Abstract: Sowohl in erziehungswissenschaftlichen als auch in fachdidaktischen (Teil-)Diskursen lässt sich ein Bedeutungszuwachs von Fragen schulisch-unterrichtlicher Inklusion verzeichnen. Sie beziehen sich u.a. auf die Konstruktion von Differenz und die Ermöglichung/Behinderung sozialer und fachlicher Teilhabe. Dabei gewinnen zunehmend interdisziplinäre Formen ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung an Relevanz. Zugleich gehen damit methodologische Fragen der Verknüpfung von unterschiedlichen fachlichen Perspektiven einher. Der Beitrag stellt erste empirische Ergebnisse eines Kooperationsprojekts zum inklusiven Physikunterricht vor, an dem Vertreter*innen der Erziehungswissenschaft und der Physikdidaktik beteiligt sind. Entlang der Frage, wie im Naturwissenschaftsunterricht der Sekundarstufe I Differenzen konstruiert werden und damit Teilhabe ermöglicht und/oder behindert wird, rekonstruieren wir mithilfe der Dokumentarischen Methode videografierte Sequenzen einer Gruppenarbeit von Schüler*innen der siebten Jahrgangsstufe einer Gesamtschule. Im Rahmen des formal inklusiven Unterrichts zeigen sich hierarchisierende Differenzkonstruktionen hinsichtlich des fachlichen ‚Könnens’ und des eigenverantwortlichen Handelns, die wiederum mit der Eröffnung resp. Behinderung von Möglichkeiten des fachlichen Lernens und der sozialen Teilhabe verbunden sind. Über das gegenstandsbezogene Erkenntnisinteresse hinaus reflektiert der Beitrag das methodologische Potential der interdisziplinären Zusammenarbeit im Rahmen einer rekonstruktiv-praxeologischen (Fach-)Unterrichtsforschung.
Stichworte: Inklusiver Naturwissenschaftsunterricht, Differenz, Videografie, Dokumentarische Methode, Interdisziplinarität
Inhaltsverzeichnis
Unterricht stellt einen Forschungsgegenstand unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen dar. Neben der Erziehungswissenschaft – und hier v.a. die teildisziplinären Diskurse der Schul- und Sonderpädagogik – haben die Fachdidaktiken im (Fach-)Unterricht einen bzw. ihren zentralen Gegenstand. Im Zuge des Bedeutungszuwachses, den Fragen schulischer und unterrichtlicher Inklusion im deutschsprachigen Fachdiskurs im letzten Jahrzehnt erfahren haben, finden sich zunehmend kooperative, also interdisziplinäre Formen der Auseinandersetzung mit Unterricht, v.a. unter Beteiligung der Sonder- resp. Inklusionspädagogik und der Fachdidaktiken (vgl. z.B. Riegert/Musenberg 2015; Schiefele et al. 2019). Im Diskurs zur Sekundarstufe, der sich stärker als der im Primarstufenbereich durch Fachunterricht und nach Leistung separierte Bildungsgänge auszeichnet (vgl. Koch/Textor 2015), finden sich zwei zentrale Stränge. Der eine Strang bearbeitet Fragen der (fach-)didaktischen Gestaltung inklusiven Unterrichts v.a. präskriptiv, fragt also nach den Gestaltungsformen bzw. entwickelt solche entlang theoretischer Konzepte. Der zweite Strang geht v.a. deskriptiv-analytisch vor, indem die handlungspraktische Gestaltung des Unterrichts betrachtet wird. Der letztgenannte kann als mikroanalytischer Zugang beschrieben werden, der sich der Hervorbringungs- und Bearbeitungspraxis von Differenzen und damit verbundenen Formen von Behinderung und Benachteiligung sowie Teilhabe an Unterricht widmet (vgl. z.B. Merl 2019; Sturm et al. 2020; Sturm/Wagner-Willi 2016a, 2016b; Wagener 2020).
Unser Beitrag knüpft an diesen zweiten Diskursstrang an. Im Zentrum steht die Konstruktion von Differenz in fachunterrichtlichen Praxen, die sich sowohl durch die formale Rahmung bzw. den formalen Anspruch als auch die Programmatik auszeichnen, inklusiv gestaltet zu sein. Zugleich wird diese, bisher vornehmlich erziehungswissenschaftlich geprägte, Herangehensweise erweitert, indem neben dieser Perspektive eine fachdidaktische, genauer: eine physikdidaktische, auf den Fachunterricht eingenommen wird. Dabei verstehen wir die unterschiedlichen Perspektiven zunächst als einander ergänzende. Dort, wo sie relevant werden und sich ggf. unterscheiden, werden sie entsprechend ausgewiesen. Ob und inwiefern sich daraus auch neue Sichtweisen auf den gemeinsamen Gegenstand, den inklusiven Fachunterricht – in unserem Fall Naturwissenschaftsunterricht –, eröffnen, begleitet als Frage den Prozess unserer Zusammenarbeit und seiner Reflexion. Die Unterschiede unserer fachdisziplinären Standortgebundenheit liegen wesentlich in (impliziten) Normen, die v.a. dann relevant werden, wenn die Praxen sozialer Akteur*innen bewertet werden (sollen), also die rekonstruierten Praxen und die in ihnen hervorgebrachten Differenzkonstruktionen in Bezug zu den Normen des jeweiligen Fachdiskurses gesetzt werden. Um diese im Interpretationsprozess einzuklammern bzw. methodisch kontrollieren zu können (vgl. Bohnsack 2010: 64), werden die rekonstruierten Praxen (zunächst) miteinander verglichen. Zugleich fordert die interdisziplinäre Zusammenarbeit explizit – wie auch implizit – kontinuierlich zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen (fachdisziplinären) Standortgebundenheit auf. In unserem Beitrag soll letztgenanntes im Zentrum stehen und durch einen Vergleich unterschiedlicher Praxen miteinander gestärkt werden. Die komparative Analyse zweier Sequenzen des gleichen fachunterrichtlichen Settings steht für den Vergleich unterschiedlicher Praxen, also von den sozialen Akteur*innen generierte Formen der Gestaltung sozialen Miteinanders im Naturwissenschaftsunterricht, der zunächst nicht mit theoretisch-explizit erarbeiteten Normen verglichen wird.
Die Ausführungen dieses Beitrags basieren auf der empirischen Grundlage des videografierten Naturwissenschaftsunterrichts eines Wahlpflichtkurses einer 7. Klasse einer städtischen Gesamtschule. Der Unterricht wurde im Rahmen des Projekts IPhU – Inklusiver Physikunterricht –, geleitet von Susanne Heinicke, Larissa Fühner und Tanja Sturm, erhoben. Ausgewählt wurden zwei Sequenzen, in denen die Schüler*innen in Gruppenarbeit ein Experiment mit einem Prisma, also einem Gegenstand, der sich der Physik bzw. Physikdidaktik zuordnen lässt, durchführen und die Ergebnisse auf Arbeitsblättern festhalten. Im Zentrum stehen die Interaktionen einer Gruppe von vier Schülern; während die Jungen in der ersten Sequenz zu viert arbeiten, ändert sich diese in der zweiten Sequenz, da ein Lernbegleiter an der Interaktion beteiligt ist.
