Abstract: Die inklusive Beschulung von Lernenden mit körperlich-motorischen Beeinträchtigungen ist nach wie vor eine Herausforderung im Zusammenspiel von schulisch-strukturellen, familiären und den individuellen Voraussetzungen der Lernenden. Schlüsselfaktoren für das Gelingen sind die Grundhaltungen des Systems Schule zum Umgang mit Heterogenität sowie der Wunsch der Eltern, inklusive Bildung ihrer Kinder zu ermöglichen. Entlang der qualitativen Studie «Zwischen Anerkennung und Missachtung» (Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds) wird beleuchtet, welche Rolle die Eltern bei der Initiierung und Durchführung von Integration/Inklusion bei Lernenden mit motorischen Beeinträchtigungen einnehmen. Menschen mit motorischen Beeinträchtigungen, die in spezialisierten Institutionen sozialisiert wurden, berichten retrospektiv dazu. Die aus 42 Interviews systematisch gewonnenen qualitativen Aussagen und Analysen werden abgestützt mit empirischen Daten der Fachliteratur aus dem Bereich körperlich-motorische Entwicklung. In diesem Beitrag erfolgt eine Fokussierung auf 26 Interviews aus der Deutschschweiz. Die Studie ist mit drei Alterskohorten historisch konzipiert (Geburtsjahre ca.1950, 1970 und 1990). Über die gesamte Zeitepoche hinweg wird sichtbar, dass Eltern eine Schlüsselrolle einnehmen, wenn es darum geht, Integrationen/Inklusionen zu initiieren und aufrechtzuhalten. Oft mussten sie grossen Widerstand überwinden, der von der Regel- wie auch von der Förderschule und den Behörden kam. Viele der interviewten Personen äussern sich positiv zur schulischen Integration/Inklusion und wünschen sich, dass eine solche auch dann ein Recht ist, wenn Eltern nicht über die notwendigen Ressourcen verfügen, für die Integration/Inklusion einzustehen.
Stichworte: Alterskohorten; Geschichte der Körperbehindertenpädagogik; Eltern; Menschen mit motorischen Beeinträchtigungen; Qualitative Interviews; Schulische Integration/Inklusion
Inhaltsverzeichnis
Zur Rolle der Eltern bei der Initiierung und Realisierung der Integration/Inklusion von Kindern im Förderschwerpunkt körperlich-motorische Entwicklung gibt es eine recht breite Datenlage aus verschiedenen Studien. Aus diesen geht hervor, wie komplex die Integration/Inklusion von Lernenden mit körperlich-motorischen Beeinträchtigungen sind. Nebst schulisch-strukturellen Herausforderungen gilt es, die notwendigen Therapien parallel zum schulischen Alltag zu organisieren. Bis in die Gegenwart hinein stossen Lernende und deren Familien zudem immer noch auf negative Haltungen und Einstellungen gegenüber der Inklusion. Die Einflussgrösse schulischer Integration/Inklusion auf Seiten der Schüler*innen und deren Familien ist in einer breit angelegten qualitativen und quantitativen deutschen Studie von Lelgemann et al. untersucht worden (Lelgemann et al., 2012a). Zudem analysierte Walter-Klose in einer Metastudie aus dem Jahr 2012 nationale und internationale Untersuchungen zur Integration/Inklusion von Lernenden mit motorischen Beeinträchtigungen. Auch hier werden Studien zur Bedeutung der Familie mit eingeschlossen (Walter-Klose, 2012). In der qualitativen Forschung von Uhrlau berichten Menschen mit motorischen Beeinträchtigungen retrospektiv zu ihren Erfahrungen in der schulischen Integration/Inklusion und thematisieren dabei auch die Bedeutung ihrer Eltern im Inklusionsprozess. Dabei werden die Eltern mehrheitlich, nämlich in neun der zwölf Einzelinterviews, als unterstützendes Sozialsystem dargestellt (Uhrlau, 2006, S. 234f.). Für die Schweiz fehlen jedoch solche Untersuchungen. Mit der vorliegenden Studie wird diesbezüglich eine Lücke geschlossen.
