Abstract: Der Beitrag reflektiert die Frage des Verhältnisses von Fachunterricht und Inklusion, u.a. auch Fragen der Individualisierung und inneren Differenzierung. Dabei wird diskutiert, inwieweit empirische Studien, deren Beobachtungen und Erhebungen in Feldern des selektierend-ausgrenzenden und segregierenden Schulsystems bzw. dort unter Aspekten einer »selektierenden Inklusion« generiert werden, hinsichtlich der Frage eines inklusiven Unterrichts bzw. der Transformation dieses Schulsystems in ein inklusives diesbezüglich relevant und valide sein können. Es wird verdeutlich, dass hinreichend Gründe bestehen, dass der Fachunterricht, dem weitgehend alleine zugeschrieben wird, eine fachliche Bildung realisieren zu können, hinsichtlich seiner Annahmen zur Inklusion äußerst begrenzt ist und nur in reduzierter Weise eine subjektwissenschaftlich fundierte Pädagogik realisieren kann. Eine erforderliche entwicklungslogische Didaktik mit der Möglichkeit entwicklungsniveaubezogener innerer Differenzierung rückt den Projektunterricht in den Fokus.
Stichworte: Schulforschung, Fachunterricht, Innere Differenzierung, Individualisierung, Allgemeine Pädagogik, Entwicklungslogische Didaktik
Inhaltsverzeichnis
„Es geht also um Probleme, die so erörtert werden müssen,
dass der Sachverstand nicht an der Garderobe zurückgelassen wird.”
(Pierre Bourdieu 1998a, S. 74)
Meine Hypothese geht davon aus, dass die Pädagogik in ihren vielfältigen Wirkungsfeldern unter dem Dach der sie im Sinne einer Metaebene übergreifenden Erziehungswissenschaft, die ich nicht an Institutionen unmittelbarer (schul-)pädagogischer Praxis gebunden sehe, wenngleich von den dort erhobenen Daten, berichteten und schriftlich gefassten Erfahrungen als Gegenstände ihrer Praxis abhängig, jene Wissenschaft unter den Wissenschaften ist, deren Weg der Befreiung aus dem Hort der Philosophie und Theologie, die sie hervorgebracht haben, am wenigsten weit geführt und noch heute nicht als emanzipativer Akt zu Ende gebracht worden ist. Dies in einer doppelten Weise: Zum einen hinsichtlich ihrer Abhängigkeit von den sie hervorbringenden normativen Wissenschaftssystemen und zum anderen bezogen auf die wirkmächtigen außerpädagogischen Einflussnahmen der sie ökonomisch tragenden und sie juristisch einhegenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte. Bezogen auf das Verhältnis der Einflussnahme der heute in der Erziehungs- und Bildungswissenschaft verdichteten humanwissenschaftlichen Erkenntnisse auf die pädagogische Praxis in Relation zu den außerpädagogischen Vorgaben, müssen erstere leider als weitgehend bedeutungslos eingeschätzt werden. Das macht es schwer, die pädagogischen Praxisfelder als wissenschaftliche Räume zu begreifen. Die in ihnen stattfindende Forschung wird weitgehend durch die außerpädagogischen Vorgaben beeinflusst, so dass die Forschungsergebnisse schwerlich auf eine wissenschaftliche Pädagogik bezogen werden können denn auf die Einflusssphäre bildungsökonomischer und -politischer Organisations- und Strukturelemente.
„Alles liefe also bestens in der besten aller möglichen Wissenschaftswelten, wenn die rein wissenschaftliche, in der alleinigen Macht von Begründung und Beweis stehende Logik des Wettbewerbs nicht durch externe Kräfte und Zwänge konterkariert, in manchen Fällen sogar annulliert würde (wie man es vor allem bei Wissenschaften sieht, deren Weg in die Unabhängigkeit erst halb bewältigt ist, Wissenschaften, in denen man immer wieder soziale Zensuren als wissenschaftlich bemänteln kann und mit wissenschaftlichen Begründungen den Mißbrauch spezifisch sozialer Macht, der administrativen Befehlsgewalt oder der Benennungsmacht von Preisgerichten in wissenschaftlichen Wettbewerben).” (Bourdieu 1998a, S. 30)
Blankertz hat schon 1971 in seinen Reflexionen zu Theorien und Modellen der Didaktik betont: „Geisteswissenschaftliche Pädagogik trat an unter dem ausdrücklichen Rekurs auf die Erziehungswirklichkeit und unter Absage an die Hoffnung, mit der wissenschaftlichen Behandlung der Erziehung ein System zu schaffen, in welchem alle Einzelpositionen aus den obersten Prinzipien mit Notwendigkeit abzuleiten wären. Gegner waren also die normativen Systeme” (S. 29). Man kann mit der Klafkischen Theorie der »Kategorialen Bildung« und dem diesem impliziten Verständnis, was Bildung sei (vgl. Klafki 1965, S. 22 ff.; S. 94 ff.), davon ausgehen, dass der wissenschaftlichen Eigenständigkeit der Pädagogik gegenüber den über Jahrhunderte zuvor dominierenden Abhängigkeiten von einer normativen Didaktik ein bedeutender Fortschritt gelungen ist, der durch die außerpädagogischen Einflusssphären allerdings wieder sehr zu relativieren ist. Dies auch bezogen auf die dominierenden Lehrplanvorgaben, die tief in die Schulformen und die mit ihnen verbundenen Schulstufen hineinwirken und bis auf das Jahrgangsniveau einer Schulklasse weitgehend verdrängt haben, was noch im Sinne Klafkis als Bildung begriffen werden kann und von Wilhelm von Humboldt erstmals in einer erziehungswissenschaftlichen Weise ausformuliert worden ist.
Die curricularen Vorgaben, die heute in zu erwerbende Kompetenzen umgeschrieben und ständigen Nachweiskontrollen unterworfen werden, konterkarieren, was Bildung meint, und lenken den Blick in Richtung schulischen Geschehens, das zu verwertungsdefinierten Abrichtungsstrategien mutiert, die letztlich eine »marktgerechte Bildung«[3] realisieren sollen. Das verlangt, das richtige Kind in der richtigen Schule zu platzieren, um auf der Basis der interindividuellen Fähigkeitsunterschiede (Grünwald, 1980) die gewünschte Employability in Produktion, Konsumtion und Reproduktion zu gewährleisten, als wären die Menschen mechanische Puppen i.S. der Vorwegnahme von künstlicher Intelligenz geleiteter Roboter. Die Bilanzierung des Humankapitals, das aus den Humanressourcen, die Kinder in das Schulsystem einbringen, in diesem durch Unterricht generiert wird, muss eben stimmen.
