Abstract: In Bezugnahme auf das Prinzip der Elementarisierung werden in dem Beitrag Potenziale und Herausforderungen verschiedener Genderkonzeptionen in Leichter Sprache aufgezeigt. Dabei geht es nicht um die Bewertung einzelner Texte in Leichter Sprache, sondern darum, eine analytische Perspektive auf Texterzeugnisse einzunehmen, die Genderfragen in Leichter Sprache thematisieren. Texte in Leichter Sprache elementarisieren das grundlegend mehrdeutige Konstrukt Gender in unterschiedlicher und bisweilen widersprüchlicher Art und Weise. Diese Elementarisierung, das Kreisen um den ‚Kern der Sache‘, verstehen wir als analytisch komplexen Vorgang, der Anwender*innen mit der antinomischen Lebenswirklichkeit konfrontiert. In ihrer jeweils konkreten Form, so die zentrale These des Beitrags, eröffnen somit Texte in Leichter Sprache fundamentale Einsichten und damit weitreichendes, erkenntnisstiftendes Potenzial für inklusive Bildung.
Ausgehend von einem pädagogischen Verständnis von Elementarisierung als Kern der Sache wird im ersten Schritt ein Verständnis von Elementarisierung als Perspektivenanalyse verdeutlicht. Als analytisches Instrument für eine solche Analyse wird dazu die Unterscheidung von Histoire und Discours nach Todorov (1978) vorgeschlagen, um zwischen dem Wie und dem Was des Erzählens zu differenzieren. Im Anschluss daran wird vorbereitend auf die exemplarische Analyse in Intersektionalitätsdiskurse eingeführt. Im Zentrum des Beitrags steht die Auseinandersetzung mit zwei Textfragmenten, die zueinander widersprüchliche Verständnisse von Gender mit sich führen. Anhand exemplarischer Analysen zweier Beiträge aus der taz und der WeiberZEIT werden schließlich Positionierungen und Pointierungen in den Redeweisen über Genderdiversity herausgearbeitet. Diese Positionierungen sind für den emanzipatorischen Anspruch beider Texte jeweils unbedingt notwendig, verweisen aber zugleich auf ambivalente Verstehensstrukturen des Genderkonzepts, die allerdings – so die abschließende These des Beitrags – durch eine Orientierung am ‚Kern der Sache‘ (bzw. durch die Suche nach dem Elementaren) in der hier skizzierten Form gefasst werden können. Ein Anerkennen von und eine Auseinandersetzung mit diesen Positionierungen ist für das Gelingen von Inklusion, in einem Verständnis von Nicht-Diskriminierung, zwangsläufig notwendig – denn auch hier gilt es, sich widersprechende Positionen und Begehren annehmen zu können (Boger 2019a, S. II). Der Beitrag schließt mit Schlussfolgerungen für die Relevanz eines Umgangs mit Texten in Leichter Sprache für inklusionsorientierte (Hochschul-)Bildung.
Stichworte: Leichte Sprache; Elementarisierung; Gender; Intersektionalität
Inhaltsverzeichnis
Der Begriff der Elementarisierung besitzt in der bildungstheoretischen Didaktik eine große Bedeutung und lässt sich hier bereits auf Pestalozzis ‚Elementarmethode’ zurückführen (Klafki 1964). Der Begriff ‚elementar‘ verweist aber bereits in seiner ursprünglichen Bedeutung auf etwas ‚Grundlegendes‘ oder ‚Wesentliches‘ (lat. Elementarius: zu den Anfangsgründen gehörig) (Pons o.J.). Er weist damit über die Frage der Unterrichtsvorbereitung hinaus, wie die nachfolgenden Überlegungen zeigen werden.
Klafki (1964, 2007), Wagenschein (1954), Rumpf (1985) u.a. gehen von einer Theorie des Elementaren aus: Mit ‚elementar‘ wird das allgemeine Prinzip bezeichnet, das durch einen Inhalt bzw. eine Lernerfahrung erworben bzw. erfasst werden kann. Das Elementare ist aber keine verborgene Eigenschaft der Dinge, sondern eine erfahrungsbasierte, individuelle Konstruktionsleitung, die mit fachwissenschaftlichen Ideen zusammengebracht werden kann (Seitz 2009, u. Bzg. a. Klafki 1996, 152; Feuser 1995, 181). Das Elementare kann deshalb über die subjektiven Bedeutungszuschreibungen zum Wesentlichen erschlossen werden.
Das Elementare muss daher nach Klafki in drei Ebenen erfasst werden: Als ‚fundamental‘ werden prägnante Erfahrungen bezeichnet, die den Schüler*innen grundlegende Einsichten in allgemeine Zusammenhänge ermöglichen. Solche Grunderfahrungen können nur ausgelöst, nicht eigentlich unterrichtlich ‚inszeniert’ werden.
Auf der zweiten Ebene werden mit dem Elementaren die übergreifenden Grundbegriffe, Kategorien, Methoden, Werte, Ideen, Strukturen, Typen oder Grunderfahrungen erfasst, die als Bedingungen der Möglichkeit geistiger Aneignung und Bewältigung notwendig sind. Klafki bezeichnet diese Ebene als die Ebene der ‚kategorialen Voraussetzungen geistiger Aneignung und Bewältigung‘ (1996, 326).
