Abstract: Ausgehend von einer Rekonstruktionsskizze zum aktuellen Inklusionsdiskurs leistet der Beitrag eine strukturelle Analyse des Begriffsfeldes Inklusion. Er thematisiert Verhältnisbestimmungen von Inklusion und Exklusion, die den (pädagogischen) Inklusionsdiskurs strukturieren. Hierbei werden sowohl Grenzen des etablierten begrifflichen Sets herausgearbeitet, die vor allem in der räumlichen Metaphorik verortet werden, als auch terminologische Weiterentwicklungen diskutiert. Der Begriff Inklusion erhebt Geltungsanspruch für einen Transformationsprozess wie auch dessen Ziel. Dadurch ergeben sich Irritationen im Diskurs. Es wird der Begriff Transklusion entworfen, der einen auf Inklusion ausgerichteten Transformationsprozess von Inklusions-/Exklusionszuständen, die als Interklusionen benannt werden, repräsentiert. Der Begriff Transklusion könnte dazu beitragen, den Inklusionsbegriff sowohl zu entlasten wie auch als Zielbegriff zu schärfen und damit eine Verschiebung der Grenzen unseres Denkens ermöglichen.
Stichworte: Inklusion, Inklusionsparadigma, Exklusion, Inklusion/Exklusion, Interklusion, Transklusion
Inhaltsverzeichnis
Der Inklusionsdiskurs hat mittlerweile einen solchen Umfang und eine solche Diversität erreicht, dass es im Rahmen des vorliegenden Beitrags unmöglich erscheint, ihn darzustellen. Deshalb sollen leitende Konzepte antonymisch genannt werden: Im Inklusionsdiskurs werden weite und enge sowie globale und regionale Konzepte, system- und bildungstheoretische, menschenrechts- und wissenschaftsbasierte, deskriptive und präskriptiv-normative, prozess- und ergebnisbezogene Teildiskurse unterschieden. Auch die Differenzmarkierungen zwischen Inklusion und Exklusion sind vielfältig, lokal fließend und variabel (Kontingenz, Lokalität). Die Grenzen zwischen Inklusion und Exklusion werden in unterschiedlichen (Bildungs-)Systemen unterschiedlich – nicht willkürlich – gezogen. Eine permanente Dynamik, hervorgerufen durch den historischen und gesellschaftlichen Wandel und eine grundsätzliche Unterbestimmtheit, bedingt durch die für den Diskurs notwendigen Unschärfe und die Kontextabhängigkeit der Begriffe, ist zu beobachten. Im Folgenden werden zwei zentrale Leitdifferenzierungen skizziert.
Eine Tendenz zu einer dichotomisch operierenden Unterscheidung von Inklusion und Exklusion, eine Logik der Spaltung dominiert den erziehungswissenschaftlichen und vor allem den sonderpädagogischen Inklusionsdiskurs. Die beiden Handlungsformen gelten als inkompatibel – etwas Drittes soll es nicht geben („tertium non datur“). Ein Konzept der dichotomen Trennung von Inklusion und Exklusion impliziert die Konstruktion von eindeutig abgrenzbaren Klusionen. Dadurch sind fließende Übergänge und die Variabilität der Systeme sowie komplexe Dynamiken in sozialen Systemen nicht thematisierbar. Inklusion wird nicht als Teil eines unauflösbaren Zusammenhangs von Inklusion und Exklusion gedacht, sondern alleinig betrachtet. Das beschert Inklusion (und Exklusion) „einen hohen politischen Gebrauchswert“ (Dammer, 2011, S. 12). Eine terminologische Zuspitzung im Diskurs über Inklusion wird vorgenommen, wenn eine inkludierende Exklusion bereits als Exklusion angesehen und nur „Vollinklusion“ (Luhmann, 1996, S. 228; Kronauer 2010, 27; Stichweh, o.J.) als Inklusion anerkannt wird. Damit wird der Begriff Inklusion mit der Utopie einer exklusionsfreien Gesellschaft verbunden, dem von Hinz (2009) beschriebenen „Nordstern“, der die Richtung vorgeben soll.
