Oskar Dangl & Doris Lindner:Würde und Inklusion – Inklusion und Würde

Abstract: Der Beitrag erörtert das grundlegende Beziehungsgefüge zwischen Würde und Inklusion. Es wird danach gefragt, was aktuell unter Menschenwürde verstanden und welche Rolle ihr im Kontext der Menschenrechte, insbesondere in der Argumentation der UN-Behindertenrechtskonvention, zukommt. Um den Zusammenhang zwischen Menschenwürde und der menschenrechtlichen Forderung nach Inklusion und einem inklusiven Schulsystem aufzuzeigen, ist insbesondere der Art. 24 über das Bildungsrecht schlagend. Anhand einer diskursiven Annäherung an die Begrifflichkeiten Würde und Inklusion wird vorgeschlagen, wie diese in der UN-BRK verstanden werden können: Menschenwürde als theoretische Voraussetzung der Begründung von Inklusion als Menschenrecht und Inklusion als empirische Bedingung des Gelingens der Realisierung der Würde von Menschen mit Behinderung.

Stichworte: UN-Behindertenrechtskonvention, Würde, Inklusion, Bildungsrecht, inklusives Schulsystem

Inhaltsverzeichnis

  1. Orientierung
  2. Theoretische Annäherung: Aktuelle Diskussion um Menschenwürde
  3. UN-Behindertenrechtskonvention: Schutz der Würde durch Inklusion
  4. Inklusion und Würde im Kontext des Bildungsrechts
  5. Würde und Inklusion – Inklusion und Würde: Versuch einer Theoretisierung
  6. Literatur

 

1. Orientierung

Der Beitrag erörtert das grundlegende Beziehungsgefüge zwischen Würde und Inklusion. Dabei wird zunächst der theoretische Rahmen, innerhalb dessen sich Deutung und Begründung des Begriffs der Menschenwürde bewegen, skizziert. Es wird danach gefragt, was in den aktuellen Debatten unter Menschenwürde verstanden und welche Rolle ihr im Kontext der Menschenrechte zukommt. Der zweite Teil des Beitrags konzentriert sich auf die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Untersucht wird dabei in einer diskursiven Annäherung, welche Rolle die Menschenwürde in der Argumentation der UN-BRK spielt, was darunter verstanden wird und welcher Zusammenhang zwischen Menschenwürde und der menschenrechtlichen Forderung nach Inklusion besteht. Dazu werden die einzelnen Belegstellen im Kontext der ‚(Menschen-)Würde‘ beleuchtet und interpretiert. Der dritte Abschnitt bezieht sich alsdann auf den für diesen Zusammenhang besonders wichtigen Art. 24 über das Bildungsrecht. Hier geht es nicht nur um die Bedeutung der Würde, sondern auch um den Streit der Interpretation dieses Artikels in Hinsicht auf den obligatorischen Charakter der menschenrechtlichen Forderung nach einem inklusiven Schulsystem. Schließlich soll im Anschluss an die gezeichneten Ausführungen der Versuch unternommen werden, die in der Deutung der UN-BRK erzielten Ergebnisse ins Licht theoretischer Reflexion zu stellen, indem sie mit Hilfe des in der aktuellen Debatte um Bedeutung und Status der Menschenwürde sich zeigenden Problembewusstseins re-interpretiert werden. So erlangt auch der doppelte Titel des Beitrags seine Nachvollziehbarkeit.

2. Theoretische Annäherung: Aktuelle Diskussion um Menschenwürde

In den letzten Jahren wird die Debatte um (den Begriff der) Menschenwürde intensiviert und teils kontrovers geführt. Dies zeigt sich zum einen an der gestiegenen Zahl der Publikationen, zum anderen an den unterschiedlichen Dimensionen des Begriffs der Menschenwürde, die weit über das positive Recht hinausreichen. Grundsätzlich können zwei Varianten des Begriffs der Menschenwürde unterschieden werden (Sorgner, 2010, S. 12): a) die kontingente Menschenwürde und b) die notwendige Menschenwürde. Die notwendige Würde gilt als eine Eigenschaft, die ihrem/ihrer Träger:in notwendigerweise zukommt. Eine Konzeption der notwendigen Menschenwürde verweist im Rahmen der Begründung auf eine metaphysische Eigenschaft des/der Träger:in. Die kontingente Würde hingegen ist eine Eigenschaft, die dem/der Träger:in nicht notwendig zukommt. Bei der kontingenten Begründung ist die Würde meist von menschlichen Entscheidungen abhängig (ebd., S. 15-19). Die notwendige Menschenwürde gilt zugleich als absolut. Hinter dieser Annahme stehen drei Merkmale der Menschenwürde, mit denen drei Dimensionen der Absolutheit verbunden werden (Brandhorst & Weber-Guskar, 2017, S. 10-13):

