Abstract: Der Beitrag greift die Frage nach Differenzkonstruktionen in gesellschaftlich-institutionellen Dokumenten auf, die schulisch-unterrichtliche und professionelle Praxen der Differenzkonstruktion fremdrahmen. Es werden exemplarisch Differenzkonstruktionen aus Ausschnitten der Schulgesetze Sachsen-Anhalts und Hamburgs rekonstruiert. Diese Rekonstruktionen, die entlang der methodologisch-methodischen Prämissen der Dokumentarischen Interpretation öffentlicher Diskurse nach Arnd-Michael Nohl (2016) erfolgte, zeigt homologe Verständnisse von Differenz, die wesentlich als von sozial-kulturellen und materialen Lebensbedingungen der Schüler:innen unabhängig bestehende, natürliche Unterschiede gefasst werden, sowie zwei Typen ihrer schulischen Bearbeitung: die Prüfung der Bildungsgangzugehörigkeit und die Gestaltung individueller pädagogischer Begleitung. Der Beitrag schließt mit Perspektiven für eine rekonstruktive Schul-, Unterrichts- und professionsbezogene Inklusionsforschung, die Praxen auch als Ausdruck ihrer sozialen und materialen Kontexte reflektiert.
Stichworte: Differenzkonstruktionen; Schulgesetze; Dokumentarische Methode; gesellschaftlich-institutionelle Fremdrahmungen
Inhaltsverzeichnis
Im schulpädagogischen Diskurs der Erziehungswissenschaft haben Fragen zu Inklusion und Exklusion in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. Dies erfolgt fast durchgängig unter Verweis auf die menschenrechtliche Verankerung von Inklusion, die in der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN, 2006; 2008) formuliert ist und schließt inhaltlich zugleich an die Diskurse zu Benachteiligung, Ungleichheit und Heterogenität bzw. Differenz an (vgl. z.B. Emmerich & Hormel, 2013; Tervooren & Pfaff, 2018). Letztgenannte prägen – v.a. mit Verweis auf die PISA-Studien (vgl.Walgenbach, 2014, S. 22ff.) – seit gut 20 Jahren den Fachdiskurs. Den gemeinsamen Gegenstand dieser Diskurse stellen die schulischen, unterrichtlichen und professionellen Kulturen und Praxen der (Re)Produktion sozialer Ungleichheit, Behinderung und Differenz- bzw. Normalitäts- und Abweichungskonstruktionen dar, die in den Dis_Ability Studies auch als ableist divide (Campbell, 2009, S. 7) bezeichnet werden. Diese v.a. handlungspraktisch gezogenen Grenzen, die unterrichtlich wesentlich entlang von Leistung hervorgebracht werden (vgl. z.B. Rabenstein, Reh, Ricken & Idel, 2013; Sturm, 2010), gehen mit der Ermöglichung und Behinderung akademischer und sozialer Teilhabe von Schüler:innen(gruppen) einher. Dass Leistungs(un)fähigkeit (klassenöffentlich) individualisiert und hierarchisiert den Schüler:innen zugeschrieben wird, konnten mehrere Studien für den deutschsprachigen Raum zeigen (vgl. z.B. Reiss-Semmler, 2019; Wagener, 2020). Während die Art und Weise der Hervorbringung zwischen den Schulfächern variiert, konnten bezogen auf die Programmatik der Schule bzw. des Unterrichts, diese inklusiv/exklusiv zu gestalten, kaum Unterschiede rekonstruiert werden (vgl. Sturm, Wagener & Wagner-Willi, 2020). Hieran schließen die inklusionspädagogisch zentralen Fragestellungen nach Erklärungen, jenseits der organisationalen Programmatik, inklusiv zu unterrichten, für die rekonstruierten Differenz- bzw. ableist divides-Konstruktionen und der damit verbundenen Behinderungen und Benachteiligungen sozialer und akademischer Teilhabe bzw. Partizipation an sowie die nach den Möglichkeiten, diese Barrieren zu überwinden und/oder zu reduzieren.
Folgt man rational-technologisch fundierten Ansätzen, sind mögliche Erklärungen hierfür v.a. bei den professionellen Akteur:innen, also den Lehrer:innen, zu finden, die die theoretischen Implikationen der Ansätze, wie z.B. den des Response-to-Intervention-Ansatzes, praktisch nicht so umsetzen wie vorgesehen und möglicherweise deren Potenziale (noch) nicht erkennen (vgl. Voß et al., 2014, S. 128) bzw. zugespitzt, die „falschen Einstellungen“ haben, wie Trautmann und Wischer (2011, S. 133) kritisch formulieren. Solche Perspektiven laufen Gefahr, unterrichtliche und professionalisierte Praxen als Mikrophänomene – losgelöst von den sozialen und materialen Rahmenbedingungen bzw. Fremdrahmungen, in denen sich Praxen entwickeln sowie den professionellen Erfahrungen der Lehrpersonen – zu betrachten. Kultursoziologische oder praxeologische Ansätze eröffnen differenziertere Perspektiven, indem sie diese Rahmungen und Erfahrungen kategorial und reflexiv einbeziehen, also Wissen, Perspektiven, Vorstellungen und Praxen nicht losgelöst von den sozialen und materialen Zusammenhängen betrachten, in denen sie generiert werden. Bezogen auf Schule und Unterricht umfasst dies neben den Programmatiken der Einzelschule „formale Regeln […, die] zu großen Teilen gerade nicht auf der Ebene der Einzelschule verankert [sind], sondern in Schulgesetzen und damit verbundenen administrativen Vorgaben“ (Amling, 2021, S. 148, Anm. TS). Vergleichbare Erklärungen finden sich in den Ergebnissen von Anne Petriwskyj (2010), die für den Vorschul- und Schuleingangsbereich zeigen, dass sich pädagogische Praxen in Relation zum strukturellen Angebot des Kindergartens bzw. der Schule, (k)ein paralleles Sonderangebot, unterscheiden. Vor diesem Hintergrund entfalten sich die leitenden Erkenntnisinteressen dieses Beitrags: nämlich gesellschaftlich-institutionell kodifizierte schulische Differenzverständnisse in den Blick zu nehmen und nach ihrer begrenzenden sowie kontingenten Bedeutung für die Genese unterrichtlicher und professionalisierter Differenzkonstruktion und damit verbundener Forschung zu Inklusion in Schule, Unterricht und Professionsentwicklung zu befragen.
Der kategoriale Rahmen der Praxeologischen Wissenssoziologie und der methodologisch-methodische der Dokumentarischen Methode stellen Begriffe bereit, mit denen diesem Interesse nachgegangen werden soll. Sie eröffnen sowohl die Rekonstruktion des Modus Operandi milieuspezifischer Praxen (vgl. Bohnsack, 2021b) als auch die von Texten resp. öffentlichen Diskursen (vgl. Nohl, 2016, 2019). Die jüngeren Differenzierungen des Ansatzes ermöglichen es, deren Relation in der Genese von Praxen, die in Organisationen und gesellschaftlichen Institutionen hervorgebracht werden, zu reflektieren (vgl. Bohnsack, 2020; Bohnsack, 2021a). Das heißt, dass Differenzkonstruktion in unterrichtlichen Praxen (auch) als Ergebnis der Bearbeitung gesellschaftlich-institutioneller Normen und Erwartungen vor dem Hintergrund der (heterogenen) Habitus bzw. Erfahrungen, der eigenen Ideale und Vorstellungen, die die Lehrpersonen an ihr unterrichtliches Handeln haben, zu fassen ist. Der grundlagentheoretische sowie der methodologisch-methodische Rahmen bieten sich also an, sowohl die differenzbezogenen gesellschaftlich-institutionellen Normen und Erwartungen, wie sie u.a. in Schulgesetzen formuliert sind, zu analysieren und diese in ihrer Bedeutung für unterrichtliche und professionalisierte Praxen zu diskutieren. Um diesen Vorhaben hier exemplarisch nachzukommen, werden zunächst die Grundannahmen der Praxeologischen Wissenssoziologie dargelegt (Abschnitt 1) sowie der methodologisch-methodische Zugang zu öffentlichen Diskursen, zu denen auch Schulgesetze zählen (Abschnitt 2). Die letztgenannten bilden das methodologisch-methodische Werkzeug, mit dem anschließend Differenzkonstruktionen aus Ausschnitten zweier Schulgesetze, dem Sachsen-Anhalts und dem Hamburgs, rekonstruiert sowie anschließend mit Blick auf Homologien und Differenzen verglichen werden (Abschnitt 3). Die theoretischen und methodologisch-methodischen Implikationen der rekonstruierten gesellschaftlich-institutionell kodifizierten Differenzkonstruktionen werden abschließend in ihrer Bedeutung für die Genese unterrichtlicher Praxen der Differenzkonstruktion in Schule, Unterricht und professionalisierten Praxen sowie deren Erforschung reflektiert und diskutiert (Abschnitt 4).