Die Betrachtung der Interaktionssysteme bzw. unterrichtlichen Praxen der Schüler in ihrem Miteinander sollen – im Sinne des oben skizzierten praxisanalytischen Diskursstrangs – entlang der folgenden Fragen konkretisiert werden: Wie werden im Rahmen von Gruppenarbeit im (Fach)Unterricht Differenzen konstruiert? Wie wird mit diesen Konstruktionen Teilhabe ermöglicht und/oder behindert? Um diesem Vorhaben nachzukommen, gliedert sich der Beitrag in die drei folgenden Abschnitte: Im Anschluss an diese Einleitung sollen der metatheoretische und methodologische Rahmen, die Praxeologische Wissenssoziologie (vgl. Bohnsack 2017; Bohnsack 2020), in dem das Projekt IPhU verankert ist, entlang ihrer zentralen Kategorien beschrieben werden (Kapitel 2). Kern des Aufsatzes stellt das dritte Kapitel dar. In ihm werden die Konstruktionen von Differenzen in den zwei Gruppenarbeitskontexten dargelegt und anschließend entlang des erziehungswissenschaftlichen Inklusionsdiskurses, der an den metatheoretischen Rahmen anschließt (vgl. z.B. Sturm 2015; Wagener 2018), sowie aus physikdidaktischer Perspektive betrachtet und bewertet. Abschließend werden Perspektiven für die (kooperative) Erforschung inklusiven Fachunterrichts bzw. Naturwissenschaftsunterricht aufgeworfen (Abschnitt 4).
Den metatheoretischen Rahmen des Projekts IPhU stellen die Praxeologische Wissenssoziologie (Bohnsack 2017, 2020) sowie die methodologisch-methodischen Prinzipien der Dokumentarischen Methode dar. Während erstgenannte erkenntnis- bzw. grundlagentheoretische Kategorien umfasst, eröffnet die Dokumentarische Methode die empirische Rekonstruktion von Praxen – dem zentralen Gegenstand der Praxeologischen Wissenssoziologie – und des ihnen zugrundeliegenden Sinns. Die Begriffe oder Kategorien der Praxeologischen Wissenssoziologie wurden zunächst für gruppenbezogene resp. gesellschaftliche Milieus entwickelt, also für geteilte Handlungspraxen sozialer Akteur*innen, wie Peer-Groups und Familien (gruppenbezogene Milieus) resp. Geschlecht, Migration und Generation (gesellschaftliche Milieus). In den letzten Jahren sind sie für die Rekonstruktion von Handlungspraxen, die in Organisationen (z.B. Schulen) hervorgebracht werden, differenziert worden (vgl. z.B. Bohnsack 2020; Nohl 2007). Das Projekt IPhU schließt an die Arbeiten von Ralf Bohnsack an, der sich v.a. auf Karl Mannheims (1964b, 1980) Werk zur Wissenssoziologie und dessen Kritik am Rationalismus bezieht. Seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Rationalismus begegnet Mannheim mit einer (analytischen) Unterscheidung von zwei, im Alltag untrennbar miteinander verbundenen Wissensformen, dem kommunikativen und dem konjunktiven Wissen. Ralf Bohnsack (2017) hat diese metatheoretische Leitdifferenz sowie die Primordialität des Konjunktiven aufgegriffen und – wesentlich auf der Grundlage von mit der Dokumentarischen Methode generierten Ergebnissen – differenziert und erweitert. Dies findet seinen Ausdruck u.a. in der ergänzenden Differenzierung praxeologisch bzw. Praxeologische Wissenssoziologie, die Bohnsack unter Bezugnahme auf Pierre Bourdieu (2009) begründet, und die die habituelle oder handlungspraktische Hervorbringung des konjunktiven Wissens betont. Weitere metatheoretische Bezüge stellen die ethnomethodologischen Arbeiten Harold Garfinkels (1967), die interaktionsanalytischen Arbeiten von Erving Goffman (1973a, 1973b) sowie die Systemtheorie von Niklas Luhmann (1978, 2012) dar.
Die Praxeologische Wissenssoziologie unterscheidet zwei – in der Praxis untrennbar miteinander verbundene – Logiken, die menschliches Wissen und menschliche Interaktionen auszeichnen: eine „propositionale“ und eine „performative Logik“, die ihrerseits in „notorischer Diskrepanz“ (Bohnsack 2017: 54) zueinander stehen. Die erstgenannte Logik umfasst das kommunikative Wissen, das weitgehend reflexiv zugänglich und explizierbar ist. Hierzu zählen u.a. Regeln, (Identitäts-)Normen sowie Motivkonstruktionen, die sich insgesamt durch eine zweckrationale Struktur auszeichnen. Für eine Verständigung im Alltag, auch über Milieugrenzen hinweg, ist dieses Wissen zwar zentral, aber zugleich prekär, da es wesentlich auf gegenseitige Interpretationen und die Unterstellung von Sinneinverständnis angewiesen ist (vgl. Bohnsack 2017: S. 139f.). Die performative Logik resp. das konjunktive Wissen ist hingegen im Alltag nicht vergleichbar reflexiv zugänglich, da es als „atheoretisches“ (Mannheim 1980: 208) oder handlungspraktisches Wissen in konjunktiven Erfahrungsräumen erworben bzw. habitualisiert wird. Konjunktive Erfahrungsräume beschreiben geteilte oder vergleichbare Kontexte mit je spezifischen sozialen und materialen Beziehungen, die von Karl Mannheim als „‚Seinsverbundenheit‘ menschlichen Wissens“ (Mannheim 1995: 225) bezeichnet werden. Die Konstitution konjunktiver Erfahrungsräume setzt entweder die Teilnahme an derselben sozialen Interaktion über den Zeitverlauf, z.B. an einem Peerzusammenhang, voraus oder aber vergleichbare Erfahrungen mit ähnlichen sozialen und räumlichen Gegebenheiten, also losgelöst vom unmittelbaren sozialen Miteinander (vgl. Bohnsack 2017: 102ff.). Ein Beispiel für die letztgenannte Form stellt der „Generationszusammenhang“ (Mannheim 1964a: 541ff.) dar. Beispielsweise lassen sich differente Erfahrungen im Umgang mit digitalen Medien zwischen (älteren) Lehrkräften und Schüler*innen im Unterricht auf generationsspezifische Unterschiede zurückführen. Darüber hinaus sind Individuen in eine Vielzahl von konjunktiven Erfahrungsräumen eingebunden. Die Kommunikation im Medium des Konjunktiven ist dabei nicht auf gegenseitige Interpretation oder Unterstellung von Intersubjektivität angewiesen, sondern basiert auf einem stillschweigenden Verstehen.