„Bildung zur Universalität” und nicht Abrichtung zur Ausübung von Funktionen, die Maschinen und andere Technologien noch nicht autonom ausführen können, ohne sich Menschen als biologisches Funktionsteil zu versklaven, ermöglicht, wie Heydorn betont, „die unmenschliche Repression der Vergangenheit als Kulturversagung” (1980, S. 180) aufzuheben, damit auch die fortgesetzten Exklusionen.
Die Aufgabe, der sich Forschung zu stellen hat, so meine Position, ist die Schaffung von Transparenz hinsichtlich der Wirkmechanismen der angesprochenen unmenschlichen Repression und Kulturversagung, die alle Schüler*innen betrifft, um daraus Hinweise für deren Aufhebung in der pädagogischen Praxis zu gewinnen – für einen solchen Prozess könnte der Begriff der Inklusion stehen. Auf dem Hintergrund dessen, dass das Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtssystem (EBU) seiner Struktur nach für alle, die es durchlaufen, per se selektierend ausgrenzend und segregierend ist (sEBU), müsste die mit der Inklusion einhergehende Blickverengung auf einen Unterricht, der sich durch die Partizipation von Schüler*innen mit Beeinträchtigungen resp. so genannten sonderpädagogischen Förderbedarfs als inklusiver versteht, endlich überwunden werden. Das sEBU ist für alle Schüler*innen ein nicht inklusives. Vor diesem Hintergrund möchte ich zu Reflexion anregen, damit »die Kultur zum Bauern kommt«.[4]
Gal’perins Theorie der etappenweisen Ausbildung geistiger Operationen (Gal’perin 1967) weist der Schaffung einer Orientierungsgrundlage eine zentrale Rolle für das Gelingen von Lernhandlungen in der Spanne von ersten materialisierten Handlungen über lautsprachliche Handlungen und die äußere Sprache für sich bis hin zum Aufbau der inneren Sprache und des Denkens zu. Jedes einzelne Niveau modifiziert sich nach vier Parametern, die die Qualität der Handlung bestimmen. Diese sind die Entfaltung im Sinne von erforderlichen Teiloperationen, die Verallgemeinerung, um aus den vielfältigen Eigenschaften des Objekts der Handlung die auszugliedern, die von entscheidender Bedeutung sind, so dass es zur Einsicht der Zusammenhänge zwischen Eigenschaften des Gegenstandes und den Mitteln der Handlung kommen kann. Dies wiederum als Voraussetzung zur Beherrschung bzw. Aneignung der für neue Handlungen erforderlichen Teiloperationen, die dann insofern eine Verkürzung erfahren können, dass ein Kind die Anzahl einer Menge nicht mehr durch das Zählen der einzelnen Elemente erfasst, sondern diese z.B. paarweise anordnet und nun zählt: zwei – vier – sechs usw.
Mit diesen Hinweisen erlaube ich mir, auf eine wenig beachtete bzw. auch in fachdidaktischen Diskursen diskutierte Komponente der dreidimensionalen didaktischen Struktur der entwicklungslogischen Didaktik zu verweisen (Feuser 2011, S. 94), die als Handlungsstrukturanalyse ausgewiesen ist.[5] Es ist die sich aus vielfältigen Operationen konstituierende Handlung, die in Kontexten der »sinnlich-gegenständlichen Tätigkeit« das Subjekt im Prozess der Aneignung von Mensch und Welt zu diesen in Beziehung setzt (Subjekt –> Tätigkeit –> Objekt), was unter didaktischer Perspektive als Lernprozess bezeichnet werden kann.
Ferner erlaube ich mir anzuregen, in Analogie zu diesen Hinweisen, Forschungsfragen und deren Designs für Studien zur Inklusion in Feldern der Pädagogik im allgemeinen und bezogen auf den Unterricht im Besonderen in den Blick zu nehmen. Auch sie hätten von einer fundierten Bestimmung des Gegenstands, der Inklusion, auszugehen. Dies als Voraussetzung, um im Forschungsprozess, analog zur Handlung im Lernprozess, diesen in seiner gesamten Bandbreite möglicher Fragestellungen auffächern und zu einzelnen Fragen Hypothesen bilden zu können, die im Prozess selbst zu evaluieren, zu bestätigen, zu verwerfen oder neu zu formulieren wären, ohne dass dadurch Inklusion als stets zu fokussierender Gegenstand aus dem Blick gerät. Solches kann aber nicht vorausgesetzt werden, da über mehr als vier Jahrzehnte hinweg ein wissenschaftlich fundierter Konsens darüber, was mit Inklusion zu verbinden ist und sie definiert, nicht besteht. Vielmehr muss eine Bandbreite an Beliebigkeit der Sichtweisen auf Inklusion konstatiert werden, die allein den Begriff als solchen schon obsolet macht. Die Inklusionsforschung entbehrt sozusagen einer validen Orientierungsgrundlage.
Ein weiterer Vergleich: Lernprozesse ohne fundierte Bestimmung des Gegenstands im Gal’perinschen Sinne reduzieren sich auf ein Funktionstraining in Sachen des Umgangs mit einem zu bearbeitenden Objekt oder Sachverhalt, der im Unterricht ein Teilproblem eines Faches sein kann und/oder sich auf die gedächtnismäßige Verankerung eines vorgegebenen Wissensbestands bezieht. Solches bezeichne ich als rezeptives Lernen, bei dem Wissen nicht im Sinne operativ-handelnden Lernens aus Erkenntnissen gewonnen wird, so dass der Wissenskonsum in Abwandlung Bourdieuscher Begriffe totes kulturelles (Bildungs-)Kapital bleibt oder zum Habitus wird, zu einem Dispositionssystem, das die Wahrnehmung, die Denk- und Handlungsweisen des Menschen, seine Haltungen und Einstellungen, seine Gewohnheiten und Wertvorstellungen hochgradig bestimmt, ohne die Fähigkeit, sich dessen in Analysen und Reflexion hinreichend bewusst werden zu können. Was gelernt wird, gerinnt zur Instanz im Individuum.