Im qualitativen, historisch angelegten Forschungsprojekt wurden narrative Interviews mit Menschen mit motorischen Beeinträchtigungen, die in spezialisierten Institutionen sozialisiert wurden, durchgeführt. Die Betroffenen, welche auf ihre Sozialisationszeit zurückblickten, wählten demnach aus, zu welchen Themen und Inhalten sie berichten wollten, welchen Erinnerungen sie Bedeutung gaben. Eine Analyse der Erzählsegmente macht deutlich, dass die Thematik Integration/Inklusion und die Rolle der Eltern bei der Ermöglichung von Inklusion einen bedeutsamen Raum in den Erzählungen einnehmen.
Die Studie mit einer Laufzeit von 2018 bis 2022 erfolgt im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Fürsorge und Zwang» des Schweizerischen Nationalfonds und wird unter dem Titel «Zwischen Anerkennung und Missachtung – Rekonstruktion von Zwang, Fremdbestimmung und Partizipation im Kontext der Institutionen für Kinder und Jugendliche mit motorischen Beeinträchtigungen» geführt[1]. Das Projekt ist partizipativ und zweisprachig konzipiert; es untersucht Institutionen der Körperbehindertenpädagogik aus der Deutsch- und Westschweiz (vgl. Schriber, Wolfisberg, Kaba & Blatter, 2020). Erforscht werden retrospektiv die Sozialisationserfahrungen von Menschen mit motorischen Beeinträchtigungen, die in der Zeit zwischen 1950 und 2010 in entsprechenden Institutionen sozialisiert wurden. Es wurden drei Kohorten gebildet (Geburtsjahre 1950, 1970, 1990 +/- 5 Jahre), mit dem Ziel zu untersuchen, ob und wie sich Veränderungen in den Institutionen vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Entwicklungen ergeben.
Das Ziel der Studie ist, die Spannungsfelder zwischen Fürsorge und Zwang, Fremd- und Selbstbestimmung sowie Anerkennung und Missachtung in Institutionen für Kinder und Jugendliche mit motorischen Beeinträchtigungen aufzuzeigen. Die subjektiven Erfahrungen werden mittels einer historischen Diskursanalyse kontextualisiert. Als theoretischer Referenzrahmen dient der sozialethische Entwurf der «Anerkennung» von Honneth (Honneth, 2016; 2018) und die sonderpädagogische Konzeption zu den Themen Anerkennung/Missachtung von Dederich & Jantzen sowie Ferdani (Dederich & Jantzen, 2009; Ferdani, 2011). Das Modell dient dazu, in der vorliegenden Studie „Anerkennung und Missachtung“, „Fürsorge und Zwang“, „Entwicklungsförderung und -hemmung“ als subjektives Erleben im Kontext der Körperbehindertenpädagogik zu verorten und zu deuten. Honneth unterscheidet drei Formen der Anerkennung, nämlich Liebe, Recht und Solidarität. Sie lassen sich vereinfacht wie folgt mit Schlüsselbegriffen umschreiben (Horster, 2009; Schumann, 2007):
Auf dem Gegenpol liegen drei Formen der Missachtung vor:
Die Narrationen zeigen selten Reinformen von Anerkennung oder Missachtung, sondern präsentieren ein Kontinuum zwischen diesen beiden Polen. Nicht selten werden sie gar als Ambivalenz oder Ambiguität dargestellt. Aus diesem Grunde sprechen wir von „Spannungsfeldern“.
Es wurden 42 narrative Interviews durchgeführt (vgl. Küsters, 2009), 16 in der West- und 26 in der Deutschschweiz. Dieser Artikel bezieht sich auf Erfahrungen von Betroffenen aus letzterer Gruppe, diskutiert damit also die Ergebnisse der 26 deutschsprachigen Interviews.
Das Sample der Interviewpartner*innen wurde unter der Maxime der „informierten Einwilligung“ (informed consent) gewonnen (von Unger, 2014, S. 25f.). Eine Einladung zur Studienteilnahme wurde über diverse Kanäle, unter anderem Social Media Inserate und Newsletter von bekannten Organisationen der Selbsthilfe, breit gestreut. Die Einladung richtete sich an Menschen, die ihre Kindheit oder Jugendjahre in einer Schule/Institution für Kinder mit motorischen Beeinträchtigungen verbracht haben, zwischen 1945 und 1995 geboren sind und seit ihrer Kindheit das Etikett „Körperbehinderung“ tragen. Interessierte konnten sich über ein Formular anmelden, wobei sie auch bereits einige soziodemographische Informationen hinterlegten. Aus den ca. 50 eingegangenen Anmeldungen in der Deutschschweiz wurden schliesslich 26 Teilnehmende kriteriengeleitet ausgewählt, so dass sich ein Sample ergab, welches bezüglich Geschlecht, Alter, besuchte Institutionen und Behinderungsform ausgewogen ist (siehe dazu Tabelle 1 und 2).