In der aktuellen Diskussion wird vor allem die Kontingenz der Menschenwürde betont. Gerade als säkularer Begriff müsse die Würde nicht an etwas Absolutes gebunden sein (Weber-Guskar, 2017, S. 206). Ihre Kontingenz zeigt sich in vier Dimensionen (Brandhorst & Weber-Guskar, 2017, S. 17-28), in der a) Kontingenz des Ursprungs, der b) Kontingenz der Begründung, der c) Kontingenz der Deutung und der d) Kontingenz der Anwendung. Der Grund einer mehrfachen Kontingenz der Menschenwürde liegt in ihrer Geschichtlichkeit (Brandhorst, 2017). Mit dieser Erkenntnis verbindet sich die Frage, ob es noch vernünftig sein kann, an der Idee der Menschenwürde festzuhalten. Im Anschluss an Friedrich Nietzsche (z. B. ebd., S. 113-115; Sorgner, 2010, S. 109-211) wird auch in der aktuellen Debatte die radikale Position vertreten, die Idee der Menschenwürde am besten am ‚Sperrmüll der Geschichte‘ zu entsorgen. Es sei unvernünftig, weiter daran festzuhalten, zudem sowohl rechtlich als auch moralisch unnötig (Bittner, 2017). Aus der Einsicht in die Geschichtlichkeit der Menschenwürde lassen sich jedoch differenziertere Konsequenzen ziehen. Erkenntnis und Anerkennung der Würde als kontingentes Gut müssen nicht zwangsläufig zu ihrer Verwerfung als unvernünftiges Relikt des religiösen bzw. metaphysischen Zeitalters führen (Brandhorst & Weber-Guskar, 2017, S. 7f.; Weber-Guskar, 2017, S. 206). Gerade die Geschichtlichkeit der Menschenwürde kann selbst zu einem Argument werden, in der Gegenwart an ihr festzuhalten.
Wie also sollen wir mit der Einsicht in die Geschichtlichkeit und Kontingenz der Menschenwürde am besten umgehen (Brandhorst, 2017, S. 143-153)? Die Geschichte der Menschenwürde ist die Geschichte einer Erfindung. Wir sind Erben einer langen Tradition. Die Einsicht in die Geschichtlichkeit kann uns nicht von dem entfremden, was aufgrund dessen zu uns gehört. Die Geschichte hat diesen Standpunkt zu unserem gemacht. Die Geschichte zeigt tatsächlich ein recht konstantes Motiv: „Die Überzeugung, dass der Mensch einen besonderen Status besitzt“ (ebd., S. 151). Die Geschichtlichkeit selbst wirft nicht nur viele Fragen auf, sondern trägt auch zur Klärung und Lösung von Problemen bei: „Die Ressourcen der Geschichte machen es uns möglich, die Idee der Menschenwürde zu bewahren: Es ist wahr und wichtig, dass der Mensch eine ihm eigene Würde besitzt, auch wenn sich diese Würde als etwas zutiefst Kontingentes erweist“ (ebd., S. 113).
Verabschieden müssten wir uns angesichts der Geschichtlichkeit aber sehr wohl von der Notwendigkeit und Absolutheit der Menschenwürde. Der Preis der Kontingenz ist der Verlust der Wesenswürde. „Dies bedeutet aber nicht das Ende der Würde überhaupt“ (Wetz, 2017, S. 314). Wir sollten im Blick auf die Geschichte die Menschenwürde nicht mehr als „notwendig“, „objektiv“, „vorgegeben“ oder als „Wesensmerkmal“ beschreiben (Brandhorst 2017, S. 141-143). Zudem bleibe uns heute eine metaphysische Begründung der Menschenwürde verwehrt. Wir können ihren Status nicht mehr in Gott oder in der Vernunft als Ersatz für Gott begründen (ebd., S. 141). Jahrhundertelang ist man von einer metaphysischen Wesensnatur des Menschen ausgegangen. Dazu gehörte auch „eine Anweisung zum richtigen Leben, die sich aus der menschlichen Wesensnatur ergab“ (Wetz, 2017, S. 294). Wesenswürde wurde zugleich als Gestaltungsauftrag verstanden. Daran gilt es anzuknüpfen. Das Dasein des Menschen kennt keine metaphysische Natur oder Wesensbestimmung. Auch ohne Wesenswürde bleibt der Auftrag, sein Leben eigenverantwortlich führen zu sollen. Würde bleibt damit „als konkreter Gestaltungsauftrag vorstellbar. Dessen Ziel- und Fluchtpunkt ist die Selbstachtung“ (ebd., S. 293). Diese muss ermöglicht werden, wenn man die Würde achten will. Menschenwürde wird so von einer natürlichen Vorgabe zu einer ethischen Aufgabe. Sie hängt „vorrangig von den gesellschaftlichen Verhältnissen ab, in denen man lebt, und dem Verhalten des Einzelnen zu sich und seinesgleichen“ (ebd., S. 306f.). Der Weg zur Menschenwürde verläuft von der Bedürftigkeit und Verletzlichkeit des Einzelnen hin zu ethischen Grundsätzen. So gesehen „ist Würde keine natürliche Mitgift mehr, sondern lediglich eine Aufgabe – der Auftrag, menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen“ (ebd., S. 307).
Die aktuelle Diskussion zur Menschenwürde zeigt sowohl Kontinuität als auch Diskontinuität zur Tradition. Der Begriff Menschenwürde entsteht in der Aufklärung als Teil eines neuen anthropologischen Wortfeldes (Buchenau, 2017, S. 178). Der neue Würdebegriff der Aufklärung versteht Würde als Perfektibilität. Das bedeutet zum einen, dass der Mensch sich in seiner Gesamtheit durch einen besonderen Rang, Status oder universellen Adel auszeichnet, zum anderen, dass dieser Rang mit der „Aufgabe einer unendlichen und kollektiven menschlichen Erhebung und Vervollkommnung verbunden“ ist (ebd., S. 180f.). Die Menschheit ist nicht vollkommen, aber der Vervollkommnung fähig (perfectibilité). Die Idee der Perfektibilität liegt den modernen Freiheitsrechten zugrunde. Der Rückgang auf die Aufklärung erhellt die kollektive Dimension der Menschenwürde. Er wirft auch ein Licht auf die Verbindung von Würde und Menschenrechten. Perfektibilität bedeutet, dass Würde ein Amt oder Auftrag ist (ebd., S. 204f.).
Mit der Aufklärung verbindet die Gegenwart nicht nur die Beibehaltung des Verständnisses von Würde als moralisch-rechtlichen Auftrag, sondern auch die Uneindeutigkeit des Würdebegriffs. Schon in der Aufklärung gab es keinen Konsens über den Begriff der Menschenwürde. Vielmehr entstand eine Pluralität von Würdeparadigmen, die auf die konstitutive Mehrdeutigkeit dieses philosophischen Begriffs verweisen (ebd., S. 195). Im Rahmen der Aufklärung lassen sich je nach Verankerung in der theoretischen oder praktischen Vernunft zwei Würdemodelle unterscheiden (ebd., S. 184-204): a) das theoretische Betrachtermodell und b) das praktische Akteursmodell. Beide Würdeparadigmen sind unvereinbar, widerlegen sich aber gegenseitig nicht. Das gilt auch für die aktuelle Diskussion um den Inhalt des Würdebegriffs.
Es können zwei unterschiedliche Verständnisse von Menschenwürde unterschieden werden (Steinfath, 2017), die mit folgenden, näher zu charakterisierenden Etiketten versehen sind:

Im ersten Modell wird Menschenwürde als Statusbegriff verstanden. Sie bedeutet, „einen berechtigten Anspruch auf eine bestimmte Form moralischer Berücksichtigung zu haben“ (Göbel & Düwell, 2017, S. 64), also auf Schutz der Würde („Würdeschutz“). Menschenwürde müsse als moralisch-praktisches Prinzip verstanden werden. Sein Kern bestehe darin, „allen praktisch Urteilenden den moralischen Status eines >Würde-Trägers< zuzuweisen, der näherhin als Status eines Rechtsträgers bestimmt werden kann“ (ebd., S. 85). Würde im normativen Sinn kommt nicht nur Personen, sondern auch der Persönlichkeit eines Menschen zu (Neuhäuser, 2017, S. 324-337). Personen verfügen über Autonomie, also die Fähigkeit, sich reflexiv zu den eigenen Wünschen und Werten zu verhalten und sie von einem evaluativen Standpunkt aus korrigieren zu können. Persönlichkeiten zeichnen sich hingegen dadurch aus, dass sie über spezifische Wünsche und Werthaltungen verfügen. Personen können diese ihre Wünsche und Werte kritisch hinterfragen. Rechte kommen den Menschen nicht nur als Personen zu. Auch die Persönlichkeit eines Menschen begründet einen Rechtsanspruch, und zwar „auf die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Der Grund dafür ist, dass es bei einem würdevollen Leben in Selbstachtung tatsächlich darum geht, seine Persönlichkeit entfalten und ausleben zu können“ (ebd., S. 331). Dieser Rechtsschutz gilt kategorisch trotz der Kontingenz der Würde der Person und der Persönlichkeit.
Wird Menschenwürde nicht als intrinsischer, absoluter Wert verstanden, sondern als Status, gelingt es, Würdeverletzungen zu erklären und zu verstehen: „Die Würde des Menschen besteht in ihrer Fähigkeit, bestimmen zu können, was andere mit ihnen tun und nicht tun dürfen. Dies setzt voraus, dass wir Rechte über uns haben“ (Schaber, 2017, S. 59). Die radikalste Form der Würdeverletzung liegt vor, „wenn man sich für berechtigt hält, mit dem anderen nach dem eigenen Belieben verfahren zu dürfen“ (ebd., S. 52). Positiv gewendet heißt das: „Ein Wesen als ein Wesen mit Würde zu verstehen […] heißt, es als Wesen zu verstehen, das im Blick auf die Rechte, die es über sich selbst hat, bestimmt, was mit ihm getan und nicht getan werden darf“ (ebd., S. 53). Damit lässt sich auch Erniedrigung und Demütigung verstehen.
Dem Verständnis von Würde als (moralischer und rechtlicher) Status steht das Modell der Menschenwürde als Lebensform und Haltung gegenüber. Peter Bieri (2015) hat folglich vorgeschlagen, Menschenwürde als Lebensform zu verstehen. Zentral für die Idee der Menschenwürde ist darin die Auffassung, dass es sich um die Antwort auf die existentielle Erfahrung der Gefährdung handelt, die in der grundsätzlichen Verletzlichkeit des Menschen als Subjekt besteht. In Würde leben heißt nach Bieri, diesen existentiellen Gefährdungen des Subjektstatus mit einer Haltung zu begegnen, die die Herausforderung der Gefährdung annimmt (Wedelstaedt, 2017, S. 234-237).
Würde sollte als Haltung verstanden werden im Sinne des Selbstverhältnisses einer Person. Der Struktur nach ist Würde dann als Übereinstimmung oder Entsprechung zu beschreiben. Würde zu haben heißt demnach, „mit sich übereinzustimmen, insofern man seinem Selbstbild entspricht“ (Weber-Guskar, 2017, S. 219). Wenn man seinem Selbstbild nicht entspricht, geht die Würde verloren. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen (ebd., S. 226-230):