Als die dritte Ebene des Elementaren beschreibt Klafki die Notwendigkeit, allgemeinen Erfahrungen und Einsicht nachzuspüren, die hinter dem Einzelnen und Besonderen liegen und durch die besondere historische Situation einer Zeit als Bildungsaufgaben zentral sind (ebd.). Es gehe darum, vom ‚Wesentlichen‘ her die Vielfalt der Einzelheiten in ihrer Gliederung zu erfassen und dadurch das Einzelne überhaupt geistig bewältigbar zu machen. „Wo wir vom Exemplarischen sprechen können, da liegt ein Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem vor, das am klarsten in der Beziehung von ‚Gesetz’ und ‚Fall’ zum Ausdruck kommt (Klafki 1957, 443). Das Besondere ist ein Beispiel (= Exempel), wie ‚dieser Obstsalat‘, ‚diese Etüde‘, ‚diese Blumenzwiebel‘. Das Allgemeine wird am Besonderen sichtbar und erfahrbar. Ein konkreter Inhalt steht stellvertretend für viele. Das Allgemeine beschreibt also einen gedanklichen Zusammenhang: Typik, Repräsentativität, Zweckform.
In diesem Sinn verweist jeder Vermittlungszusammenhang, also auch ein Text, ein Vortrag oder ein Gespräch sowohl auf die Einsichten der formulierenden Person, wie auch auf elementare Einsichten der Hörenden, Sehenden oder Lesenden. Aber dieser Vermittlungszusammenhang entsteht erst in der konkreten Formulierung eines Inhalts.
Terfloth und Bauersfeld beschreiben Elementarisierung daher als „Abstimmungsprozess zwischen dem Kerngehalt des Bildungsinhaltes und den Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler“ (2019, 85). Elementarisierung wird bei ihnen zu einem Element der Unterrichtsvorbereitung, um den Kerngehalt einer Sache für die Schülerinnen und Schüler fruchtbar zu machen. Ziel ist es, Bildungsinhalte so aufzubereiten, dass sie zum subjektiv bedeutsamen Lerngegenstand für die Schülerinnen und Schüler werden (Terfloth/Bauersfeld 2015, Heinen/Lamers 2006). Dazu sollen Teilelemente eines Inhalts, ihre Struktur und Reihenfolge analysiert und ggf. Modifikationsmöglichkeiten eruiert werden, ohne dabei den Kern des Inhalts zu verändern. Dabei stellen die Autor*innen heraus, dass die Analyse des Inhalts nicht möglich ist, ohne bereits die Lernvoraussetzungen, biographischen Erfahrungen und individuellen Zugänge der Lernenden zu berücksichtigen (Terfloth/Bauersfeld 2015). Riegert, Musenberg und Sansour (2015) stellen aber zu Recht fest, dass die Aneignungswege oder Formen der Auseinandersetzung nicht ausschließlich von den Lernenden ausgedacht werden können, sondern letztlich an Lerngegenstände gebunden bleiben. So könne beispielsweise der Literaturunterricht nicht völlig von sprachlichen Handlungen entkoppelt werden, da das Allgemeine literarischer Texte an die sprachliche Form gebunden sei. „Vor diesem Hintergrund sollte zumindest kritisch im Blick behalten werden, dass sich Unterrichtsgegenstände durch den didaktischen Zugang der Elementarisierung verändern, bzw. auch neue Unterrichtsgegenstände hervorgebracht werden“ (ebd.). Damit führen die Autor*innen den Begriff von einer Technik oder Strategie einer an den individuellen Voraussetzungen der Schüler*innen orientierten Unterrichtsvorbereitung zurück auf die notwendige analytische Arbeit, was den ‚Kern der Sache‘ (Seitz 2009) am jeweiligen Unterrichtsgegenstand ausmacht.
Insofern scheint eine Bestimmung des Elementaren nicht als didaktische Vorgehensweise, sondern als begleitende Analyse von Perspektiven auf veränderbare individuelle und fachliche Konstruktionen zu einem Themenfeld unter der Klammer eines Verständnisses von Gemeinsamkeit und Verschiedenheit (Seitz 2009) sinnvoll.
Diesem Verständnis des Elementaren folgend werden im weiteren Verlauf des Beitrags Texte in Leichter Sprache nicht als Erzeugnisse individueller Autor*innen mit persönlichen Intentionen betrachtet, sondern als elementarisierende Formen, in denen im foucaultschen Sinn diskursive Praktiken sichtbar werden, die spezifische Macht-Wissen-Komplexe aufgreifen, aktualisieren oder produzieren (Bührmann/Schneider 2008): Wie konstruieren sich in den Texten welche elementaren Einsichten über die Welt? Welche Sprecher*innenpositionen lassen sich erkennen? An welche (vermuteten) elementaren Erfahrungshorizonte schließen die Texte an, um ‚bildend‘ wirksam zu werden?
Um diese Überlegungen für die Arbeit mit beispielhaften Texten zu konkretisieren, wird im Folgenden die Unterscheidung zwischen der Frage nach dem ‚Was?‘ des Sprechens (Histoire) und dem ‚Wie?‘ des Sprechens (Discours) nach Todorov (1978) eingeführt. Dadurch wird es möglich, einerseits intersektionale Verflechtungen der Diskriminierung im Kontext von Genderdiversity und Dis*ability zu rekonstruieren und andererseits Leichte Sprache als emanzipatorische und empowernde Strategie zu verstehen, die derartigen Diskriminierungen entgegenwirken kann. Der strukturalistisch verortete Literaturtheoretiker Tzvetan Todorov prägt die Unterscheidung zwischen Discours (Wie sprechen wir?) und Histoire (Was sprechen wir?) (vgl. 1978, 351f.). Durch die Intersektionen, die sich nicht ausschließlich auf inhaltlicher Ebene, sondern vielmehr im Zusammenspiel von Histoire und Discours aufspannen, ergibt sich im Kontext von Texten in Leichter Sprache (Wie?) über Genderzusammenhänge (Was?) eine Verflechtung, die im Folgenden beschrieben und deren Potentiale wie auch Fallstricke anschließend anhand zweier Beispiele ergründet werden.