Kohorte |
Geschlecht |
Behinderungsform |
|||||||||
männlich | weiblich | Zerebralparese | Poliomyelitis | Arthrogryposis Multiplex Congenita | Muskeldystrophie | Erworbene Tetraplegie | Erworbene Querschnittlähmung | Schädel-Hirn Trauma | Spina Bifida | ||
Kohorte 1 |
5 | 4 | 4 | 4 | - | - | - | - | 1 | - | |
Kohorte 2 |
4 | 5 | 5 | - | 1 | 1 | 1 | 1 | - | - | |
Kohorte 3 |
5 | 3 | 5 | - | 1 | 1 | - | - | - | 1 | |
Gesamt |
14 | 12 | 14 | 4 | 2 | 2 | 1 | 1 | 1 | 1 |
Tab. 1: Sample Deutschschweiz: Kohorten, Geschlecht und Behinderungsformen (N=26)
Bildungsbiografien | prozentual | absolut (N=26) |
Schulung in spezialisierter Institution | 100% | 26 |
Schulzeit in Sonderschule(n) < 9 Jahre | 27% | 7 |
Schulzeit in Sonderschule(n) 9-12 Jahre | 62% | 16 |
Schulzeit in Sonderschule(n) > 12 Jahre | 12% | 3 |
Inklusions-/Integrationserfahrung während der Schulzeit | 35% | 9 |
Internatserfahrung während der Schulzeit | 54% | 14 |
Berufsausbildung in spezialisierter Institution | 69% | 18 |
Wohnen in spezialisierter Institution (zur Zeit des Interviews) | 4% | 1 |
Tab. 2: Bildungsbiografien und Inklusions-/Integrationserfahrung im Deutschschweizer Sample (N=26)
Die Interviewmethode wurde primär unter forschungsethischer Perspektive gewählt (von Unger, Narimani & M’Bayo, 2014), um den interviewten Personen die Steuerung ihrer Erzählungen zu überlassen und damit auch eine in diesem Forschungsdesign mögliche Gefahr der Retraumatisierung zu vermeiden (Huonker, 2015). Aus forschungsethischen und methodischen Gründen wurde die Erzählaufforderung sehr allgemein formuliert. „Wir interessieren uns für die Erfahrungen von Personen, die in Schulen oder Institutionen für körperbehinderte Kinder und Jugendliche waren. Ich interessiere mich für Ihre Geschichte. Bitte erzählen Sie, ich höre zu, mache mir einige Notizen und werde Sie nicht unterbrechen.“ Auf die Initialerzählung der Interviewpartner*innen folgten dann Nachfragen (Küsters, 2009, S. 44ff.)
Die Grundlage des Kodiersystems für die Interviewauswertung bildet die Besonderheit von Institutionen für Kinder und Jugendliche mit motorischen Beeinträchtigungen ab, bei denen alle Massnahmen der «Rehabilitation» – medizinisch-therapeutische sowie psychosoziale Interventionen – in der Regel unter einem Dach erfolgen (Bergeest & Boenisch, 2019). Damit sind die Institutionen der Körperbehindertenpädagogik ein im Vergleich zu Familien geschlossener Raum, in welchem die Kontakte zur Aussenwelt gerade in der Kohorte mit Geburtsjahr um 1950 stark eingeschränkt waren.
Auf der Grundlage dieser in der Literatur genannten medizinisch-therapeutischen sowie psychosozialen Interventionen leiteten wir Lebensbereiche ab, die aus der Perspektive Betroffener im Alltag von Bedeutung sind. Diese Lebensbereiche ergeben neun Haupt-Kategorien für die Kodierung des transkribierten Interviewmaterials. Die Kodierung erfolgte mittels MAXQDA (vgl. Rädiker & Kuckartz, 2019).