In diesem Sinne wird Würde anders verstanden als im klassischen Sinn, „nicht als Wert, Status oder Anspruch, sondern als die Verfassung, in der sich ein Mensch befindet, wenn er in Würde lebt“ (ebd., S. 212). Wie verhalten sich nun die beiden Modelle zueinander? Der Idee der Menschenwürde kommen zwei Funktionen zu (Steinfath, 2017, S. 266-269): Zum einen wird jedem Menschen als Mensch ein grundlegendes Anrecht auf gleiche moralische Achtung zuerkannt, die sich auch im positiven Recht äußert, zum anderen konzentrieren sich im Begriff der Menschenwürde inhaltliche Vorstellungen darüber, wie Menschen leben sollten und auf keinen Fall behandelt werden dürfen.
So steht der Begriff der Menschenwürde „in einer eigentümlichen Spannung zwischen universalistischer Moral und spezifischem Lebensideal“ (ebd., S. 268f.). Das klassische Würdeverständnis im Sinne eines fundamentalen Status und intrinsischen Wertes ist trotz der damit verbundenen Probleme nicht verzichtbar. „In ihm kristallisiert sich die zentrale Überzeugung der modernen Moral und des modernen Rechts: der Universalismus, der Egalitarismus, der Individualismus und die Idee der Rechte“ (ebd., S. 280). Im zweiten Sinn ist Menschenwürde „weniger eine Eigenschaft von Personen […] als eine Eigenschaft ihres Verhaltens, ihrer Weise zu leben“ (ebd., S. 280). Dieses Verhalten betrifft vor allem den Umgang mit sich selbst und erst darauf aufbauend mit anderen. Das erste Modell wird ohne Bezug zum zweiten inhaltsleer. Das erste bleibt auf das zweite Verständnis angewiesen. Menschenwürde wird so zu „einem Anspruch auf Sicherung der Möglichkeiten, ein Leben im Sinn des Würdeideals zu führen“ (ebd., S. 288). Es bedarf aber auch umgekehrt das zweite Verständnis des ersten, weil ihm sonst „die Fixierung auf problematische Inhalte“ (ebd., S. 289) droht. Das zweite Verständnis muss die „wesentlichen Forderungen nach Allgemeinheit und Gleichheit aufnehmen“ (ebd., S. 290).
Aufrecht bleibt auch der Bezug der Menschenwürde zu den Menschenrechten, wenngleich in unterschiedlicher Form. Wird Würde als moralisch-rechtlicher Status verstanden, erscheint es konsequent, dass der normative Status auch Grundrechte beinhaltet und eine besondere Haltung im Umgang mit anderen und sich selbst verlangt (Neuhäuser, 2017, S. 316). Auch im Kontext des Verständnisses von Würde als Lebensform besteht die „zentrale Funktion der Idee der Menschenwürde […] darin, ein universelles Schutzrecht für alle Menschen zu begründen“ (Wedelstaedt, 2017, S. 252). Der direkte Bezug der Würde zu den Menschenrechten bleibt auch dann gewahrt, wenn die Menschenwürde nicht als Grundlage, sondern als Ziel der Menschenrechte verstanden wird (Weber-Guskar, 2017, S. 212; Wetz, 2017, S. 307). Denn es gilt in jedem Fall: „Was ein würdevolles Dasein ist, […] beschreiben noch am besten die allgemeinen Menschenrechte“ (Wetz, 2017, S. 307).
Mit der zentralen Funktion der Idee der Menschenwürde, ein universelles Schutzrecht zu fundieren, stößt man auf das Problem der Begründung (Wedelstaedt, 2017, S. 256-259), mit dem möglicherweise auch der Bereich der Kontingenz verlassen wird, der sich auf die geschichtliche Genese von Menschenwürde und Menschenrechten beschränken könnte. Zur Begründung der notwendigen Geltung der Menschenwürde erscheint ein reflexiv-transzendentalphilosophischer Ansatz vielversprechend (Göbel & Düwell, 2017, S. 86). Vor übertriebenen Hoffnungen gilt es allerdings zu warnen: Die Zuschreibung der Würde lässt sich nicht letztbegründen. Es wäre zwar kein logischer Fehler, nicht allen Menschen die gleiche Würde zuzuschreiben, aber es wäre moralisch falsch.
Bei allen Schwierigkeiten, die sich an Bestimmung und Begründung der Menschenwürde anlagern, kann davon ausgegangen werden, dass dieser Begriff kein Auslaufmodell ist (Bielefeldt, 2011). Aufgrund des engen Bezugs zu den Menschenrechten generell und zum spezifischen Thema dieses Beitrags soll im Folgenden eine Konzentrierung auf die UN-BRK erfolgen. Der Fokus liegt auf dem Schutz der Würde durch Inklusion.