Das wirft die Frage auf, ob Forschungsprozesse, die das Subjekt von Seiten des Objekts spiegeln (Objekt –> Subjekt: so z.B. das Lernen von Kindern im Fachunterricht mittels innerer Differenzierung, verstanden sowohl als kollektiver als auch individueller Prozess, bezogen auf eine bestimmte Funktion der zu behandelnden Sache, die inhaltlich auf eine Schulform und Jahrgangsstufe bezogen vorbestimmt und durch die Lehrperson angeleitet ist), überhaupt eine essenziell gültige Aussage in Sachen Inklusion machen können oder nur Relationen von Verhältnissen zu beschreiben vermögen. Ohne Bestimmung des Gegenstandes analog der Orientierungsgrundlage für den Interiorisationsprozess bliebe für den Forschungsprozess die Beziehbarkeit der Ergebnisse z.B. zu Fragen der geforderten Fachlichkeit und Individualisierung auf den Sachverhalt der Inklusion in Frage gestellt, auch wenn das Forschungsvorhaben mit dem Etikett Inklusion versehen ist.[6] Die Befunde zu den erhobenen Relationen würden dann auch nicht für Inklusion codieren und könnten schwerlich legitim auf diese bezogen werden. Die Aussagen müssten auf das beobachtete Feld und auf dessen spezifische Struktur begrenzt bleiben. Die spezifische Ökonomie des Forschungsfeldes weist ihrerseits den in ihm agierenden Forscher*innen eine spezifische Stellung zu und definiert so die Zwänge, die ihnen als Akteure auferlegt sind (vgl. Graf 2008). Das rahmt Machtverhältnisse und verunmöglicht, bezogen auf das institutionalisierte EBU in seiner historisch über Jahrhunderte ausgebildeten Abhängigkeit von den es unterhaltenden und vorhaltenden (ökonomischen und bildungspolitischen) Herrschaftsstrukturen, bis heute einen Unterricht, den ich als inklusiv bezeichnen würde.
Das konstituiert eine paradoxe Lage, die im Sinne Bourdieus als Doxa bezeichnet werden kann, insofern sie die mehr oder weniger bewusste Anerkennung der das EBU definierenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse voraussetzt, um allein schon zum Forschungsfeld Zugang zu erhalten. So die für das Schulsystem grundlegenden Mechanismen der Selektion, Ausgrenzung und Segregation, die mit dem favorisierten Leistungsbegriff als Vermögen oder Unvermögen der Lernenden exekutiert wird, die resultierende hierarchische Gliederung der Schulformen und -stufen, die zwanghafte soziale Organisation in Jahrgangsklassen und die ständische Orientierung als Ausdruck der Einflussnahmen der in Bezug auf diese Felder herrschenden außerpädagogischen Eliten. Als Schlussfolgerung drängt sich auf: Um etwas erforschen zu können, das es nicht gibt, muss man das beforschen, was verhindert, dass es das Intendierte gibt, das seinerseits durch die auf diesem Weg erzielten Forschungsergebnisse aber nicht automatisch bezeichnet, wie es realisiert werden kann.
Anders gesagt, in selektierend-segregierenden Lernfeldern können Unterrichtsprozesse erhoben und identifiziert werden, die exkludieren (auch wenn behinderte Kinder im Feld anwesend sind), aus denen aber nicht ableitbar ist, wie ein Unterricht zu gestalten sei, der nicht exkludiert. Ein solcher hebt Inklusion in sich auf. Es ist auch nicht anzunehmen, dass die im sEBU gewonnenen Forschungsergebnisse schlüssig aufzuzeigen vermögen, wie ein sEBU in ein inklusives (iEBU) transformiert werden könnte. Zumindest ist mir bis heute nicht bekannt geworden, dass aus den methodologisch sehr minutiös aufgebauten Forschungsstrategien, die mit dem Stichwort Inklusion firmieren, Beschreibungen eines iEBU bis auf die didaktische Ebene resultiert hätten.
Inklusion ist hinsichtlich ihres Grundanliegens und i.e.S. des Begriffes eine normativ zu entscheidende und in demokratischen Systemen eine gesellschaftliche Frage. Durch das zu nationalem Recht gewordene Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK)[7], eingedenk anderer damit zu verknüpfenden UN-Deklarationen, wie z.B. die Menschen- und Kinderrechte, sind der kultushoheitlichen Politik der Bundesländer die noch immer praktizierte Beliebigkeit hinsichtlich deren Beachtung und Umsetzung im EBU im Grunde entzogen und die inzwischen zum Goldstandard gewordene selektierende Inklusion (ein Paradoxon), nicht zu rechtfertigen. Auf dieser paradoxen Situation fußen alle im Feld durchgeführten empirischen Studien. Die UN-BRK weist im Artikel 4 (1) a aus, dass die Vertragsstaaten die Verpflichtung haben, „alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstige Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen”. Dieser Verpflichtung kommen sie bis heute nicht nach, was die Problematik der Forschungssituationen mit bedingt, aber auch verlangt, die Selektivität und Begrenztheit der Forschungsergebnisse hinsichtlich des Phänomens der Inklusion deutlich auszuweisen.