Im Sprechen und Denken über Gender konglomerieren verschiedene verwandte und teils widersprüchlich verwobene Diskriminierungsformen, deren Bekämpfung neben- und miteinander ihre Berechtigung finden darf. „Diskriminierung geht nicht allein von Vorurteilen Einzelner aus, sondern basiert auf vorherrschenden gesellschaftlich geteilten Bildern, Bewertungen und Diskursen. Dieser komplexe Zusammenhang reicht in vielen Fällen tief hinein in die institutionellen, rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen von Alltag und (pädagogischem) Handeln“ (Trisch/Winkelmann 2007, 108). So zeigt sich auch im Denken über Gender (und in gesellschaftlichen Strukturen) nach wie vor eine jahrhundertelang tradierte Hegemonie des Männlichen (Connell 1999, 94). In der Fortschreibung patriarchaler Herrschaftsverhältnisse als konstituierendes Element (post-)moderner Gesellschaften erleben Frauen qua der ihnen zugeschriebenen Rollen u.a. sicherheitsbezogene, ökonomische gesundheitsbezogene Benachteiligungsstrukturen (ebd.). In dieser gesellschaftlichen Ordnung schlägt die patriarchale Dividende besonders für diejenigen männlich gelesenen Personen hoch aus, die weiß, heterosexuell und able-bodied sind. Zusätzlich kann auch die nach wie vor kulturell reproduzierte binäre Geschlechtermatrix, die ein strukturelles Eingerücktsein in ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ einfordert, als eine geschlechtsbezogene Diskriminierungsform benannt werden, die sich nichtbinär verortende Personen besonders betrifft.
Diese Fragen werden u.a. in feministischen Diskursen verhandelt: Differenzfeministische Perspektiven legen ihren Fokus eher auf Fragen der Gleichstellung der Frau, bleiben also in einer binären Matrix organisiert, während queerfeministische Perspektiven eben diese Matrix in Frage stellen und kritisieren. Beide Perspektiven spiegeln sich in einem Thematisieren von Gender (Histoire: Was?) in Leichter Sprache (Discours: Wie?) wider, wie in den folgenden Analysen gezeigt werden kann.
Wie in dem schon zuvor angedeuteten Zusammenhang zwischen Geschlecht, Race und Behinderung angedeutet, erfordern Genderperspektiven eine intersektionale Herangehensweise. Intersektionalität (Crenshaw 1991) kann als Gleichzeitigkeit der Wirkung verschiedener Diskriminierungsstrukturen konzeptualisiert werden. Katharina Walgenbach beschreibt den Kern des Theorems als die Annahme, „dass historisch gewordene Machtverhältnisse, Diskriminierungsformen, Subjektivierungsprozesse sowie soziale Ungleichheiten wie Geschlecht, Behinderung, Sexualität/Heteronormativität, Race/Ethnizität/Nation oder soziales Milieu nicht isoliert voneinander konzeptualisiert werden können, sondern in ihren ‚Verwobenheiten‘ oder ‚Überkreuzungen‘ (intersections) analysiert werden müssen“ (Walgenbach 2015b, 121).
In diesem Verhältnis können sich Ungleichbehandlungen auf Grund verschiedener Differenzkategorien auch relativieren oder überlagern. Zinsmeister beschreibt beispielsweise im Kontext ungleicher Rechtsprechung von Frauen mit und ohne Behinderung zum Fragenkomplex von Kinderwunsch, Verhütung und Sterilisation, wie Zuschreibungen zu einer spezifischen Form der Ungleichbehandlung führen, die nicht lediglich additiv sind, sondern als intersektionale Diskriminierung wirksam werden (2014, 278).
Intersektionen zwischen Gender und Dis*ability wurden bereits an prägnanten Stellen beleuchtet: Swantje Köbsell konstatiert hier starke strukturelle Ähnlichkeiten, so sei eine Abweichung von der Norm und eine damit verbundene Minderwertigkeit sowohl in Bezug auf Weiblichkeit (aus queerer Perspektive: Nicht-Cis-Männlichkeit) als auch in Bezug auf Behinderung festzustellen (2010, 18). In Folge dieser Abweichung kann eine Marginalisierung der Teilhabe am gesellschaftlichen und ökonomischen Leben beobachtet werden. Auch die Annahmen, dass sowohl Geschlecht als auch Behinderung in erster Linie performativ und diskursiv naturalisiert werden, „um als nichthistorisches, biologisches Merkmal des Körpers zu erscheinen“ (Waldschmidt 2010, 47), verbindet beide Differenzlinien in ihrer Struktur. Behinderung scheint Geschlechtlichkeit dabei als kulturell geformte Konstitutionsform des Menschlichen in gewisser Weise auszustechen oder in den Hintergrund zu rücken:
„Die Zuschreibung von Behinderung impliziert, dass Funktions- und Leistungsfähigkeiten gerade auch in den beiden gesellschaftlich zentralen Feldern Arbeit und Generativität/ Sexualität zur Disposition stehen, und zwar (im Unterschied zur Krankheit) für einen längerfristigen Zeitraum und unter Umständen sogar dauerhaft.“ (Waldschmidt 2010, S. 49).