Die Leitdifferenz der Unterscheidung von zwei unterschiedlichen Wissensformen – dem kommunikativen und dem konjunktiven – des kultursoziologischen Ansatzes der Wissenssoziologie von Karl Mannheim (1980) greift Ralf Bohnsack (2017, S. 102ff.) auf und differenziert diese in eine propositionale und in eine performative Logik. Erstgenannte umfasst i. d. R. sprachlich explizierbares und damit reflexiv zugängliches Wissen, zu dem Normen, Erwartungen und Ideale zählen, aber auch Common-Sense-Theorien, die auf der Basis gegenseitiger Motivunterstellungen eine Alltagsverständigung möglich machen. Konjunktives oder habituelles Wissen folgt hingegen einer performativen Logik und liegt der Handlungspraxis zugrunde. Dieses letztgenannte wird auch als „Orientierungsrahmen im engeren Sinne“ (Bohnsack, 2017, S. 103; Herv. im Orig.) bezeichnet. Die sozialen Akteur:innen verfügen (meist) präreflexiv über dieses Wissen, obwohl sie es i. d. R. nicht explizieren können, z. B. wie sie sich bewegen und dabei als Frau/Mann/Divers von anderen erkannt werden. Beide Logiken bzw. Wissensformen lassen sich analytisch trennen, sind in der Praxis jedoch miteinander verbunden. Sie stehen – als Norm und Habitus – in einem „Spannungsverhältnis“ (ebd., S. 103) zueinander, das in der Alltagspraxis von den sozialen Akteur:innen explizit, aber v. a. implizit, also handlungspraktisch, bearbeitet wird. Erfolgt diese Bearbeitung habitualisiert, spricht Ralf Bohnsack (S. 103, Herv. im Orig.) von einem „Orientierungsrahmen im weiteren Sinne“, den er auf organisationaler Ebene „konstituierende Rahmung“ (a.a.O., S. 135f.) nennt. Im Gegensatz zu außerorganisationalen Praxen zeichnen sich in Organisationen generierte durch eine Verdopplung von Normen und Erwartungen aus: neben solchen, die vonseiten der Organisation, also der einzelnen Schule (z.B. Schulprogramm) formuliert sind, liegen auch von institutionalisierter-gesellschaftlicher Seite welche vor (vgl. Bohnsack, 2020, S. 37 ff.). Die sozialen, v.a. die professionellen Akteur:innen, sind entsprechend gefordert, in ihrer unterrichtlichen Handlungspraxis die Diskrepanz zwischen den (Sach-)Programmatiken und Rollenbeziehungen der Organisation und der Institution auf der einen und dem sich mit den Schüler:innen entfaltenden Interaktionssystem auf der anderen Seite zu bearbeiten bzw. zu integrieren.
Die in kodifizierter Form vorliegenden Regeln, Rollen- und Identitätserwartungen – also die gesellschaftlich-institutionellen Normen – stellen „Fremdrahmungen“ der Praxen dar, die zugleich als organisationsbezogene „Strukturbedingung für den jeweiligen Interaktionsmodus“ (Bohnsack, 2017, S. 135) fungieren. Von den sozialen, v.a. den professionellen Akteur:innen, wird demgemäß erwartet, Entscheidungen entlang der jeweiligen Programmatiken und Ziele der Organisation vorzunehmen. Schule, die Ralf Bohnsack (2017, S. 136f.) mit Verweis auf Niklas Luhmann (1978, S. 248) als „people-processing-organization“ bezeichnet, ist gesellschaftlich-institutionell so konzipiert, dass Entscheidungen Biografie- und Identitätskonstruktionen der Klientel, also der Schüler:innen, hervorbringen. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass Akteur:innen organisationaler konjunktiver Erfahrungsräume – stärker als in Milieus außerhalb von Organisationen – gefordert sind, auch Inkongruenzen zu bearbeiten bzw. auszuhandeln. Gelingt es den professionellen Akteur:innen – gemeinsam mit der Klientel – habitualisierte Formen des unterrichtlichen Miteinanders, also konjunktive Erfahrungsräume im weiteren Sinne, zu generieren und zu etablieren, eröffnen diese Verlässlichkeit für das soziale Miteinander (vgl. Bohnsack, 2020, S. 103).
Dabei werden die in formalen Dokumenten vorliegenden Normen innerhalb der Praxeologischen Wissenssoziologie nicht als deterministisch verstanden, vielmehr erhalten sie ihre Handlungsrelevanz durch die (habituelle) Bearbeitung durch die sozialen Akteur:innen (vgl. Bohnsack, 2021b, S. 109ff.). Neben dieser, für die Praxeologische Wissenssoziologie und Dokumentarischen Methode zentralen Analysestellung, die Praxen und habitualisierte Milieus fokussiert, hat Arnd-Michael Nohl (2016) eine methodologisch begründete Vorgehensweise für die Rekonstruktion von Dokumenten bzw. öffentlichen Diskursen ausgearbeitet. Diese soll für die Analysen herangezogen und im folgenden Abschnitt dargelegt werden.
Die Diskursanalyse, die in den vergangenen Jahren in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft an Bedeutung gewonnen hat (z.B. Fegter et al., 2015), versteht Texte – z.T. auch Praktiken – als öffentliche Diskurse, denen Ordnungen zugrunde liegen. Arnd-Michael Nohl (2016, 2019) hat entlang der Arbeiten Karl Mannheims (1984, 1995) nicht nur herausgearbeitet, welche gegenstandskonstituierenden Annahmen ein diskursanalytische Vorgehen auszeichnet, das in der Dokumentarischen Methode fundiert ist, sondern auch, wie dies methodisch umgesetzt und angewendet werden kann. Seine Ausführungen stützt er auf Karl Mannheims Arbeiten zum „Konservatismus“ (1984) und zur „Ideologie und Utopie“ (1995). Öffentliche Diskurse, zu denen Gesetzestexte zählen, werden dabei als Ausdruck von Weltauslegungen derjenigen Akteur:innen verstanden, die sie verfasst haben. Auf dem Verständnis aufbauend, dass nicht nur konjunktives Wissen, sondern auch diese Form des kommunikativen Wissens eine implizite Bedeutung aufweist, unterscheidet er gesellschaftliche Denkformen oder -weisen von milieuspezifischen, die in gemeinsamen oder strukturidentischen Erfahrungsräumen generiert werden. Entsprechend weist die Analyse des Modus Operandi textlicher Denkstile über die Analyse von deren Inhalten hinaus und ist entsprechend mit den Erfahrungsräumen derjenigen, die sie produzieren, verbunden. Vergleichbar der Rekonstruktion milieuspezifischer Orientierungen steht im Zentrum der Analyse von Diskursen nicht das Was, z.B. Begriffe, sondern „das ›Wie‹ dieses Vorkommens“ (Nohl, 2016, S. 122, Herv. im Orig.). Dieses eröffnet den Zugang zu den kollektiven Denkstilen und -weisen sowie den tieferen (gesellschaftlichen) Zusammenhängen, die den Diskursen zugrunde liegen bzw. derjenigen sozialen Gruppen, die ihn hervorgebracht haben (vgl. ebd.).
Die dokumentarische Diskursanalyse folgt – vergleichbar der von Milieus und Handlungspraxen – einem mehrschrittigen Vorgehen, bestehend aus formulierender und reflektierender Interpretation sowie der darauf aufbauenden Typenbildung, die v.a. mittels komparativer Analyse erfolgt. In der formulierenden Interpretation wird der immanente Sinngehalt rekonstruiert, während in der reflektierenden die Semantik, die formal-sprachliche Struktur, also die Ordnungsmechanismen des Diskurses betrachtet werden. Dabei werden in der reflektierenden Interpretation v.a. über die Begriffsbildung und den
-aufbau, aber auch das Fehlen von Begriffen, die zugrunde liegenden, impliziten Denkmodelle oder -weisen der Autor:innen rekonstruiert. Ilja Srubar (2009, S. 280), der Diskurse mit Bezug auf Karl Mannheim ebenfalls als Kulturgegenstände versteht, hebt hervor, dass das Wie den Zusammenhang ausweist, „der sich aus der perspektivischen sozialen Konstruktion von Realität ergibt und etwa lexikalischen Ausdrücken ihre textspezifische Bedeutung verleiht und die Inklusion sinnverwandter Elemente hervorbringt“. Die komparative Analyse dient der methodischen Kontrolle der eigenen Standortgebundenheit sowie der Typenbildung, die zugleich öffentliche Weltauslegungen über die einzelnen Fälle hinweg erkennbar werden lässt. Die in der Formalstrukturanalyse verwendeten Begriffe unterscheiden sich z.T. von jenen, die in der Analyse selbstläufiger Gruppendiskussionen verwandt werden, da Texte einer anderen „Dramaturgie (Ein- und Überleitung, Coda)“ (Nohl, 2019, S. 90) folgen.