Eine Formation im diversifizierten Inklusionsdiskurs fußt auf der Annahme eines dialektischen Verhältnisses von Inklusion und Exklusion. Wer von Inklusion spricht, thematisiert auch Exklusion. Nach Luhmann (2005, S. 244) begleitet Exklusion als „logischer Schatten“ die Inklusion. Beide bilden ein zusammengehöriges Ganzes. Inklusion und Exklusion sind Gegebenheiten der Systembildung bzw. einer jeden Ausdifferenzierung in Teilsysteme, seien sie auch noch so temporär. Selbst die UN-Behindertenrechtskonvention „arbeitet mit der Dialektik von Inklusion und Exklusion, indem sie universelle Menschenrechte für eine bestimmte Gruppe proklamiert“ (Rauh, 2011, S. 48). Ein „Covariationsschema“ wie bei Segregation/Integration (Luhmann, 2005, S. 226) liegt auch bei Inklusion/Exklusion vor, sie variieren miteinander. Inklusion und Exklusion sind als „asymmetrische Gegenbegriffe“ (Koselleck; z.n. Luhmann, 1996, S. 220) der Gesellschaftsanalyse zu verstehen. Gemäß diesem in der Soziologie nach wie vor verbreitetem Verständnis kann Stichweh (2009; 2013) eine „inkludierende Exklusion“ von einer „exkludierenden Inklusion“ unterscheiden. Der Inklusions- bzw. Exklusionsstatus lässt sich nach sozialräumlichen Kategorien (Wohnen, Arbeit, Freizeit, ...) bestimmen, aber auch darüber, inwieweit es gelingt, persönliche Beziehungen im sozialen Umfeld herzustellen. Der Einzelne kann räumlich inkludiert im Sozialraum wohnen, aber aus sozialen Netzen exkludiert sein, „bis hin zur sozialen Isolation“ (Kronauer, 2010, S. 46). Würde er in einer exklusiven Einrichtung leben, wäre er zwar sozialräumlich exkludiert, möglicherweise aber in Beziehungen inkludiert. Wir bewegen uns immer in relationalen Inklusions-/Exklusionsverhältnissen. Wir sind inkludiert oder exkludiert in Bezug auf etwas. Auf der Ebene des Individuums sind gleichzeitige Ein- und Ausschlüsse aus Systemen unvermeidbar: ich bin als Beamter beim Staat beschäftigt, dann kann ich nicht Angestellter sein; ich bin ein Mensch, Mann oder Frau oder Divers/LGBTQI+, aber ich kann nicht das andere oder alles gleichzeitig sein; ich nehme teil am kulturellen Leben und gehe heute Abend in diesen Film, dann nicht in jenen ...
Der Inklusions- und Exklusionsbegriff muss die Standards und Erwartungshaltungen verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche mit repräsentieren. Vollinklusion ist für die Schule eine wichtige Leitorientierung, aus medizinisch-infektiologischer Perspektive ist sie contraindiziert. Die Ausdehnung der Begriffe ist sowohl in den zeitlichen Dimensionen von Geschichte und individueller Biographie, als auch in Bezug auf kulturell-geographische Räume und soziale Milieus kontingent. Was in einer bestimmten sozio-kulturellen Situation als zugehörig und gewünscht gelten mag, kann in einer anderen sozio-kulturellen Situation schon dazu führen, nicht mehr als zugehörig zu gelten. Die beiden Klusions-Bewegungen Inklusion und Exklusion sind demnach nicht eindeutig voneinander abzugrenzen, sondern die beiden Teilprozesse durchdringen sich wechselseitig. Der Einbezug der jeweilig anderen Klusions-Perspektive eröffnet die Möglichkeit einer Vorstellung und Reflexion komplexer Variationsverhältnisse. Es stellt sich die Frage, wie sich dieser durch Relativität und Relationalität bestimmte unauflösbare Zusammenhang von Inklusion und Exklusion terminologisch passend repräsentieren lässt. Die „Unmöglichkeit einsinniger Tendenzbeschreibungen“ (Knapp, 2012, S. 385) kann durch ein auf die räumliche Dimension basierendes Oxymoron als Begriffsverbindung zum Ausdruck gebracht werden. Das Sprechen in Antonymien von „Inklusion/Exklusion“ (Mouffe, 1997; Kronauer, 2010; Puhr, 2017; Stichweh, o.J.) oder auch in Wortverbindungen von „Inklusions-/Exklusionsverhältnisse[n]“ (Mouffe, 1997, S. 81) und „Inklusions/Exklusionsforschungen“ (Puhr, 2017, S. 87), will über einen Schrägstrich als Junktor den unauflösbaren Zusammenhang deutlich machen.