Lebensbereiche | Umschreibung Lebensbereiche und Kategorien zur Codierung der Narrationen | |
1 | Medizin | Aus den Bereichen Chirurgie, Orthopädie, Neurologie, medizinische Behandlungen usw. |
2 | Therapie | a Physiotherapie |
b Ergotherapie (verschiedene Richtungen) | ||
c Logopädie (verschiedene Richtungen) | ||
d Andere Therapien (Hippotherapie, Schwimmen und andere Therapien) | ||
3 | Pflege | Grundpflege, Behandlungspflege |
4 | Bildung | a Schule (integrative/inklusive und separative Settings, spezifische Bildungsangebote) |
b Ausbildung (Berufsfindung, Berufsberatung, Erstausbildung) | ||
5 | Erziehung | a Primärfamilie (Primärfamilie, Pflegefamilie) |
b Betreuung (Personen mit einem institutionellen Erziehungsauftrag ausserhalb der Schule/Ausbildung) | ||
6 | Bezugspersonen | Informelle Beziehungen zu Erwachsenen und Kindern/Jugendlichen |
7 | Freizeit | Hobbies, Ferien im familiären wie im institutionellen Kontext |
8 | Psychologie | Psychologische Beratung, Psychotherapie, Psychiatrie, Schulpsychologie |
9 | Religion | Religionsunterricht, Konfession, religiöse Feste, konfessionelle Aktivitäten für junge Menschen, Spiritualität |
Tab. 3: Lebensbereiche, Umschreibung Lebensbereiche und Kategorien zur Codierung, Narrationen
Zur vertieften Interpretation wurden zudem im Kodierprozess Metainformationen zu den interviewten Personen, wie etwa Lebensalter und Institution in der MAXQDA Datenbank hinterlegt. Bei der Zusammenstellung des Samples wurden minimale soziodemographische Daten erhoben. Aus pragmatischen Gründen, um auf Übersetzungen zu verzichten, werden in diesem Beitrag ausschliesslich Segmente aus der Deutschschweiz referiert.Für diesen Beitrag, der der Frage nachgeht, welche Rolle die Eltern bei der schulischen Integration/Inklusion übernehmen, wurde beim Extrahieren der Textsegmente nach Kuckartz vorgegangen. Zuerst wurden aus der Interviewdatenbank im Sinne eines einfachen Retrievals von Segmenten mehrere Kategorien von Erzählungen, die mit «öffentlicher Kindergarten», «öffentliche Primarschule» oder «öffentliche Sekundarschule I» kodiert sind, extrahiert (Kuckartz, 2010, S. 112f.). Ausserdem wurden die Lebensbereiche Schule (4a) und Primärfamilie (5a) explorativ nach den Schlagwörtern «Regelschule» und «normale Schule» durchsucht (ebenda, S. 123f.), um auch Integrations- bzw. Inklusionsversuche sichtbar zu machen, die aus unterschiedlichen Gründen abgebrochen wurden. Die so extrahierten Segmente wurden kombiniert, nach Interviews und Kohorte geordnet und kontextualisiert (z. B. Lebensalter, Lebens- und Familiensituation, Behinderungsform), um das einzelne Erzählsegment biographisch verorten zu können.
Die mit diesem Vorgehen gewonnenen Passagen wurden gesichtet. Es konnten vier Themencluster zu wiederkehrenden interviewübergreifenden Aspekten extrahiert werden:
Es werden nachfolgend die Narrationssegmente entlang der vier Themenschwerpunkte referiert und im Theoriediskurs referenziert. Immer geht es um Themencluster, die aus Sicht der Betroffenen das Schnittfeld «Integration/Inklusion – Eltern – Schüler*innen» thematisieren. Anzumerken ist vorgängig, dass in der Deutschschweiz mehrheitlich von Integration anstelle von Inklusion gesprochen wird. Ebenso ist statt von Förderschulen meist von Sonderschulen bzw. Tagessonderschulen die Rede. Wird von der Inklusionsschule berichtet, so wird in den Erzählsegmenten zuweilen im Duktus der Deutschschweiz auch die Terminologie «öffentliche Schule» oder «Regelschule» gesprochen. Die Interviews wurden nach Du Bois transkribiert (Du Bois, 1991). In diesem Beitrag wird aus Gründen der Lesefreundlichkeit die Zitierform der Erzählsegmente in verschiedener Hinsicht vereinfacht. Bei den aufgeführten Namen handelt es sich um Pseudonyme. Zur Wahrung der Anonymität werden nicht Jahrgänge, sondern lediglich die Kohorten genannt. In Klammern wird auch die Behinderungsform aufgeführt, denn je nach Kontext kann dies einem vertieften Verständnis dienlich sein. Zur Verortung der Narrationssegmente wird nach der Angabe zur Kohorte der Abschnitt (A.) im Transkript gekennzeichnet.