3. UN-Behindertenrechtskonvention: Schutz der Würde durch Inklusion

Alle UN-Konventionen bekräftigen den inneren Zusammenhang zwischen Würde und Rechten. Der Begriff der Menschenwürde ist von fundamentaler Bedeutung. In der UN-BRK kommt das besonders deutlich zum Tragen (Bielefeldt, 2010). Die UN-BRK markiert einen Paradigmenwechsel zu einer emanzipatorischen Behindertenpolitik, die um der Menschenwürde willen auf Autonomie, Barrierefreiheit und gesellschaftliche Inklusion setzt (Bielefeldt, 2012, S. 149). Inklusion tritt an die Stelle des menschenrechtlichen Prinzips der Brüderlichkeit (Bielefeldt, 2011, s. 70f.; Vogt, 2016, S. 15). Mit der Menschenwürde gewinnt Inklusion einen zwar nicht beweisbaren, aber begründbaren normativen Ausgangspunkt (Schweiker, 2017, S. 431f.). Die Idee der Menschenwürde ist weder ein irrationales Tabu noch ein Restposten vormoderner Gewissheiten. Sie verhindert, dass bestimmte Menschen aus dem Kreis der Subjekte von Respekt ausgeschlossen werden. In dieser Funktion ist sie der entscheidende Faktor der Inklusion (Bielefeldt, 2011, S. 98-104). Die Menschenrechte formulieren jeweils einen Anspruch auf Inklusion und Nicht-Diskriminierung (ebd., S. 116-118). Ohne den Begriff der Menschenwürde entstünde ein erhebliches Defizit, weil die Achtung, die wir uns allseitig schulden, nicht mehr an das existenzielle Selbstverständnis des Menschen als Verantwortungssubjekt rückgekoppelt werden könnte. Dafür steht die Menschenwürde. Inhaltlich sind die Menschenrechte durch ihre emanzipatorische Ausrichtung definiert. Die Achtung der Würde als Selbstzweck findet Rückendeckung in gleichen Rechten freier Selbstbestimmung. Persönliche Freiheit kann aber nur durch gesellschaftliche Inklusion praktisch gelebt werden. Neben der fundierenden Rolle hat die Idee der Menschenwürde auch noch eine integrierende Funktion. Damit lassen sich die rechtliche und die moralische Seite der Menschenrechte zusammendenken, ohne ineinander aufzugehen. Die Idee der Menschenwürde macht es möglich, die modernen Menschenrechte als einen moralischen Anspruch zu würdigen und mit religiösen Denktraditionen in Beziehung zu setzen. Sie steht mit dieser integrierenden Funktion gegen die Entkoppelung von moralischen und religiösen Motivationsquellen (ebd., S. 164-169).
Inklusion zielt auf politische Ordnung, die das Recht auf Teilhabe und ein würdevolles Leben aller befördert. Die Legitimationsbasis dafür sind die Menschenrechte (Svedaite-Sakalauske, 2016). Wahrung von Menschenwürde und Menschenrechten gelten im internationalen Diskurs über gesellschaftliche Teilhabe und Inklusion als behindertenpolitische Zielgrößen (Kardoff, 2012, S. 118f.). Angestrebt wird die umfassende Inklusion behinderter Menschen. Die UN-BRK verfolgt keine Defizit- und Kompensationsansätze, sondern eine Diversitätsperspektive, was zur Folge hat, dass die gesellschaftlichen Strukturen an der Vielfalt der Befähigungen der Menschen auszurichten sind. Der Gedanke der sozialen Inklusion ist die eigentliche Innovation dieses Abkommens (Wyttenbach, 2012, S. 322-324). Laut Art. 3 ist die UN-BRK im Lichte von acht Leitprinzipien auszulegen (Degener, 2009, S. 163-167; Wyttenbach, 2012, S. 322-324). „[…] die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Unabhängigkeit“ (Art. 3, Abs. a) wird als oberstes Leitprinzip, allem voran der Menschenwürde als inhärentes Merkmal des Menschen, betrachtet. Dafür sprechen eine Reihe anderer Belege von Würde in der UN-BRK. Bereits die Präambel argumentiert mit der Menschenwürde an insgesamt drei Stellen: Zu Beginn wird auf die in der Charta der Vereinten Nationen verkündeten Grundsätze, „denen zufolge die Anerkennung der Würde und des Wertes, die allen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft innewohnen, sowie ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet“ (Präambel, Abs. a), verwiesen. Diskriminierung aufgrund von Behinderung stellt eine Verletzung der Würde und des Wertes dar, die jedem Menschen innewohnen (ebd., Abs. h). An beiden Stellen der Präambel verbindet sich Würde mit Wert. Das spricht dafür, dass das werttheoretische Modell des Würdeverständnisses vorausgesetzt wird. Schließlich tritt der Gedanke des Schutzes der Rechte zur Würde hinzu: Ein umfassendes, „in sich geschlossenes internationales Übereinkommen zur Förderung und zum Schutz der Rechte und der Würde von Menschen mit Behinderungen“ soll überall auf der Welt „einen maßgeblichen Beitrag zur Beseitigung der tiefgreifenden sozialen Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen leisten und ihre Teilhabe am bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben auf der Grundlage der Chancengleichheit fördern“ (ebd., Abs. y). Der Schutz der Rechte steht vor der Würde. Das könnte darauf hindeuten, dass mit dem Rechtsschutz auch der Schutz der Würde gewährleistet werden soll.
Die umfangreiche Präambel (Abs. a-y) fungiert als Begründung für die folgenden Bestimmungen der UN-BRK. Im Art. 1 wird der Zweck der Konvention erklärt und der Menschenwürde eine wichtige Rolle zugesprochen: „Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern“. Hier wird die Würde noch durch das Attribut der den Menschen mit Behinderungen „innewohnenden“ Würde näher beschrieben. Zusammen mit der Präambel (Abs. a und h), die Würde mit Wert kombiniert, kann man davon ausgehen, dass die UN-BRK unter Würde einen allen Menschen inhärenten Wert versteht, der geschützt werden muss, besonders bei Menschen mit Behinderungen. Der Zweckbestimmung folgt der erste der acht Grundsätze. Als erstes und oberstes Prinzip gilt „die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Unabhängigkeit“ (Art. 3, Abs. a). Auch hier ist wieder von „der dem Menschen innewohnenden Würde“ die Rede, die sich in seiner Autonomie und Freiheit konkretisiert. Das entspricht ganz dem klassischen Verständnis von Würde.
Eine wesentliche Forderung, die mit ausdrücklichem Hinweis auf die Würde versehen wird, betrifft die gesamtgesellschaftliche Bewusstseinsbildung. Auf allen gesellschaftlichen Ebenen ist „das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde zu fördern“ (Art. 8, Abs. a). Wie im letzten Absatz der Präambel (Abs. y) werden zunächst die Rechte und dann die Würde genannt, die zu achten sind. Dieser Vorrang der Rechte könnte darauf hindeuten, dass durch die Rechte die Würde geschützt werden soll. Begründungsfragen treten demgegenüber offenbar in den Hintergrund.
Menschen mit Behinderungen müssen besonders vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch geschützt werden (Art. 16). Auch dieser Artikel rekurriert im Zusammenhang von Opferschutzes und Rehabilitation auf die Idee der Würde: „Genesung und Wiedereingliederung müssen in einer Umgebung stattfinden, die der Gesundheit, dem Wohlergehen, der Selbstachtung, der Würde und der Autonomie des Menschen förderlich ist“ (Art. 16, Abs. 4). Die Rahmenbedingungen müssen dergestalt sein, dass die Würde der betroffenen Menschen gewährleistet wird. Im engsten Zusammenhang mit Würde stehen hier die Begriffe Selbstachtung und Autonomie. Während Autonomie dem klassischen Würdekonzept entspricht, fügt sich Selbstachtung in ein hoch aktuelles Verständnis von Würde als Lebensform und Haltung ein. Konsequenter Weise wird im Kontext der Gesundheitsvorsorge (Art. 25) von den Vertragsstaaten verlangt, den Angehörigen der Gesundheitsberufe die Verpflichtung aufzuerlegen, „Menschen mit Behinderungen eine Versorgung von gleicher Qualität wie anderen Menschen angedeihen zu lassen, namentlich auf der Grundlage der freien Einwilligung nach vorheriger Aufklärung, indem sie unter anderem durch Schulungen und den Erlass ethischer Normen für die staatliche und private Gesundheitsversorgung das Bewusstsein für die Menschenrechte, die Würde, die Autonomie und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen schärfen“ (Art. 25, Abs. d). Bewusstseinsbildung für die Würde von Menschen mit Behinderungen (Art. 8) ist offenbar für bestimmte Berufsgruppen besonders dringlich. Dazu zählen explizit die Gesundheitsberufe (Art. 25). Es verwundert kaum, dass auch im Bildungsartikel der UN-BRK vom „Bewusstsein der Würde“ (Art. 24, Abs. a) die Rede ist, indem Bildung darauf ausgerichtet sein soll, „die menschlichen Möglichkeiten sowie das Bewusstsein der Würde und das Selbstwertgefühl des Menschen voll zur Entfaltung zu bringen und die Achtung vor den Menschenrechten, den Grundfreiheiten und der menschlichen Vielfalt zu stärken“ (Art. 24, Abs. a). Wegen der grundsätzlichen Bedeutung, die der Bildung im Kontext der Menschenrechte generell und der Behindertenrechtskonvention speziell zugeschrieben wird, soll diesem Thema ein eigener Abschnitt gewidmet werden.
Zusammenfassend kann die Bedeutung der UN-BRK in Hinblick auf den Zusammenhang von Menschenwürde und Inklusion wie folgt bestimmt werden: Es wird deutlich herausgestellt, dass die Menschenwürde nicht nur ein Axiom ist (Bielefeldt, 2011, S. 90-104; Schweiker, 2017, S. 431f.), sondern auch konkret erfahrbar werden soll. Damit bekommt der Begriff der Menschenwürde eine doppelte Stoßrichtung (Bielefeldt, 2012, S. 152-154): a) als axiomatische Grundlage der Menschenrechte und b) als praktische Aufgabe, ein Bewusstsein der eigenen Würde aufzubauen, zu ermöglichen. Das geschieht durch die Statuierung von Rechtsansprüchen auf assistierte Autonomie, Barrierefreiheit und gesellschaftliche Inklusion.
Die historische und systematische Bedeutung der UN-BRK kann kaum überschätzt werden (ebd., S. 165). Einerseits weitet sie den menschenrechtlichen Empowerment-Ansatz auf das Thema Behinderung aus, andererseits aktualisiert sie den internationalen Menschenrechtsschutz aus der Perspektive der Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen. Die in der Menschenwürde gründenden Leitprinzipien Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit werden neu interpretiert in Richtung assistierte Autonomie, Barrierefreiheit und gesellschaftliche Inklusion. Damit steht die UN-BRK für die Universalisierung menschenrechtlicher Normen. Inklusion wird so zum „Test der Universalität der Menschenrechte“ (Vogt, 2016, S. 13).