Die Vorstellung einer dialektischen Beziehung der Clusio, die eine immanente Differenz berücksichtigt, ermöglicht es, immer wieder neue Differenzkonstellationen zu repräsentieren. „Inklusion und Exklusion“ können als ein dialektisch aufeinander bezogenes Begriffspaar konzipiert werden. Oder sie werden in einem dekonstruktiven Verständnis als ineinander verschränkte Figuren gedacht, die sich widersprechen, wechselseitig aufeinander angewiesen und als Gegensatzeinheit zu denken sind, deren (gelingende) reflexive Erschließung andere Gestaltungen ermöglicht. Ein solches Verständnis stimmt strukturell mit anderen Gegensatzeinheiten wie „Egalität und Differenz“ mit den Begriffsverbindungen „egalitäre Differenz“ oder „differenzierende Egalität“ überein.
Wir wissen, dass wir, um uns Realität zu konstruieren, entlang „semantischer Oppositionen“ klassifizieren, die Eigenschaften beschreiben und damit eine „Ordnung der sozialen Wirklichkeit“ erschaffen (Schäfer, 2013, S. 75). Dementsprechend wird die Vorstellung einer eindeutigen und beobachterunabhängigen Unterscheidung von Exklusion und Inklusion gebildet. Eine dichotome Logik von „In und Ex“ mit ihren strukturellen Bedeutungen der ontologischen Invarianz (Inklusion ist und bleibt Inklusion, z.B. Beschulung in einer Regelorganisation) und Exklusion ist und bleibt Exklusion (z.B. Beschulung in einer spezifischen Organisation) kann die in den meisten Fällen vorhandenen gegenläufigen Tendenzen nur schwerlich repräsentieren. Aus einer konstruktivistischen Sicht sind die Beschreibungen des Verhältnisses von Inklusion und Exklusion auf ihre Voraussetzungen und Annahmen zu befragen, die wechselseitigen Identifizierungen und Abgrenzungen werden damit relativ und relativierbar. Die Vorstellung trennscharf abgrenzbarer Unterschiede würde in ein Netz von komplexen, perspektivabhängigen Relationen überführt. Eine derartige Auseinandersetzung mit der gegenseitigen Abhängigkeit von Inklusion und Exklusion von der Beobachterperspektive würde die Vorstellung eines mehrperspektivisch strukturierten Feldes begrifflicher Abhängigkeiten und Wechselwirkungsverhältnisse eröffnen. Eine Begriffsbildung, die beide Bewegungen umschließt bzw. aufnimmt, könnte hier sinnvoll sein, denn die Phänomene, die mit den Begriffen Inklusion oder Exklusion verbunden werden, können als innerhalb eines dynamischen Feldes stehend verstanden werden. Begriffe sind dann produktiv, wenn es gelingt, etwas zu repräsentieren, was bisher terminologisch nicht oder nicht hinreichend gefasst wurde oder etwas zu verbinden, das bisher unverbunden war. Inklusion und Exklusion sind durch passende begriffliche Fassungen zu verknüpfen. Deshalb erscheint eine Erweiterung des begrifflichen Inventars hilfreich.