Schulorganisatorische Adaptionen, Voraussetzungen baulicher Art und die Raumgestaltung von Schulhäusern im Innen- und Aussenraum gelten aus der Erfahrung in der Praxis als wesentliche Faktoren für das Gelingen von Integration/Inklusion für Lernende mit motorischen Beeinträchtigungen. Das belegen auch die empirischen Studien, wie sie in der erwähnten Metastudie von Walter-Klose zusammengeführt wurden (Walter-Klose, 2012). In unserer Untersuchung klingen Erfahrungen Betroffener mit schulorganisatorischen Aspekten wie folgt:
Kurt Moser (Kohorte 1, Poliomyelitis) erzählt, dass er im sechsten Stockwerk des Schulhauses zur Schule ging. Einen Lift gab es nicht. Im sechsten Stockwerk jedoch befand sich das Schulzimmer jenes Lehrers, der sich bereit erklärte, ein Kind mit einer motorischen Beeinträchtigung aufzunehmen. Damals stand nicht zur Diskussion, das Schulzimmer beispielsweise ins Erdgeschoss zu verlegen. Schulzimmer waren – so Kurt Moser – das «Königreich» der Lehrpersonen. So gelangte der Junge ins Schulzimmer, indem sein um ein Jahr älterer Bruder ihn jeden Tag die sechs Stockwerke hoch- und heruntertrug. Der Gang zur Toilette blieb ihm verwehrt, niemand kümmerte sich darum. Bei Kurt Moser führte dies zu einer stetigen, unterschwelligen «Panik», einem chronischen Belastungsfaktor.
Weiss benennt Eltern für ihre Töchter und Söhne mit motorischen Beeinträchtigungen als bedeutsame, möglicherweise als die zentrale Ressource in unterschiedlichen Lebensbereichen (Weiss, 2007, S. 202). Es ist im Folgenden näher zu beleuchten, ob und inwiefern dies bei den interviewten Personen dieser Studie auch bei der schulischen Integration/Inklusion so erinnert wurde.
Sowohl Jean Flury (Kohorte 2, Zerebralparese) wie auch Stephan Borer (Kohorte 2, Zerebralparese) berichten, dass ihre Eltern beim Übertritt der Schüler in die öffentliche Schule mit starker Opposition konfrontiert wurden. So erhielten Stephan Borers Eltern von keiner Seite Unterstützung, als sie für ihren Sohn einen Wechsel in die öffentliche Schule anstrebten. Jean Flurys Eltern mussten den Wunsch nach Inklusion ihres Sohnes, der damals die Mittelstufe der Förderschule besuchte und gute Schulleistungen erbrachte, vor der Aufsichtskommission (im Schweizerdeutschen „Schulkommission“) verteidigen. Diese reagierte ablehnend:
Die Analyse der Narrationssegmente unter dem Gesichtspunkt der Förderschulen als hemmende und fördernde Faktoren bei der Integration/Inklusion ergibt drei Facetten: Zum einen wird die ungenügende Förderung der akademischen Leistungen thematisiert. Damit zusammenhängend wird das spezifische rehabilitative Curriculum in Form der Therapien der Sonderschule erwähnt. Diese Therapieimmanenz bringt zwar Vorteile, geht jedoch oft auch auf Kosten akademischer Schulanforderungen, könnte also als einer der Faktoren gesehen werden, um die oft erwähnte schulische Unterforderung an der Förderschule zu erklären. Eltern stehen dabei im Spannungsfeld von Förderschule, Regelschule und Wunsch nach Inklusion. Sie erkennen den Vorteil der Therapieimmanenz an Förderschulen, nehmen zugleich das schulische Potential ihrer Kinder und den Wunsch nach Inklusion wahr und stellen sich Fragen zur optimalen schulischen Förderung der Kinder. Sie fügten sich entweder den Gegebenheiten der Förderschule oder mussten sich – vorausgesetzt, sie verfügten über Ressourcen dazu – gegen die Förderschule durchsetzen. Gleichzeitig war es notwendig, auch an den öffentlichen Schulen für die Anerkennung der Inklusion zu kämpfen. Eher selten wurden sie dabei durch die Förderschule auf dem Weg in die Inklusionsschule unterstützt.