4. Inklusion und Würde im Kontext des Bildungsrechts

Das Konzept der Inklusion ist nicht auf Bildungseinrichtungen zu reduzieren (Flieger & Schönwiese, 2011, S. 29f.). Mit Art. 24 formuliert die UN-BRK jedoch einen umfangreichen Paragraphen zum Bildungsrecht von Menschen mit Behinderungen (Krajewski & Bernhard, 2012; Platte, 2011):
(1) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen mit dem Ziel,
a) die menschlichen Möglichkeiten sowie das Bewusstsein der Würde und das Selbstwertgefühl des Menschen voll zur Entfaltung zu bringen und die Achtung vor den Menschenrechten, den Grundfreiheiten und der menschlichen Vielfalt zu stärken;
b) Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen;
c) Menschen mit Behinderungen zur wirklichen Teilhabe an einer freien Gesellschaft zu befähigen.
(2) Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass
a) Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden;
b) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben;
c) angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen getroffen werden;
d) Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern;
e) in Übereinstimmung mit dem Ziel der vollständigen Integration wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet, angeboten werden.
(3) Die Vertragsstaaten ermöglichen Menschen mit Behinderungen, lebenspraktische Fertigkeiten und soziale Kompetenzen zu erwerben, um ihre volle und gleichberechtigte Teilhabe an der Bildung und als Mitglieder der Gemeinschaft zu erleichtern. Zu diesem Zweck ergreifen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen; unter anderem
a) erleichtern sie das Erlernen von Brailleschrift, alternativer Schrift, ergänzenden und alternativen Formen, Mitteln und Formaten der Kommunikation, den Erwerb von Orientierungs- und Mobilitätsfertigkeiten sowie die Unterstützung durch andere Menschen mit Behinderungen und das Mentoring;
b) erleichtern sie das Erlernen der Gebärdensprache und die Förderung der sprachlichen Identität der Gehörlosen;
c) stellen sie sicher, dass blinden, gehörlosen oder taubblinden Menschen, insbesondere Kindern, Bildung in den Sprachen und Kommunikationsformen und mit den Kommunikationsmitteln, die für den Einzelnen am besten geeignet sind, sowie in einem Umfeld vermittelt wird, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet.
(4) Um zur Verwirklichung dieses Rechts beizutragen, treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen zur Einstellung von Lehrkräften, einschließlich solcher mit Behinderungen, die in Gebärdensprache oder Brailleschrift ausgebildet sind, und zur Schulung von Fachkräften sowie Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen auf allen Ebenen des Bildungswesens. Diese Schulung schließt die Schärfung des Bewusstseins für Behinderungen und die Verwendung geeigneter ergänzender und alternativer Formen, Mittel und Formate der Kommunikation sowie pädagogische Verfahren und Materialien zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen ein.
(5) Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung und lebenslangem Lernen haben. Zu diesem Zweck stellen die Vertragsstaaten sicher, dass für Menschen mit Behinderungen angemessene Vorkehrungen getroffen werden.
In der internationalen Diskussion um die richtige Deutung und Umsetzung dieses Artikels tobt ein Streit, dessen Ende nicht abzusehen ist. Diese Auseinandersetzung kann hier nicht erschöpfend dargestellt werden (Wocken, 2013). Um eine angemessene Einbindung in die wissenschaftliche Debatte zu Lesarten des Art. 24 UN-BRK zu gewährleisten, wird als hermeneutischer Horizont die „Gretchenfrage“ (Heimlich, 2011, S. 53) aufgegriffen, die unterschiedlich formuliert werden kann. Aus menschenrechtlicher Sicht kann sie lauten (Antor, 2010, S. 132): Inwieweit ist heute noch eine spezielle Schule für Menschen mit Beeinträchtigung zumutbar? Oder zugespitzt auf den Titel dieses Beitrags: Verletzen sonderpädagogische Institutionen die Würde ihrer Schüler:innen?
In Art. 24 findet sich das Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zum allgemeinen Bildungssystem einschließlich des Anspruchs auf angemessene Vorkehrungen und Konkretisierungen dieses Anspruchs. Menschen mit Behinderungen dürfen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden. Sie sollen gleichberechtigt mit anderen Zugang zu einem integrativen, qualitätsvollen Unterricht haben. Es besteht demnach das Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zum allgemeinen Bildungssystem und ein Recht auf integrative Beschulung. Diese Teilnahme am integrativen Bildungssystem stellt den Kern des Anspruchs dar. Kinder mit Behinderungen sollen nicht gegen ihren Willen oder den ihrer Eltern in Sonderschulen untergebracht werden. Menschen mit Behinderung darf der Besuch einer Regelschule nicht untersagt werden. Art. 24 zielt letztlich darauf ab, „Menschen mit Behinderungen das Recht zu vermitteln, frei zu entscheiden, ob sie integrativ beschult werden möchten oder nicht. Es soll keine Verpflichtung begründet werden, das allgemeine Schulsystem zu nutzen, wenn dort ausnahmsweise die besonderen Bedürfnisse nach individuellen Anpassungen von Menschen mit Behinderungen nicht entsprechend befriedigt werden können“ (Rothfritz, 2010, S. 385). Gerade jedoch Menschen mit Behinderungen sind häufig von der effektiven Teilnahme am Bildungswesen ausgeschlossen. Diese Missstände zu bekämpfen, ist Hauptziel. Das Schutzniveau für Menschen mit Behinderungen wird durch die UN-Konvention deutlich erhöht. Das Recht auf einen diskriminierungsfreien Zugang zum integrativen Bildungssystem, auch integrative Beschulung genannt, ist hervorzuheben (Bielefeldt, 2010). Dieses Recht stellt den Kern des Anspruchs dar.
Auch kritische Stimmen halten im hermeneutischen Streit um die normative Interpretation von Art. 24 am Ziel fest, ein inklusives Schulsystem zu schaffen. Ein großer Teil der Schüler:innen könne in der allgemeinen Schule inkludiert werden. Nicht jedes Kind mit Behinderung erlebt sich auch akzeptiert und zugehörig in der Integration (Speck, 2011, S. 90f.). Inklusion darf folglich nicht zu Zwang und Unfreiheit werden. Manche Interpret:innen fordern indes im Anschluss an Art. 24 die Abschaffung der Sonderschulen. Gegenüber dieser Zielsetzung werden auch Bedenken formuliert, die vor allem mit realitätsnahen Begründungen operieren. Die Kritik bezieht sich darauf, dass bei einer Radikallösung im Sinne der Abschaffung aller Sonderschulen unverzichtbare heilpädagogische Erfordernisse vernachlässigt werden und sich für einen Teil der Kinder nicht verantwortbare Nachteile ergeben. Da damit reale Erfahrungen gegen Visionen stehen, liegt der Verdacht auf ideologische Verzerrungen nahe. So wird durch die Absolutsetzung eines Ideals in einem Fall die Realität verkürzt, im anderen wird durch eine Überbetonung heilpädagogischer Erfordernisse eine progressive Entwicklung konterkariert. Eine „Schule für alle“ wird gelegentlich auch als Ausdruck von „Schwarmdenken“ bezeichnet (Speck, 2011, S. 89f.). Jegliche Absolutheitsforderung nach „einer Schule für alle“ wird dann als realitätsfremd abgelehnt, vor allem in Hinsicht auf schwerstbehinderte Kinder. Es ist nicht alles gut für alle! Das Recht auf den Besuch einer inklusiven Schule bedeute durchaus nicht, dass alle Kinder eine solche Schule besuchen müssen. Das wäre lediglich ein Zwang durch das System (Speck, 2010, S. 82). Art. 24, Abs. 2, will laut dieser einschränkenden Interpretation sicherstellen, dass Kinder auf Grund von Behinderung nicht aus dem öffentlichen Schulsystem ausgeschlossen werden (ebd., S. 83-92; Tolmein, 2009), sondern Zugang zum Schulsystem haben. Sie haben also ein Recht auf Schule. Es bedeutet aber nicht, dass spezielle schulische Einrichtungen für solche Kinder überflüssig wären bzw. Eltern kein Recht mehr hätten, ihr behindertes Kind auf eine Förderschule zu schicken. Eine Abschaffung von Sonder- und Förderschulen ist dieser Interpretation zufolge weder aus der Salamanca-Erklärung noch aus der UN-Konvention abzuleiten. Sie sollten freilich die Ausnahmen bleiben, vor allem für Kinder mit mehrfacher Behinderung. Inklusive Bildung wird aber als Menschenrecht ausgewiesen. Kinder und Eltern haben darauf einen Rechtsanspruch. Das ist sicherlich ein großer Fortschritt, weil integrative Bildung nicht mehr vom administrativen Ermessen der Schulen und politischen Institutionen abhängt. Das inklusive Schulsystem soll der Regelfall sein. Ausnahmen soll es aber geben können. Die UN-Konvention schreibt keine Zwangsaufnahme in eine allgemeine Schule vor. Der in Art. 24 garantierte Rechtsanspruchs auf inklusive Bildung bzw. des Besuchs einer Regelschule ist demnach nicht gleichbedeutend mit der pauschalen Abschaffung des Förderschulwesens (Bielefeldt, 2010).