Zwischen der proponierten und der performativen Logik besteht ein Spannungsverhältnis. Dieses lässt sich auch als eines zwischen Normen, als Teil der propositionalen Logik, und Habitus, als zentraler Bestandteil der performativen Logik i.S. eines „Orientierungsrahmens im engeren Sinne“ (Bohnsack 2017: 103), beschreiben. Das Spannungsverhältnis oder die Diskrepanz zwischen den Logiken ist zugleich konstitutiv für soziale Praxen und in diesen von den sozialen Akteur*innen zu bearbeiten. Die Bearbeitung erfolgt wesentlich implizit und wird, sobald sie habitualisiert ist, als „Orientierungsrahmen im weiteren Sinne“ (ebd.: 103) bezeichnet. Im Folgenden versuchen wir, die hier skizzierten metatheoretischen Kategorien auf (fach-)unterrichtliche Erfahrungsräume und deren empirische Rekonstruktion, wie sie Gegenstand des Projekts IPhU sind, zu übertragen.
Die skizzierten Begriffe bzw. Kategorien zur Beschreibung sozialer Praxen wurden, wie o.g., zunächst für die empirische Auseinandersetzung mit gruppenspezifischen und gesellschaftlichen Milieus entwickelt. In den letzten Jahren wurden sie erweitert und differenziert für Milieus und deren Besonderheiten, die in gesellschaftlichen Organisationen, wie der Schule, hervorgebracht und praktiziert werden. Die Spezifika dieser „organisationalen konjunktiven Erfahrungsräume“ (Bohnsack 2017: 128, Herv. im Orig.) bzw. Organisationsmilieus, die mit Blick auf den Unterricht als „Unterrichtsmilieus“ (Wagner-Willi/Sturm 2012) bezeichnet werden können, gründen darin, dass sie in der Organisation der Einzelschule hervorgebracht werden. Mit der Schule als Organisation und Institution sind verschiedene Normen, Regeln sowie Rollen- und Identitätserwartungen verbunden. Mit letztgenannten sind die sozialen Akteur*innen – neben den gesellschaftlichen Identitätsnormen, z.B. bezogen auf Geschlecht oder Ethnie – konfrontiert. Die normativen Erwartungen liegen z.T. in kodifizierter, expliziter Form vor. Bezogen auf Schule und Unterricht sind dies u.a. die schulische Norm der Leistungsmessung und die Unabhängigkeit schulischen Bildungserfolgs von sozialer Herkunft, aber auch fachliche Normen, z.B. Inhalte im Naturwissenschaftsunterricht. Für die sozialen Akteur*innen geht dies mit einer Verdoppelung der „Doppelstruktur“ (Bohnsack 2017: 129) von propositionaler und performativer Logik, von Norm und Habitus, einher. Darüber hinaus sind Organisationsmilieus charakterisiert durch „doppelte Mehrdimensionalität“ und „doppelte Zugehörigkeit“ sowie durch quer zu diesen Verdoppelungen liegende „strukturelle (Fremd-)Rahmungen“ (ebd.). Doppelte Mehrdimensionalität bezieht sich auf die Mehrdimensionalität der konjunktiven Erfahrungsräume, die die sozialen Akteur*innen – in Schule und Unterricht Lehrpersonen und Schüler*innen – einerseits in die konkrete Organisation und ihre Interaktionszusammenhänge einbringen und die andererseits im Miteinander der Organisation selbst hervorgebracht werden. Im Projekt IPhU etwa interessiert uns der fachunterrichtliche Erfahrungsraum, an dem Lehrperson, Schüler*innen und ein sogenannter Lernbegleiter beteiligt sind. Die doppelte Zugehörigkeit sozialer Akteur*innen in Organisationen gründet in ihrer formalen Mitgliedschaft zur Organisation, die explizit geregelt ist. Diese stellt die Voraussetzung dafür dar, um an den organisationalen konjunktiven Erfahrungsräumen teilhaben zu können. Im Vergleich zu außerorganisationalen Milieus eröffnet sich Zugehörigkeit somit nicht allein durch (vergleichbare) Erfahrung. Bezogen auf Schule und Unterricht gilt dies analog für die Klientel, also die Schüler*innen, da der (gesetzlich verpflichtende) Besuch der Schule Voraussetzung für die Teilhabe an unterrichtlichen Erfahrungsräumen ist. Die strukturelle Fremdrahmung besteht wiederum darin, dass die Mitarbeiter*innen der Organisation, d.h. die Lehrpersonen, in der Interaktion mit der Klientel, also den Schüler*innen, auf die Normen und Regeln der Organisation Bezug nehmen müssen. In „people processing organizations“ (Luhmann 1978: 248), zu denen die Schule zählt, wird so über die Identität und Biografie der Klientel entschieden. Die Identität bzw. Person der Klientel ist dabei Produkt des organisationalen Interaktionssystems, also des Erfahrungsraums mit seinem „kollektiven Gedächtnis“ (Bohnsack 2017: 107). Dieser kann durch unterschiedliche Ausprägungen bzw. Modi charakterisiert sein, je nach dem, wie das Spannungsverhältnis von propositionaler und performativer Logik, von Norm und Habitus, im Vollzug der Interaktion zwischen Lehrpersonen und Schüler*innen bewältigt wird (vgl. Bohnsack 2017: 252). Diese für Organisationen „konstituierende Rahmung“ (Bohnsack 2017: 135, Herv. im Orig.) zeichnet sich in Schule und Unterricht z.B. durch Leistung(smessung) und fachliche Bezüge aus und wird innerhalb der Praxeologischen Wissenssoziologie als „Erst-Codierung“ (ebd., S. 136) bezeichnet. Wird diese Erst-Codierung – etwa die Hierarchisierung nach Leistung – auf die gesamte Person der Schüler*innen übertragen, indem sie z.B. mit Erweiterungen oder Einschränkungen der Handlungsautonomie verbunden ist, handelt es sich um die Konstruktion totaler Identität (vgl. Garfinkel 1967). Werden die Betroffenen zugleich öffentlich sichtbar gemacht, während eine Metakommunikation bzw. Distanzierung hiervon unterbunden wird, kann mit Bohnsack (2017: 135ff.) von „Macht“ gesprochen werden. Dabei wird Macht als integraler Bestandteil der Interaktion verstanden und nicht den Intentionen der Akteur*innen zugeschrieben.
Vor dem Hintergrund dieser v.a. metatheoretischen Ausführungen wird in diesem Beitrag untersucht, wie Differenzen – in den unterschiedlichen sozialen Konstellationen der Gruppenarbeit – in der sozialen Situation des Naturwissenschaftsunterrichts innerhalb der Schule handlungspraktisch hervorgebracht werden. Dies setzt wiederum einen methodologisch-methodischen Zugang zur interaktiven bzw. performativen Praxis voraus.