Hier scheinen insbesondere auch die Verweise auf Arbeit sowie Generativität zentral für ein Annähern an die Ursachen hinter den intersektionalen Effekten zu sein. Diese Zuschreibungen führen zu einer Verortung von Frauen, trans und nichtbinären Personen mit Behinderung „im konstitutiven Außen“ (Ewers zum Rode, 2016, 14; Butler, 1997, 30) des geschlechtlich Intelligiblen.
Gerade auf Grund dieser Diagnose und weil das Merkmal ‚behindert‘ im Falle einer Beeinträchtigung so dominant wahrgenommen wird, dass Aspekte von Geschlechtlichkeit in der Außenbetrachtung in den Hintergrund zu geraten scheinen (vgl. Köbsell 2010, 20), wohnt einer Auseinandersetzung mit Geschlecht in Leichter Sprache bereits ein Potenzial der Anti-Diskriminierungsarbeit inne. Hier spielt die Frage nach der Art und Weise, wie über Geschlechtlichkeit gesprochen wird, also nach dem Discours, eine bedeutende Rolle, an die die folgenden Überlegungen anknüpfen sollen.
Die durch den Anspruch von Barriereabbau (vgl. Trescher & Hauck 2018, 307f.) und Empowerment (vgl. Seitz 2014) gekennzeichnete Leichte Sprache ist im deutschsprachigen Raum seit den 2000er Jahren wahrnehmbar und mittlerweile in unterschiedlichen Regelwerken konzeptualisiert (vgl. Kellermann 2014). Sie hatte von Beginn an eine emanzipatorische Dimension, die auf den Abbau von Barrieren und der Herstellung von Partizipationsmöglichkeiten im Sinne einer Anti-Diskriminierungsarbeit abzielt (vgl. Bock 2014, 18f.). Leichte Sprache kann dazu dienen, sprachlicher Komplexität geschuldete Diskriminierungsstrukturen gegenüber Menschen mit Lernschwierigkeiten abzubauen. In der Nutzung Leichter Sprache wird damit stets eine Nuance emanzipatorischer Anti-Diskriminierungsarbeit angezeigt. Sie zeigt sich bereits in einer qua Existenz Leichter Sprache manifestierten Differenzsensibilität. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Sensibilität auch in Bezug auf die Differenzlinie Genderetabliert ist (Trescher 2021).
Leichte Sprache ist formal als in Grammatik und lexikalischer Semantik reduzierte Varietät der deutschen Sprache anzusehen (vgl. Maaß 2014, 11f.). Die auf der Ebene des Discours anzusiedelnde Reduktion soll dabei funktional für die Sicherung des Zugangs zu sprachlich gefasstem Wissen sein, das notwendig ist, „um eigene Rechte vertreten und ein selbstbestimmtes Leben führen zu können“ (Seitz 2014). Leichte Sprache richtet sich an Menschen, die auf dauerhafte Vereinfachung von komplexer Sprache angewiesen sind (vgl. Bock 2019, 39). Sie geht heuristisch bei der Betrachtung von Texten von einem Kontinuum zwischen hoher und niedriger sprachlicher Komplexität in den Bereichen Wortschatz, Syntax, Morphologie, Wortbildung und Textstruktur aus (2014, 25). Durch die mit Leichter Sprache realisierte Anpassung der sprachlichen Komplexität soll zu einem besseren Sprachverständnis beitragen und so Teilhabe an einer sprachlich konstituierten Gesellschaft unterstützen (Stefanowitsch 2014). Damit erscheinen viele Menschen mit Lernschwierigkeiten als potenzielle Adressat*innen Leichter Sprache. Der einer hohen Textkomplexität geschuldete Ausschluss von Menschen findet sich jedoch nicht nur dort, wo es um die Teilhabe von Menschen mit Lernschwierigkeiten geht: So ist es auch an Universitäten unüblich, Studierende des ersten Semesters mit einer intensiven Lektüre von Judith Butlers (1990, 1993) Frühwerken zu konfrontieren. Mit ihrer Kritik der binären Geschlechternorm eilt Butler der Ruf einer brillianten, aber schwer zu rezipierenden Analytikerin voraus (vgl. Distelhorst 2009, 7). Zugleich ist ihr Theoriewerk beispielsweise für Studierende der Sonderpädagogik oder der Disability Studies anschlussfähig (z.B. Buchner 2018, Rösner 2012, Tremain 2017, Trescher & Klocke 2014). Insbesondere die frühen monografischen Schriften Butlers lassen sich nach der Heuristik Bocks als hochkomplex bezeichnen. Doch gefährdet das problematische Passungsverhältnis zwischen Erstsemesterstudent*in und Butler nicht die gesellschaftliche Teilhabe kollektivierter Individuen, sondern wird im universitären Kontext als Aspekt des Bildungsprozesses im Studium verstanden. Auf der anderen Seite des Kontinuums kann die Leichte Sprache ihrem Selbstverständnis der Vereinfachung gemäß verortet werden. Sie tritt dort auf, wo im Gegensatz zum soeben gewählten Beispiel die dauerhafte Vereinfachung durch die sprachlich-inhaltliche Aufbereitung von Texten notwendig zu sein scheint, sie zumindest unterstellt werden muss, um gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten zu eröffnen (vgl. Bock 2019, 39). So finden sich mittlerweile verschiedene Texterzeugnisse wie Zeitungsartikel, Wahlprogramme, Internetauftritte von Behörden, Ministerien oder auch Publikationen zu Forschungsprojekten[2] in Leichter Sprache. Ebenso sind literarische Kulturprodukte wie Erzählungen mittlerweile in Leichter Sprache zu finden.[3]
Leichte Sprache als Varietät des Deutschen wird zwar vom Anspruch der Vereinfachung getragen, stellt jedoch anders als beispielsweise Jugendsprache oder Gebärdensprache keine Kommunikationsform dar, die von Adressat*innen selbst genutzt wird, wodurch sie als Manifestation einer gruppenbezogenen Stimme mit dem entsprechenden Identifikationspotential fraglich erscheint (Bock 2019, 40).