Will die Pädagogik als eigenständige Wissenschaft erachtet werden, hat sie auszuarbeiten, wie das Menschenrecht auf Inklusion lt. Artikel 24 in allen pädagogischen Domänen ohne Diskriminierung (was allein schon eine selektierende Inklusion verbietet) zu verwirklichen und ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen einzulösen ist, und entsprechend eindeutige Forderungen an die Bildungspolitik zu erheben, die eine juristische wie ethische Verpflichtung hat, Praxisfelder vorzuhalten, die einen pädagogischen und den diesen zugrundeliegenden humanwissenschaftlichen Erkenntnissen folgenden Schulbetrieb und Unterricht gestatten, der nicht durch außerschulische Mächte gesteuert und reguliert wird, wie das, mit allem Vorbehalt, zu Teilen mit den Schulversuchen zu Beginn der Integrationsentwicklung der Fall gewesen war. Damit stünden dann auch Forschungsfelder zur Verfügung, die erlauben, das zu erforschen, was zu erforschen vorgegeben wird, nämlich Inklusion, die zum einen aus meiner Sicht für das gesamte EBU keinen Ausschluss von Zugang und aktiver Teilhabe von Kindern und Schüler*innen aufgrund welcher Differenzmerkmale auch immer gestattet und dessen Neustrukturierung verlangt. Dass diese Bedingungen auch im fünften Jahrzehnt der Entwicklung der Integration/Inklusion im deutschsprachigen Raum nirgendwo umfassend realisiert sind, ist auch von der Pädagogik selbst mit zu verantworten, die, wie schon angedeutet, keinen von wissenschaftlichen Kriterien getragenen Grundkonsens hinsichtlich des Phänomens der Inklusion entwickelt hat und dieses aus einer wie auch immer gut gemeinten Empirie im sEBU heraus auch nicht wird leisten können. Seitens ihrer Praxisfelder besteht noch immer eine subtile Abwehr der Inklusion, in Bezug auf die der politische Unwille zu erforderlichen strukturellen Veränderungen des EBU geradezu passgenau ist. Würde man sich darauf einlassen, dass im sEBU im Grunde nur die Exklusionsprozesse und deren Funktionskomponenten zutreffend erforscht werden können und eben nicht, was mit Inklusion zu verbinden ist, könnte das insofern im Sinne des Gedankens der Inklusion wirksam werden, dass Lehrpersonen, Eltern und politisch Verantwortliche einen solchen dann eindeutig belegten und nachgewiesenen menschenrechts- und kindeswohlwidrigen Makel des sEBU, der eben jedes Kind und alle Schüler*innen betrifft, nicht mehr zu legitimieren bereit sind und eine solche Praxis als zu beenden erkennen. Politisches Restriktionen sind keine pädagogische Legitimation der Beibehaltung eines restriktiven sEBU und der Integration der Inklusion in die Segregation.
Für die Entwicklung der Integration/Inklusion gibt es aufgrund der ihr in den Feldern von Psychologie, Psychiatrie und Pädagogik vorausgegangenen historischen Entwicklungen auf dem Hintergrund der jeweils wirkmächtigen gesellschaftlichen Verhältnisse keinen anderen Weg, als deren Bestimmung aus den anthropologischen Grunddimensionen menschlicher Existenz. In humanwissenschaftlich geleiteter Analyse der Bedingungen ihrer Absicherung und der Ermöglichung einer individuellen Entwicklung konnten die menschlicher Persönlichkeitsentwicklung sowohl zuträglichen als auch abträglichen Bedingungen herausgearbeitet und damit, um bei Heydorn zu bleiben, die »unmenschliche Repression und Kulturvermeidung« psychiatrischer Praxis, der institutionalisieren Behindertenfürsorge und des sEBU offengelegt und Kriterien für deren Transformation in ein repressionsfreies und eine neue Kultur ermöglichendes System bestimmt werden, das wir ein iEBU nennen können. Diese Zusammenhänge sind vor allem u.a. in den Arbeiten von Jantzen (2007) mit dem Schwerpunkt der Kulturhistorischen Schule und in meinen Arbeiten mit den Schwerpunkten der Selbstorganisations- und Systemtheorie in der Allgemeinen Pädagogik und entwicklungslogischen Didaktik (Feuser 1995, 2011, 2013, 2018b) verdichtet, mit der der Weg von der Segregation durch Integration zur Inklusion zielgerichtet beschritten werden konnte. Ich referiere kurz, auch zurückgreifend, um die Umkehrung der verkehrten Verhältnisse auf didaktischer Ebene einsichtiger zu machen:
Naturphilosophisch gesehen existieren für ein lebendes System, bildlich gesprochen, zwei sich dialektisch vermittelnde Wirklichkeiten: Die der uns umgebenden Umwelt, mit der wir uns ständig austauschen, und die der in internen Prozessen der Selbstorganisation möglichen Erfahrungsbildung über sich selbst und die Welt. Dies in der Spanne von einfachen reizbaren und zur Empfindung fähigen Zellfunktionen bis hin zur Bewusstheit eines Systems über sich selbst und seine Mensch-Welt-Verhältnisse. Die Fähigkeit, sich mit Mensch und Welt in Beziehung setzen und dieses in Form interner Abbildfunktionen rekonstruieren und dadurch seine Komplexität hinsichtlich der Erkenntnisse über Mensch und Welt steigern zu können, kann man begrifflich als das Verhältnis von Persönlichkeitsentwicklung und Lernen kennzeichnen.[8] Kein (unter welchen assistierten Bedingungen auch immer) lebender Mensch ist davon ausgenommen und gleich allen anderen das (entwicklungslogische) Subjekt seiner Lebenswelt als je einmalig existierendes menschliches Lebewesen. Damit ist die Heterogenität einer jeden Lerngemeinschaft eine grundsätzlich gegebene und die durch Schulformen und -stufen erzwungene Homogenisierung der Schüler*innen darauf bezogen eine ordnungsstaatliche Vorgabe, die, lern- und entwicklungspsychologisch gesehen, eines vernünftigen Grundes entbehrt. Mithin ist in pädagogischen Feldern, so es nicht ausschließlich um das Lernen eines einzelnen Menschen für sich geht (das einem individuellen Curriculum folgt), sondern in einer Lerngemeinschaft gelernt wird, erforderlich, von übergreifenden Themen, Inhalten oder Sachverhalten und damit stets auch vom Erfordernis der Individualisierung auszugehen. Das ist im Grunde eine pädagogische Banalität.
Lernen ist ein vom Subjekt ausgehender, mittels der sinnlich gegenständlichen Tätigkeit (vgl. Leont’ev 1982) in Handlungen und Operationen sich realisierender und auf die (Objekt-)Welt gerichteter Prozess. Er verläuft, wie schon angedeutet wurde, vom Subjekt über dessen Tätigkeit zum Objekt (S –> T –> O) und nicht umgekehrt (O –> T –> S), wie es die von Bildungsplänen ausgehende und in Fächern auf die Schüler*innen hin orientierte tradierte (eindimensionale) Didaktik bearbeitet und im schulischen Lernen praktiziert wird. Die Führungsgröße in diesen Prozessen ist das sich aktiv mit Natur und Gesellschaft auseinandersetzende Subjekt, das Lernen eine resultierende Funktion. Entsprechend ist das Lernen – mithin der Unterricht, verstanden im Sinne Vygotskijs (1987) als Lernen, das Entwicklung intendiert – vom Subjekt und seiner Biografie ausgehend zu betrachten, von dessen Bedürfnissen, Erfahrungswelten, Interessen und Motiven her und nicht aus der Perspektive der Anforderungen der curricularen und normativen Vorgaben.