Die besondere Herausforderung der Transformation liegt so gesehen in einem Wechsel der Grundmatrix: statt angesichts der wachsenden Anerkennung von Diversität diskursive Stabilität und Sicherheit durch eine linear-eindimensionale Vorstellung der Möglichkeit einer Vollinklusion zu suchen, geht es eher darum, im Diskurs Sicherheit und Stabilität in der Gestaltung der Widersprüche zwischen beiden Orientierungen aufzubauen. Die Fähigkeit zum gedanklichen Oszillieren zwischen inklusiven und exklusiven Teilprozessen, ist der Kern der Veränderung. Die radikale Dichotomie, die den (sonder-)pädagogischen Inklusionsdiskurs kennzeichnet, in der sich gute Inklusion und schlechte Exklusion unvereinbar gegenüberstehen, wird den Anforderungen an komplexe gesellschaftliche Systeme und konkrete pädagogische Situationen nicht gerecht. Es mangelt im Diskurs um Inklusion und Exklusion an Brückenmetaphern, die es ermöglichen, die beiden Teilprozesse aufeinander zu beziehen und in eine Gesamtvorstellung zu integrieren. So ist die Frage nicht trivial, welche Exklusionen und welche Heterogenitätsdimensionen aus inklusionstheoretischer Perspektive auf welche Weise wo bedeutsam sind. Will man über einfache eindimensionale Analysen hinauskommen, so muss man über Explikationen verfügen, mit deren Hilfe komplexere Relationen und Zusammenhänge darstellbar sind. Das erscheint umso wichtiger, da es vermutlich nur wenige Begriffe gibt, die schon in ihrer Wortbedeutung eine derartig harte Grenzsetzung beinhalten wie der lateinische Wortstamm „clusio“.
Für das Erschließen der komplexen Zusammenhänge von Inklusion und Exklusion könnte ein Inter-Begriff prädestiniert sein, da er einen intermediären Raumrepräsentiert, der durch gegenläufige Relationen von Inklusion und Exklusion strukturiert ist.
Der Begriff Interklusion setzt sich aus dem lateinischen Präfix „inter“, was im Deutschen „zwischen, unter“ bedeutet und „in Bildungen mit Substantiven, Adjektiven oder Verben eine Wechselbeziehung; zwischen zwei oder mehreren … [bestehend, sich befindend, sich vollziehend]“ kennzeichnet (Dudenredaktion, o.D.) und Formen des lateinischen Verbs cludo „(ver)schließen“ (Pons, o.D.) zusammen. Bislang wird der Terminus lediglich und sehr selten im Verwaltungsprozessrecht für eine Zurückstellung verwendet (Lorenz, 2000, S. 227).
Interklusionen können auf Gruppen-, Organisations- und Gesellschaftsebene beschrieben werden. In der begrifflichen Fassung Inklusion/Exklusion – kurz Inexklusion – scheint dieser Aspekt nicht hinreichend gefasst zu sein. Komplexe Verhältnisse sind über das Präfix „Inter-“ repräsentierbar, wie z.B. bei Intersektionalität. So verdeutlicht eine intersektionale Perspektive, dass man die Lebenssituation von Menschen nicht hinreichend begreifen kann, wenn man sie ausschließlich über eine Kategorie z.B. „Behinderung“ zu erschließen versucht, vielmehr sind noch weitere interdependente Diversitätsdimensionen mit einzubeziehen, wie bei der Frage der Klusion eben verschiedene Lebensbereiche zu betrachten sind.
Interklusion repräsentiert die Simultanität von Inklusions- und Exklusionszuständen begrifflich, verweist auf sie und problematisiert sie zugleich im Bewusstsein über die Vielschichtigkeit der Konfigurationen. Dieser Begriff ist dazu geeignet, die paradoxale Struktur zu repräsentieren, die sich ergibt, wenn in einer exklusiven Konvention wie der UN-BRK etwas gefordert wird, was in der inklusiven allgemeinen Konvention der Menschenrechte bereits enthalten ist bzw. sein muss (vgl. Rauh, 2011, S. 48, s.o.). Durch eigene Konventionen für Frauen, Kinder oder Behinderte wird eine Verbesonderung vorgenommen, um einen allgemeinen Anspruch deutlicher hervorzuheben, was man als eine nur scheinbar widersprüchliche Strategie verstehen kann. Es wird eine Diskrimination aktiv hergestellt, eine spezifische Gruppe gebildet, um deren universelles Interesse deutlicher artikulieren zu können. Dederich (2006, S. 12f.) weist unter Bezug auf Fuchs darauf hin, dass der zur egalitären Differenz weiterentwickelte ethisch-normative Gleichheitsanspruch die Unterschiede der zu Inkludierenden geradezu hervorheben müsse, damit Differenzen positiv berücksichtigt werden. Denn gleiche Bedingungen für alle bewirken gerade nicht Gerechtigkeit, sondern bei ungleichen Ausgangsbedingungen eher eine Benachteiligung eines Teils. So führe ein im Dienste der Bildungsgerechtigkeit organisierter Besuch des gemeinsamen Unterrichts zu einer stärkeren Wahrnehmung des Andersseins von Schüler:innen, wodurch in der inklusiven Schule ein „Exklusionsdrift“ (ebd.) entstünde.