Die Dokumentarische Methode stellt den methodologisch-methodischen Ansatz dar, der die metatheoretischen Kategorien der Praxeologischen Wissenssoziologie aufgreift; beide können mit Bohnsack (2021: im Ersch.) als „zwei Seiten derselben Medaille“ bezeichnet werden. Im Rahmen des Projekts IPhU erfolgt die Rekonstruktion des handlungspraktischen bzw. milieuspezifischen Wissens der sozialen Akteur*innen mit Fokus auf die „performative Performanz“ (Bohnsack 2017: 92, Herv. im Orig.), d.h. auf dem Vollzug der Unterrichtsinteraktion ‚in situ’, indem videografische Daten von Fachunterricht herangezogen werden. Unterrichtsvideografien können die Komplexität unterrichtlicher Interaktionen in ihrer sequenziellen und simultanen Dimension sowie hinsichtlich ihrer Synchronizität nachvollziehbar werden lassen, auch wenn sie aufgrund u.a. der Zweidimensionalität, die sie gegenüber der Praxis selbst auszeichnet, reduziert sind. Das explorative und sinngenetische Erkenntnisinteresse des Projekts liegt neben der performativen Performanz auch auf der proponierten Performanz. So wurde mit dem Fachlehrer, Herrn Gärtner, ein Interview geführt. Es wurden Daten in einer Lerngruppe erhoben, wesentlich an dem Ziel ausgerichtet, eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen der Erziehungswissenschaft und der Physikdidaktik zu erproben und deren Erkenntnismöglichkeiten auszuloten.
Mit dem Ziel der Rekonstruktion des unterrichtlichen Orientierungsrahmens werden die videografischen Daten entlang des Auswertungsvorgehens für Videografien, die für Forschungszwecke erhoben wurden (vgl. Fritzsche/Wagner-Willi 2015; Wagener/Wagner-Willi 2017), analysiert. Entsprechend der Differenzierung einer propositionalen und einer performativen Logik werden die beiden Auswertungsschritte Formulierende und Reflektierende Interpretation unterschieden. Während die Formulierende Interpretation – grob skizziert – das ‚Was’ einer (verbalen oder korporierten) Äußerung, ihren immanenten Sinngehalt, zur Explikation bringt, fragt die Reflektierende Interpretation nach dem ‚Wie’ der Äußerung, ihrem impliziten Dokumentsinn, wie er sich nur aus dem spezifischen Kontext erschließen lässt. Dies setzt wiederum die Rekonstruktion der formalen Bezugnahme der Äußerungen aufeinander voraus, d.h. der Diskurs- resp. Interaktionsorganisation. Beispielweise folgt auf das Aufwerfen einer Orientierung (Proposition) deren Aus- oder Weiterbearbeitung (Elaboration resp. Differenzierung), worauf eine Bestätigung der Orientierung folgt (Validierung). Auf diesem Weg erfolgt die Rekonstruktion des geteilten Orientierungsrahmens resp. von Rahmeninkongruenzen (vgl. Sturm 2015). Die konstituierende Rahmung als Voraussetzung für das Unterrichtsmilieu hat die Eigenschaft, auch die Rahmeninkongruenzen, die z.B. aufgrund der unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieuzugehörigkeiten von Lehrpersonen und Schüler*innen bestehen, zu integrieren: Die Rahmeninkongruenzen werden durch die Einbindung in die gemeinsame Praxis über die Zeit habitualisiert und zum Bestandteil des konjunktiven Erfahrungsraums Unterricht (vgl. Bohnsack 2020).
In diesem Beitrag werden die auf der Grundlage eines thematischen Handlungsverlaufs ausgewählten Sequenzen in ihrer Simultaneität und ihrer Sequenzialität entlang von Skizzen, die auf der Grundlage von Fotogrammen bzw. Standbildern (aus Gründen der Anonymisierung) erstellt wurden, illustriert, aber v.a. in Form von Sequenzanalysen interpretiert. Diesem, zunächst für die einzelnen Sequenzen vorgenommenen Vorgehen, schließt sich die komparative Analyse an, in der die Praxis beider Sequenzen miteinander in Relation gesetzt wird. Aufgrund der Größe des Samplings des Projekts IPhU kann der sonst übliche Fallvergleich im Rahmen des Projekts nicht vorgenommen werden. Es werden jedoch Bezüge zu ähnlich gelagerten Studien hergestellt. Derartige Vergleiche unterschiedlicher, empirisch vorliegender Praxen ermöglichen ansatzweise die methodische Kontrolle der eigenen (imaginativen) Vergleichs- und Normalitätshorizonte, die in der Betrachtung der Praxen (implizit) angelegt werden. Im Rahmen der Praxeologischen Wissenssoziologie und der Dokumentarischen Methode kommt der komparativen Analyse somit eine zentrale Bedeutung zu (vgl. Bohnsack 2010: 64).
In diesem Abschnitt sollen zunächst der unterrichtliche Kontext skizziert und die Auswahl der zwei Sequenzen begründet werden. Anschließend werden die entlang der Arbeitsschritte der Dokumentarischen Methode rekonstruierten Differenzkonstruktionen der fachunterrichtlichen Praxen dargestellt. Abschließend erfolgt eine Bewertung, die mit Bezug auf normative Bezüge der zwei Fachdisziplinen betrachtet werden.
Der im Rahmen von IPhU videographierte Naturwissenschaftsunterricht wurde in einer städtischen Gesamtschule aufgezeichnet, die dem formalen Anspruch nach inklusiv arbeitet, d.h. Schüler*innen mit und ohne attestierte sonderpädagogische Förderbedarfe gemeinsam unterrichtet. Die Schüler*innen besuchen den Naturwissenschaftsunterricht als Wahlpflichtkurs und gehören unterschiedlichen Lerngruppen des gleichen Jahrgangs an. Herr Gärtner unterrichtet die 21 Schüler*innen im Naturwissenschaftsunterricht. Er wird von einem Lernbegleiter, wir nennen ihn Markus, unterstützt. Es wurde eine Unterrichtsstunde, die 90 Minuten dauerte, mit fünf Kameras aufgezeichnet. Alle Kameras waren auf Stativen montiert. Während eine Kamera nahezu den gesamten Klassenraum aufzeichnete, wurden drei Kameras so positioniert, dass sie die jeweils zu viert an einem Tisch sitzenden Schüler*innengruppen aus einer Vogelperspektive aufgezeichnet haben. Während der Stunde wurde weder die Einstellung noch die Position der Kameras geändert. Die fünfte Kamera zeichnete den Lehrer und seine Bewegungen im Raum auf. Seine zahlreichen Positionswechsel, v.a. zwischen den unterschiedlichen Schüler*innengruppen, wurden mit entsprechenden Zoom- und Einstellungsveränderungen aufgenommen.
Inhaltlich geht es in der Unterrichtsstunde, aus der hier kurze Ausschnitte differenziert betrachtet werden, um Lichtbrechung durch Prismen. Herr Gärtner führt zunächst in einem Vortrag mit fragend-entwickelnden Elementen und durch Bilder unterstützt in das Thema ein. Er fordert die Schüler*innen anschließend auf, in den Tischgruppen die Lichtbrechung mithilfe eines Prismas, einer Lichtquelle sowie unterschiedlichen Blenden nachzustellen. Herr Gärtner sagt: „Ihr sollt jetzt gleich diese Spektralfarben erzeugen“. Außerdem fordert er sie auf, sich Arbeitsblätter mit schriftlich zu bearbeitenden Aufgaben auszuwählen. Die Arbeitsblätter sind unterschiedlich schwierig („Anzahl von Sternchen“).