Die Auswahl der Schulgesetze der zwei Bundesländer, Sachsen-Anhalt und Hamburg, begründet sich vor dem Hintergrund der Ergebnisse der vergleichenden Studie Die Umsetzung schulischer Inklusion nach der UN-Behindertenrechtskonvention in den deutschen Bundesländern (Steinmetz, Wrase, Helbig & Döttinger, 2021). In dieser wird der aktuelle Stand der Umsetzung des Artikel 24 der UN-BRK (Bildung) auf Ebene der einzelnen Bundesländer vergleichend dargestellt. Entlang der differenzierten Auswertungen, u.a. der Exklusionsquote, der (schul-)strukturellen Veränderungen, die seit der Ratifizierung der UN-BRK vorgenommen wurden, sowie dem Vorrang inklusiver gegenüber separativer Beschulung von Schüler:innen mit attestiertem sonderpädagogischen Förderbedarf, bewerten die Autor:innen die zwei Bundesländer Sachsen-Anhalt und Hamburg sehr unterschiedlich: während sie für Sachsen-Anhalt „kaum eine Entwicklung zu einem inklusiven Schulsystem nach Art. 24 UN-BRK“ (Steinmetz, et al., 2021, S. 241) sehen, attestieren sie Hamburg – neben Bremen und Schleswig-Holstein – eine Inklusionsorientierung (vgl. ebd., S. 245). Entlang dieser Einschätzungen kann davon ausgegangen werden, dass sich die Differenzkonstruktionen – hier bezogen auf die schulisch-unterrichtliche Fremdrahmung durch Normen und Erwartungen, mit denen sich Lehrpersonen in ihrer Praxis auseinandersetzen – der Schulgesetze unterscheiden und entsprechende Kontrastierungen erlauben. Weitere Unterschiede zwischen den beiden Bundesländern sind vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Studie Die Unvergleichbaren (vgl. Helbig & Nikolai, 2015) anzunehmen. In dieser werden die Schulsysteme der 16 Bundesländer in ihrer Gesamtheit betrachtet, mit einem Fokus auf Eintritte und Übergänge, v.a. in die prestigeträchtigen Bildungsgänge, die mit dem Abitur abschließen. Marcel Helbig und Rita Nikolai (vgl. 2015, S. 252ff.) unterscheiden drei Typen: den traditionellen und den modernisierten Mischtyp sowie den Typ modernisierter Strukturen. Die drei Typen verstehen sie als Stufen einer evolutionären Entwicklung der Schulsysteme mit traditionellen Formen am Anfang und modernisierten am Ende der Entwicklung (vgl. ebd., S. 252). Das Schulsystem von Sachsen-Anhalt ordnen sie dem modernisierten Mischtyp zu, das Hamburgs dem Typ modernisierter Strukturen. In ihrer Verbindung legen die Ergebnisse beider Studien nah, dass die Auswahl von Sachsen-Anhalt und Hamburg einen Kontrast darstellt, der sich möglicherweise auch in unterschiedlichen Formen der Differenzkonstruktion dokumentiert. Zugleich ist einschränkend anzuführen, dass die hier zu betrachtenden Auszüge aus dem Schulgesetz Sachsen-Anhalts aus dessen Fassung vom 01. August 2018 (Sachsen-Anhalt, 2018) entnommen sind, und die des Hamburgischen Schulgesetzes in seiner Version vom 11. Mai 2021 (Hamburg, 2021); beide Schulgesetze sind mithin jünger als die Ergebnisse der Studie von Marcel Helbig und Rita Nikolai (2015).
Schulgesetze – bzw. jene Gesetze, die die Rechte der Schule regeln und in den Bundesländern unterschiedlich bezeichnet werden – folgen in Deutschland einem vergleichbaren Aufbau und sind in mehrere Teile gegliedert, in denen u.a. Aussagen zur „Struktur, Aufbau und Gliederung (Organisation) des Schulwesens in seiner Gesamtheit“ (Avenarius & Hanschmann, 2019, S. 8) formuliert werden. Unterhalb dieser als Teile bezeichneten Abschnitte, finden sich solche wie z.B. „Schulformen und Bildungsgänge“ (Hamburg, 2021, S. 23) oder „Gliederung des Schulwesens“ (Sachsen-Anhalt, 2018, S. 19). Nachfolgend werden die Ergebnisse der reflektierenden Interpretation ausgewählter Ausschnitte der zwei Schulgesetze dargelegt. Neben dem ersten, einleitenden Satz wurden solche Auszüge gewählt, in denen Differenzen und Inklusion bzw. sonderpädagogischer Förderbedarf thematisiert werden. Mit einer komparativen Analyse, die Homologien und Differenzen der rekonstruierten Differenzkonstruktionen aufzeigt, schließt dieser Abschnitt.
Für die weitere Betrachtung wurden folgende Ausschnitte aus dem Schulgesetz, das insgesamt 205 Seiten umfasst, ausgewählt: der erste Paragraph des Erziehungs- und Bildungsauftrags, der gemeinsam mit dem Paragraph 2, Geltungsbereich, den Ersten Abschnitt des Gesetzes darstellt (§1, Satz 1). Der Zweite Abschnitt beschreibt die „Gliederung des Schulwesens“. Neben Ausschnitten aus diesem werden welche aus dem Paragraph 34, „Wahl und Wechsel des Bildungsweges“, der im Vierten Teil formuliert ist, herangezogen.
Das Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt beginnt mit dem folgenden Satz:
„(1) Der Auftrag der Schule wird bestimmt durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt. Insbesondere hat jeder junge Mensch ohne Rücksicht auf sein Geschlecht, seine Herkunft, seine Ethnie, eine Behinderung, seine sexuelle Identität, seine Religion oder Weltanschauung oder seine wirtschaftliche oder soziale Lage das Recht auf eine seine Begabungen, seine Fähigkeiten und seine Neigung fördernde Erziehung, Bildung und Ausbildung […].“ (Sachsen-Anhalt, 2018, S. 13)
Die propositionale Einleitung des Schulgesetzes beginnt mit einem Verweis auf weitere Dokumente: das Grundgesetz und die Landesverfassung, die den Auftrag der Schule rahmen und somit zentrale Bezugspunkte für die weiteren Ausführungen und die Schule darstellen. Anschließend wird der Bildungs- und Erziehungsauftrag konkretisiert, indem das Recht des jungen Menschen auf „eine seine Begabungen, seine Fähigkeiten und seine Neigung fördernde Erziehung, Bildung und Ausbildung“ formuliert wird, das unabhängig von „Geschlecht, Herkunft, Ethnie, Behinderung, sexueller Identität, Religion, Weltanschauung, wirtschaftliche oder soziale Lage“ besteht. Hier werden erstmals Differenzen zwischen Schüler:innen beschrieben, die voneinander unterschieden und gruppiert werden: einerseits Begabungen, Fähigkeiten und Neigungen, die in ihrer Differenz einen Bezugspunkt für Bildungs- und Erziehungsangebote darstellen, und andererseits gesellschaftliche und gruppenbezogene Differenzen, die nicht zu Benachteiligungen führen sollen, konkret, dass keine Begrenzungen des Rechts auf Bildung und Erziehung mit ihnen einhergehen. Damit wird implizit darauf verwiesen, dass die Rechte der aufgerufenen Gruppen in der Schule besonders gefährdet und entsprechend zu schützen sind. Demgegenüber impliziert das Recht entlang von „Begabungen, Fähigkeiten und Neigungen“ eine Differenzierung des allgemeinen Rechts auf Bildung und Erziehung. Es stellt sowohl eine Einschränkung oder Begrenzung dar – basierend auf der Annahme, dass Begabungen, Fähigkeiten und Neigungen“ stabile und natürliche Eigenschaften der Schüler:innen sind – als auch eine, individuelle Bildungs- und Erziehungsverläufe reflektierende. Die begriffliche Trias, entlang derer die Differenzierungen der Bildungsangebote beschrieben wird, steht dabei insofern im Kontrast zu den Perspektiven und Lebensbedingungen der Schüler:innen, die über die zweite Gruppe von Differenzen angedeutet ist, und die losgelöst voneinander betrachtet werden, da sie nicht vergleichbar zu einer Differenzierung der Angebote führt. Erstgenannte Differenzen werden folglich nicht als Produkt sozial ungleicher und sozial veränderbar – durch gesellschaftliche resp. pädagogische Angebote z.B. in Schule und Unterricht – verstanden, sondern als den Schüler:innen inhärent und stabil. Diese Gruppe von Differenzen steht nur dann nicht im Widerspruch zum allgemeinen Bildungs- und Erziehungsrecht, wenn sie unabhängig von den sozialen Lebensbedingungen konzipiert wird. Sozialwissenschaftlich werden diese als individualisierende und essentialisierende Perspektiven bezeichnet (vgl. z.B. Waldschmidt, 2020, S. 73 ff.). Die Sichtweise auf Unterschiede findet sich vergleichbar im ersten grammatikalischen des dritten juristischen Satzes des ersten Abschnitts (Sachsen-Anhalt, 2018, S. 14), die zugleich differenziert wird:
„Die Schule hat die Pflicht, die individuellen Lernvoraussetzungen und Lernbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen. Schülerinnen und Schüler sind bei Bedarf zusätzlich zu fördern, um einen ihren Fähigkeiten entsprechenden Schulabschluss zu erlangen. […] Sonderpädagogischer Förderbedarf liegt vor, wenn Schülerinnen und Schüler in ihren Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten so stark beeinträchtigt oder behindert sind, dass sie ohne zusätzliche, sonderpädagogische Förderung in der allgemeinen Schule nicht oder nicht mehr ausreichend gefördert werden können. […] Für Schülerinnen und Schüler, die besondere Hilfen benötigen, sind Förderschulen vorzuhalten.“ (Sachsen-Anhalt, 2018, S. 14)
Zunächst wird die Pflicht proponiert, die Individualität der Schüler:innen entlang ihrer Voraussetzungen und ihrer Bedürfnisse „zu berücksichtigen“. Im Vergleich zu den vorherigen Ausführungen stellt dies insofern eine Differenzierung dar, als die rekonstruierte Begrenzung am Individuum und seinem Sein festgemacht und diese Differenz als konstitutiv für Bildungs- und Erziehungsangebote verstanden wird. Die Einschränkung wird im nächsten Satz differenziert, indem eine implizit bleibende ‚normale‘ sowie eine davon zu unterscheidende „zusätzliche Förderung“ beschrieben wird. Letztgenannte zielt darauf, dass die Schüler:innen „einen ihren Fähigkeiten entsprechenden Schulabschluss […] erlangen“ (Sachsen-Anhalt, 2018, S. 14). Hier wird erneut die Figur aufgerufen, dass die Schüler:innen über stabile Fähigkeiten verfügen. Diese werden in Relation zu unterschiedlichen Schulabschlüssen gesetzt, die ihrerseits eine Form institutioneller Bezugspunkte für die unterschiedlichen Fähigkeiten der Schüler:innen darstellen. Weiter wird das Fähigkeitsverständnis mit dem Satz differenziert, dass die Schüler:innen Förderung bedürfen, also pädagogische Unterstützung, um ihre Fähigkeiten entfalten zu können. Letztgenannte sind dabei insofern begrenzt, als sie mit spezifischen Schulabschlüssen ‚korrespondieren‘ – und mit anderen nicht. Damit werden auch die schulisch-unterrichtlichen Fördermöglichkeiten begrenzt.