Mit dem Begriff Interklusion könnte auch repräsentiert werden, dass die Inklusion bestimmter Gruppen zu Lasten anderer Gruppen gehen kann. Im Bereich Behinderung kollidieren z.B. die Teilhabebedürfnisse von Rollifahrer:innen mit Teilhabebedürfnissen von auf einen Langstock angewiesene Menschen. Die einen benötigen möglichst plane Flächen, die anderen hingegen eine profilierte Oberflächenstruktur, um ein Gebäude ohne fremde Hilfe erschließen und nutzen zu können. Solche widersprüchlichen Situationen sind auch in anderen Intersektionen zu erkennen. So konnte auf gesellschaftlicher Ebene die Einbindung von Frauen gebildeter Schichten in den hochwertigen Arbeitsmarkt auf dem sprichwörtlichen Rücken von schlechtbezahlen „neue[n] Dienstmädchen“ (Knapp, 2012, S. 392) realisiert werden, die sehr oft einen Migrationshintergrund aufweisen, sprachliche Probleme haben und in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten (müssen). Inklusion „funktioniert“ erst einmal in einem bestimmten gesellschaftlichen Segment. Die Inklusion der einen trägt zur Exklusion der anderen bei. Solche komplexen und widersprüchlichen Verhältnisse sind über den Begriff der Interklusion repräsentierbar.
Mit dem Zugriff Interklusion können Zwischenstadien und Ebenenunterschiede in den Blick kommen. Differenzierte Beschreibungen sind möglich, die bei dichotomen Unterscheidungen / binären Codierungen eher ausgeschlossen sind. Für die Weiterentwicklung des Diskurses scheint es förderlich, eine Gesamtbetrachtung der Situation unter Berücksichtigung der einzelnen Systemebenen leisten zu können. Ein Inter-Konzept könnte diesen Aspekt repräsentieren, bleibt aber den Grenzen einer räumlichen Metaphorik und Denkweise verhaftet.
Die folgenden Überlegungen knüpfen Dederichs Fassung von Inklusion als „regulative Idee“ (2017, S. 80) an. Die Bewegung hin auf das Ziel Inklusion sollte durch einen eigenen Begriff repräsentiert werden können. Die räumlichen Begriffe Inklusion, Exklusion und auch Interklusion sind mit diesem Inhalt überfrachtet. Ein Begriff wäre hilfreich, der den Aspekt der Entwicklungsdynamik, das Prozessurale und eine prinzipielle Offenheit der Veränderungen betont.
Ein Begriff, der die Veränderung von Systemen durch die Repräsentation einer zeitlichen Dimension ermöglicht und dadurch eine Vorstellung von einer Aufhebung der Widersprüche zum Ausdruck bringt, könnte an die „Trans“-figur anknüpfen. Durchaus kritisch verweist Knapp (2012, S. 385) auf eine „Konjunktur von Komposita mit der Vorsilbe ‚trans’“. Diese Konjunktur kann man als Modeerscheinung betrachten oder darin eine Methode der „Transgression“, der Überbrückungsarbeit erkennen, bei der im Anschluss an Foucault (1979) – der sich wiederum auf Bataille bezieht – ein Spiel zwischen den Grenzen des etablierten Diskurses und deren Verschiebung. „Trans“-begriffe verfolgen die Intention, die durch bisher gebräuchliche Begriffssysteme gesetzten Grenzen unserer Vorstellung und unseres Denkens zu öffnen. Konkret geht es um die Möglichkeit der Vorstellung eines Zustands, der jenseits der Strukturierung von Inklusion/Exklusion liegt, der die hegemoniale Diskursordnung, die wie eine Demarkationslinie funktioniert, überschreitet, sie transkludiert.