Und schliesslich wird insbesondere in der jüngsten Kohorte deutlich, dass Kompetenzzentren der Förderschulen ab Ende der 90er-Jahre neue mobile Dienste aufbauten, um Kinder und Jugendliche in der Integration/Inklusion durch Fachpersonen zu unterstützen. Nicht immer wurde diese Unterstützung als hilfreich erlebt. Es wird deutlich, dass Unterstützung oft nicht durch das gesamte System erfolgte, sondern vom Engagement und der Kompetenz einzelner (Lehr-)Personen abhängig war.
In folgendem Beispiel wird sichtbar, dass die inadäquate Förderung akademischer Leistungen in der Förderschule Anlass war, dass sich die Eltern für die Inklusion einsetzten. Es wird aber auch deutlich, wie sich Vertreter*innen der Förderschule als Einzelpersonen für das Anliegen Integration/Inklusion engagierten:
Barbara Jäggi (Kohorte 1, Zerebralparese), welche, wie bereits oben dargestellt, die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium auf Grund mangelnder Mathematikkenntnisse und fehlender Unterstützung aus der Sonderschule nicht bestand, konnte schliesslich dank des persönlichen Einsatzes des Schulleiters der Förderschule in die wohnortsnahe Sekundarstufe der Regelschule übertreten (Interview mit Barbara Jäggi, Kohorte 1, A. 14).
Stephan Borer (Kohorte 2, Zerebralparese) bringt deutlich zum Ausdruck, dass er sich hinsichtlich akademischer Anforderungen an der Sonderschule unterfordert fühlte und fehlende schulische Inhalte in der Integration/Inklusion, die von den Eltern erkämpft werden musste, zu erheblichen Erschwernissen führten. Beim Übertritt in die Sekundarstufe der Regelschule hatte er Schwierigkeiten, den akademischen Anforderungen zu genügen. Er bringt zum Ausdruck, dass die Förderschule die Fähigkeiten von Menschen mit einer Behinderung unterschätzte:
Während im vorausgegangenen Abschnitt eher akademische Aspekte der Inklusion angesprochen wurden, wird hier mit der Thematisierung des Wunsches nach Integration/Inklusion deutlich, dass Faktoren der sozialen Teilhabe im Vordergrund stehen, um eine inklusive oder allenfalls separative Schulwahl zu begründen und anzustreben. Gerade Eltern betonen diesen Aspekt besonders. In unserer Studie wird dies in allen drei Kohorten sichtbar.
Jean Flury (Kohorte 2, Zerebralparese) schildert, dass die Motivation seiner Eltern, eine integrative/inklusive Schulung zu erwirken, darin lag, dass er eine Schulklasse mit nichtbehinderten Peers besuchen könne. Es sei den Eltern im Kern nicht darum gegangen, die akademischen Kompetenzen zu optimieren, sondern die Sozialkompetenzen zu fördern und dem Jungen eine «normale Umgebung» zu ermöglichen. Es stand ausser Zweifel, dass er mit dem Tempo seiner Mitschüler*innen nicht mithalten konnte, selbst wenn zum Teil Alternativen für die schriftlichen Leistungsprüfungen gefunden werden konnten und Massnahmen des Nachteilsausgleiches zum Zuge kamen. Das akademische Lernen wurde als sekundär betrachtet, es ging primär um das soziale Lernen (Interview mit Jean Flury, Kohorte 2, A. 26, A. 30). Die soziale Teilhabe in der Klasse gelang gut, wobei Jean Flury hervorhebt, dass er eine «gute Klasse» hatte und wusste, dass er sich von seiner Seite her auch um die soziale Integration bemühen musste. Er drückt gegenüber seinen Eltern grosse Dankbarkeit aus, dass sie ihn aus dem «sozialen Gitter» der Förderschule herausgenommen haben (ebenda, A. 26, A. 152).
Auch Christine Probst (Kohorte 1, erworbene Querschnittlähmung) und Kurt Moser (Kohorte 1, Poliomyelitis) berichten davon, dass sie es positiv erlebten, in der Regelschule geschult worden und mit den anderen Kindern im Austausch gewesen zu sein. Christine Probst drückt aus, dass sich für sie irgendwann ein Grunderleben einstellte, «ganz normal in dieser Schule drin» zu sein, «wie irgendein anderer Schüler auch» (Interview mit Christine Probst, Kohorte 1, A. 11; Interview mit Kurt Moser, Kohorte 1, A. 41).