Ausgewählt wurden zwei Sequenzen einer Tischgruppe aus vier Schülern. Während die vier Jungen in der ersten Sequenz das Experiment durchführen, sind sie in der zweiten mit der Bearbeitung der Arbeitsblätter beschäftigt. Ein weiterer Unterschied zwischen den Sequenzen liegt darin, dass in der zweiten Sequenz auch der Lernbegleiter Markus beteiligt ist, nachdem sich dieser auf den freien Stuhl an dem Tisch gesetzt hat. Der Lernbegleiter ist nach etwa 40 Minuten Unterrichtszeit in den abgedunkelten Fachraum gekommen und hat sich zunächst an den Rand, jenseits der Tischgruppen, auf einen Stuhl gesetzt.
Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt entlang der Formulierenden Interpretation – in Form eines Videotranskripts – und der Reflektierenden Interpretation (vgl. Bohnsack 2009). Die Videotranskriptausschnitte integrieren vorwiegend die verbale und die korporierte Dimension (vgl. Wagener 2020: Kap. 4.5 und 5). Während die korporierten Anteile auf der Ebene „operativer Handlungen“ (Bohnsack 2009: 146) beschrieben werden, folgt das Verbaltranskript dem Transkriptionssystem „TiQ“ (Bohnsack 2009: 242). Dabei steht °ne° für leises Sprechen und ë für Überlappungen. Unterstrichene Wörter werden betont gesprochen; Doppelpunkte zeigen Wortdehnungen an. Ziffern oder Punkte in Klammern stehen für Pausen; leere Klammern für nicht-identifizierbare Äußerungen.
Die Sequenz fokussiert die Interaktionen am Gruppentisch am unteren linken Bildrand, also den Gruppentisch, welcher der Kamera am nächsten ist. Daran befinden sich die Schüler Levin, Timo, Jakob und Ben. Im Vorlauf der Sequenz teilen die Schüler dem Lehrer, Herrn Gärtner, mit, dass sie mit der Aufgabenbearbeitung „fertig“ sind, woraufhin der Lehrer zu ihrem Gruppentisch geht. Abbildung 1 dient der Veranschaulichung des körperlich-räumlich-materialen Settings.
Abbildung 1: Skizze des körperlich-räumlich-materialen Settings der Gruppenarbeit, basierend auf einem Videostandbild
Der Lehrer fordert die Schüler auf, die Spektralfarben „deutlicher“ erkennbar werden zu lassen, wodurch er den zu Beginn gestellten Arbeitsauftrag, die Spektralfarben zu erzeugen, differenziert. In seiner verbalen Bezugnahme auf die ‚Deutlichkeit’ dokumentiert sich ein impliziter Bewertungsmaßstab, der jedoch nicht weiter konkretisiert wird. So bleibt etwa offen, ob die Farben schärfer, kräftiger, klar voneinander abgegrenzt oder weiter aufgefächert sein sollen. Dies impliziert zugleich eine Kritik an den bisher erzeugten Resultaten der Schüler, ohne dabei ihre Ergebnisse als falsch zu bewerten. Zudem wird ‚Schnelligkeit’ als ein weiteres Bewertungs-/Vergleichskriterium proponiert. Einerseits kann damit ein normativer negativer Horizont aufgerufen sein, indem das Kriterium ‚Deutlichkeit’ mit einem „sehr sehr schnell[en]“ Vorgehen unvereinbar sei. Zum anderen könnte hier implizit auf die Unterrichtsorganisation verwiesen sein in dem Sinne, dass der Lehrer für die Aufgabe eigentlich mehr Zeit eingeplant hatte. Insgesamt wird durch das Zusammenspiel von Zielformulierung und dem Anspruch der Exploration eine Offenheit bei gleichzeitiger Vorgabe zugelassen. Diese Ambivalenz in der Proposition des Lehrers dokumentiert sich homolog auf korporiert-räumlicher Ebene: In seiner Geste – das Ausstrecken des Arms – zeigt sich eine an die Schüler bzw. den Versuchsaufbau annähernde Bezugnahme, die mit einer unmittelbar darauffolgenden Zurück- bzw. Distanznahme einhergeht, indem der Lehrer etwas vom Tisch bzw. den Schülern zurücktritt und kurz darauf den Tisch verlässt. Der Lehrer signalisiert hier auch körperlich, dass die Schüler selbstständig zu einer Lösung finden sollen.
Der Folgeauftrag von Herrn Gärtner wird von den vier Schülern, wenn auch auf unterschiedliche Weise, als eine gemeinsame körperliche Annäherung an den Gegenstand elaboriert. Dabei nehmen Jakob und Ben eine größere räumliche Distanz zum Prisma ein als Levin und Timo, was auch im Zusammenhang mit der körperlich-räumlich-materialen Konstellation am Tisch steht (s. Abb. 1). In Timos anfänglich eingesunkener Körperhaltung und dem abgestützten Kopf dokumentiert sich eine etwas distanzierte (gleichgültige) Haltung i.S. von „Rollendistanz“ (Goffman 1973; Wagener 2020: 65f.): Sein Hantieren mit dem Prima passiert ‚nebenbei’, ohne besonderes Engagement. Bens Urteil „nicht ganz“ bezieht sich offenbar auf das Lichtbündel, das aus dem Prisma tritt. Es impliziert eine Orientierung an einem bestimmten Ergebnis, das als noch nicht vollständig erreicht bewertet wird, was auch von den anderen Gruppenmitgliedern offenbar geteilt wird. Dabei dokumentiert sich in Levins Feststellung „Hä wir haben’s doch gerade hinbekommen“, dass er den zuvor eingestellten Versuchsaufbau als erfolgreiches Ergebnis verzeichnet und diesen Erfolg der Gruppe zuordnet, die Bewertung des Lehrers also nicht übernimmt. Indem Levin nach dem Prisma greift, zeigt er zudem an, dass er es nun selbst versuchen möchte (und somit auch besser könne als Timo). Timo gewährt dies Levin jedoch nicht, was Levin wiederum respektiert. Mit seiner Aufforderung „Ja warte“ proponiert Timo zudem, dass er es noch länger ausprobieren möchte und mahnt Levin zu Geduld. Im Zusammenhang mit Timos langsamem Drehen des Prismas zeigt sich eine Orientierung an einem minimalinvasiven Vorgehen. Levin verbleibt dann zwar in der Beobachterrolle, proponiert aber, das erwünschte Resultat gefunden zu haben. Timo reagiert antithetisch auf Levins Proposition, indem er sagt, dass das Resultat (weiterhin) nicht vollständig erreicht ist („nicht so ganz“), und indem er auf korporierter Ebene weiter das Prisma bewegt. Es dokumentieren sich somit unterschiedliche Vorstellungen bzgl. der Aufgabenbearbeitung bzw. der Beurteilung der Ergebnisse, wobei sich Timo hier gegenüber Levin durchsetzt.