Ebenso betonen verschiedene Autor*innen den essentialisierenden Charakter Leichter Sprache, die mit ihrer Adressierung eines äußerst heterogenen Personenkreises diesem eine kognitive Beeinträchtigung zuschreibt (Trescher 2018, 87, Zurstrassen 2015, 129). Gleichzeitig bringt sie selbst ebenso Ausschlüsse hervor (Trescher 2021), weil Menschen ohne ein Mindestmaß an Kenntnissen von Schriftsprache nicht von ihr profitieren können. Die von Seitz (2014) als positive Diskriminierung bezeichnete Essentialisierung des Personenkreises schreibt den Rezipient*innen Leichter Sprache darüber hinaus stets zu, auf ebendiese angewiesen zu sein. Positiv gewendet ließe sich hier möglicherweise von einem strategischen Essentialismus (Spivak 2008, 67) sprechen, der einem normalisierenden Empowerment (Boger 2015, 114) stets inhärent ist. Dabei bleibt jedoch fraglich, wie provisorisch und damit strategisch die Annahme essentialistischer Kategorien an dieser Stelle tatsächlich ist.
Im Folgenden sollen nun zwei Möglichkeiten des Sprechens über Gender in Leichter Sprache exemplarisch betrachtet werden, um so zwei gegensätzliche Thematisierungsweisen aufzeigen zu können. Der Discours, also die Repräsentationsgrammatik der beiden Texte, die nachfolgend im Zentrum stehen, ist in Leichter Sprache gestaltet. Im Sinne einer Perspektive der Elementarisierung geht es dabei um die Frage, was der inhaltliche Kern der jeweiligen Darstellung in Leichter Sprache ist, was also über Gender auf der Ebene der Histoire gesagt wird. Wie gezeigt wird, werden binäre Geschlechterkonstellationen (re-)produziert (so beispielsweise im Kontext von Gewaltschutz von Frauen mit Behinderung, vgl. WeiberZEIT leicht gesagt, 3), um auf diskriminierende Verhältnisse aufmerksam zu machen. In anderen Zusammenhängen verweist die Auseinandersetzung mit dem ,Kern der Sache‘ auf ein Verständnis von Geschlecht als Verhältnis oder performativem Akt.
Ein Beispiel für das Sprechen über Genderin Leichter Sprache findet sich in dem Blatt Die Tageszeitung (taz).[4] Der Text „Was ist geschlechter-gerechte Sprache“ (taz 2019) erscheint mit Bezug auf einen in schwerer Sprache gehaltenen Artikel über die (Nicht-)Verwendung von gendergerechter Sprache im Wahlprogramm einer deutschen Partei und wurde von der taz in Leichte Sprache übertragen und von einem Büro für Leichte Sprache überprüft. Der Text in Leichter Sprache umfasst sechs Seiten in einer für Leichte Sprache gängigen Formatierung und stellt drei zentrale Aussagen vorweg:
„Es gibt viele verschiedene Geschlechter. Und alle Geschlechter sind wichtig. Aber unsere Sprache ist vor allem männlich.“ (taz 2019, 1)
In den folgenden Zeilen geht es zunächst um die Unterscheidung von Geschlechtern, wobei eine spezifische Idee von Geschlecht vertreten wird, die in der Analyse im Fokus stehen soll (s.u.). Über die Idee gleicher Rechte für alle und den Wunsch nach Zugehörigkeit beziehen die Autor*innen (Verfasser*innen unbekannt) den Aspekt Sprache mit ein und schildern beispielhaft eine Kritik am generischen Maskulinum, von dem sich nicht alle Menschen adressiert fühlen.
„Beim Wort Politiker denkt man sofort an einen Mann.
Eine weibliche Politikerin kommt in dem Wort nicht vor.
Das ist ungerecht!“ (taz 2019, 3)
Im letzten Teil des Artikels wird die mögliche Verwendung des Gendersternchens genannt und auf einen Artikel in schwerer Sprache verwiesen, laut dem sich eine Partei gegen die Verwendung des Gendersternchens entschieden hat. Grund dafür sei die Verständlichkeit (taz 2019). Der Artikel endet mit einer Bitte um Rückmeldung durch die Leser*innen. Die Autor*innen fragen die Leser*innen, wie sie selbst zukünftig mit dem Wort Politiker verfahren sollen.
Interessant für das hier verfolgte Thema von Elementarisierung Leichter Sprache am Beispiel Gender erscheint vor allem die erste Seite, wo auf Ebene der Histoire eine Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht (de Beauvoir 2005) angedeutet wird. Zunächst wird die gängige Norm der Geschlechtszuschreibung auf Grund äußerer Geschlechtsorgane genannt, die als ,männlich‘ oder ,weiblich‘ anerkannt werden:
„In unserer Gesellschaft wird das Geschlecht von Menschen meistens durch körperliche Eigenschaften bestimmt.
Zum Beispiel durch Geschlechts-Organe“ (taz 2019, 1)
Mit einem den vorigen Satz relativierenden Partikel („Aber“) wird der Geltungsanspruch der ersten Aussage aufgebrochen und die Faktizität der Geschlechtsdetermination durch körperliche Eigenschaften sodann fragwürdig:
„Aber nicht jeder Mensch mit einem Penis ist ein Mann.