Michael Steiner (Kohorte 2, Arthrogryposis Multiplex Congenita) hingegen schildert eher negative Erfahrungen aus der Zeit in einer Knabenschule in Interaktionen mit seinen nichtbehinderten Mitschülern. Während der Zeit im Internat der Förderschule war er gegenseitige Rücksichtnahme gewohnt. Nun erfuhr er im inklusiven Setting Mobbing und Ausschluss. Er führt dies auch darauf zurück, dass er in der Förderschule nicht gelernt hätte, sich zu behaupten oder um Hilfe zu bitten. Mit der Integration/Inklusion im Teenageralter musste er diese Kompetenzen selbständig und in kurzer Zeit erwerben (Interview mit Michael Steiner, Kohorte 2, A. 13).
In unserer Studie wird sichtbar, dass auch die Förderschule als Chance für das soziale Lernen, die soziale Teilhabe und für spezifische Erfahrungen im Umgang mit Diversität erlebt wurde. Rahel Roth (Kohorte 3, Zerebralparese) hebt einerseits die Wichtigkeit ihrer schulischen Inklusionserfahrung für ihren weiteren Bildungs- und Lebenslauf hervor, berichtet jedoch auch davon, dass sie durch die Vielfalt der Lernenden mit unterschiedlichen Behinderungsbildern in der Förderschule sehr positiv geprägt wurde:
Eltern wie deren Kinder mit motorischen Beeinträchtigungen machten in allen drei Kohorten Erfahrungen der Missachtung auf den Ebenen der Rechte (Exklusion Bildungszugänge) und der Solidarität (mangelnde soziale Wertschätzung und Unterstützung). Viele der Eltern kämpften im Rahmen ihrer Möglichkeiten für die Inklusion ihrer Kinder, versuchten über die Ebene der Solidarität und ihres Einsatzes die Verletzungen auf der Ebene der Rechte zu kompensieren. Damit bestätigt sich: Eltern-Sein ist «Profession» (Seifert, 2011); dies zeigt sich über alle drei Kohorten hinweg. Eltern spielen eine zentrale Bedeutung bei der Integration/Inklusion von Kindern mit motorischen Beeinträchtigungen. Eltern sei Dank! Das wurde in allen vier beschriebenen Themenclustern sichtbar. Die Aussagekraft der Ergebnisse limitiert sich dabei durch die Auswahl des Samples mit Personen, die einen grossen Teil ihrer Schulzeit in Förderschulen verbrachten.
Erstens: Eltern erbrachten über alle drei Kohorten hinweg grosse Kompensationsleistungen, um strukturelle Barrieren bei der Inklusion zu überwinden. Ein Leitfaden wie jener von Walter-Klose ist ein hilfreiches Instrument, um Integrationen/Inklusionen von Lernenden mit motorischen Beeinträchtigungen in verschiedenen Aspekten gut zu initiieren, auch im Bereich des barrierefreien Zugangs und der Raumgestaltung (Walter-Klose, 2015b). Allerdings wird mit Instrumenten dieser Art auch deutlich, dass die Integration/Inklusion meist noch ein Einzelfallprojekt ist und kategoriale Zugänge notwendig sind, um die Zugänge zu sichern. Demnach verdient die «inklusive Schule» ihren Namen noch kaum bzw. zwischen theoretischem Anspruch und praktischer Wirklichkeit inklusiver Praxis besteht noch eine Kluft (Singer, 2015).
Zweitens: Der Blick auf die Ressourcen der Eltern bei der Inklusion macht deutlich, dass die Eltern in allen Aspekten der Integration/Inklusion erhebliche Zusatzleistungen erbringen. Dies wird sichtbar im Vergleich mit Eltern, deren Kinder keine Beeinträchtigung haben oder welche die Förderschule besuchen. Die Zusatzleistungen sind finanzieller und zeitlicher Art und damit auch abhängig von soziokulturellen Möglichkeiten des Elternhauses. Eltern sind ein massgeblicher Motor, um Integrationen/Inklusionen anzubahnen. Dies ist vergleichbar mit ihrer Rolle in der Epoche der Gründung spezifischer Institutionen und Förderschulen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nachdem die schweizerische Invalidenversicherung in Kraft trat (Wehrli, 1968). Über alle drei Kohorten hinweg wird sichtbar, dass die Eltern im Bemühen um die Integration/Inklusion ihrer Kinder erhebliche Widerstände seitens der Regel- und Förderschule sowie der Behörden zu überwinden hatten. Nicht nur die Initiierung der Integration erforderte den hohen Einsatz der Eltern, sondern auch die Aufrechterhaltung der integrativen/inklusiven Schulsituation. Es erscheint uns lohnend zu untersuchen, ob die Belastungen der Eltern durch schulische sonderpädagogische Ressourcen und mobile sonderpädagogische Dienste in den letzten zehn, zwanzig Jahren abgenommen haben.