Ben macht einen alternativen bzw. erweiterten Verfahrensvorschlag: einen Gegenstand zu verwenden, den er aus dem Versuchskasten zieht, eine Schlitzblende. Ben benennt diese jedoch nicht konkret („so was“) resp. verwendet keinen (fach-)spezifischen Begriff. Indem Ben den Vorschlag fragend formuliert, entscheidet er nicht selbst über die Änderung der Versuchsanordnung. Timo, der körperlich weiterhin auf die bestehende Versuchsanordnung fokussiert bleibt und das Prisma dreht, schließt verbal an Bens unspezifische Frage an („Wie so was?“) und drückt damit aus, dass er nicht weiß, wovon Ben spricht. Ben setzt hingegen zu einer Erklärung an (nicht zu einer Beantwortung von Timos Frage), die von Levins Elaboration, dass es sich um etwas ‚Kleines’ handelt, überlagert wird. Mit seiner Zeigegeste auf die Lichtausgabeseite der Lichtbox stellt Levin offenbar eine Verbindung zwischen dem Gegenstand in Bens Hand und der Lichtquelle her. Levins „Ja“ kann auch als eine Bestätigung von Bens Verfahrensvorschlag verstanden werden. Bens daran anschließende Begründung, dass der „kleinere“ Gegenstand „besser“ ist, deutet ein geteiltes Verständnis zwischen ihm und Levin in Bezug auf den Gegenstand und dessen vermuteten Effekt auf das Resultat an – nicht aber auf eine symmetrische Interaktion, da Ben nicht an Levin anschließt. Die Enaktierung des Vorschlags durch Ben erfolgt zudem erst nach Timos Zustimmung bzw. Aufforderung („mach mal“), worin sich die Aberkennung einer gleichberechtigten Kommunikation mit Levin andeutet, die in Homologie zur vorangegangenen Durchsetzung der eigenen Deutungshoheit hinsichtlich des Herstellungsprozesses gegenüber Levin und der Nicht-Gewährung eines eigenmächtigen Eingreifens Levins in den Herstellungsprozess durch Timo steht.
Die Sequenz „Spektralfarben“ und „Regenbogenfarben“ setzt sich aus zwei parallel verlaufenden Sequenzen zusammen, die sich beide an dem Gruppentisch ereignen. Wenngleich sie zeitgleich stattfinden, werden sie, um eine bessere Lesbarkeit zu eröffnen, nacheinander dargelegt. Die Schüler*innen erhalten den Auftrag, zwei Arbeitsblätter zu bearbeiten, wobei sich alle Schüler*innen mit dem ersten Arbeitsblatt befassen müssen, während sie danach zwischen zwei Arbeitsblättern mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden wählen können. An der Parallelsequenz „Spektralfarben“ sind Ben, Timo und Jakob beteiligt, die bereits das zweite Arbeitsblatt bearbeiten, während in der Sequenz „Regenbogenfarben“ Levin noch mit dem ersten Arbeitsblatt befasst ist und dabei Unterstützung von dem Lernbegleiter Markus erhält. Abbildung 2 illustriert das körperlich-räumlich-materiale Setting der Parallelsequenz.
Abbildung 2: Skizze des körperlich-räumlich-materialen Settings der Gruppenarbeit nach dem Hinzukommen des Lernbegleiters Markus, basierend auf einem Videostandbild
Ben liest von dem Arbeitsblatt, für das sie sich entschieden haben und das als „schwierigstes“ gerahmt wird, vor.
Während Ben einen Text auf dem Arbeitsblatt vorliest, der Fachbegriffe, wie „Spektralfarben“, „Farbspektrum“ und „Prisma“ enthält, berührt Timo Jakob an dessen Schulter. Die korporierte Geste verbindet er mit der propositionalen Aufforderung, dass Jakob sein Gesicht „hier drauflegen soll“, worin sich eine Distanzierung Timos zum (formal geteilten) Verhalten während des Vorlesens der Arbeitsaufgabe durch einen Mitschüler und damit eine Distanzierung gegenüber der unterrichtlichen Erwartung, sich mit dem Arbeitsblatt auseinanderzusetzen, an der v.a. Ben orientiert ist, dokumentiert. Jakob lässt sich nicht auf den von Timo initiierten parallelen (Peer-)Diskurs ein, indem er, den propositionalen Gehalt aufgreifend, seinen Kopf schüttelt. Timo wendet sich daraufhin (vermutlich) dem Prisma und Lichtbündel zu, ersteres bewegt er. Ben liest währenddessen weiter den Text vor, der die Brechung des Lichts durch das Prisma beschreibt. Ben und Jakob blicken zu Prisma und Lichtbündel, nachdem Ben einen weiteren Satz beendet. Ben wendet sich körperlich von dem Arbeitsblatt ab und dem Experiment zu. Er reformuliert den zuletzt von ihm vorgelesenen propositionalen Gehalt und setzt dies durch das Zeigen mit einem Stift in Bezug zum Prisma und Lichtbündel. Darin, dass seine Mitschüler mit ihren Blicken die Zeigegesten verfolgen, dokumentiert sich eine gemeinsame Ausrichtung auf bzw. Annäherung an den Gegenstand bzw. den Versuchsaufbau. Ben stellt dabei eine Verbindung zwischen dem Text auf dem Arbeitsblatt und dem Versuchsaufbau her und verwendet dabei den Begriff „gebrochen“. Damit verknüpft er Materialien und Phänomen auf der einen Seite und ihre fachsprachlichen Repräsentationen auf der anderen Seite.
Levin und Markus sitzen mit etwas Distanz zu dem Tisch und den Materialien des Experiments (s. auch Abb. 2). Vor ihnen auf dem Tisch liegt das Arbeitsblatt 1. Levin liest eine Aufgabe vor, die auf dem Arbeitsblatt steht („Beschreibe in eigenen Worten das Licht vor und nach dem Prisma.“).
Markus elaboriert dies, indem er das Vorgelesene wiederholt, reformuliert und in Form einer Frage erweitert. Seine Äußerung unterstützt er gestisch, indem er bei „vor und nach“ mit seiner Hand etwas auf dem Papier vor sich zeigt. Mit „verändert“ und der nonverbalen Betonung der Position „vor und nach“, die er auf das Prisma bezieht, dokumentiert sich eine umgangssprachliche Bezugnahme in der Beschreibung des experimentell hergestellten Phänomens, in der er die Brechung als Zustand beschreibt. Levin elaboriert die Adressierung, indem er antwortet, „Das sind Regenbogenfarben“, und Markus anblickt, worin sich neben dem propositionalen Gehalt körperlich resp. performativ eine Frage nach der Richtigkeit dokumentiert. Markus greift die Frage auf und validiert Levins umgangssprachliche Äußerung. Er fordert ihn dann erneut auf, dies „in eigenen Worten“ zu beschreiben und relativiert damit die Antwort des Schülers, resp. es dokumentiert sich, dass Markus weitere Erwartungen an die Antwort Levins hat, die allerdings nicht expliziert werden. Levin greift vermutlich die Adressierung auf, wobei der Inhalt seiner Äußerung im Datenmaterial nicht identifizierbar ist.