Und nicht jeder Mensch mit einer Scheide ist eine Frau.
Und manche Menschen haben männliche und weibliche Geschlechts-Organe“ (taz 2019, 1, Herv. i. O.).
In den weiteren Zeilen wird die Diversität von Geschlechtszuschreibungen um eine trans und eine nicht-binäre Perspektive erweitert und die subjektive Sicht auf sich selbst als wichtig markiert.
„Ein Mensch mit einem Penis kann zum Beispiel sagen:
Ich bin trotzdem eine Frau.
Oder jemand sagt über sich selbst:
Ich bin kein Mann und keine Frau.
Mir reichen diese 2 Geschlechter nicht aus.“[5] (taz 2019, 1)
Verfolgt man die theoretischen Korrespondenzen, die sich in diesen Sätzen erkennen lassen, so zeigt sich, dass bereits mit den hier aufgeführten Zitaten ein Diskursraum eröffnet wird. Die zitierten Sätze lassen sich im Sinne der französischen Schriftstellerin und Philosophin Simone de Beauvoirs mit ihrer weit verbreiteten Aussage: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ (2005, 334) verstehen. Sie zeichnen mit der Unterscheidung von Geschlechtsorganen und der Perspektive eines Menschen auf sich selbst eine Differenz zwischen biologischem und sozialem Geschlecht. Gleichzeitig wird durch die Einbeziehung einer trans Perspektive die Binarität des sozialen Geschlechts in Frage gestellt, sodass die binäre Unterscheidung zwischen ‚männlichen‘ und ,weiblichen‘ Geschlechtsorganen nicht den Raum mannigfaltiger Möglichkeiten geschlechtlicher Identität determiniert. Die Auswechselbarkeit des sozialen Geschlechts in der Abgrenzung zum biologischen Geschlecht wurde von der bereits oben erwähnten Judith Butler (2012, 2019) problematisiert. Butler (vgl. 2012, 26; 2018, 22) negiert das Primat eines vordiskursiven natürlich weiblichen oder männlichen Körpers. Auch das biologische Geschlecht ist mit Butler als Norm anzusehen, die einem Körper auferlegt wird und ihn dadurch erst für ein soziales Leben befähigt (vgl. Butler 2018, 22).
Ausgehend hiervon lässt sich nun die Frage stellen, ob sich neben der beauvoirschen Unterscheidung die hier nur angedeutete Kritik Butlers auch in dem taz-Artikel in Leichter Sprache findet. Gemäß der oben aufgeführten begrifflichen Annäherung an Leichte Sprache als Darstellung wesentlicher Inhalte müsste es der Anspruch Leichter Sprache sein, auch Kritik an biologistischen Geschlechternormen in barrierearmer Weise darstellen zu können. Nicht zuletzt würde durch die Bearbeitung dieser Kritik in Leichter Sprache ein wichtiger Aspekt sexueller Selbstbestimmung für Personenkreise angestoßen werden, denen diese nur allzu häufig verwehrt bleibt (vgl. Klamp-Gretschel 2019, 673) und der nur selten gleichberechtigt am akademischen Diskurs partizipieren darf (vgl. Boger 2019c, 151).
Bezogen auf die Frage nach der Darstellung von Butlers Theoriewerk in Leichter Sprache muss nach der schlaglichtartigen Analyse eingestanden werden, dass die Kritik Butlers (vgl. 2012, 26) am Cartesianischen Dualismus der Unterscheidung von biologischem und sozialem Geschlecht, der Trennung von Körper und Geist, in dem taz-Artikel nicht bearbeitet wird. So bleibt die Fragwürdigkeit des Verhältnisses von Sex und Gender als zentraler Aspekt der butlerschen Argumentation (vgl. Butler 2018, 25 ff.) gegen die Logik der beauvoirschen Trennung unberücksichtigt, wenn, wie oben gezeigt wurde, von vorgängig männlichen und weiblichen Körpern gesprochen wird (vgl. taz 2019, 1). Gleichzeitig lässt sich daran zweifeln, dass eine Übersetzung von Sprache (hier komplexe in Leichte) überhaupt dazu in der Lage ist, das Ursprüngliche zu repräsentieren (vgl. Stefanowitsch 2014), sodass auch die Theoriearchitektur de Beauvoirs und aller anderen Autor*innen, die diese Unterscheidung bemüht haben, im taz-Artikel mit Sicherheit nicht in ihrer Gänze dargestellt werden kann.