Damit sind den für das gegenwärtige Schulsystem zentralen Organisationsformen und Arbeitsweisen, in denen die Forschungen etabliert sind, grundsätzlich zu widersprechen. Die Verengung des Lernfeldes auf ein Fach und dessen immanente Logik und innerhalb derer auf einen spezifischen Gegenstand mit einer normierten Zielvorgabe kann das Erfordernis eines gemeinschaftlichen Lernens und der erforderlichen Individualisierungen nicht einlösen. Dies allein auch schon deshalb nicht, weil der Gegenstand curricular verordnet und für viele Schüler*innen jenseits ihres Erkenntnisinteresses und der erfahrungsbasierten Zugänglichkeit liegt. Diese Problemlage ist nicht dadurch zu lösen, dass man die Heterogenität der Gemeinschaften und die individuellen Differenzen kategorisiert und dadurch ontologisiert, sondern deren Dynamik in austauschbedingten Selbstorganisationsprozessen lebender Systeme begreift, die ständigen Änderungsdynamiken unterworfen sind. Dissipativ-autopoietische Systeme vermehren Komplexität; sie widersprechen ontologischen Reduktionismen. Jedwede kategoriale Ontologisierung (ob nun eine Hochbegabung oder geistige Behinderung konstatiert wird) hat Formen neuer Kolonialisierungen zur Folge, wie sie sich in einer schulformbezogenen Ghettoisierung ausdrücken. Auf dem Hintergrund der Selbstorganisation lebender Systeme ist jedes in seiner Lebensweise und so lange es lebt ein kompetentes System darin, sich selbst hervorzubringen und sich in Kooperation mit anderen selbst zu erhalten. Letztlich, darin kann man Luhmann (vgl. 2000, S. 156) folgen, sind Personen Strukturen der Autopoiese sozialer Systeme, die von Einheiten zu unterscheiden sind, die durch Gedanken eines Menschen erzeugt werden (z.B. Hochbegabte, Behinderte). Auch aus dieser Perspektive kann man den Behinderungsbegriff und eine kategoriale Praxis der Heil- und Sonderpädagogik, auch wenn sie durch die Zuschreibung eines »sonderpädagogischen Förderbedarfs« euphemistisch verbrämt wird, nur als obsolet betrachten. Jedes aktiv tätige Gehirn ist in der Lage, Unterscheidungen zu treffen, ohne die es nichts Wahrnehmbares geben würde. Folglich geht es nicht um die Negation individueller Differenzen, sondern um die mit ihrer kategorialen Einhegung und gesellschaftlichen Universalisierung verbundene Ontologisierung von (beobachtbaren) Merkmalen, deren Naturalisierung als (persönliche) Eigenschaften und um die darauf bezogene meritokratische Wertzumessung. Die damit verbundenen Widersprüche sind transparent zu machen und in sozial verträglicher Weise zu kommunizieren, um ihren Umschlag in Herrschaftsverhältnisse, Stigmatisierungs-, Diskreditierungs- und Ausgrenzungsprozesse zu vermeiden. Darin ist eine besondere Erziehungs- und Bildungsaufgabe einer jeden pädagogischen Praxis zu sehen; vor allem einer, die als inklusiv firmiert. Hinsichtlich dessen geht es um Bildungsgerechtigkeit im Sinne einer vorwiegend differenz- und entwickungsniveaubezogenen Individualisierung und nicht nur, wie meist und gerade im Fachunterricht der Fall, um eine nach Schwierigkeitsgraden der Arbeitsaufträge und hinsichtlich zeitlicher Vorgaben für die Bearbeitungszeit gestaffelte innere Differenzierung. So weit war Wolfgang Klafki mit seiner fünften Studie zusammen mit Herrmann Stöcker zu Fragen innerer Differenzierung des Unterrichts bereits 1985 (S. 119 ff.) gegangen. In einer Skizze (S. 134) verweisen sie bereits darüber hinaus auf Erkenntnistheorien der Kulturhistorischen Schule von Gal’perin, Leont’ev und Lompscher (vgl. S. 139) und damit auf Aneignungs- und Handlungsebenen, die eine entwicklungsniveauorientierte Individualisierung ermöglichen können, führen das aber nicht weiter aus. Viele aktuelle Diskurse zu Fragen der Didaktik haben bis heute diesen Stand noch nicht erreicht.
Bezogen auf die Didaktik ist, wie deutlich geworden sein dürfte, ein grundlegender Positionswechsel der Pädagogik von der materialen und formalen Objektseite – von Wolfgang Klafki schon in den 1960er Jahren in der Theorie der Kategorialen Bildung vereinheitlicht – zur Subjektseite zu vollziehen, die von Edouard Séguin schon vor 160 Jahren unter pädagogischer Zielsetzung als Wiederherstellung der Einheit des Menschen in der Menschheit (vgl. Séguin 1912, S. 164) beschrieben wurde – eine treffende Beschreibung dessen was Inklusion eingedenk der Wiederherstellung der zusammenhanglos gewordenen Mittel und Werkzeuge der Erziehung (ebd.) zu leisten hat. So weit ist, wie schon angedeutet, die kritisch-konstruktive Didaktik und die Allgemeinbildungskonzeption Klafkis (1996) letztlich nicht vorgedrungen. Ausgangspunkt didaktischen Denkens – grundgelegt durch die Klafkische „doppelseitige Erschließung” von Objekt und Subjekt und damit die Verankerung erziehungswissenschaftlichen Denkens auf ein dialektisches Niveau – ist der real existierende, in sinnlich-gegenständlicher Tätigkeit sich aktiv mit Mensch und Welt austauschende Mensch in seiner je einmaligen historischen Situation, von dem alle Pädagogik auszugehen hat.[9] Ich verdeutliche das mit der nachfolgenden Skizze.