Verbunden werden sollten die einschlägigen Debatten der strukturellen Fragen mit grundlegenden Überlegungen zum theoretischen Begründungszusammenhang, betreffend Ethik, Anthropologie und pädagogische Paradigmen (Heimlich, 2011, S. 48-52). Hinter der Diskussion um das (Sonder-)Schulwesen steht die Frage nach der Bildungsgerechtigkeit. Überblickt man die vielfältige Diskussion über die normativen Grundlagen des Bildungsrechts für alle auf menschenrechtlicher Ebene und die daraus abzuleitenden Konsequenzen für die konkrete Realisierung des allgemeinen Bildungsrechts im Schulsystem, dann landet man doch wieder bei sehr komplexen theoretischen Problemen der Gerechtigkeit und Gleichheit (Lindmeier & Lindmeier, 2015; Prengel, 2015, S. 157-159).
Damit wäre der Kreis zur Würde vollendet, denn der Begriff der Menschenwürde ist für den Gleichheitsdiskurs entscheidend. Im Begriff der Würde des Menschen kommt es zu einer paradoxen Verbindung von beobachtbarer Ungleichheit und nicht beobachtbarer Gleichheit: Die Anerkennung der Einzigartigkeit von Menschen (und ihrer Ungleichheit) ist die Grundlage für die Anerkennung der fundamentalen Gleichheit aller Menschen (Sedmak, 2016, S. 586-588). Die unaufhebbare Gleichzeitigkeit von Gleichheit und Ungleichheit zeigt sich auch in einer in der bisherigen Diskussion wenig bis gar nicht beachteten Differenzierung des Inklusionsverständnisses. Darin wird zwischen einem „schwachen“ und einem „starken“ Inklusionsverständnis unterschieden, bei gleichzeitiger Differenzierung zwischen Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit (Kronauer, 2022, S. 114): Das „schwache“ Inklusionsverständnis geht von Chancengerechtigkeit aus und strebt die Förderung von ungleichen Fähigkeiten an, die sich aus ungleichen Startpositionen ergeben; das „starke“ Inklusionsverständnis geht hingegen von Chancengleichheit aus und zielt darauf ab, durch entsprechende Förderanstrengungen so weit wie möglich vergleichbare, gemeinsame Lernniveaus herzustellen.
Art. 24 (Abs. 1, lit. a), argumentiert mit der Menschenwürde zur Bestimmung des dreifachen Ziels der Einrichtung eines inklusiven Schulsystems. Das erste und oberste Ziel ist, „die menschlichen Möglichkeiten sowie das Bewusstsein der Würde und das Selbstwertgefühl des Menschen voll zur Entfaltung zu bringen“. Die UN-BRK geht in ihrer Zweckbestimmung (Art. 1) und Grundsätzen (Art. 3, Abs. a) von einer allen Menschen „innewohnenden Würde“ aus. Das gilt auch für Menschen mit Behinderungen. Ihnen soll durch die Gewährleistung des Rechts auf Bildung in einem inklusiven Schulsystem ermöglicht werden, dass sie ein Bewusstsein dieser ihnen innewohnenden Würde und damit ein ihrer Würde entsprechendes Selbstwertgefühl entwickeln und entfalten können.
In engem Zusammenhang steht damit laut Art. 24 (Abs. 1, lit. B) das Ziel, „Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen“. Voll entfalten soll sich im Zuge inklusiver Bildung also nicht nur das Bewusstsein der Würde und das Selbstwertgefühl (lit. a), sondern auch die gesamte Persönlichkeit von Menschen mit Behinderungen, mitsamt ihren Begabungen, ihrer Kreativität und ihren geistigen und körperlichen Fähigkeiten (lit. b). Erst darauf folgt als drittes Ziel, „Menschen mit Behinderungen zur wirklichen Teilhabe an einer freien Gesellschaft zu befähigen“ (lit. c). Entfaltung der Würde und Persönlichkeit kommt vor der Befähigung zur wirklichen Teilhabe an der Gesellschaft.
Die Gewährleistung des Bildungsrechts im Rahmen eines inklusiven Bildungssystems präzisiert dann der in der einschlägigen Diskussion umstrittene Absatz 2, ehe Absatz 3 das dritte Ziel der Ermöglichung von Partizipation konkretisiert. Absatz 4 verlangt, dass auch Personen mit Behinderungen als Lehrkräfte im inklusiven Schulsystem eingesetzt werden, was unmittelbare Konsequenzen für die Ausbildung von Lehrkräften hat. Es ist dafür Sorge zu tragen, dass auch Personen mit Behinderungen zu Lehrer:innen ausgebildet werden können. Auf dieser Linie liegt auch die abschließende Forderung, den gleichberechtigten Hochschulzugang für Menschen mit Behinderung zu öffnen (Abs. 5).
Damit kann abschließend zur sonderpädagogischen „Gretchenfrage“ (Heimlich, 2011, S. 53) in adaptierter würdetheoretischer Form als hermeneutischer Horizont der Analyse zurückgekehrt werden. Zur Beantwortung der Frage, ob sonderpädagogische Institutionen die Menschenwürde verletzen, muss sowohl auf das doppelte Würdeverständnis als auch auf das doppelte Inklusionsverständnis Bedacht genommen werden. Das doppelte Würdeverständnis bezieht sich darauf, dass nicht nur die Person in ihrer Autonomie geschützt wird, sondern auch die Persönlichkeit mit ihren speziellen Wünschen und Haltungen (Neuhäuser, 2017, S. 324-337). Damit ist sowohl die fundamentale Gleichheit der Person als auch die Ungleichheit der Persönlichkeit abgedeckt. Die UN-BRK intendiert und verlangt ganz klar nicht nur den Schutz der Würde der Person, sondern auch der Persönlichkeit.
Das „starke“ Inklusionsverständnis zielt auf annähernde Gleichheit im Lernergebnis, um Chancengleichheit zu gewährleisten; das „schwache“ Inklusionsverständnis begnügt sich mit der Förderung der gegebenen, ungleichen Fähigkeiten (Kronauer, 2022, S. 114). Letzteres würde übertragen auf das Würdeverständnis heißen, dass pädagogisch die Persönlichkeitsentwicklung optimal gefördert werden muss. Die Würde der Person in ihrer Autonomie könnte mit der freien Wahlmöglichkeit der Betroffenen bzw. ihrer Eltern oder Rechtsvertreter:innen abgesichert werden.
Die Forderung der optimalen Förderung der Persönlichkeitsentwicklung gilt natürlich für die Regelschule ebenso wie für sonderpädagogische Institutionen. Dass die Gefahr des Othering durch Sonderschulen höher ist, erscheint logisch erwartbar, zumindest in Hinblick auf den Schutz der Würde der Person, die durch zwangsweise Ausgrenzung jedenfalls verletzt wird, weil damit die Freiheit nicht gewahrt bleibt. Dagegen steht eindeutig die UN-BRK: Sie garantiert ein Recht auf Inklusion zum Schutz der Würde der Person. Ob aber im Regelschulsystem bzw. im inklusiven Schulsystem die Persönlichkeitsentwicklung aller Schüler:innen, also vor allem auch derjenigen mit Beeinträchtigung, gleichermaßen optimal gelingt, kann nicht theoretisch, sondern nur empirisch geklärt werden (Antor, 2010, S. 131). Jedenfalls kommt Inklusion ohne Anerkennung des Individuums, und damit der Ungleichheiten, nicht aus. Es gibt auch die Befürchtung, gerade durch absolut verpflichtende Inklusion und das damit verbundene Verbot der Verbesonderung könnte die Exklusionsdrift und damit das Othering verstärkt werden (Fuchs, 2021, S. 23). Auch das kann nicht theoretisch, sondern nur empirisch untersucht und geklärt werden.
Abschließend kehren wir zur Theorie zurück mit dem Versuch, Würde und Inklusion vor dem Hintergrund der UN-BRK zu relationieren.