In dem folgenden, ausgewählten Satz werden die Differenzen zwischen Schüler:innen weiter konkretisiert, indem die schuleigene Kategorie des sonderpädagogischen Förderbedarfs aufgerufen wird, die Abweichungen zwischen den Schüler:innen mit und ohne dieser Zuschreibung definiert. Die Schüler:innengruppe, der sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wird, wird als „so stark beeinträchtigt oder behindert in ihren Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten“ verstanden, dass sie „ohne zusätzliche, sonderpädagogische Förderung, in der allgemeinen Schule[1] nicht oder nicht mehr ausreichend gefördert werden können“. Die Differenz bzw. die Besonderheit der Schüler:innengruppe wird damit begründet, dass die – nicht weiter ausgeführte – ‚normale pädagogische Förderung‘ nicht ausreicht, um sie zu fördern und/oder, dass die allgemeine Schule diese Förderung nicht leisten kann und entsprechend Sonderinstitutionen, die Förderschulen, vorbehalten werden. Die Definition des sonderpädagogischen Förderbedarfs entspricht fast wörtlich derjenigen, die in den KMK-Empfehlungen von 1994 formuliert ist. Diese Definition „ist tautologisch, indem sie sagt: Sonderpädagogischer Förderbedarf liegt dort vor, wo Schüler sonderpädagogischer Förderung bedürfen“ (Bleidick, Rath & Schuck, 1995, S. 254). Offen bleibt dabei nicht nur, worin die herkömmliche pädagogische Förderung – die die Individuen und ihre Lernvoraussetzungen berücksichtigt – besteht und wieso sie begrenzt ist (vgl. ebd. 1995), sondern auch, inwiefern pädagogische Förderung oder Begleitung nicht ein grundsätzliches Charakteristikum schulisch-unterrichtlicher Lehr-Lernprozesse darstellt. Die Grenze wird dabei nicht über die pädagogischen Angebote, sondern mit Abweichungen der Schüler:innen, die „so stark beeinträchtigt und behindert“ sind, begründet. Folglich grenzt dies auch die Gestaltungsmöglichkeiten von Inklusion in der Allgemeinen Schule ein, da davon ausgegangen wird, dass nicht die Schule inklusionsfähig sein soll, sondern die Schüler:innen.
Die im ersten allgemeinen und im dritten Satz differenzierter rekonstruierten Differenzkonstruktionen sind insofern kohärent, als Differenzen zwischen den Schüler:innen nicht nur individualisiert und essentialisiert werden, sondern auch, dass für die konstituierten Gruppen unterschiedliche schulische und pädagogische Angebote bereit gehalten werden: zusätzliche Förderung in Sonderinstitutionen und unterschiedliche Schulabschlüsse. Dabei stellt erstgenanntes ‚Angebot‘ eine grundsätzliche Unterscheidung dar, während letztgenanntes durch graduelle Unterschiede weiter differenziert wird. Letztgenanntes wird im Abschnitt „Gliederung des Schulwesens“, im Zweiten Teil des Gesetzes, weiter beschrieben, in dem die folgenden allgemeinbildenden Schulen unterschieden werden: Grundschule, Sekundarschule, Gesamtschule, Gemeinschaftsschule, Gymnasium, Förderschule, Schulen des zweiten Bildungsweges: Abendsekundarschule, Abendgymnasium und Kolleg. Nachfolgend sollen die Ausführungen zu den Schulformen Sekundar-, Förderschule und Gymnasium vergleichend betrachtet werden.
Im ersten Satz wird der Bildungs- und Erziehungsauftrag wie folgt beschrieben und differenziert: „Die Sekundarschule vermittelt eine allgemeine und eine berufsorientierende Bildung.“ (Sachsen-Anhalt, 2018, S. 23). Weiter heißt es im zweiten Satz:
„In den Schuljahrgängen 5 und 6 werden die Schülerinnen und Schüler in ihren individuellen Fähigkeiten besonders gefördert und in die Lernschwerpunkte, Lernanforderungen und Arbeitsmethoden der Schuljahrgänge 7 bis 10 eingeführt. Der Unterricht umfasst für alle Schülerinnen und Schüler gleich verpflichtende Lerninhalte sowie Angebote zur Entwicklung besonderer individueller Interessen und Neigungen und zur Leistungsförderung […].“
In diesen Zitaten werden Differenzen der Schüler:innen genannt, v.a. aber die Angebote der Schulform und der unterschiedlichen Jahrgangsstufen benannt. In den Jahrgängen 5 und 6 wird vor dem Hintergrund der „individuellen Fähigkeiten“ der Schüler:innen in die „Lernschwerpunkte, Lernanforderungen und Arbeitsmethoden“ der hieran anschließenden Jahrgänge eingeführt. Neben den für alle verpflichtenden Lerninhalten werden Angebote, die der Entwicklung eigener Schwerpunkte dienen, bereitgestellt. Dabei wird mit der Formulierung „zur Entwicklung von Interessen und Neigungen“ ein Verständnis von Entwicklung möglich, das das oben rekonstruierte stabile Verständnis insofern relativiert, als diese zu entwickeln sind. Fähigkeiten werden hier differenziert als Leistungsfähigkeit aufgerufen. Mit Leistungsförderung wird dabei nicht nur auf einen überfachlichen Bereich verwiesen, der ohne sachlich-fachlichen Bezug bleibt, sondern auch auf eine entsprechende Haltung oder Eigenschaft, die von den Schüler:innen erwartet wird und die zugleich schulisch zu generieren ist.
Für das Gymnasium wird im Schulgesetz definiert, dass dort
„eine vertiefte allgemeine Bildung, die befähigt, den Bildungsweg an einer Hochschule fortzusetzen oder auch eine vergleichbare berufliche Ausbildung aufzunehmen“ (Sachsen-Anhalt, 2018, S. 29),
vermittelt wird. Im Vergleich zur Sekundarschule stellt dies ein anderes Bildungsangebot dar: die vertieften und konkreten beruflichen Perspektiven, die eine akademische Bildung voraussetzen bzw. dieser „vergleichbar“ sind. Beide Aspekte stehen für herausgehobene, am oberen Ende der beruflichen Hierarchie positionierte Tätigkeiten. Wenngleich Differenzen zwischen Schüler:innen nicht explizit genannt werden, sondern differente schulische Bildungsangebote, erfolgt dies implizit und erschließt sich durch den Bezug zum Ersten Satz des Schulgesetzes, in dem die Bildungsangebote als passend zu Fähigkeiten und Neigungen definiert werden.
Weiter heißt es zum Gymnasium, dass dort „schrittweise in die Arbeitsmethoden des gymnasialen Bildungsganges ein[geführt wird]“ und die Schüler:innen „auf die künftigen Anforderungen“ unter Berücksichtigung ihrer „individuellen Fähigkeiten besonders gefördert“ werden. Neben den, für alle „verpflichtenden Lerninhalten sowie Angebote[n] zur Leistungsförderung“ (Sachsen-Anhalt, 2018, S. 29) werden individualisierte(re) Angebote gemacht. Im Vergleich zum Bildungsangebot der Sekundarschule distinguiert sich das des Gymnasiums weiter durch spezifische Arbeitsweisen, die diese Schulform bzw. diesen Bildungsgang von anderen unterscheidet. Weiter wird – anders als bei der Sekundarschule, bei der mithilfe eines eigenen Satz hervorgehoben wird – ausgeführt, dass die „individuellen Fähigkeiten besonders gefördert werden“: darin dokumentiert sich erneut das Verständnis, dass die Fähigkeiten nicht entwickelt, sondern – weil schon vorhanden – ‚nur‘ gefördert oder weiterentwickelt werden. Darin dokumentiert sich erneut die essentialisierende Unterscheidung von Schüler:innen. Auch für den gymnasialen Bildungsgang wird ausgeführt, dass dieser für alle verbindliche Inhalte vorgibt und die Förderung von Leistung ein Ziel ist. Letztgenanntes verweist im Vergleich zu den Fähigkeiten darauf, dass Leistungsbereitschaft aufseiten der Schüler:innen nicht per se gegeben ist, sondern der Förderung bedarf.
Die Förderschule, die in § 8 des Zweiten Teils des Gesetzes beschrieben wird, beginnt anders als die Ausführungen der zwei zuvor genannten Schulformen mit einer Beschreibung der Schüler:innenschaft, die diese besucht: Dies ist jene „mit sonderpädagogischem Förderbedarf“. Im Vergleich zu den Beschreibungen der Sekundarschule und des Gymnasiums wird damit explizit ein exklusiver Zugang zur Schule formuliert, der jenen vorbehalten ist, denen sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wurde. Implizit findet sich die Exklusivität über den Begriff der Fähigkeiten auch in den Beschreibungen der anderen Schulformen. Die Schüler:innenschaft von Förderschulen unterscheidet sich von der Gruppe, die andere Schulformen besucht durch den zugeschriebenen Förderbedarf; eine Unterscheidung, die mit Andreas Hinz (2002, S. 356) als „Zwei-Gruppen-Theorie“ beschrieben werden kann. Weiter heißt es in dem Schulgesetz:
„Es ist das Ziel, auf der Grundlage einer rehabilitationspädagogischen Einflussnahme eine individuelle, entwicklungswirksame, zukunftsorientierte und liebevolle Förderung zu sichern.“ (Sachsen-Anhalt, 2018, S. 33).