Die Implikationen einer solchen Pädagogik und Didaktik habe ich aus unterschiedlichen Perspektiven und Zugängen heraus verdeutlicht und sie sind, auch um den Preis, sich nicht zu wiederholen, nicht in neue Kleider zu zwingen. Sie sind nicht kompatibel mit dem bestehenden sEBU und erfordern, kurz skizziert, einen Unterricht,
Damit ist die Entmachtung der schulform- und schulstufenspezifischen Lehrplanlogistik verbunden, die im Grunde die Wertschöpfungskette von Humanressourcen der Kinder und Schüler*innen durch Unterricht und Schule zu vernutzbarem Humankapital garantiert. Damit stelle ich das Recht einer Gesellschaft nicht in Abrede, Ansprüche an die Pädagogik hinsichtlich der Tradierung und Weiterentwicklung ihrer Kultur zu stellen und dieses in einem Bildungskanon und nicht in einem Lehrplan festzuhalten. In Abrede stelle ich aber, wie eingangs schon angedeutet, das Recht (in Deutschland personifiziert durch die Kultusminister*innen der Länder), mit einem in anderen Wissenschaftsbereichen nicht denkbaren Gesetzes- und Verordnungswerk in Form totalitärer Regulierung darüber zu bestimmen, wie in Feldern der Pädagogik zu arbeiten ist, um die berechtigten gesellschaftlichen Zielvorstellungen zu realisieren. Eine andere Frage ist, ob die verordneten Curricula und ihre Inhalte und Themen, die im Fachunterricht abzuarbeiten sind, überhaupt noch einer Welt entsprechen, in der die Kinder und Jugendlichen konkret leben, und wie viel davon für die Persönlichkeitsentwicklung und Enkulturation einer nachwachsenden Generation relevant und für deren Zukunftssicherung bedeutend ist. Es geht dabei nicht um einen »pädagogischen Aktualismus« und auch nicht um einen individualistischen pädagogischen Reduktionismus, sondern um eine (universale) Bildung, die, historisch fundiert, die Gegenwart als Basis einer zu planenden und verwirklichenden Zukunft begreifbar macht – und das in Bezug auf die Wissenschaften, die Künste, die Politik, die Gesellschaft und das Gemeinwesen im Sinne der Schaffung einer Weltgesellschaft, um des Erhalts der Erde als Lebensraum für den Menschen willen. Das von Erkenntnisbildung weitgehend losgelöste Wissen, das in Fächern partikularisiert vermittelt wird, kommt wohl nur sehr bedingt über die Qualität von Informationen hinaus. „Für das Erziehungssystem ist Wissen immer individuelles Wissen und in diesem Sinne eine Form, die dem Lebenslauf Chancen gibt oder auch, wenn sie fehlt, Chancen verbaut” (Luhmann 2002, S. 98). Ein solches Wissen kann nur vom Individuum ausgehend erreicht und nicht aus Sachverhalten destilliert, in Lehr- und Lernmittel gegossen, transferiert werden. Seine Reichweite endet in Kontexten traditioneller Vermittlung weitgehend mit den dazu abgeschlossenen Prüfungen, Klassenarbeiten oder Tests. Mehr vermag eine extrinsische, durch meritokratische Praktiken aufgebaute Motivation nicht zu leisten. „Wissen ist immer ein sozial validiertes Verhältnis von Organismus bzw. psychischem System und Umwelt”, so der Sachverhalt in der Sprache Luhmanns (ebd.).
Einem solchen Anliegen können Fachdidaktik und Fachunterricht, wenn überhaupt, nur sehr begrenzt entsprechen, was wiederum nicht besagt, dass seitens der Lehrpersonen nicht umfassendes Fachwissen und eine hoch qualifizierte Fachlichkeit erforderlich ist, die in die Erziehungs- und Bildungsprozesse einfließen müssen, sie aber nicht diktieren. Seit der durch den so genannten Sputnik-Schock[10] ausgelösten Bildungsreform, die sich bis in die 1970er Jahre hineinzog und die sich vor allem curricular artikulierte, ist der Unterricht sowohl methodisch als auch technologisch unter weitgehender Ausblendung der subjektiven Prozessdynamik des Lernens und damit allgemeindidaktischer Analysen auf messbare Wissens-Input- und Kompetenz-Output-Relationen fokussiert worden. Ein solches technokratisches Lernsystem lässt sich mit heute vorliegenden Programmierungsverfahren auch leicht digitalisieren, was wesentlicher Hintergrund der Rufe nach schnellst möglicher Digitalisierung des Lernens sein dürfte. Im Verhältnis zu den damit verbundenen Optimierungsvorstellungen des Unterricht sind diese Entwicklungen auch als problematisch einzuschätzen, wenn Unterricht sich dadurch noch weiter davon entfernt, an erster Stelle als Lernen verstanden zu werden, das die Persönlichkeitsentwicklung induziert und weiterführt, was konkreter Kooperationen bedarf.
Ängste, dass ohne Fachunterricht Fachlichkeit bzw. fachliche Bildung der Schüler*innen verloren gehen könnte, sind in gleicher Weise unbewiesene Annahmen, wie seitens der Heil- und Sonderpädagogik angenommen wird, dass ihrer Fachlichkeit mit der Dekategorisierung verloren gehen würde, da die Einlösung eines kategorial definierten »sonderpädagogischen Förderbedarfs« nicht mehr garantiert werden könne. Es muss als absurd erachtet werden, eine »Förderung« auf normativ-bewertende Kategorien abzustellen und nicht auf die Biografie und aktuelle Lebenssituation eines bestimmten Menschen, wie dies auch für die Bindung einer fachlichen Bildung an den Fächerunterricht geltend gemacht werden kann. Beide Positionen negieren die Notwendigkeit einer subjektwissenschaftlichen Orientierung hinsichtlich der Lern- und Entwicklungsprozesse, die Gegenstand allgemeindidaktischer Analysen und Reflexionen und als solche ebenso wenig partikularisierbar sind, wie ein universaler Bildungsanspruch in einen Fachunterricht hinein auflösbar wäre. Die vermeintlichen Sorgen dieser Art widerspiegeln weit eher die Ängste der Sonderschul- und Fachlehrpersonen, ihre angestammten Strategien, für die sie ausgebildet wurden und bezahlt werden, verlassen und sich Neues aneignen zu müssen.