Markus nimmt Bezug auf Levins, im Datenmaterial nicht verständliche, Antwort, indem er sie inhaltlich als „nach dem Prisma“ differenziert, und fragt, was „davor“ sei. In den Fragen des Lernbegleiters dokumentiert sich eine räumliche Bezugnahme auf das Experiment. Die Unterscheidung von „vor“ und „danach“ begleitet er erneut gestisch. Hier zeigt sich eine Reformulierung der Aufgabe auf dem Arbeitsblatt durch den Lernbegleiter (Wortlaut der Aufgabe auf dem Arbeitsblatt: „Beschreibe in eigenen Worten das Licht vor und nach dem Prisma.“). Levins leise Antwort „Da ist dann da nur so’n Lichtstrahl“, validiert Markus und differenziert durch seine unmittelbare Nachfrage „weißes Licht, helles Licht“ den Gehalt von Levins – in seinen eigenen Worten formulierten – Äußerung. Den vom Schüler verwendeten Fachbegriff des Lichtstrahls verwendet der Lernbegleiter nicht, sondern spricht stattdessen von „Licht“. Dadurch rahmt er Levins Antwort z.T. neu bzw. fremd. Nach dieser Differenzierung der Antwort fragt er „und dann“. Im Anschluss an die Validierung des Inhalts und der fragend formulierten Proposition, sie weiterzuführen, ratifiziert er die formale Seite der Aufgabe, dass Levin in eigenen Worten formuliert hat, und transponiert dies in den Auftrag, dies jetzt schriftlich auszuführen. Mit einem fragend formulierten „Okay“ suggeriert Markus eine gewisse Entscheidungsfreiheit seitens Levin, dem Auftrag nachzukommen. Er schließt jedoch selbst unmittelbar mit der Proposition an, dass Levin „den Satz“ sagt und er ihm beim Schreiben hilft. Markus rahmt Levin dadurch als beim Schreiben hilfsbedürftig.
Levin, der weiterhin sehr leise spricht, greift die inhaltliche Proposition des Lernbegleiters auf, indem er sagt „Erst ist Licht“. Markus ratifiziert unmittelbar die Äußerung des Schülers hier – anscheinend – in inhaltlicher Hinsicht und schließt die Frage an, was Levin fehlt, um dann hervorzuheben, dass er ihm „gerne“ hilft. Mit der Frage „was fehlt dir denn“ hingegen scheint Markus sich auf die schriftliche Bearbeitung zu beziehen, wie sich im weiteren Verlauf zeigt. Er transponiert hier das Thema der inhaltlichen Umformulierung (in eigenen Worten) in die schriftliche Niederlegung dieser Formulierung und rahmt Levin erneut als hilfsbedürftig und sich selbst als den Helfenden.
Levin sagt leise „Als erstes“. Markus elaboriert bzw. differenziert Levins Äußerung, indem er „erst“ fragend wiederholt. Levin elaboriert dies ebenfalls in einem fragenden Ton. In der anschließenden Rückfrage von Markus zeigt sich, dass er Levins Äußerung bestätigend interpretiert und sich im Folgenden auf das Wort „erst“ fokussiert, indem er ihn nach der Schreibung fragt und ihn auffordert, sich diese durch Hören zu erschließen. Levin kommt dieser Aufforderung Buchstabe für Buchstabe bzw. Graphem für Graphem nach, wie der weitere, hier nicht mehr abgebildete, Verlauf der Sequenz zeigt.
Bevor ein Vergleich der zwei Sequenzen vorgenommen wird, sollen zunächst die zwei Parallelsequenzen „Spektralfarben“ und Regenbogenfarben“ kontrastierend betrachtet werden. Neben der Gemeinsamkeit, dass die Akteure beider Konstellationen sich jeweils mit einem Arbeitsblatt auseinandersetzen, das Aufgaben zu dem Experiment enthält, unterscheiden sich die Interaktionssysteme. Während Ben, Timo und Jakob sich entlang der Fachsprache, die sie auf dem Arbeitsblatt 2 (zwei Sterne) vorfinden, mit dem Versuchsaufbau befassen, ist Levin mit Arbeitsblatt 1 aufgefordert, sich „in eigenen Worten“, also umgangssprachlich, mit dem Experiment auseinanderzusetzen und dies schriftlich zu notieren. Die Arbeitsblätter legen unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung nah: einen fachsprachlichen Nachvollzug und eine Aufforderung, in eigenen Worten das Experiment zu beschreiben.
Aufgrund der räumlichen Positionierung kann Levin dabei nicht vergleichbar wie die drei anderen Jungen auf den experimentalen Aufbau und die Materialien zugreifen. Ein weiterer Unterschied liegt in der engen körperlichen und verbalen Begleitung der Arbeitsschritte von Levin durch Markus. Jede Äußerung des Schülers wird von dem Lernbegleiter kommentiert. Ben, Jakob und Timo organisieren ihr Vorgehen hingegen selbst, erfahren also geringere Einschränkungen in der Organisation ihrer Arbeit, wenngleich diese durch das Arbeitsblatt und den Auftrag es zu bearbeiten gerahmt sind. Dabei nutzen sie partiell auch die Möglichkeit zur Distanzierung von den Anforderungen i.S. von Rollendistanz.
Der Vergleich der zwei Sequenzen zeichnet sich zunächst durch die Interaktionskonstellation aus: Während in der ersten die vier Schüler – wenn auch mit unterschiedlichen Graden der korporierten Beteiligung – zusammen an dem Experiment arbeiten, sind es in der zweiten zwei parallele Interaktionssysteme. An einem sind Ben, Timo und Jakob beteiligt, an dem zweiten Levin und der Lernbegleiter Markus. Inhaltlich unterscheidet sich die zweite von der ersten Sequenz darin, dass die Auseinandersetzung mit Arbeitsblättern im Zentrum steht, die, wie im vorherigen Abschnitt gezeigt, unterschiedliche Aufgaben umfassen. Durch die Arbeitsblätter wird zu unterschiedlichen Formen der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand aufgefordert.
In der ersten Sequenz dokumentiert sich eine erhöhte Erwartung des Lehrers hinsichtlich einer selbstständigen, kooperativen Durchführung des Experiments durch die Schüler. In seiner Proposition zeigt sich eine Ambivalenz von fachlich-normativen Vorgaben (‚Deutlichkeit‘) und einer erweiterten Offenheit (‚Ausprobieren‘) bezüglich einer eigenständigen Annäherung an den Unterrichtsgegenstand bzw. der Realisierung einer erwarteten Deutlichkeit des Phänomens. Mit anderen Worten: Trotz dieser vorgegebenen Offenheit dokumentiert sich die normative Erwartung, einen ‚deutlichen’ Lichtstrahl zu erzeugen, die aber vage bzw. implizit bleibt. Dabei kommt es zu keiner Sichtbarmachung individueller Unterschiede, alle vier Schüler werden von dem Lehrer kollektiv als Gruppe adressiert. Dem stehen gewissermaßen die Interaktionen der Schüler untereinander – v.a. in der ersten Sequenz – sowie in deutlicherer und folgenreicherer Weise die Interaktion zwischen dem Lernbegleiter und Levin in der zweiten Sequenz gegenüber. Die Gemeinsamkeit der beiden Sequenzen liegt darin, dass Levin von seinen Interaktionspartnern – graduell – als weniger ‚könnend’ gerahmt wird. In der ersten Sequenz bezieht sich dies auf die fachliche Anforderung und ihre kooperative bzw. gleichberechtigte Bearbeitung und erfolgt durch die Mitschüler; in der zweiten Sequenz bezieht es sich auf eine orthografisch und syntaktisch korrekte Verschriftlichung und erfolgt durch den Lernbegleiter Markus. In der ersten Sequenz wird Levin zumindest durch das unterrichtliche Arrangement die Möglichkeit eröffnet, an der geforderten selbstständigen Erarbeitung der Aufgabe teilzuhaben. Wie sich in weiteren – hier aus Platzgründen nicht dargelegten – Sequenzen zeigt, nutzt Levin diese Möglichkeit im Umgang mit den Materialien auch. Hingegen dokumentiert sich in der zweiten Sequenz in der Kontrolle und wiederholten Aufforderung des Lernbegleiters, dass Levin in eigenen Worten formulieren solle, eine weitreichende Aberkennung der Fähigkeit und der Möglichkeit, dem Arbeitsauftrag selbstständig nachzukommen. Zugleich dokumentiert sich eine routinierte Interaktion zwischen Levin und Markus, die sich auch implizit in den Interaktionen der drei anderen Jungen bestätigt, indem sie das Ausscheiden Levins aus ihrer Gruppe während der Bearbeitung des Arbeitsblatts nicht weiter beachten. Insgesamt deutet sich darin eine gewisse Selbstverständlichkeit hinsichtlich einer mit der Exklusion Levins verbundenen Unterrichtspraxis an. Zugleich geht mit der Exklusion Levins aus der Schülergruppe eine Einschränkung der Möglichkeit zur Distanzierung Levins von den unterrichtlichen Anforderungen einher, die wiederum in der kooperativen Bearbeitung der drei Jungen weiterhin gegeben ist (und partiell von ihnen genutzt wird).