Im Vergleich zur Beschreibung der anderen zwei Schulformen wird für diese zudem eine spezifische Pädagogik, die Rehabilitationspädagogik, vorgesehen. Mit Rehabilitation wird dabei nicht nur eine implizit bleibende Unterscheidung gegenüber einer anderen, nicht näher explizierten Pädagogik aufgemacht, sondern auch eine in der DDR, v.a. an der HU-Berlin und an der MLU in Halle, gebräuchliche Bezeichnung. Die damit verbundene Pädagogik war bei ihrer Etablierung in den 1960er Jahren an einer sozialistischen Erziehung ausgerichtet und unterscheidet „‘biologische Mängel‘ und sozial bedingte Beeinträchtigungen“ (Hübner, 2000, S. 92, Herv. im Orig.) und grenzt sich dezidiert von der Sonderpädagogik ab (vgl. ebd., S. 92ff.). Darin dokumentiert sich neben einer essentialisierenden Perspektive eine, die gesellschaftliche Bedingungen als Erklärungen für Abweichungen bzw. Differenz vorsieht, wenngleich dies durch die sozialistische Grundorientierung insofern eingeschränkt wird, als soziale Ursachen nur in Verbindung mit biologischen – nicht aber für sich genommen – erklärend herangezogen wurden (vgl. ebd., S. 133ff.). Mit der Konkretisierung des Ziels der „rehabilitationspädagogischen Einflussnahme“ wird zudem implizit eine Grenze rehabilitationspädagogischen Handelns aufgemacht, in der sich zugleich das individualisierende Verständnis von Abweichung, Differenz bzw. individueller Fähigkeiten findet, das die Begrenzung darstellt.
Weiter zeigt der Vergleich zu den anderen zwei Schulformen, dass die pädagogischen Ziele in der Förderung – also konträr zum proponierten Gehalt des Eingangssatzes nicht in Bildung oder Erziehung – verortet werden. Förderung unterscheidet sich v.a. gegenüber Bildung durch einen fehlenden emanzipativen Anspruch und einer Fokussierung auf die alleinige Erreichung von außen gesetzter Ziele, also Normen (vgl. Schuck, 2016). In dem Schulgesetz wird die Förderung mit den vier Begriffen „individuell, entwicklungswirksame, zukunftsorientierte und liebevolle“ differenziert: Während die Bezugnahme auf die individuellen Fähigkeiten in den anderen Schulformen neben allgemeinen, für alle verpflichtenden Inhalte, nur einen Teil darstellt, stellt dieses das zentrale Prinzip der Förderschule dar. Dies knüpft einerseits an die weiter oben formulierte Pflicht an, Schüler:innen gemäß ihrer Lernvoraussetzungen zu fördern, macht aber zugleich eine Unterscheidung gegenüber den Schüler:innen der anderen Schulformen auf, da gemeinsame Inhalte nicht bindend sind. Mit entwicklungswirksam und zukunftsorientiert werden grundsätzliche pädagogische Prämissen benannt, hier jedoch anders als für die Sekundarschule und das Gymnasium expliziert und damit zentraler gestellt. Mit der vierten Differenzierung „liebevoll“ wird – insbesondere im Vergleich zu den anderen Schulformen – eine Besonderheit der Pädagogik dieser Schulform markiert, die neben einer emotionalen Bedeutung auch Fürsorge betont. Zugleich erodiert sie die Schüler:innenrolle, die sich von familiären Beziehungen unterscheidet und markiert die Schüler:innen implizit als hilfsbedürftig und abhängig von den Lehrenden. Weiter fällt im Vergleich zu den anderen Schulformen auf, dass die Schüler:innen nicht in schulformspezifische Arbeitsweisen eingeführt werden.
„Die Förderschule wird von Schülerinnen und Schülern besucht, die wegen der Beeinträchtigung einer oder mehrerer Funktionen auch durch besondere Hilfe in den anderen Schulformen nicht ausreichend gefördert werden können und deshalb für längere Zeit einer besonderen pädagogischen Förderung bedürfen. Den individuellen Voraussetzungen entsprechend können alle Abschlüsse der allgemeinbildenden Schulen erworben werden.“ (Sachsen-Anhalt, 2018, S. 33)
Auch der zweite Satz zur Förderschule unterscheidet sich in seiner expliziten Struktur von den Ausführungen der anderen Schulformen, schließt inhaltlich jedoch implizit an deren Ausführungen an: die Begründung der Schulform erfolgt durch die Beschreibung der Schüler:innenschaft, die diese besucht und den Grenzen der anderen Schulformen, sie adäquat zu fördern. Hier dokumentiert sich ein Verständnis von Schule, das ein spezifisches (pädagogisches) Angebot bereitstellt, ohne dieses näher zu explizieren und jene Schüler:innen, die hierzu passen, also erfolgreich im Sinne der Erwartungen lernen, besuchen diese. Während dies mit der schuleigenen Kategorie des sonderpädagogischen Förderbedarfs explizit formuliert wird, erfolgt es für die anderen impliziter. Homolog ist dabei die Unterscheidung von Schulformen als Antwort auf als grundsätzlich different konzipierte Schüler:innen. Dabei dokumentiert sich ein Verständnis, dass in der Förderschule bzw. mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf eine prinzipielle Form der Abweichung von einer Norm bearbeitet wird, während die anderen Schulformen stärker auf graduelle Unterschiede innerhalb der zweiten Gruppe resp. einer anderen Norm ‚reagieren‘. Gemeinsam ist den Verständnissen, dass diese mit differenten und weitestgehend stabilen Fähigkeiten, Neigungen und Begabungen der Schüler:innen erklärt werden.
Dieses Verständnis findet sich – ebenfalls implizit – auch in § 34, in dem „Wahl und Wechsel des Bildungsweges“ beschrieben werden. In acht Sätzen wird zunächst angeführt, dass die Eltern bzw. die volljährigen Schüler:innen selbst die Wahl von „Schulformen und Bildungswegen“ treffen. Diese Entscheidungsfreiheit wird durch „Neigungen und Fähigkeiten“ der Schüler:innen eingeschränkt und das Verständnis aufgerufen, dass Schüler:innen sich nicht nur entlang von Neigungen und Fähigkeiten unterscheiden, sondern auch, dass diese als stabil angenommen werden. Eine weitere Einschränkung der Wahl des Bildungswegs liegt bei der Nicht-Erfüllung von Leistungserwartungen vor, die bei Wechseln der Jahrgänge ebenso wie beim Bildungsgang vorausgesetzt sind. Die Entscheidungshoheit hierfür liegt bei der Klassenkonferenz, also den Lehrpersonen – und nicht den Eltern. Bei wiederholter Nichtversetzung kann diese entscheiden, Schüler:innen „an einen geeigneten Bildungsgang [zu]überwiesen“ (Sachsen-Anhalt, 2018, S. 97). Hier dokumentiert sich ein Schulverständnis, das differente Lehr-Lernangebote in Form von Bildungsgängen bzw. Schulformen angeboten werden, die den als ‚natürlich‘ angegebenen Begabungen der Schüler:innen entsprechen und passende Angebote bereithalten – auch, damit sich die Fähigkeiten der Schüler:innen entfalten können. Neben der auf Begabungen basierenden Zuordnung zu Schulformen müssen die Schüler:innen (kontinuierlich) nachweisen, dass sie (noch) im ‚adäquaten‘ schulformspezifischen Bildungsgang sind, indem sie entsprechende Leistungen und Leistungsbereitschaft zeigen. Mit anderen Worten, Begabung allein stellt eine Form notwendiger Voraussetzung für den Besuch spezifischer Schulformen dar, aber keine hinreichende. Es ist folglich Aufgabe der Schule, die Schüler:innen den Schulformen ‚korrekt‘ zuzuordnen, v.a. dann, wenn dies den Eltern nicht gelingt.
Das Hamburgische Schulgesetz (Hamburg, 2021) ist deutlich kürzer als das Sachsen-Anhalts, es umfasst 122 Seiten. Der Erste Teil trägt die Überschrift „Recht auf schulische Bildung und Auftrag der Schule“ und umfasst drei Paragrafen. Im ersten ist das Recht auf schulische Bildung und Erziehung wie folgt definiert:
„Jeder junge Mensch hat das Recht auf eine seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechende Bildung und Erziehung und ist gehalten, sich nach seinen Möglichkeiten zu bilden. Dies gilt ungeachtet seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen oder einer Behinderung.“
Vergleichbar zum Schulgesetz Sachsen-Anhalts wird auch hier das Recht auf Bildung und Erziehung der Schüler:innen gleich zu Beginn nach „Fähigkeiten und Neigungen“ unterschieden. Mit dieser einleitenden Proposition wird eine Begrenzung der schulischen Bildungs- und Erziehungsmöglichkeiten formuliert. Es wird – ebenfalls vergleichbar zu Sachsen-Anhalt – angeführt, dass diese Rechte ungeachtet gesellschaftlicher Differenzkategorien bestehen. Auch hier wird betont, dass das Recht spezifischer Schüler:innengruppen besonders zu beachten ist, da es gefährdeter zu sein scheint. Ungeachtet davon wird das Bildungs- und Erziehungsrecht – wie schon zuvor – eingeschränkt auf schulische Bildung, die den Fähigkeiten und Neigungen der Schüler:innen entspricht. Diese Differenzen zwischen den Schüler:innen begründen die Bildungsangebote, die sie erhalten. Der propositionale Gehalt des Bildungs- und Erziehungsauftrags und ihm inhärenten Differenzen wird im nächsten Satz differenziert, inhaltlich in vergleichbarer Weise zu Sachsen-Anhalt:
„Unterricht und Erziehung sind auf die Entfaltung der geistigen, körperlichen und sozialen Fähigkeiten sowie auf die Stärkung der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler auszurichten.“ (Hamburg, 2021, S. 12)
Hier wird die Annahme inhärenter bzw. essentialisierender Differenzen der Schüler:innen v.a. durch den Begriff der „Entfaltung“ beschrieben, der darauf verweist, dass die Schüler:innen über (unterschiedliche) Anlagen verfügen, die in der Schule bzw. durch Unterricht und Erziehung erst hervorgebracht bzw. real werden. Diese Figur ist individualisierend, auch wenn eine interaktive oder soziale Aktivierung, die als Aufgabe der Schule benannt wird, als notwendig beschrieben wird. Vergleichbar zum Schulgesetz von Sachsen-Anhalt wird in dem Hamburgs zwischen Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft unterschieden – und damit die quasi-natürlichen Anlagen und eine sachlich-inhaltlich unabhängige Haltung oder Einstellung.
