.B. bei Dannenbeck & Dorrance (2009) im Zentrum, wenn sie – um einer praktisch realisierbaren wertebasierten inklusiven Gesellschaft als theoretische Falle zum Preis der Entpolitisierung des Inklusionsgedankens entgegenzuwirken – mit Nachdruck einfordern, „sich der Dynamik der sozialen und gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse von Differenz(en) zu stellen“ (ebd.; HiO). Plangger und Schönwiese (2013) wiederum führen ökonomische, kulturelle und politische Dimensionen zusammen, um daraus ein auf partizipatorischer Parität basierendes Konzept von Gerechtigkeit zu formulieren, aus dem transformatorische Strategien zugunsten von Inklusion in Bildungskontexten abgeleitet werden können. Eine grundlegende Kritik an weit verbreiteten, dem Autor zufolge jedoch vereinfachten und verfälschten Auslegungen von Bildungsgerechtigkeit als Begabungsgerechtigkeit bzw. Leistungsgerechtigkeit findet sich wiederum bei Stojanov (2013), während z.B. Felder (2015) sich nicht nur damit beschäftigt, welche Werte mit der Forderung nach inklusiver Bildung in einer Gerechtigkeitsperspektive verkörpert und abgesichert werden, sondern auch thematisiert, wer dann eigentlich die Zielgruppe(n) dieser Forderung ist (sind).
Forschung – auch Inklusionsforschung – mit einer spezifischen Form inklusiver Praxis zu versehen, ist das zentrale Anliegen des dritten hier zu thematisierenden Strangs, den wir mit Inklusive Forschung bzw. Inklusive Hochschule als politischer Einsatz überschreiben wollen. Die politische Dimension der Inklusionsforschung (und ihrer Lehre) wird hier in einer Nähe zu Aktivismus und Kämpfen der Antidiskriminierung und Anerkennung verortet. Hier steht die Frage im Zentrum, wer denn zu Inklusion legitim forschen, lehren und sprechen kann, darf und soll und wie traditionell gewachsene Hegemonien in der Wissensproduktion aufgebrochen und demokratisiert werden können (vgl. z.B.: Koenig et al. 2016; Kremsner 2017; Kremsner und Proyer 2019; Hauser 2020 sowie Hauser, Schuppener und van Ledden i.d.A.; Graf und Zahnd i.d.A.). Eine solche ‘inklusive Forschung’ legitimiert sich über eine unmittelbare Nähe zu den Dis/Ability Studies bzw. zu den Dis/Ability Studies in Education sowie zu den Mad Studies, die mittlerweile auch im Rahmen der Inklusionsforschung eine zunehmend bedeutende Rolle einnehmen – gerade auch ob ihres explizit politisch und aktivistisch ausgerichteten Potentials (s. z.B. Saerberg i. d. A.; Schönwiese 1997; 2020; Exner und Schönwiese 2004 sowie Boger 2019; 2020).[3]
Während in den bisherigen Lesarten eines normativen Politikbegriffs affirmative Bezugnahmen durch die Inklusionspädagogik auf Politik dominieren, finden sich jedoch auch Abgrenzungen von solchen Verständnissen. Dies geschieht nicht nur, wo eine Pädagogisierung gesellschaftspolitischer Fragen befürchtet wird (vgl. z.B. Kluge et al.2015), sondern gerade auch dort, wo Politik bzw. deren Resultate als Hindernisse von Inklusion problematisiert werden. So lässt sich z.B. “eine politische Dimension der sozialen Konstruktion “Lernbehinderung”” (van Essen 2013) aufrufen und mit den sozioökonomischen Verhältnissen verbinden. In solchen Problematisierungen hallen materialistische und ideologiekritische Perspektiven auf Politik wider, die hier als Phänomen des Überbaus aufgerufen wird. In einer orthodoxen Zuspitzung erscheint dann Politik immer schon als Ausdruck der bürgerlichen Herrschaft und bestenfalls als Durchgangsstation zur besseren Gesellschaftsordnung, sprich: der Inklusion. Zugleich könnte der Verweis auf eine politische Dimension von Lernbehinderung aber auch als Hinweis auf eine stets politische Dimension gesellschaftlicher Schließungsprozesse verstanden werden (vgl. z.B. Lessenich 2019), die sich gerade auch im Kontext der Bildungspolitik und (Inklusions-)Pädagogik vollziehen. Eine solche Lesart wäre nicht zwingend auf einen wie auch immer konstruierten Versöhnungshorizont angewiesen, sondern ließe sich als eine Kritik an gegebenen Schließungs- und Marginalisierungsprozessen – und damit als eine inklusionspädagogische Lesart einer ‘Pädagogik der Befreiung’ verstehen (Hoffmann 2020). Hier überwindet eine Inklusionspädagogik dann nicht Politik, sondern ist stets in diese verstrickt.