5. Würde und Inklusion – Inklusion und Würde: Versuch einer Theoretisierung

Die UN-BRK ist ein politisch-rechtliches Dokument, das weder philosophisch noch pädagogisch argumentiert (Rittmeyer, 2012, S. 45). Man sollte ihr daher entsprechende Lücken nicht unbedacht vorwerfen. Andererseits erscheint ein kritischer philosophisch-pädagogischer Blick aus der Perspektive der aktuellen Würdedebatte nicht nur lohnend, sondern kann auch zu ihrer Würdigung und ihrer zentralen Anliegen beitragen.
In der aktuellen Diskussion um den Würdebegriff wird dafür votiert, das klassische Wertmodell zu verabschieden (Göbel & Düwell, 2017, S. 64). Im Gegensatz dazu scheint die UN-BRK in ihrem Grundverständnis von Würde am klassischen Wertkonzept festzuhalten, wenn in der Präambel von „Anerkennung der Würde und des Wertes“ (Abs. a) bzw. der „Verletzung der Würde und des Wertes“ (Abs. h) von Menschen mit Behinderungen die Rede ist. Jedenfalls ist aus der Erwähnung der Gefahr der Verletzung der Würde klar ersichtlich, dass es sich bei der Menschenwürde auch nach Auffassung der UN-BRK um einen Wert handelt, der zumindest verletzbar ist und daher besonders geschützt werden muss. Ob das für eine kontingente Interpretation der Würde spricht, wie das in der gegenwärtigen Debatte der Fall ist (Brandhorst & Guskar, 2017, S. 17-28; Brandhorst, 2017, S. 141-143; Weber-Guskar, 2017, S. 207-230), bleibt zweifelhaft. Dagegen spricht vor allem die doppelte Betonung der Menschen mit Behinderungen „innewohnenden Würde“ (Art. 1; Art. 3, Abs. a). Die UN-BRK scheint in ihren Grundlagen auf der Linie des klassischen Würdeverständnisses zu liegen, das in der aktuellen Debatte stark umstritten ist, vor allem was die Kontingenz bzw. Notwendigkeit der Menschenwürde angeht.
Auf Basis dieses Würdemodells wird in der gegenwärtigen Interpretation der UN-BRK in der Regel auch davon ausgegangen, dass die Würde als Grund der Menschenrechte fungiert (Bielefeldt, 2010; 2011, S. 105-144; 2012, S. 152-154). Dagegen muss auf den Wortlaut der UN-BRK verwiesen werden: Zwei Mal werden die Rechte der Würde sprachlich vorgeordnet, wenn vom „Schutz der Rechte und der Würde von Menschen mit Behinderungen“ (Präambel, Abs. y) und von der „Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde“ (Art. 8) die Rede ist. Diese Formulierungen könnten jedenfalls die Frage provozieren, ob damit nicht die Deutung verbindbar sein könnte, wonach die Würde das Ziel der Menschenrechte ist (Weber-Guskar, 2017, S. 212; Wetz, 2017, S. 307), nicht die Würde der Grund der Menschenrechte, was aktuell immer noch vertreten wird (Neuhäuser, 2017, S. 316). Kehrt man dieses Verhältnis im Sinne der Vorordnung der Menschenrechte vor der Würde um, dann ergibt sich daraus, dass die Würde nicht mehr als natürliche Vorgabe („innewohnend“) vorgestellt wird, sondern als ethische Aufgabe. Die Würde hängt dann vorrangig von gesellschaftlichen Verhältnissen ab, in denen man lebt. Der Weg zur Menschenwürde vollzieht sich als Gestaltungsauftrag, menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen, die allen Menschen ein würdevolles Leben ermöglichen (Wetz, 2017, S. 306f.). Ziel- und Fluchtpunkt dieses Gestaltungsauftrags ist die Selbstachtung (ebd., S. 293). Genau das findet sich aber auch in der UN-BRK (Art. 16, Abs. 4) im Zusammenhang mit der Rehabilitation von Gewaltopfern, die in einer Umgebung stattfinden soll, „die der Gesundheit, dem Wohlergehen, der Selbstachtung, der Würde und der Autonomie des Menschen förderlich ist“. Diese Formulierung kombiniert klassische Motive (Würde und Autonomie) mit aktuellen (Selbstachtung und Würde). Die UN-BRK scheint sich in ihrem Würdeverständnis also nicht allein auf das klassische Würdemodell zu berufen. Diese Interpretation wird nicht zuletzt durch den Bildungsartikel (Art. 24) unterstützt. Das erste Ziel inklusiver Bildung besteht ja darin, „das Bewusstsein der Würde und das Selbstwertgefühl des Menschen voll zur Entfaltung zu bringen“ (Art. 24, Abs. 1, lit. a). Damit verbindet sich als zweites Ziel die umfassende Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 24, Abs. 1, lit. b). Rechte kommen also nicht nur Personen zu. Auch die Persönlichkeit eines Menschen begründet einen Rechtsanspruch (Neuhäuser, 2017, S. 331). Dieser Zusammenhang kann indes mit dem klassischen Verständnis der Würde als Grund der Menschenrechte verbunden werden (ebd., S. 316).
Nicht entschieden ist folglich der Streit zwischen dem gelingenstheoretischen und dem freiheitstheoretischen Konzept der Menschenwürde (Menke & Pollmann, 2007, S. 164-166): Die Gelingenskonzeption versteht unter Menschenwürde die grundlegende Bestimmung eines gelungenen Lebens. Menschen haben demnach eine Würde, insofern es ihnen gelingt, ihrem Leben eine bestimmte Form zu geben, ein Leben in expressiver Selbstachtung zu führen. Die Freiheitskonzeption der Menschenwürde versteht unter Menschenwürde dagegen die grundlegende Fähigkeit der Subjektivität, nach eigenem, freiem Urteil zu handeln. Entweder ist Menschenwürde also das sinngebende Ziel einer Realisierung der Menschenrechte oder aber sie ist die sinngebende Voraussetzung dafür. Nach dem gelingenstheoretischen Argument setzt die Menschenwürde die Menschenrechte voraus, und zwar empirisch. Das freiheitstheoretische Argument hingegen versteht die Menschenrechte so, dass diese ihrerseits die Menschenwürde voraussetzen, und zwar begrifflich. Die Menschenwürde ist eine fundamentale Eigenschaft von Individuen, der die Politik in Form von Menschenrechten gerecht werden muss.
Insgesamt scheint sich also im Horizont und Licht des aktuellen Menschenwürdediskurses folgende Interpretation der UN-BRK nahezulegen: Sie argumentiert als politisch-rechtliches Dokument nicht philosophisch oder pädagogisch (Rittmeyer, 2012, S. 45). Dominant scheint das klassische Würdemodell, das Würde als inhärenten Wert versteht. Es verbindet sich aber durchaus mit Aspekten, die über das klassische Würdekonzept hinausgehen, vor allem durch die Betonung der Selbstachtung, des Selbstwertgefühls und der Entfaltung der Persönlichkeit, die durch die Menschenrechte generell und das inklusive Bildungsrecht speziell ermöglicht und gewährleistet werden sollen. Auch wenn die innewohnende Würde als Grund der Menschenrechte fungiert, finden sich auch Elemente, die darauf hinweisen, dass Würde als Ziel der Menschenrechte verstanden werden könnte. In diesem disparaten Befund und seiner nicht homogenen Interpretation spiegelt sich in der Gegenwart der Status des Würdebegriffs an seinem geschichtlichen Ursprung in der Aufklärung: Es gibt eine Pluralität von Würdeparadigmen (von Anfang an), die auf die konstitutive Mehrdeutigkeit dieses Begriffs verweisen. Diese Modelle sind theoretisch nicht vereinbar, widerlegen sich aber auch nicht gegenseitig (Buchenau, 2017, S. 195-204). Die UN-BRK könnte dafür sprechen, das klassische Würdeverständnis als intrinsischer Wert mit dem moderneren Modell der Lebensform bzw. des Lebensideals dialektisch zu verbinden, um entweder einen inhaltsleeren oder inhaltlich hoch problematischen Würdebegriff zu vermeiden (Steinfath, 2017, S. 285-292). Vor dem Hintergrund der Spannung zwischen der freiheitstheoretischen und der gelingenstheoretischen Relationierung von Würde und Menschenrechten (Menke & Pollmann, 2007, S. 164-166) würde dies heißen: Die Menschenwürde ist einerseits die theoretische Voraussetzung der Begründung von Inklusion als Menschenrecht, andererseits ist Inklusion die empirische Bedingung des Gelingens der Realisierung der Würde von Menschen mit Behinderung.