Im dritten Paragrafen des Ersten Abschnitts, mit der Überschrift „Grundsätze für die Verwirklichung“, werden diese in acht Sätzen konkretisiert. Mit Bezug auf Differenzen sind v.a. die Sätze (1) und der (3) von Interesse. Im ersten Satz heißt es:
(1) Das Schulwesen ist so zu gestalten, dass die gemeinsame Erziehung und das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen in größtmöglichem Ausmaß verwirklicht werden können. Diesem Grundsatz entsprechend sollen Formen äußerer und innerer Differenzierung der besseren Förderung der einzelnen Schülerin oder des einzelnen Schülers dienen. Eine Lernkultur mit stärkerer und dokumentierter Individualisierung bestimmt das schulische Lernen. (Hamburg, 2021, S. 12)
Hier werden gemeinsame Erziehung und gemeinsames Lernen proponiert – und damit implizit als nicht selbstverständlich gerahmt. Zugleich wird die Gemeinsamkeit durch das „größtmögliche […] Ausmaß“, in dem dies „verwirklicht werden“ soll, begrenzt. Die prinzipielle Grenze bleibt hier inhaltlich unkonkret bzw. wird nicht ausgeführt. Weiter differenziert sich die Proposition in dem Vorgehen äußerer und innerer Differenzierung, die entlang des Primats größtmöglicher Gemeinsamkeit sowie der „besseren Förderung der einzelnen“ Schüler:innen eingesetzt werden sollen. Während äußere Differenzierung für die Trennung von homogenen Lerngruppen über einen längeren Zeitraum steht, bezeichnet innere Differenzierung kurzfristige und situationsbezogene Formen der Gruppierung von Schüler:innen einer Lerngruppe (vgl. Klafki & Stöcker, 1976). Letztere ist dabei deutlich anschlussfähiger an die Idee schulischer Inklusion als erstgenannte; diese steht im Widerspruch zur Idee der Gemeinsamkeit. Die Grenze der Gemeinsamkeit wird mit optimalen Fördermöglichkeiten der individuellen Schüler:innen begründet. Im dritten Satz wird ausgeführt:
„(3) Unterricht und Erziehung sind auf den Ausgleich von Benachteiligungen und auf die Verwirklichung von Chancengerechtigkeit auszurichten. Sie sind so zu gestalten, dass Schülerinnen und Schüler in ihren individuellen Fähigkeiten und Begabungen, Interessen und Neigungen gestärkt und bis zur vollen Entfaltung ihrer Leistungsfähigkeit gefördert und gefordert werden. Die Ausrichtung an schulform- und bildungsgangübergreifenden Bildungsstandards gewährleistet die Durchlässigkeit des Bildungswesens.“ (Hamburg, 2021, S. 13)
Der erste grammatikalische Satz dieses juristischen Satzes kann als Opposition zu den bisherigen Ausführungen gelesen werden: Benachteiligungen und Chancengerechtigkeit werden als soziale und zugleich als – durch Schule – zu verändernde Lebensbedingungen von Schüler:innen verstanden. Ziel der Schule ist es, diese auszugleichen. Bereits im nächsten Satz wird dieses Verständnis jedoch wieder relativiert, indem erneut auf das fähigkeits- und begabungsbezogene Verständnis Bezug genommen wird. Vergleichbar den vorherigen Rekonstruktionen dokumentiert sich ein (schul-)leistungsbezogenes Differenzkonzept, das als Anlage den Schüler:innen inhärent ist, aber einer schulisch-pädagogischen Aktivierung bedarf. Der Schule kommt mithin eine zentrale Bedeutung zu, die jedoch in den Anlagen der Schüler:innen Grenzen hat.
Der Aufbau des Schulwesens wird im Dritten Teil des Schulgesetzes mit der Überschrift „Struktur und Organisationsformen“ beschrieben. Paragraf 12 enthält Ausführungen zur „Integration von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf und die Betreuung kranker Schülerinnen und Schüler“. Im ersten Satz wird dort angeführt, dass „Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf“ „das Recht [haben], allgemeine Schulen zu besuchen“. Vergleichbar zu Sachsen-Anhalt dokumentiert sich hier, dass Schüler:innen Förderbedarf individuell zugeschrieben bekommen – und nicht z.B. die Schule. Der Paragraph selbst macht deutlich, dass es keine Selbstverständlichkeit zu sein scheint, dass Schüler:innen mit attestiertem Förderbedarf „allgemeine Schulen“ besuchen (können) und dort „gemeinsam mit Schüler:innen ohne sonderpädagogischer Förderbedarf unterrichtet und besonders gefördert“ werden. Für keine andere Gruppe von Schüler:innen wird dies derart hervorgehoben, womit diese als besonders (schützenswert) markiert wird. Die Differenz gegenüber den Schüler:innengruppen, die keinen sonderpädagogischen Förderbedarf attestiert haben, liegt in der „besonderen“ Förderung, ohne, dass diese explizit von der nicht-besonderen und damit ‚normalen‘ Förderung unterschieden wird. Die in diesem Dokument verwendete Definition von sonderpädagogischem Förderbedarf entspricht ebenfalls der der KMK von 1994. Im Vergleich zu Sachsen-Anhalt werden die Nicht-Sonderschulen jedoch ebenfalls als Schulen angesehen, die diese Bedarfe erfüllen können. Mit anderen Worten, jede Schule stellt prinzipiell einen Ort dar, an dem die spezifische Förderung geleistet werden kann. Weiter werden die Förderschwerpunkte benannt, wie sie in den KMK-Empfehlungen von 1994 (S. 6f.) und 2011 (KMK, 2011, S. 20) formuliert sind.
Die Stadtteilschule wird in § 15 beschrieben, sie umfasst die Jahrgänge 5 bis 13 und ihr Bildungsauftrag konkretisiert sich wie folgt, sie
„vermittelt ihren Schülerinnen und Schülern eine grundlegende und vertiefte allgemeine Bildung und ermöglicht ihnen entsprechend ihren Leistungen und Neigungen eine Schwerpunktbildung, die sie befähigt, nach Maßgabe der Abschlüsse ihren Bildungswege an einer Hochschule oder in berufsqualifizierenden Bildungsgängen fortzusetzen“ (Hamburg, 2021, S. 24).
Vergleichbar zu Sachsen-Anhalt werden hier unterschiedliche Bildungsformen unterschieden: grundlegende und vertiefte allgemeine Bildung, jedoch werden diese in der gleichen Schulform angeboten bzw. realisiert. Mit einem Verweis auf die „Leistungen und Neigungen“ der Schüler:innen werden ihnen in der Stadtteilschule zudem Möglichkeiten für Schwerpunktbildungen eröffnet. Letztgenannte stehen dabei im Zusammenhang mit dem je zu erwerbenden Schulabschluss sowie den anschließenden beruflichen und/oder hochschulischen Möglichkeiten. Differenzen werden hier über die zu erreichenden Abschlüsse beschrieben, die die Schüler:innen aufgrund ihrer Leistungen und Neigungen erreichen (können). Anders als in den anderen Ausschnitten wird hier von Leistungen und Neigungen – statt von Fähigkeiten und Neigungen – gesprochen; obwohl hier ein weniger naturalisierender Begriff verwendet wird, bleibt dabei das individualisierende Verständnis erhalten resp. wird aufgerufen.
Die Ausführungen zum Gymnasium sind fast wortidentisch zu denen der Stadtteilschule; eine Ausnahme stellt jedoch das Bildungsangebot dieser Schulform dar, das ausschließlich mit „vertiefte allgemeine Bildung“ charakterisiert wird. Der Vergleich zeigt, dass die Stadtteilschule Schüler:innen unterschiedlicher Bildungsgänge und damit einhergehender Abschlüsse adressiert, während das Gymnasium ein diesbezüglich homogenes Angebot offeriert und damit eine homogenere Schüler:innenschaft adressiert. Vor dem Hintergrund, dass Differenzen zwischen Schüler:innen als natürlich gegeben verstanden werden, die in einer Schulform als bearbeitbar angesehen werden, stellt sich die Frage, wofür die Schulform des Gymnasiums gebraucht wird. Es liegt nah, dass es um die Sicherung von Privilegien einer Gruppe von Schüler:innen geht. Eine vergleichbare Frage – jedoch mit anderer Antwort – lässt sich zu den Sonderschulen aufwerfen. Diese werden in § 19 beschrieben.
Vergleichbar zu Sachsen-Anhalt wird auch im Hamburgischen Schulgesetz für diese Schulform kein Bildungsauftrag expliziter formuliert – allerdings auch kein spezifischer Förderauftrag. Hingegen wird die Struktur beschrieben, die sich entlang der Förderschwerpunkte organisiert und dass eine Schule mehr als einen führen kann.