Hier deutet sich neben einer negativen Perspektive auf normative Politikbegriffe eine negative Normativität an, wie sie im Anschluss an sogenannte postmarxistische oder postfundamentalistische Arbeiten geltend gemacht und zugleich affirmiert werden kann. Solche Zugänge verweisen auf eine dritte Möglichkeit, die Frage nach der politischen Dimension der Inklusionsforschung zu diskutieren. Diese sollen im letzten Abschnitt dieses Kapitels skizziert werden.
Während normative Fassungen politischer Theorie jeweils unterschiedliche Antworten auf die Frage nach einer angemessenen Organisation der gemeinsamen Angelegenheiten oder der darum geführten Konflikte zu geben versuchen, gibt es in der politischen Theorie zugleich Versuche, diese Fragen offen zu halten. Diese Debatten werden unter dem Stichwort ‘politische Differenz’ bzw. unter Verweis auf eine Unterscheidung von der Politik und dem Politischen geführt (vgl. z.B. Flügel et al. 2004; Marchart 2010) – und diese Differenz bietet eine weitere Perspektive auf die politische Dimension der Inklusionsforschung.
Entsprechende Arbeiten nehmen ihren Ausgangspunkt von der Annahme einer Kontingenz und Konflikthaftigkeit, die das zentrale Moment politischen Handelns kennzeichne. Diese Umstrittenheit werde aber weder von der Politikwissenschaft noch von der normativen politischen Theorie angemessen erfasst: Die Politikwissenschaft objektiviere die gegebenen gesellschaftlichen Strukturen und demokratischen Institutionen in der Vorstellung, die gesellschaftliche Sphäre der Politik umfassend beschreiben zu können. Damit negiere sie aber gerade die soziale Auseinandersetzung und den Konflikt – und damit das Politische (vgl. Lefort 1990). Die Demokratie könne aber ebenso wenig positiv normativ begründet werden, ohne sie zugleich dem Streit und dem Konflikt um sie zu entziehen. Eine solchermaßen vorgehende Demokratietheorie sei ebenso wie empirische Ansätze der Politikwissenschaft als Versuch zu verstehen, „mit dem gestalterischen, streithaften und stets unberechenbaren Charakter von Politik und Demokratie Schluss zu machen“ (Flügel-Martinsen 2020, S. 24; vgl. auch Flügel-Martinsen i.d.A.). Stattdessen rücken mit dem Verweis auf die begriffliche Differenz von Politik und Politischem Konzepte ins Zentrum der Reflexion, mit denen die Grundlosigkeit und Kontingenz des Sozialen und der Politik herausgestellt werden können (vgl. z.B. Marchart 2010). Das Politische erscheint somit als die abwesende Grundlage und zugleich als Wesen der Politik (Mouffe 2010, S.15).