Wenn die Herausgeber*innen im Konzept zu diesem Themenheft ausführen: „Im Horizont der Inklusionsforderung stellt die Reflexion von Fachlichkeit als zentrale Dimension der Unterrichtsforschung respektive von Unterrichtsqualität (Klieme 2006) insbesondere durch ein Verständnis des universellen Charakters von Bildung (Tenorth 1994, 2013) eine der relevanten Herausforderungen für eine inklusionsorientierte Unterrichtsforschung dar”, so zeigt das in meiner Wahrnehmung einen Widerspruch auf, für den keine Ebene sichtbar wird, auf der er aufgelöst werden könnte. Vielmehr scheint ein Reduktionismus auf, wenn einige Zeilen weiter festgestellt wird: „Unter dem Konstrukt der Fachlichkeit lassen sich damit Wissensbestände und Praktiken der Wissensaneignung und Wissensvermittlung verstehen, die in der Praxis von Unterrichtsfächern realisiert werden und somit der empirischen respektive rekonstruktiven Analyse zugänglich sind.”
Das erfordert sehr dezidiert zu unterscheiden, dass, was mit diesen Forschungsinstrumenten zugänglich ist, nicht das Ganze dessen ist, was die Wirklichkeit Unterricht ausmacht – von Inklusion ganz zu schweigen – oder, anders gesagt, eine solche empirisch angelegte Forschung ist zwangsläufig darauf bezogen, die Komplexität unterrichtlichen Geschehens auf fassbare, curricular verankerte Sachverhalte mit ihren ausgewiesenen Lernzielen und Kompetenzen in einem darauf ausgerichteten Fachunterricht zu verkürzen und zu operationalisieren. Das erweckt den Eindruck, dass der Gegenstand so auch am leichtesten, schnellsten und in zuverlässigster Weise zu lehren und zu lernen wäre, was selbstverstärkend auf das System zurück wirkt; auch auf die verbreitete Annahme, dass Fachlichkeit nur im Prozess der Verfächerung des Unterrichts zu erreichen und zu garantieren sei.
Ferner kann in rationaler Analyse doch nicht davon ausgegangen werden, dass ein Unterrichtsfach, ob nun Mathematik oder andere, inklusiv seien oder nicht. Auch wenn es rhetorisch klingt, muss die Frage erlaubt sein und darf eine Antwort erwarten: Was ist an einer Zehnerüberschreitung, an einer Gleichung mit drei Unbekannten oder an einer Parabel inklusiv? Ich denke, im bezeichneten Vorgehen wird, entgegen der begrifflichen Bedeutung, einem Sachverhalt in dem Maße zugeschrieben, inklusiv zu sein, wie die bio-psycho-soziale Komplexität der Einheit Mensch und deren per se gegebenen Diversität ausgeblendet werden muss, was auch dadurch geschieht, dass vorwiegend auf kognitive Dimensionen rekurriert wird, die gegenüber anderen psychischen Dimensionen noch einigermaßen gut beobachtbar und messbar erscheinen. Als exklusiv bzw. inklusiv können doch nur – um es ganz allgemein auszudrücken – die Verkehrsformen der Menschen untereinander angesehen werden, was wieder auf die eigentliche pädagogische Frage zurückführt, wie die Heterogenität Lernender und die Vielfalt der individuellen Differenzen in konstruktiver Weise und hinsichtlich des Erkenntnisinteresses lösungsorientiert und zielführend in einem Kollektiv zu synergetische Kooperationen kommen können, die für alle emergente Lösungen ermöglichen.
„Materialistische Didaktik muß sich jeder anderen gegenüber durch genauere Strukturanalysen der Wirklichkeit auszeichnen, die geschichtlichen Menschen in ihren Bedürfnissen ermitteln, ihre gerechten Ansprüche auf Universalität in die Konzepte eingehen lassen” (Gamm 2012, S. 114, Orig. 1980). Mit Bezug auf den ersten Teil der Aussage von Gamm hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten eine intensive Forschung etabliert, wie das auch die Beiträge in diesem Themenheft ausweisen. Dabei spielen die mit diesem Themenheft aufgeworfenen Fragestellungen eine zentrale Rolle. Das zeigt sich u.a. auch in dem von Thomas Häcker an der Universität Rostock verantworteten BMBF-Projekt Lehren in M-V der Qualitätsoffensive Lehrerbildung und mit der dazu 2017 abgehaltenen Tagung, zu der ein Bericht mit einem Interview von mir erschienen ist, das auch die hier angesprochenen Themen berührt und über die hier nur skizzenhaften Anmerkungen hinausführen kann (Behrendt, Heyden & Häcker 2019). Dieses Projekt wurde mit der im Mai d.J. digital durchgeführten Tagung zur Thematik „Ein Unterricht für alle - (un)planbar?” abgeschlossen, deren Beiträge wiederum in einem Tagungsband erscheinen werden und thematisch auch die mit diesem Themenheft geführten Diskurse tangiert. Aus der Befassung damit meine ich, zwei Momente erkennen zu können:
Es ist das Verdienst der Unterrichtsforschung, die Thematik der Inklusion bezogen auf Fachunterricht, Heterogenität, Differenzkonstruktion und Differenzierung auf der Ebene der Sekundarstufe im wissenschaftlichen Diskurs zu halten.[11] Was dabei aber abverlangt werden muss – und soweit ich es verfolgen kann, weitgehend unterbelichtet bleibt – ist die Relativierung dessen, was Bourdieu (1998b) als »Staatsgeist” herausgearbeitet hat, der uns als Habitus in Fleisch und Blut übergegangen ist, dem wir unterworfen sind, und der uns veranlasst so zu denken, wie wir über Sachen und Menschen denken. Er spricht von einer „doxischen Unterwerfung”, die „uns mit allen Fasern des Unbewußten an die bestehende Ordnung bindet” (ebd., S. 119); auch von „inkorporierten kognitiven Strukturen” (ebd., S. 120), die dazu führen, dass die „Sichtweise der Herrschenden [...] sich als die allgemeine Sichtweise darstellt” (ebd., S. 121); eben auch als die unsere. Diese »doxische Unterwerfung« ist zu thematisieren und die Begrenztheit der Aussagekraft und der Reichweite der Ergebnisse sind zu erkennen, die einem System entstammen, die das Gegenteil dessen ist, was mit der Forschung erkannt und, das möchte ich generell unterstellen, mit ihr beabsichtigt ist, die Inklusion. Sie ist auch in der Pädagogik eine Sache der Kommunikationen und Kooperationen der Menschen, die nur in Bezug auf einen Gemeinsamen Gegenstand zustande kommen können und dem, so nach wie vor meine bis dato unwiderlegte Aussage, didaktisch nur in einem hoch differenzierten Feld, das für alle Möglichkeitsräume der aktiven Teilhabe geöffnet ist, entsprochen werden kann. Das bietet nur ein Projektunterricht, der die erforderlichen, am Entwicklungsniveau orientierten Möglichkeiten der Individualisierung auch für eine fachliche Bildung auf der Basis intrinsischer Motivkonstellationen ermöglicht. Dieses Narrativ ist der doxischen Unterwerfung unter das heute existierende, die Einheit des Menschen in der Menschheit zerstörende und die anzueignende Welt partikularisierend aufspaltende und reduktionistisch verengende sEBU entgegen zu halten.