Im Vierten Abschnitt des Schulgesetzes wird in § 45 „Aufrücken, Übergänge, Kurseinstufung, individuelle Förderung, Wiederholung und Versetzung“ geklärt. Dort heißt es, dass Schüler:innen der Jahrgänge 1 bis 10 am Ende des Schuljahres in die nächste Jahrgangsstufe aufrücken – Ausnahmen stellen der Übergang in die 7. Klasse des Gymnasiums und in die Sekundarstufe II dar. Diese Ausnahmen sehen den Nachweis von „Voraussetzungen“ aufseiten der Schüler:innen vor, die von der Zeugniskonferenz, also den unterrichtenden Lehrpersonen, zu prüfen ist (vgl. Hamburg, 2021, S. 46; §42, 45). Hier dokumentiert sich, dass es einen exklusiv geregelten Zugang zu diesen Bereichen des Schulsystems gibt. Er unterscheidet sich gegenüber den anderen Übergängen, bei denen mit den Schüler:innen, die die „in den Rahmenplänen festgelegten Leistungsanforderungen in einem oder mehreren Fächern bzw. Lernbereichen“ nicht erfüllen, „Lern- und Fördervereinbarungen“ abgeschlossen werden. In diesen werden „die gegenseitigen Pflichten, insbesondere individuelle Fördermaßnahmen neben der regulären Unterrichtsteilnahme“ (Hamburg, 2021, S. 50) zu besuchen, geregelt. Dass Lernen – und implizit damit Lern(miss)erfolg – hier als vertraglich zu regelnde Angelegenheit beschrieben wird, steht in gewisser Hinsicht konträr zu den Annahmen, dass Schüler:innen (nicht-)erfolgreich lernen – und damit in Bezug auf ihre Leistung heterogen sind – weil sie über entsprechende Fähigkeiten und Anlagen verfügen.
Die gewählten und analysierten Ausschnitte der zwei Schulgesetze zeichnen sich durch weitgehend homogene Verständnisse von Differenzen aus. Diese dokumentieren sich in der Verwendung identischer Begriffe und Formulierungen und den ihnen zugrunde liegenden Verständnissen, v.a. leistungsbezogener Differenz zwischen den Schüler:innen, die essentialisierend und weitestgehend losgelöst von sozialen und kulturellen Kontexten des Aufwachsens konzeptualisiert werden. Allerdings unterscheiden sich die schulisch-pädagogischen Bearbeitungsformen, die formuliert werden – teilweise – voneinander.
Differenzen zwischen Schüler:innen werden wesentlich entlang ihrer Leistungsfähigkeit und
-bereitschaft konstruiert, die als außerhalb der Schule hervorgebracht verstanden werden. Ohne dass weiter expliziert erläutert wird, worin die Ursachen liegen, zeigt sich implizit, dass v.a. von einem Verständnis von sozial-kulturellen Lebensbedingungen der Schüler:innen unabhängig bestehende, natürliche Differenzen ausgegangen wird. Neben diesen angeborenen und/oder vorschulisch erworbenen Differenzen werden die individuelle Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit als Voraussetzung für (erfolgreiches) schulisches Lernen gesehen. Die Schule unterstützt deren Entwicklung bzw. Entfaltung, so sie (noch) nicht vorhanden ist. Das Schulwesen der Sekundarstufe ist so aufgebaut, dass es unterschiedliche Bildungsgänge, die den angenommenen fähigkeitsbezogenen Bedürfnissen und Neigungen der Schüler:innengruppen entsprechen, bedient. Die Vielfalt unterschiedlicher Bildungsgänge bzw. Schulformen ist in Sachsen-Anhalt höher als in Hamburg und deren Angebot differenzierter. Diese Differenzierung begrenzt zugleich die Gruppe derjenigen, die in einer Schulform adressiert wird. Während sich in Hamburg nur die Gymnasien durch den Zuschnitt auf spezifische Schüler:innengruppen begrenzen, gilt das für die Stadtteilschule nicht. Vor diesem Hintergrund sind die Lehrpersonen aller Schulformen in Sachsen-Anhalt sowie in den Hamburger Gymnasien mit der Handlungserwartung konfrontiert, regelmäßig zu überprüfen bzw. den Schüler:innen Gelegenheiten zu eröffnen, zu belegen, dass sie im ‚korrekten Bildungsgang‘ sind. In der Hamburger Stadtteilschule ist ein vergleichbarer Nachweis nicht erforderlich, wenngleich das Erreichen der fachlichen Erwartungen auch hier überprüft wird und ggf. ein Fördervertrag mit den Schüler:innen abgeschlossen wird.
Das den Dokumenten gemeinsame essentialisierende Differenzverständnis korrespondiert mit einem Bildungsverständnis, das insofern nicht egalisierend ist, als die Schulformen unterschiedliche Bildungsangebote bereitstellen – für die Sonder- und Förderschulen wird dies nicht formuliert bzw. in Sachsen-Anhalt als Förderung spezifiziert. Die Offerte unterschiedlicher Bildungsangebote macht allein die Stadtteilschule in Hamburg, zu der der Zugang für Schüler:innen nicht exklusiv geregelt und ein leistungsbezogener Ausschluss nicht möglich ist. Die rekonstruierte essentialisierende, leistungsbezogene Differenzkonstruktion lässt sich mit Rahel Hünig (2021, S. 41) – auf der Grundlage ihrer strukturtheoretischen Analyse von Bildungsverständnissen der Schulgesetze Baden-Württembergs und Hessens – als „Naturalisierung sozialer Tatsachen“ deuten, die in der Gliederung des Schulwesens ihre Entsprechung findet. Die Ausführungen zeigen, dass sich in den Schulgesetzen Differenzkonstruktionen dokumentieren, die einen ableist divide darstellen, der seinerseits mit unterschiedlichen Handlungs- und Entscheidungserwartungen an die Lehrpersonen verbunden ist, v.a. liegen diese darin, die ‚korrekte‘ Zugehörigkeit von Schüler:innen zu Bildungsgängen und Schulformen zu kontrollieren. Lehrpersonen, die in Hamburgs Gymnasien und Sachsen-Anhalts Schulen unterrichten, sind entsprechend gefordert, sich mit diesen Erwartungen auseinanderzusetzen, während sie für die Lehrpersonen der Hamburger Stadtteilschule ‚nur‘ in Bezug auf den Übergang in die Sekundarstufe II bestehen.
Vor dem Hintergrund der rekonstruierten Differenzverständnisse lassen sich zwei Typen der Bearbeitung der Leistungsdifferenzen unterscheiden: die Prüfung der Bildungsgangzugehörigkeit zum einen und die Gestaltung individueller pädagogischer Begleitung zum anderen. Wenngleich hier eine Differenzierung in zwei Typen erfolgt, zeigen die Rekonstruktionen, dass auch beide in einem Schulgesetz aufgerufen werden können. Finden sich beide Typen in einem Schulgesetz, stehen sie im Widerspruch zueinander bzw. sind Ausdruck ambivalenter und konfligierender Perspektiven. In dem Schulgesetz Sachsen-Anhalts dominiert – schuljahresbezogen – der erste Typ, während das Hamburger Schulgesetz diesen Typ lediglich am Übergang von Klasse 6 nach 7 im Gymnasium sowie bei dem von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II (Stadtteilschule und Gymnasium) vorsieht. Die anderen Übergänge werden in Hamburg entlang des zweiten Typs geregelt. Der letztgenannte begrenzt die Bearbeitung leistungsbezogener Differenzen zwischen den Schüler:innen innerhalb der Schule weniger bzw. nicht – da sie dort bearbeitet werden. Der erstgenannte Typ ist an leistungshomogenen Lerngruppen orientiert, der zweite an leistungsheterogenen.
Den Ausführungen zum professionalisierten Handeln von Lehrpersonen der Praxeologischen Wissenssoziologie folgend, stellen die rekonstruierten Differenzkonstruktionen sowie deren Bearbeitungsformen Normen bzw. Rollen- und Entscheidungserwartungen dar. Die professionellen Akteur:innen sind gefordert, sich mit diesen auseinanderzusetzen und sie explizit, aber v.a. implizit, also handlungspraktisch zu bearbeiten. Die Normen werden dabei nicht determinierend als objektive Entitäten verstanden, sondern als im Medium des Habitus, also den Erfahrungen der Lehrpersonen wahrgenommene und bearbeitete (vgl. Bonnet & Hericks, 2020, S. 406). Dies eröffnet – ebenso wie weitere konfligierende und widersprüchliche Normen und Erwartungen – den Akteur:innen Freiheitsgrade bzw. Kontingenzen in der praktischen Bearbeitung. Welche Bedeutung die Ergebnisse für eine praxeologisch-wissenssoziologisch rekonstruktive Inklusionsforschung zu Schule, Unterricht und Professionalität haben, soll im folgenden Abschnitt diskutiert werden.