Diese Differenz von Politik und Politischem lässt sich im Kontext der Inklusionsforschung z.B. nutzen, um die institutionalisierten und professionalisierten Verfahren der Politik von politischen oder sozialen Bewegungen zu unterscheiden, die die soziale Ordnung herausfordern. Von hier aus lässt sich dann differenziert nach möglichen Verhältnissetzungen der Wissenschaft zu beidem fragen (vgl. Boger 2018). Die Figur der politischen Differenz wird aber ebenso genutzt, um nach den kontingenten Grundlagen inklusiver Pädagogiken zu fragen. Dies eröffnet Perspektiven auf eine postessentialistische erziehungswissenschaftliche Inklusionsforschung und Inklusionspädagogik, die eine Sensibilität für die Entgründung bzw. Politisierung (inklusions-)pädagogischer Ordnungen entwickeln (Geldner 2020; Geldner und Wittig i.E.).
Mit solchen Ansätzen politischer Theorie kann somit geltend gemacht werden, dass nichts – eben auch nicht die Inklusionsforschung oder die Organisation des Bildungssystems – per se politisch ist. Alles kann demnach aber politisiert werden, wo den gegebenen sozialen Ordnungen und Begründungsmustern sowie den hiermit verbundenen Grenzziehungen die Grundlage entzogen wird (vgl. Flügel-Martinsen i.d.A.). Zugleich verbindet sich hiermit jedoch ein eher exklusives Verständnis des Politischen, weil das Politische eben nur dort aufscheint, wo sich gegebene Ordnungen im Konflikt als unbegründet erweisen. Dadurch versperrt sich dieses Verständnis einerseits einer einfachen Inanspruchnahme durch gesellschaftliche Akteure wie die Inklusionspädagogik, weil sich das Politische gerade nicht institutionalisieren lässt. Andererseits impliziert ein so voraussetzungsvolles wie spezifisches Verständnis des Politischen möglicherweise selbst Ausschlüsse (vgl. z.B. Jörke 2006), weil ein Handeln nicht als ein politisches Handeln identifiziert wird, so lange dieses vorhandene gesellschaftliche Verhältnisse nicht in Frage stellt. Dies wirft komplexe Fragen nach der Bedeutung des Begehrens nach Anerkennung und Teilhabe für die politische Praxis auf, wie sie auch im Kontext der Inklusionspädagogik sowie der Dis/Ability Studies und der Mad Studies diskutiert werden (Boger 2019, 2020; Prengel 1993).
Möglicherweise erfolgt die Rezeption dieser Theorieansätze innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Inklusionsforschung aktuell auch wegen des anspruchsvollen, durchaus exklusiven Verständnisses von Politik und Politischem noch recht zögerlich. Zugleich wird hier deutlich, dass die erziehungswissenschaftlichen Debatten um die politische Dimension der Inklusionsforschung die Positionen noch nicht ausreichend aufgegriffen haben, die in den letzten Jahren im Kontext der Bildungs- und Erziehungsphilosophie entwickelt wurden (vgl. z.B. Gelhard 2018).
In den letzten Jahren hat sich das erziehungswissenschaftliche Forschungsfeld um ‘Inklusion’ beachtlich ausgeweitet und ausdifferenziert. Im selben Zug sind Versuche zu beobachten, dieses Feld hegemonial zu strukturieren. Forderungen nach einer Repolitisierung der Inklusionsforschung können als solche Bestrebungen verstanden werden, eine bestimmte Lesart oder ein ‘richtiges’ Verständnis von Inklusionsforschung gegenüber ‘falschen’ Verständnissen durchzusetzen – und diese Unterscheidung entlang bestimmter ‘politischer’ Selbstverständnisse zu ziehen. So verlockend eine solche Vereindeutigung in Hinblick auf die drängenden politischen Fragen auch sein mag, vor dem Hintergrund der in diesem Artikel unternommenen Inaugenscheinnahme möglicher Fassungen der politischen Dimension der Inklusionsforschung erscheint eine solche hegemoniale Befriedung oder Versöhnung des Feldes eher unwahrscheinlich.
Mit den Arbeiten zur politischen Differenz möchten wir deshalb diejenige Perspektive auf das Feld geltend machen, die insbesondere den Streit und Konflikt um die gemeinsamen Angelegenheiten ins Zentrum der Überlegungen rückt. Werden die vielfältigen Möglichkeiten, die politische Dimension der Inklusionsforschung zu bestimmen, als miteinander in Konflikt stehende Positionierungen betrachtet, lässt sich danach fragen, worum hier eigentlich gestritten wird bzw. entlang welcher Konfliktlinien sich das Feld strukturiert. Dabei deuten sich u.E. mehrere solcher Konfliktlinien an.