Transklusion wird definiert als Bewegung, die Schließungen überwindet.
Etymologisch betrachtet setzt sich Transklusion aus dem lateinischen Wortstamm cludo „(ver)schließen“ (Pons, o.D.) und dem Präfix „ lateinisch trans ‚jenseits; über; über – hin’“ zusammen, was im Deutschen „in Bildungen mit Verben oder Substantiven hindurch, quer durch, hinüber, jenseits, über … hinaus (lokal, temporal und übertragen)“ bedeutet (Dudenredaktion, o.D.). Der Terminus „Transklusion“ (engl. transclusion) existiert bereits in der Informatik. Er bezeichnet dort die Übernahme von Teilen oder des gesamten elektronischen Dokuments in andere Dokumente. Entscheidend ist hierbei, dass das Dokument erst im Moment des Aufrufs aus verschiedenen Dateien bzw. Dateiteilen zusammengefügt wird. Wenn ein Transclude aktualisiert wird, vollzieht sich dies auf allen Seiten, auf denen er eingebunden ist, da er nur an einer Stelle gespeichert ist. So können dieselben Daten an unterschiedlichen Stellen sehr einfach genutzt werden und aktualisieren sich fortwährend mit (vgl. Transklusion).
Der sozialwissenschaftliche Neologismus Transklusion weist auf eine kritische Auseinandersetzung mit uns im erziehungswissenschaftlichen Diskurs inzwischen sehr geläufigen Be- und Eingrenzungen hin, die von „räumlichen Axiomatiken“ (Knapp, 2012, S. 385) geprägt sind und trägt dazu bei, die Grenzen des räumlichen Denkens intelligibel zu erfassen. Die Ausbalancierung der systemrelevanten Antagonismen von Inklusion/Exklusion in den komplexen gesellschaftlichen Systemen (z.B. der schulischen Bildung) sichert den Fortbestand der Institutionen durch ihre Veränderung bzw. ihre Weiterentwicklung und Neuausrichtung unter Beibehaltung bestimmter Strukturmerkmale. Das vermag das Präfix „trans“ hinreichend zu repräsentieren. Deshalb wird der Begriff Transklusion für eine Weiterentwicklung des Diskurses um Inklusion/Exklusion favorisiert. Inklusion und/oder Exklusion, die ansonsten dichotom gegenübergestellt oder dialektisch miteinander verbunden werden, können in einer Dynamik beschrieben werden: Veränderung von Menschen und Systemen durch Veränderung der Ein- und Ausschlussverhältnisse = Transklusion. Die Dimension der Veränderung in der Zeit, eine temporal-prozessurale Bestimmung ist das entscheidende Merkmal des neuen Begriffs.
Transklusion könnte den dynamischen Aspekt, die Transformation der Systeme auf das Ziel Inklusion hin repräsentieren, womit der Inklusionsbegriff geschärft und zugleich entlastet würde.
Ein ausgearbeitetes Konzept von Transklusion könnte helfen,
Gegenläufige Ein- und Ausschlussbewegungen werden unter Betonung der zeitlichen Dimension durch den neuen Begriff gefasst, was unser Denken erweitert. Transklusion nimmt die unauflösbare Bezogenheit und wechselseitige Durchdringung der beiden Klusionen auf, woraus sich eine Veränderungsdynamik, eine Transformation entwickelt.