Drittens: Das Erkämpfen einer schulischen Inklusion entstand oft aus der schulischen Unterforderungssituation an den spezifischen Förderschulen. Hemmende und förderliche Faktoren der Förderschulen spielen dabei eine wichtige Rolle. Eltern und Betroffene mussten oft darum kämpfen, dass die Kinder entsprechend ihren Voraussetzungen in den akademischen Leistungen gefördert wurden. Das rehabilitative Curriculum mit dem integrierten Therapieprogramm brachte es mit sich, dass an Förderschulen schulische Inhalte zum Teil zu kurz kamen. Dafür wurden in der Integration/Inklusion die zusätzlichen Therapiestunden, die ausserhalb der regulären Schulstunden stattfanden, zur Belastung. Wiederum waren es Eltern, die hier Zusatzleistungen, etwa den Transport zur Therapie, erbrachten. Unterstützung, Entlastung und Beratung in der Schulwahlentscheidung und bei der Durchführung der Integration/Inklusion drängen sich hier auf. Interessant wäre es, aktuelle Daten dahingehend zu erheben, ob sich Eltern und Betroffene ausreichend unabhängig beraten fühlen und wie gross die Zufriedenheit mit den entsprechenden Beratungs- und Begleitungsdiensten ist.
Viertens: Nicht nur zur Förderung des akademischen Lernens wird von vielen Eltern und Betroffenen der Wunsch nach Integration/Inklusion deutlich geäussert, sondern fast noch deutlicher hinsichtlich des sozialen Lernens. Im Sinne des Erwerbs sozialer Kompetenzen ist der Umgang der Schüler*innen miteinander bewusst zu gestalten und zu initiieren. Eine bewusste Haltung aller Lehrpersonen bei sozialer Isolierung bzw. Mobbing ist notwendig. Es braucht einen offenen Umgang mit Vielfalt. Eltern sowie ihre Kinder sind als gleichwertige Partner*innen und wichtige Ressource bei der Initiierung und Steuerung von Inklusionsprozessen zu sehen. Praxisrelevante allgemeine Hilfsmittel wie die Checkliste zur Kooperation mit Eltern im inklusiven Setting mögen dabei dienlich sein (Eckert & Sodogé, 2016). Entscheidend dürften die Einstellungen bleiben: Mit einer Grundhaltung der «Erziehungspartnerschaft» (Bauer, 2006) kann mit den Prämissen der anerkennungstheoretischen Theorie die strukturelle Diskrepanz von Gleichheit und Ungleichheit im pädagogischen Bezug von Betroffenen, Fachpersonen und Eltern ohne Verleugnung der Verschiedenheit durch gegenseitige soziale Wertschätzung und professionelle Reflexionsfähigkeiten produktiv genutzt werden (Wieczorek, 2006).
Abschliessend halten wir fest: Während strukturelle Voraussetzungen wie barrierefreie Zugänge das Tor für die Integration/Inklusion von Lernenden mit motorischen Beeinträchtigungen sind, bilden Haltungen und Einstellungen das Fundament der integrativen/inklusiven Schulen und gelingender Integration. Erst eine wirkliche «Pädagogik der Vielfalt» (Prengel, 2019) führt über das kategoriale Denken hinaus, bei gleichzeitiger Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse auch von Lernenden mit motorischen Beeinträchtigungen und deren Eltern und Bezugspersonen. Seitens der Betroffenen sind die Signale eindeutig: Alle 26 interviewten Personen des hier referierten Samples äusserten sich unaufgefordert zum Thema Integration/Inklusion und dies unabhängig davon, ob sie eigene Inklusionserfahrung mitbrachten oder nicht. Die hier dargestellte Analyse bringt zum Ausdruck: Inklusion soll unabhängig der Ressourcen aus der Primärfamilie für alle jene, welche dies wünschen, möglich sein.
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