Jedoch leistet der taz-Artikel einen zentralen Beitrag, der sich mit der Unterscheidung von Geschlecht und Geschlechtsidentität verdeutlichen lässt und die butlersche Kritik nicht unbedingt benötigt: Ausgehend von der Frage, was gendergerechte Sprache ist, werden die Prämissen der Sinnhaftigkeit gendergerechter Sprache thematisiert. Anstatt die Prämisse auszulassen und sich auf Phänomene an der Textoberfläche zu konzentrieren, führt er auf einer Ebene der Histoire seine Leser*innen dadurch in die Normativität von Geschlechtszuschreibungen ein. Vermittelt ein Text in Leichter Sprache die Normativität von (binären) Geschlechterzuschreibungen kann er mitunter ein Teil sexueller Selbstbestimmung sein. Insbesondere gilt dies für diejenigen, denen diese Selbstbestimmung abgesprochen wird, also einem großen Teil der Adressat*innen Leichter Sprache. Vor diesem Hintergrund kann das Erscheinen dieses Artikels in der taz als einer Zeitung mit einer mutmaßlich großen Anzahl an akademisch gebildeten Leser*innen als Versuch gelesen werden, ebendiese Leser*innen für den genannten Aspekt (sexueller) Selbstbestimmung zu sensibilisieren. So erscheint es ebenso möglich, dass mit dem Artikel Pädagog*innen als mögliche Adressat*innen in Frage kommen, die diesen Artikel für ihren Unterricht mit Menschen einsetzen, denen dieser Text in Leichter Sprache in ihrer aktuellen Situation den Zugang zu einer neuen Perspektive auf Geschlechtsidentität(en) bietet. Leichte Sprache kann also ein Weg sein, auch komplexe Inhalte so darzustellen, dass sie der*dem Adressaten*in zugänglich werden, auch wenn die oben beschriebene Gefahr einer Vereinheitlichung des Nichteinheitlichen durch die Ontologisierung des Adressat*innenkreises als homogen und auf Leichte Sprache angewiesen dabei nicht auszuschließen ist. Gleichzeitig ist es wichtig zu betonen, dass die situative Reflexion von sprachlichen Beiträgen ein zentraler Aspekt sprachlichen Handelns ist und zum Alltag aller sprachlich kommunizierenden Menschen gehört (vgl. Liedtke 2016, 9). Ein angemessener sprachlicher Umgang mit Menschen, denen die Rezeption bestimmter Texte schwerfällt, wäre nach Stefanowitsch (vgl. 2014) daher nur als konsequente Fortführung dieses alltäglichen und Kommunikation ermöglichenden Prinzips zu verstehen.
Eine andere Art und Weise, eine andere Form des Discours, um über Geschlecht zu sprechen, bietet hingegen die Zeitschrift WeiberZEIT an. Die WeiberZEIT leicht gesagt erscheint als Publikationsorgan der Selbstvertretungsorganisation von Frauen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen Weibernetz e.V.
Während in der taz Aspekte von Genderdiversität betont werden und der Fokus im Schreiben über Geschlecht eher auf Fluidität und Wahlfreiheit gelegt wird („Außerdem ist auch diese Frage wichtig: Wie sieht sich ein Mensch selbst?“, vgl. taz 2019, 1), scheint die WeiberZEIT die Differenzkategorie ‚Frau‘ zu bekräftigen:
„Ein anderes Thema sind Frauen-Rechte. Jede Frau hat das Recht zu entscheiden. Möchte ich ein Kind bekommen? Oder möchte ich kein Kind bekommen?“ (1)
Diese Art und Weise über Gender zu schreiben, begründet sich auch situativ, so beziehen sich die Autorinnen an dieser Stelle auf Schwangerwerdenkönnen, welches beispielsweise von Ina Praetorius (2018) als „politikbedürftige Körper-Tatsache“ verhandelt wird. Die Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp arbeitet Schwangerwerdenkönnen in ihrem gleichnamigen Essay als politisch relevante Differenz heraus, die auch deshalb aus dem poststrukturalistischen Genderdiskurs entschwunden sei, weil es „für Angewiesen sein auf andere“ stehe (11). In ihrem Essay schreibt sie: „In Bezug auf das Schwangerwerdenkönnen gibt es zwei Sorten von Menschen: diejenigen, die es können, und diejenigen, die es nicht können“ (14). Wenngleich Antje Schrupp u.a. die Termini „Person mit Gebärmutter“ oder „Menschen, die (nicht) schwanger werden können“ nutzt, um „über die reproduktive Differenz des (nicht) Schwangerwerdenkönnens nachdenken (zu können), ohne diesen Unterschied gleich mit kulturellen Genderbildern zu übertünchen“ (14), so scheint es verständlich, dass Anne Porst, Ricarda Kluge und Riccarda Freund in der WeiberZEIT alternativlos die Bezeichnung ‚Frau‘ nutzen. Denn auf einer Ebene der Histoire referieren sie genau auf die binäre Differenz Schwangerwerdenkönnen, die Antje Schrupp herausarbeitet. Die klare Binarität im Kontext dieser Situation ist mit dem Discours, der Art und Weise der Inszenierung in Leichter Sprache interdependent. Die binäre Matrix der Geschlechterordnung, die beispielsweise Judith Butler kritisiert und deren Kritik in der taz aufgenommen wurde, wird an der zitierten Stelle in der WeiberZEIT nicht in Frage gestellt. In diesem Artikel steht (anders als im zitierten taz-Beitrag) nicht das Sprechen über Genderkonstruktionen im Fokus – vielmehr werden hier konkrete Diskriminierungspraxen, die sich entlang einer binären Ordnung strukturieren, thematisiert.
In der Auseinandersetzung mit diesen Texterzeugnissen lässt sich nach dahinterliegenden Konzepten fragen – im konkreten Falle der hier verhandelten Beispiele etwa: Liegt dem Texterzeugnis ein eher performatives Geschlechterverständnis zugrunde oder wird Gender hier materialisiert verstanden (und auch: in welchen situativen Zusammenhängen lassen sich diese Elementarisierungen verstehen?). Situations- und zielabhängig ist es an manchen Stellen möglicherweise legitim, binäre Geschlechterkonstellationen zu (re-)produzieren (so beispielsweise im Kontext von Gewaltschutz von Frauen mit Behinderung, vgl. WeiberZEIT leicht gesagt, 3). Es können aber auch Elementarisierungen extrahiert werden, die ein Verständnis von Geschlecht als Verhältnis oder performativen Akt nahelegen. Es zeigen sich also verschiedene Gestaltungswege in Leichter Sprache, Genderfragen explizit oder implizit zu thematisieren.