Exemplarisch kann diese Transformation an Gruppen deutlich gemacht werden: Das Hinzukommen eines Menschen zu einer Gruppe ist mehr als eine Addition der Teile. Das wusste schon Aristoteles (7. Buch, 17 (3.a)): “Dasjeninge, was so zusammengesetzt (sýnholon) ist, daß das Ganze eins ist, nicht wie ein Haufen, sondern wie eine Silbe, ist noch etwas anderes außer den Elementen”. Lewin hat dieses Wissen wieder aufgegriffen und populär gemacht: „the whole is not ‚more‘ than the sum of its parts, but it has different properties ... The whole is different from the sum of its parts“ (1951; z.n. König, 1983, S. 50). Folgt man beiden und vor allem Aristoteles, entsteht das sich durch das Hinzu- oder Zusammenkommen von Menschen entwickelnde Neue durch einen (veränderten) Interaktionsprozess der Menschen miteinander. Eine solche qualitative Veränderung der Gruppe und ihrer Interaktion sollte begrifflich repräsentiert werden. Weder Inklusion (noch Exklusion) bieten dafür ein hinreichendes begriffliches Potential, die Veränderung zu repräsentieren, die sich vollzieht, wenn Menschen mit Behinderungen, aus anderen Ethnien, anderer geschlechtlichen Orientierung und weiteren Heterogenitätsdimensionen hinzukommen. Es entsteht ein neues Ganzes. Der Weg dorthin kann über eine eigene begriffliche Fassung repräsentiert werden: Transklusion. Sie ist allgemeiner als ein Emergenzphänomen zu beschreiben, da diese Transformation Prozesse in Gang setzt, die sich nicht aus den einzelnen Bestandteilen ableiten lassen. Die Veränderungen sind kontingent, da die Menschen in komplexe Wechselwirkungsverhältnisse eintreten. Die Transformationen sind nicht vorhersagbar, aber zu rekonstruieren.
Durch das Anerkennen der wechselseitigen Bezogenheit und Durchdringung von In- und Exklusion in einer zeitlichen Dynamik, lässt sich die Entwicklung von an die jeweilige Situation angepassten Strukturen darstellen. Es wird möglich, das Exklusive im Inklusiven und das Inklusive im Exklusiven zu erschließen, da es nicht mehr ausgeschlossen und verleugnet werden muss. Transklusion thematisiert die dynamischen Verknüpfungen der wechselseitigen Bezüge und ermöglicht, die Komplexität der Beschreibungen von realen Situationen zu erhöhen. Interklusion benennt in einem Begriff, wie sich Inklusions-/Exklusionsverhältnisse in der jeweiligen Situation darstellen. In der Analyse von Situationen kann ein Verstehen dafür entwickelt werden, auf welchen Systemebenen inkludiert und auf welchen exkludiert wird. Das würde einen beständigen Prozess der Reflexion des eigenen Handelns in Hinblick auf Interklusionsfigurationen, deren Herstellung und Veränderung mit dem Ziel der Steigerung der Inklusion in Gang setzen, womit eine transklusive Formation erreicht wird. Transklusion erfordert eine intensive psychische Arbeit in Hinblick auf die Dynamiken der Interklusionsverhältnisse, die vermutlich selten zu eindeutigen Lösungen führt (vgl. Rauh, 2016, S. 210).
Der neue Begriff Transklusion könnte ein Kraftfeld erzeugen, in dem gegensätzliche (Denk-)Bewegungen in einen gemeinsamen Prozess, der historisch re-konstruiert und prospektiv angelegt werden kann, repräsentierbar sind. Transklusion entlastet den Inklusionsbegriff davon, Ziel und Weg einer Transformation mit einem Begriff bezeichnen zu müssen – eine Vermischung, die für Irritationen im (pädagogischen) Inklusionsdiskurs sorgt. Damit leistet der neue Begriff einen Beitrag zur Entmischung von Zustands- und Prozessbeschreibung und hält das „Knistern des Unstimmigen“ (Foucault; z.n. Münker & Roesler, 2000, S. XI) des Inklusionsbegriffs am Laufen.
Der vorliegende Beitrag wurde mit der Intention verfasst, ausgehend von den begrifflichen Problemen des Inklusionsbegriffs, einen ergänzenden Begriff zu entwickeln. Dabei wurde eine vorläufige Bestimmung formuliert, die nicht den Anspruch erhebt, transklusive Prozesse erschöpfend zu definieren. Vielmehr verweist der neue Terminus auf eine fachliche Herausforderung: Neue oder veränderte Begriffe werden eingeführt und verwendet, um Begrenzungen, „bestimmte Mängel oder problematische Konnotationen früher geläufiger Begriffe“ (Knapp, 2012, S. 387) zu überwinden. Verschiebungen im Begriffssystem verweisen auf Abnutzungs- und Abarbeitungsprozesse.