Inklusion ist weder eine Heilsbotschaft noch der Glückbringer, gesellschaftliche Ungleichheit aufzuheben und die sogenannte Chancengleichheit zu realisieren, sondern eine Chance, die bestehenden Widersprüche und Ungleichheiten, deren sozio-ökonomischen und herkunftsbedingten Hintergründe aufzudecken und im Angesicht derselben Bildungsgerechtigkeit walten zu lassen. Das ist keine Frage eines Unterrichtsfaches, sondern eine ständig zu leistender Demokratisierungs- und Humanisierungsprozess des menschlichen Zusammenlebens – auch wenn es thematisch um Mathematik, Deutsch oder Politik geht. Das Gebäude des sEBU ist nicht so zu sanieren, dass es schließlich als iEBU funktioniert (nichts wäre mir lieber, als dass ich mich diesbezüglich gründlich irre). Es bedarf des Abrisses und eines Neubaus!
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[1] Mit dem Titel meines Beitrags beziehe ich mich auf eine 1998 von Pierre Bourdieu erschienene Publikation dieses Titels.
[2] Mir wurden dankenswerter Weise die in diesem Themenheft nachzulesenden Arbeiten von David Jahr, Johannes Ludwig und Benjamin Wagener et al. zur Lektüre überlassen. Es geht mir mit meinem Beitrag nicht darum, sie zu kommentieren, wie das ursprünglich gewünscht war. Sie waren mir, wie auch andere Arbeiten (z.B. Sturm & Wagner-Willi 2018), Anregung zu meinen Ausführungen. Es bleibt den Autor*innen und Leser*innen überlassen, sie reflexiv auf diese und andere Arbeiten des Themenhefts zu beziehen.
[3] Der Bundeskanzlerin, Frau Merkel, wird die Forderung einer „marktkonformen Demokratie” zugeschrieben (siehe:https://www.faz.net/aktuell/politik/harte-bretter/marktkonforme-demokratie-oder-demokratiekonformer-markt-11712359.html [14.07.2021]. Was anderes sollte diese Staatform generieren als ein Pendant im institutionalisierten Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtssystem? Auf der Ebene von Hochschulen und Universitäten sorgt dafür die dem Bologna-Prozess implizite Auffassung und Zielsetzung der Schaffung einer Employability im Sinne arbeitsmarkttauglicher Abschlüsse, die unmittelbar zu einer Beschäftigung führen, für die Fortsetzung dieses Prinzips im tertiären Bildungssystem.
[4] „Am Beispiel der Bauern, der kulturell vielleicht am meisten benachteiligten Klasse, zeigt Bourdieu den Zusammenhang von formaler Gleichheit und faktischer Ungleichheit aufgrund der unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen auf, die Kinder aus verschiedenen sozialen Klassen in die Schule mitbringen”, so Bolder & Steinrücke im Vorwort zu Pierrre Bourdieus Arbeiten über Bildung, Schule und Politik, zusammengefasst in dem Buch »Wie die Kultur zum Bauern kommt« (Bourdieu 2001, S. 10).
[5] In Anbetracht der für einen inklusiven Unterricht lernpsychologisch hoch relevanten Interiorisationstheorie Gal'perins, die didaktisch zu transformieren wäre, verweise ich ergänzend auf Ferrari & Kurpiers 2001 und Jantzen 2004.
[6] Das wäre so, als würde man im Unterricht die Funktion eines Prismas zur Aufspaltung von Licht in seine Spektralfarben behandeln, aber kein Wort darüber verlieren, was Licht ist, wie es erforscht wurde, welche Theorien dazu heute nachgewiesen oder in Diskussion sind.
[7] Siehe: https://www.bsv-rlp.de/fileadmin/media/bsv/sport/inklusion/Broschuere_UNKonvention_KK.pdf [24.07.2021]
[8] Mit dem Begriff »Mensch und Welt« fasse ich das Gesamt dessen, was das Erkenntnisinteresse eines Menschen im Sinne seiner Bildungsbedürfnisse umfassen und darauf bezogen dem Anspruch einer universalen Bildung genügen kann.
[9] In aller Deutlichkeit tritt das mit der „Didacta Magna” von Johann Amos Comenius, die zwischen 1627 und 1638 verfasst und erstmals 1657 in lateinischer Sprache erschienen ist, in die Pädagogik ein, verbunden damit, dass „alle alles allumfassend gelehrt werden” (2007, S. 59). Die Konzeptionierung einer Pädagogik, um die man sich heute unter dem Stichwort der Inklusion bemüht und die einer solchen Attribuierung nicht bedarf, ist 364 Jahre alt (Feuser 2018a).
[10] Wider Erwartungen in der westlichen Welt brachte die Sowjetunion am 04. Okt. 1957 den ersten künstlichen Erdsatelliten in eine Umlaufbahn und leitete damit das Zeitalter der Raumfahrt ein.
[11] In Bezug auf die Frühe Bildung und die Primarschule sind solche kaum mehr präsent, ohne dass die Frage der Inklusion in diesen pädagogischen Feldern inzwischen weitergehend gelöst worden wäre.