Versucht man diese beiden konträr anmutenden Perspektiven gegeneinander abzuwägen, wird alsbald deutlich, dass beide Perspektiven in den zuvor analysierten Beispielen als mögliche Begehren diskriminierter Subjekte notwendig und gleichzeitig aus der jeweils anderen Perspektive kritisierbar sind (vgl. Boger 2017): Wer sich als Frau versteht und dabei als Frau ein Begehren nach Teilhabe an einer männlich dominierten Normalität artikuliert, kann die Dichotomie Frau – Mann in diesem Moment nicht dekonstruieren (vgl. Boger 2019b, 7). Gleichzeitig gilt: Wer sich nicht als Frau versteht, weil ihn*sie binäre Geschlechtskonstruktionen nicht überzeugen, sondern diese Dichotomie dekonstruiert, kann in diesem Moment nicht die andere* Stimme als diskriminierte Frau erheben (vgl. ebd.). Beide oben beschriebenen Begehren schließen sich aus und können dennoch notwendig sein: Diskriminierung, so wird in der Analyse der beiden Texte deutlich, ist widersprüchlich und daher muss Nicht-Diskriminierung als Antwort auf Diskriminierung ebenso widersprüchlich sein (vgl. Boger 2019a, II). Es ist also durchaus möglich, auf der Ebene der Histoire Sexismus in Leichter Sprache zu betreiben.
Für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den hier entwickelten Argumentationen erscheint die Analyse eines breiteren Korpus, der möglicherweise auch andere Differenzverhältnisse miteinschließt, erforderlich. Dennoch lassen sich einige zentrale Folgerungen zur Bedeutung des Elementaren in der Leichten Sprache bereits jetzt herauspräparieren:
Diese Elementarisierungen verweisen aber auch darauf, dass Anti-Diskriminierungsarbeiten letztlich unausweichlich widersprüchlich bleiben müssen. Dies wurde für die Verhandlung von Geschlecht in Leichter Sprache entlang von zwei Texten versucht, herauszuarbeiten: Die exemplarische Analyse zeigt, wie in Leichter Sprache auch beinahe diametral gegensätzliche Genderkonzepte zum Ausdruck gebracht werden.
Die elementarisierten Formen von sich gegenseitig ausschließenden Positionen zeigen, dass Leichte Sprache sich dieser Widersprüchlichkeiten nicht entziehen kann und insofern politisch wirkt, als dass sie unterschiedliche Perspektiven von Gesellschaft wiedergibt. So kann sie Diskursräume eröffnen, die ohne die Auseinandersetzung mit dem Kern der Sache intransparent bleiben. Das Konzept der Elementarisierung kann dazu dienen, Macht-Wissen-Komplexe und gesellschaftliche Kontroversen, die in Leichter Sprache formuliert werden, aufzudecken und zu dekonstruieren. Es kann als analytisches Brennglas gesellschaftlicher Veränderungsprozesse und Konflikte konzeptualisiert und genutzt werden. Einsichten aus der Arbeit mit und an Texten in Leichter Sprache zu gewinnen, stellt in diesem Sinn eine politische und emanzipatorische Arbeit dar, die als bildend aufgefasst werden sollte.
Und umgekehrt kann das Formulieren von Texten zu komplexen Fragen in Leichter Sprache dazu dienen, gesellschaftliche Kontroversen zu durchdringen, sich ihren Kern zu erschließen und schließlich in einer präzisen Form zum Ausdruck zu bringen. Große Streitfragen spätmoderner Gesellschaften werden in Leichter Sprache im Sinne einer Essenz elementarisiert und so unabhängig von persönlicher Behinderungserfahrung erfahrbar und relevant. Die Anwendung Leichter Sprache kann insofern als ein Instrument des ‚Ringens um Bedeutung‘ aufgefasst werden. Damit muss aber auch das Verfassen von Texten in Leichter Sprache sowohl inhaltlich als auch in seiner Dimension von Macht ernst genommen und reflektiert werden. So sind auch die Regeln Leichter Sprache selbst gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen, beispielsweise in der Frage, wie in den Texten selbst gegendert werden sollte (Meyer et al. 2022).
Wir möchten daher abschließend für die Arbeit mit und an Texten in Leichter Sprache als eine Möglichkeit für inklusive Bildungsarbeit und universitäre Lehre plädieren, um intersektionale Verwobenheit diskriminierender Strukturen und aporetische Phänomene sichtbar zu machen. Sowohl die Analyse von Texterzeugnissen in Leichter Sprache, wie auch das Verfassen von Texten in Leichter Sprache stellt einen Möglichkeitsraum dar, um sich in heterogenen Lerngruppen durch die gemeinsame Arbeit am Kern der Sache – ausgehend von unterschiedlichen Ausgangspunkten – kontroversen Fragestellungen anzunähern und, diskriminierende Strukturen und ihre (unhintergehbar) ambivalente Dimension zu erfassen.
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[1] (taz 2019, 1)
[2] FAQ der Forschungsstelle Leichte Sprache der Universität Hildesheim. Online verfügbar unter: https://www.uni-hildesheim.de/leichtesprache/ueber-leichte-sprache/faqs/faqs/ (20.01.2022).
[3] Siehe zum Beispiel die Auflistung des Netzwerks Leichte Sprache. Online verfügbar unter: https://www.leichte-sprache.org/geschichten/ (20.01.2022).
[4] Online verfügbar unter: https://taz.de/Leichte-Sprache/!5634433/ (20.01.2022).
[5] Das Zitat findet sich auch im Titel dieses Aufsatzes wieder.