Inklusion und Exklusion sind Metaphern des Raumes, die Dimension der Zeit fehlt. Die Einführung des Begriffes Transklusion thematisiert die Frage, welche Metaphern über eine räumliche Vorstellung hinausweisen bzw. auch in die Dimension Zeit hinein wirksam sind. Räumliche Metaphern wie Inklusion und Exklusion repräsentieren bzw. organisieren Ein- und Ausschluss, sie bestimmen als „Grenzziehung unseren Willen zum Wissen“ (Foucault, 1974, S. 11). Für den neuen Terminus Interklusion spräche, dass er geeignet ist, die Ambivalenzen von Inklusion/Exklusion zu fassen. Der neue Begriff Transklusion mit dem Rekurs auf die Figur des „Trans“ kann damit begründet werden, dass er anders als die Denkfigur des „Inter“ Dynamiken, Emergenzen, Entwicklungsprozesse und Veränderungen mit repräsentiert, die die Grenzen unseres bisherigen Denkens verschieben. Transklusion bezieht interklusive Figurationen als Momentaufnahmen, die miteinander in eine zeitliche Beziehung gesetzt werden, mit ein. Eine Kritik am Transklusionsbegriff könnte sich darauf beziehen, dass er theoriegeschichtlich zu eng assoziiert sei mit einer technischen Auffassung (Transklusion als informationstechnischer Begriff) und damit reduktionistischen, genauer technischen Verständnissen/Metaphern der gesellschaftlichen Entwicklung Vorschub leisten könnte.
Der sozialwissenschaftliche Neologismus Transklusion reiht sich ein in eine Paradigmaentwicklung. Im Gang der Argumentation wurde deutlich, dass in der Rekonstruktion des erziehungswissenschaftlichen Inklusionsparadigmas drei Phasen zu unterscheiden sind:
In der ersten Phase grenzt sich die Inklusionspädagogik von früheren Paradigmen ab (Inklusion statt Integration). Des Weiteren arbeitet sie, um Identität zu gewinnen, mit dem Anderen, mit Gegenbildern, mit einer „Rhetorik der Exklusion“ (Farzin, 2011; vgl. Puhr, 2017, S. 82). Unstimmigkeiten werden übergangen oder verleugnet. In der zweiten Phase werden die Divergenzen erfasst und als Hinweise für eine gebotene theoretische Weiterentwicklung betrachtet. Es wird erkannt, dass die Scheinsicherheit von eindeutiger Inklusion und Exklusion die Entstehung von Neuen behindert und, dass die Ausarbeitung dialektischer Relationen von Inklusion und Exklusion theoretisch produktiver ist als eine Dichotomisierung. In dieser Phase befinden wir uns aktuell. Die Reziprozität, durch die Inklusion und Exklusion miteinander verbunden sind, kann hinreichend mit der Begriffsverbindung Inklusion/Exklusion über einen Solidus zum Ausdruck gebracht oder durch den Terminus Interklusion benannt werden. In einer dritten, erst am Anfang stehenden Phase gilt es, offen zu sein für Innovations- und Veränderungsprozesse im Diskurs sowie bereit, bisher Orientierung und Sicherheit vermittelnde begriffliche Grenzen zu verschieben.
Als Grundformation des Diskurses wird anerkannt, dass Veränderung erforderlich ist und Entwicklungsprozesse in Richtung Inklusion nie ganz zum Abschluss kommen, weshalb es von Vorteil ist, eine zeitlich-dynamische Dimension zu repräsentieren. Das geht nicht ohne eine Transformation der in uns eingeschriebenen Deutungsmuster und Machtverhältnisse. Transklusion ist zu verstehen als transformativer Diskurs, als Theorie und Praxis, die etwas in Bewegung setzt, die Dinge verändert, die Strukturen, Prozeduren und Praktiken re-, de- und neukonstruiert mit dem Ziel der Inklusion. Es braucht beides, Inklusion und Transklusion, in einer begrifflich klaren Vorstellung voneinander abgegrenzt, aber aufeinander bezogen.
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