6. Literatur

Antor, G. (2010). Gerechtigkeit und Behinderung. Zeitschrift für Heilpädagogik, 4, 131–133.
Bielefeldt, H. (2010). Menschenrecht auf inklusive Bildung. Der Anspruch der UN-Behindertenrechtskonvention. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 79(1), 66–69.
Bielefeldt, H. (2011). Auslaufmodell Menschenwürde? Warum sie in Frage steht und warum wir sie verteidigen müssen. Herder.
Bielefeldt, H. (2012). Inklusion als Menschenrechtsprinzip: Perspektiven der UN-Behindertenrechtskonvention. In V. Moser & D. Horster (Hrsg.), Ethik der Behindertenpädagogik. Menschenrechte, Menschenwürde, Behinderung. Eine Grundlegung (S. 149–166). Kohlhammer.
Bieri, P. (2015). Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde. Fischer.
Bittner, R. (2017). Abschied von der Menschenwürde. In M. Brandhorst & E. Weber-Guskar (Hrsg.), Menschenwürde. Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz (S. 91–112). Suhrkamp.
Brandhorst, M. (2017). Zur Geschichtlichkeit menschlicher Würde. In M. Brandhorst & E. Weber-Guskar (Hrsg.), Menschenwürde. Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz (S. 113–153). Suhrkamp.
Brandhorst, M. & Weber-Guskar, E. (2017). Einleitung. In M. Brandhorst & E. Weber-Guskar (Hrsg.), Menschenwürde. Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz (S. 7–44). Suhrkamp.
Buchenau, S. (2017). Bestimmung und Perfektibilität: Menschenwürde in der Aufklärung. In M. Brandhorst & E. Weber-Guskar (Hrsg.), Menschenwürde. Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz (S. 178–205). Suhrkamp.
Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK). (o.J.). UN-Behindertenrechtskonvention. Deutsche Übersetzung der Konvention und des Fakultativprotokolls. Abgerufen am 17. Jänner 2022 von https://broschuerenservice.sozialministerium.at/Home/Download?publicationId=19
Degener, T. (2009). Menschenrechte und Behinderung. In M. Dederich & W. Jantzen (Hrsg.), Behinderung und Anerkennung: Bd. 2. Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik (S. 160–169). Kohlhammer.
Flieger, P. & Schönwiese, V. (2011). Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen: Eine Herausforderung für die Integrations- und Inklusionsforschung. In P. Flieger & V. Schönwiese (Hrsg.), Menschenrechte – Integration – Inklusion. Aktuelle Perspektiven aus der Forschung (S. 27–35). Verlag Julius Klinkhardt.
Fuchs, T. (2021). Weder Pleonasmus noch Oxymoron. Einige historisch-systematische Überlegungen zum Verhältnis von Bildung und Inklusion. In S. Herzog & S. Wieckert (Hrsg.), Inklusion – eine Chance, Bildung neu zu denken?! (S. 12–30). Beltz.
Göbel, M. & Düwell, M. (2017). Die >Notwendigkeit< der Menschenwürde. In M. Brandhorst & E. Weber-Guskar (Hrsg.), Menschenwürde. Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz (S. 60–90). Suhrkamp.
Heimlich, U. (2011). Inklusion und Sonderpädagogik. Die Bedeutung der Behindertenrechtskonvention (BRK) für die Modernisierung sonderpädagogischer Förderung. Zeitschrift für Heilpädagogik, 62(2), 44–54.
Kardoff, E. v. (2012). Stigmatisierung, Diskriminierung und Exklusion von Menschen mit Behinderungen. V. Moser & D. Horster (Hrsg.), Ethik der Behindertenpädagogik. Menschenrechte, Menschenwürde, Behinderung. Eine Grundlegung (S. 118–134). Kohlhammer.
Krajewski, M. & Bernhard, T. (2012). Artikel 24: Recht auf Bildung. In A. Welke (Hrsg.), UN-Behindertenrechtskonvention mit rechtlichen Erläuterungen (S. 164–175). Eigenverlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge.
Kronauer, M. (2022). Soziale Exklusion als Ausgangspunkt der Inklusionsdebatte. In N. Leonhardt et al. (Hrsg.), Menschenrechte im interdisziplinären Diskurs. Perspektiven auf Diskriminierungsstrukturen und pädagogische Handlungsmöglichkeiten (S. 103–115). Beltz.
Lindmeier, C. & Lindmeier, B. (2015). Inklusion aus der Perspektive des rechtlichen und ethischen Begründungsdiskurses. Erziehungswissenschaft, 26(51), 43–51.
Menke, C. & Pollmann, A. (2017). Philosophie der Menschenrechte zur Einführung. Junius Verlag.
Neuhäuser, C. (2017). Personen, Persönlichkeiten und ihre Würde. In M. Brandhorst & E. Weber-Guskar (Hrsg.), Menschenwürde. Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz (S. 315–337). Suhrkamp.
Platte, A. (2011). „Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung“ – Inklusive Bildung im Sinne der Menschenrechte. In G. Geiger (Hrsg.), Kinderrechte sind Menschenrechte! Kinderrechte in Deutschland (S. 75–94). Verlag Barbara Budrich.
Prengel, A. (2015). Pädagogik der Vielfalt: Inklusive Strömungen in der Sphäre spätmoderner Bildung. Erwägen – Wissen – Ethik, 26(2), 157–168.
Rittmeyer, C. (2012). Zum Stellenwert der Sonderpädagogik und den zukünftigen Aufgaben von Sonderpädagogen in inklusiven Settings nach den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention. In C. Breyer, G. Fohrer, W. Goschler, M. Heger, C. Kießling & C. Ratz (Hrsg.), Sonderpädagogik und Inklusion (S. 43–58). Athena.
Rothfritz, L. P. (2010). Die Konvention der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen. Eine Analyse unter Bezugnahme auf die deutsche und europäische Rechtsebene. Peter Lang.
Schaber, P. (2017). Würde als Status. In M. Brandhorst & E. Weber-Guskar (Hrsg.), Menschenwürde. Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz (S. 45–59). Suhrkamp.
Schweiker, W. (2017). Prinzip Inklusion. Grundlagen einer interdisziplinären Metatheorie in religionspädagogischer Perspektive. Vandenhoeck & Ruprecht.
Sedmak, C. (2016). Theologie: Menschliche Würde und Ungleichheit. I. Hedderich, J. Hollenweger, G. Biewer & R. Markowetz (Hrsg.), Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik (S. 586–590). Verlag Julius Klinkhardt.
Sorgner, S. L. (2010). Menschenwürde nach Nietzsche. Die Geschichte eines Begriffs. wbg.
Speck, O. (2010). Schulische Inklusion aus heilpädagogischer Sicht. Rhetorik und Realität. Ernst Reinhardt Verlag.
Speck, O. (2011). Wage es nach wie vor, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ideologische Implikationen einer Schule für alle. Zeitschrift für Heilpädagogik, 62(3), 84–91.
Steinfath, H. (2017). Menschenwürde zwischen universalistischer Moral und spezifischem Lebensideal. In M. Brandhorst & E. Weber-Guskar (Hrsg.), Menschenwürde. Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz (S. 266–292). Suhrkamp.
Svedaite-Sakalauske, B. & Wagner, H. (2016). Gouvernementalität: Analysen und Strategien zu Macht, Regieren und Inklusion. In U. Liedke & Wagner, H., U. Deinelt, J. Eurich, J. Jerg, M. Leutzsch, P. Mecheril, C. Reutlinger, B. Svedaite-Sakalauske, K. Ziemen & M. Seifert (Hrsg.), Inklusion. Lehr- und Arbeitsbuch für professionelles Handeln in Kirche und Gesellschaft (S. 204–217). Kohlhammer.
Tolmein, O. (2009). Kinder mit Behinderungen im Sonderschulwesen: professionelle Förderung oder Segregation? In H. Bielefeldt, V. Deile, B. Hamm, F.-J. Hutter, S. Kurtenbach & H. Tretter (Hrsg.), Kinder und Jugendliche. Jahrbuch Menschenrechte 2010 (S. 224–233). Böhlau.
Vogt, M. (2016). Inklusion: eine Leitkategorie aus Sicht der Christlichen Sozialethik.  Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 92(1), 10–30.
Weber-Guskar, E. (2017). Menschenwürde: Kontingente Haltung statt absoluter Wert.
Wedelstaedt, A. K. von (2017). Menschenwürde als Lebensform. Eine Auseinandersetzung mit Ideen Peter Bieris. In M. Brandhorst & E. Weber-Guskar (Hrsg.), Menschenwürde. Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz (S. 234–265). Suhrkamp.
Wetz, F. J. (2017). Daseinskontingenz als Gefährdung der Menschenwürde. M. Brandhorst & E. Weber-Guskar (Hrsg.), Menschenwürde. Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz (S. 293–314). Suhrkamp.
Wocken, H. (2013). Über Widersacher der Inklusion und ihre Gegenreden. In H. Wocken (Hrsg.), Das Haus der inklusiven Schule. Baustellen – Baupläne – Bausteine (S. 243–254). Feldhaus Verlag.
Wyttenbach, J. (2012). Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD). In A. Pollmann & G. Lohmann (Hrsg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch (S. 321–326). J.B. Metzler.