Der den formalen Dokumenten bzw. Diskursen zugrunde liegende Modus Operandi der Konstruktion von Leistungsdifferenzen sind – Arnd-Michael Nohl (2016) folgend – Ausdruck eines Denkstils resp. einer Denkweise derjenigen, die sie erstellen und, im Fall von Schulgesetzen, in parlamentarischen Prozessen verabschieden und damit demokratisch legitimieren. Wenngleich die Differenzverständnisse der Schulgesetze die unterrichtliche Hervorbringung und Bearbeitung von Leistungsdifferenzen nicht dadurch begrenzen, dass sie determinierende Vorgehensweisen beschreiben, so formulieren sie doch Normen und daran anknüpfende Rollen- und Entscheidungserwartungen, die von den (professionellen) Akteur:innen in ihren Praxen handlungspraktisch zu bearbeiten sind. Die in den Gesetzen formulierten schüler:innenbezogenen Differenzkonstruktionen, die mit schulformspezifischen Bildungsverständnissen korrespondieren, zeichnen sich zudem durch Kontingenz aus, da die Begriffe nicht eindeutig definiert sind und sie z. T. mit einander konfligieren; gerade letztgenanntes eröffnet auch Freiheitsgrade in der handlungspraktischen Bearbeitung. Nun soll mit diesem Verweis dezidiert nicht die Verantwortung für die Gestaltung schulisch-unterrichtlicher Inklusion/Exklusion allein an die professionellen Akteur:innen, v.a. die Lehrpersonen, delegiert werden. Vielmehr sollen, dem metatheoretischen Rahmen folgend, vor dem Hintergrund der generierten Ergebnisse theoretische und methodologisch-methodische Implikationen für die Rekonstruktion unterrichtlicher und professionalisierter Praxen der Differenzkonstruktion dargelegt werden.
Für die gegenstandsbezogenen Theorien zu schulisch-unterrichtlicher Inklusion und Exklusion sowie professionalisierten Praxen der Differenzkonstruktion verweisen die Ausführungen zunächst darauf, dass die Schule als gesellschaftliche Institution in den zwei Bundesländern von essentialisiert erklärten Differenzen zwischen den Schüler:innen ausgehen. Dieses Verständnis steht im Widerspruch zur UN-BRK, in der ein sozial-kulturelles Verständnis von Partizipationsbarrieren (vgl. Bielefeldt, 2009) formuliert wird. Für Forschungsvorhaben, die unterrichtliche Praxen zum Gegenstand haben, bedeuten diese Ergebnisse, den gesellschaftlich-institutionellen Kontext reflexiv in die Rekonstruktionen und Analysen einzubeziehen. Konkret heißt das, (einzel-)schulische, unterrichtliche und professionalisierte Praxen der Differenzkonstruktionen als Gegenstände zu fassen, die in der Auseinandersetzung mit je spezifischen Normen und Erwartungen sowie entlang der habituellen Erfahrungen der beteiligten Akteur:innen generiert werden. Die Normen und Erwartungen, die v.a. an Lehrpersonen in Bezug auf Differenzen formuliert werden, können sich dabei voneinander unterscheiden, sie können schulform- und auch bundeslandspezifisch sein, wie die Ausführungen zeigen. Weiter wird deutlich, dass Inklusion nicht die einzige – und z.T. auch nur eine eingeschränkt – aufgerufene Programmatik innerhalb der Schulgesetze darstellt. In der theoretischen ebenso wie in der empirischen Erforschung von Schul-, Unterrichts- und Professionspraxen lässt sich dies einbeziehen, indem die Bearbeitung widersprüchlicher oder konfligierender Handlungs- und Rollenerwartungen selbst zum Gegentand gemacht wird – statt z.B. einseitig die Frage nach der Bearbeitung der Programmatik Inklusion zu bearbeiten. Diese stärker zum Gegenstand einer inklusionsorientierten Schul-, Unterrichts- und Professionstheorie zu machen, führt vermutlich nicht nur zu unterschiedlichen Varianten der Ausgestaltung, sondern auch zur stärkeren Reflexion der jeweiligen Fremdrahmungen. Unterrichtliche und professionalisierte Praxen würden dann nicht (mehr) losgelöst von ihrem Kontext als Mikrophänomene, sondern immer auch in ihrer Relation zur Meso- und Makroebene betrachtet. Andreas Bonnet und Uwe Hericks (2020) zeigen in ihrer Studie Kooperatives Lernen im Englischunterricht. Empirische Studien zur (Un-)Möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule, in der sie Biografie- und unterrichtsbezogene Professionsforschung aufeinander beziehen, dass Lehrpersonen Widersprüche zwischen ihrer beruflichen Identität, also ihren eigenen Normen und Erwartungen an sich als Lehrpersonen, und konfligierenden institutionellen Handlungserwartungen explizit und/oder implizit und zugleich unterschiedlich reflektieren. Die jeweilige Bearbeitung der handlungsleitenden Normen und Erwartungen findet ihren Ausdruck dann auch in der Unterrichtspraxis. Neben einem reflexiven Typ, der Handlungsmöglichkeiten eröffnet, rekonstruieren sie einen implizit reflexiven Bearbeitungstyp, der wiederholt in Krisen führt (vgl. ebd., S. 377ff.). Übertragen auf schulisch-unterrichtliche Inklusion/Exklusion ließe sich hieran schließend fragen, wie Lehrpersonen z.B. die programmatische Erwartung, inklusiv zu unterrichten, und zugleich Allokationsentscheidungen zu begründen bzw. zu legitimieren, bearbeiten und diese vor dem Hintergrund ihrer beruflichen Identität reflektieren. Inwiefern konfligierende Normen und Erwartungen dabei Freiheitsgrade im Sinne von Kontingenz eröffnen und/oder Grenzen darstellen, wäre ebenfalls empirisch zu prüfen (vgl. Bohnsack, Bonnet & Hericks, 2022). So ließe sich z.B. an die Ausführungen anschließend fragen, ob dies in Hamburger Stadtteilschulen anders erfolgt als im Gymnasium und/oder der Sekundarschule in Sachsen-Anhalt. Dies würde zudem eine soziogenetische Typenbildung im Sinne der Praxeologischen Wissenssoziologie eröffnen, die die Frage nach der Genese der Orientierungen in gesellschaftlichen Erfahrungsräumen und ihre materialen und sozialen (Rahmen-)Bedingungen rekonstruiert. Maximalere Kontraste als die zwischen Bundesländern, z.B. gesellschaftlich-institutionelle sowie handlungspraktische Differenzkonstruktionen in schulisch-unterrichtlichen Kontexten anderer Schulsysteme, v.a. solche, die im internationalen Vergleich als inklusiv(er) gelten, wie z.B. Norwegen (vgl. z.B. Nilsen, 2010), Island und Kanada (vgl. z.B. Köpfer & Óskarsdóttir, 2019), können ebenfalls Aufschluss über die Genese differenter Formen unterrichtlicher Differenzkonstruktionen und damit verbundener ableist divides eröffnen. So zeigen erste empirische Analysen unterrichtlicher Praxen von zwei Mathematiklehrpersonen einer Secondary School in Kanada, dass Leistung in ihrem Unterricht nicht vergleichbar hierarchisiert und individualisiert zugeschrieben wird und die Bearbeitung fachlicher Inkongruenzen zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen durchgängig und unabhängig davon, ob die Schüler:innen einen Individual Education Plan[2] (vgl. BCME, 2016) haben oder nicht, kooperativ im Unterricht bearbeitet werden (vgl. Sturm, 2021; Sturm, Wagener & Wagner-Willi, 2022). Solche transnationalen Vergleiche können die begrenzenden Aspekte oder die Barrieren für die inklusive Gestaltung von Schule und Unterricht differenziert aufzeigen und identifizieren.
Eine mikroanalytisch ausgerichtete Schul-, Unterrichts- und Professionsforschung, die Inklusion/Exklusion bzw. Differenz- und Ungleichheitskonstruktionen zum Gegenstand hat, kann so nicht nur Erkenntnisse darüber generieren, wie Lehrpersonen Normen, Erwartungen und Widersprüche bearbeiten, sondern auch entlang welcher materialen und sozialen resp. gesellschaftlich-institutionellen Fremdrahmungen Praxen mehr/weniger inklusiv/exklusiv gestaltet sind, also mehr/weniger soziale und akademische Teilhabe realisiert werden kann. Entsprechend zu generierende Erkenntnisse können Aufschluss über notwendige Veränderungen der kontextualisierenden Rahmungen geben, die den Abbau von Marginalisierung, Schlechterstellung und Exklusion kennzeichnen.
An diese Ausführungen schließen methodologisch-methodische Perspektiven für eine rekonstruktive Inklusions-, Ungleichheits- und Differenzforschung an: Eine Perspektive liegt in der stärkeren Verbindung von professionsbezogener Biografie- und Unterrichtsforschung, die Aufschluss über die jeweiligen Verständnisse, die expliziten und impliziten Reflexionen sowie deren Bearbeitung im Sinne einer „konstituierenden Fremdrahmung“ (Bohnsack, 2017, S. 135) unterrichtlicher Praxen eröffnet. Gespräche, wie Interviews und Gruppendiskussionen, können den Zugang zur proponierten Performanz sowie der Genese aktueller professionalisierter Perspektiven auf den Unterricht ermöglichen. Beide Erhebungsformate eröffnen – v.a. in Ergänzung zu Unterrichtsvideografien –den Zugang zur Lehrer:innenidentität und ihrer Genese in Schule und Unterricht sowie Möglichkeiten für ihre Entwicklung – in dem gegebenen schulisch-unterrichtlichen Kontext wie auch darüber hinaus.
Die Ausführungen zeigen, dass nicht nur Inklusion/Exklusion bzw. Differenzkonstruktionen und damit verbundene ableist divides in schulischen, unterrichtlichen und professionalisierten Praxen hochgradig komplex sind, sondern auch, dass dies für mögliche Entwicklungs- und Veränderungsvorhaben zutrifft. Diese Komplexität reflexiv in der Forschung aufgreifen, stellt eine Aufgabe empirischer Analysen dar, die einen fundierten Beitrag zur (Re)Produktion von Differenz, Behinderung und Ungleichheit in Schule und Unterricht leisten sowie Perspektiven ihrer Überwindung formulieren wollen.
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