So evoziert die Frage nach der politischen Dimension der Inklusionsforschung zunächst Auseinandersetzungen um ein angemessenes Verhältnis zwischen Involviertheit und Objektivität. Was ist das Ziel von Inklusionsforschung bzw. wie lässt sich dieses bestimmen? Welchen Stellenwert kann Normativität im Forschungsprozess einnehmen? Welche Rolle hat dabei die Stimme derer zu spielen, die von Exklusion betroffen sind? Wo ist Forschung noch Wissenschaft oder bereits Aktivismus? Und nicht zuletzt: Ist bzw. wo wäre eine solche Grenzziehung selbst zum Gegenstand der Auseinandersetzungen zu machen?
Eine weitere Konfliktlinie deutet sich dort an, wo um das Verhältnis von Partikularität und Universalität gestritten wird. Welche Differenzkategorien hat eine erziehungswissenschaftliche Inklusionsforschung zum Gegenstand zu machen? Wie lässt sich eine Fokussierung auf einzelne Kategorien rechtfertigen und gleichzeitig am universalistischen Anspruch einer Pädagogik für alle festhalten? Wie lassen sich unterschiedliche Ungleichheitserfahrungen unter einem Begriff subsumieren, ohne deren Spezifität zu negieren?
Als letzte Konfliktlinie sei hier die Frage nach dem Gegenstand von Inklusionsforschung aufgerufen. Ist das Politische einer erziehungswissenschaftlichen Inklusionsforschung dann berührt, wenn es um die Transformation des Bildungssystems geht oder ist hier die Transformation der Gesellschaft als Ganze als Ziel auszuweisen? Ist Schule bzw. die Teilhabe an Bildung überhaupt eine relevante Streitsache? Was sind die aktuell bedeutsamen Konflikte in Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabe? Was kann eine erziehungswissenschaftliche Forschung zur Bearbeitung dieser Konflikte beitragen?
Es sind solche Fragen, welche die politische Dimension der Inklusionsforschung andeuten und um die es sich u.E. immer wieder zu streiten lohnt, ohne dass hierauf eine endgültige Antwort zu finden wäre. Verbände sich mit der Forderung einer Repolitisierung der Inklusionsforschung eine Aufmerksamkeit für die Kontingenz und Umstrittenheit derselben sowie eine Eröffnung des Streits um die genannten Fragen (und nicht deren Beantwortung), wäre eine solche Politisierung der erziehungswissenschaftlichen Inklusionsforschung u.E. äußerst gewinnbringend – für eine Inklusionspädagogik, die Sonder-/ Heil- oder Behindertenpädagogik oder andere Differenzpädagogiken ebenso wie für die Erziehungswissenschaft insgesamt.
Mit der vorliegenden Herausgeberschaft hoffen wir, einen Beitrag zur Öffnung der hiermit verbundenen Debatten leisten zu können.
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[1] Aufgrund unserer eigenen fachlichen Verortung begrenzen wir uns in der folgenden Argumentation auf Inklusionsforschungen im Kontext der Erziehungswissenschaft.
[2] Es bliebe natürlich zu fragen, vor welchem Verständnis von Politik oder Politischem eine vermeintlich politische Vergangenheit imaginiert wird, wenn von einer Repolitisierung die Rede ist.
[3] Dass die Dis/Ability- bzw. Mad Studies allerdings trotz ihres ähnlichen Alters erst in den vergangenen Jahren verstärkt in der Inklusionsforschung aufgerufen werden, ist als besonders auffallend zu bezeichnen und verweist (auch) auf die Hegemonie sogenannter nicht-behinderter Forscher:innen in der Inklusionsforschung. Dies wird von den Behindertenbewegungen wie auch den Dis/Ability Studies seit mehreren Jahrzehnten mit Nachdruck kritisiert.