Eine weitere Differenz zeigt sich in der Verwendung von Fachsprache bzw. Fachbegriffen. Während die Schüler in der ersten Sequenz v.a. umgangssprachlich miteinander agieren und weder Fachbegriffe noch andere Begriffe für die Materialien, mit denen sie hantieren, verwenden, nutzt v.a. Ben – beim Vorlesen und Reformulieren des Textes – die zu den Materialien und dem physikalischen Phänomen Brechung von Licht an einem Prisma gehörigen Fachbegriffe. Levins und Markus’ Interaktion folgt der Aufforderung des ersten Arbeitsblatts, einer umgangssprachlichen Auseinandersetzung. Diese findet sich in der Sprachverwendung beider wieder („Regenbogen“; „vor“/„nach“) und ist – vergleichbar der ersten Sequenz – umfangssprachlich ausgerichtet.
In der mit der Hierarchisierung des ‚Könnens’ – die durch die Differenzierung der Arbeitsblätter unterstützt wird – verbundene Konstruktion der ‚Hilfsbedürftigkeit’ Levins in der Interaktion mit dem Lernbegleiter und den damit verbundenen Einschränkungen hinsichtlich der persönlichen Handlungsautonomie sowie der fachlichen bzw. fachsprachlichen Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand zeigen sich Komponenten einer „Pathologisierung“ (Bohnsack 1983: 75) im soziologischen Sinne. Dies meint eine weitgehende Absprache der Kompetenz zu eigenverantwortlichem Handeln, die hier mit Prozessen des partiellen Ausschlusses bzw. der Marginalisierung des Schülers einhergeht (vgl. Wagener 2020: 118f.). Im Zusammenhang mit der dichten körperlichen Adressierung durch den Lernbegleiter, die hier nur in Bezug auf Levin erfolgt, und der damit verbundenen klassenöffentlichen ‚Verbesonderung’ des Schülers dokumentieren sich Aspekte der Konstruktion einer totalen Identität (vgl. Garfinkel 1967) bzw. von Macht im praxeologischen Sinne (vgl. Bohnsack 2017: 135ff.). Dem steht wiederum die Erweiterung der Handlungsspielräume bei den anderen Schülern, denen im Unterschied zu Levin kein sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf zugeschrieben wird, gegenüber.
Nachdem im vorherigen Abschnitt ein fallinterner Vergleich der Sequenzen vorgenommen wurde, sollen die rekonstruierten Ergebnisse in diesem Abschnitt in Relation zu den fachdisziplinären Diskursen gesetzt und auch einer normativen Bewertung unterzogen werden.
In der sich insbesondere in der Interaktion mit dem Schulbegleiter, die Aspekte einer Pathologisierung (im soziologischen Sinne) und der Konstruktion totaler Identität aufweist und sich von der weitgehend eigenverantwortlichen und kooperativen Auseinandersetzung mit dem fachlichen Gegenstand durch die Mitschüler unterscheidet, zeigen sich Behinderungen nicht nur des „sozialen Miteinanders“, sondern v.a. auch des „fachlichen Lernens“ (Sturm/Wagner-Willi 2015: 233). Während sich die hierarchisierende Differenzkonstruktion insbesondere in der zweiten Sequenz vollzieht, in der Levin keinen Zugriff auf das physikspezifische Experimentiermaterial hat, ist sie in der ersten Sequenz deutlich weniger ausgeprägt, da alle Schüler mit den Materialien agieren, wenn auch in unterschiedlichem Umfang bzw. sich gegenseitig restringierend. In der zweiten Sequenz treten die Differenzen v.a. in der Eröffnung resp. der Einschränkung der Lern- und Bildungsmöglichkeit zur (fach-)sprachlichen Auseinandersetzung auf, indem einerseits Fachsprache kennengelernt und erprobt werden kann und andererseits im umgangssprachlichen Register verblieben wird. Zum anderen zeigen sich fachlich-gegenstandsbezogene Differenzkonstruktionen – und das erscheint aus einer normativen Perspektive besonders problematisch – in der Ausrichtung der Interaktionen mit einer Fokussierung der Fachinhalte einerseits (Parallelsequenz 1) und einer rechtschriftlichen und gänzlich von der fachlichen entkoppelten Auseinandersetzung andererseits. Es zeigen sich deutlich eingeschränkte Möglichkeiten bzw. Behinderungen der Teilhabe an fachlicher Auseinandersetzung, die sich insbesondere in der durchgängigen Kontrolle von Levin durch Markus manifestieren. Während Timo, Jakob und Ben ihren Lernprozess eigenständig ausgestalten und es wiederholt zum Hantieren mit den Materialien kommt, tritt bei Levin eine fachliche Auseinandersetzung aufgrund der angeleiteten sprachbezogenen Korrekturhandlungen von Markus in den Hintergrund. Dabei stehen die mit der hierarchisierenden Differenzkonstruktion und der damit verbundenen Pathologisierung scheinbar in Verbindung mit dem attestierten sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf, der Levin zugeschrieben wird, sowie der Rolle des Lernbegleiters, worin sich deutliche Homologien zu ähnlich gelagerten Studien, die Unterricht mit inklusiver Programmatik zum Gegenstand haben, zeigen (vgl. Sturm 2013; Wagner-Willi et al. 2018; Wagener 2020: 155ff.). Diesem sich hier andeutenden Zusammenhang müsste durch weitere fallinterne Vergleiche empirisch weiter nachgegangen werden.
Zudem erscheint auffällig, dass eine fachlich unspezifisch bleibende Kritik des Lehrers an dem Arbeitsergebnis der Schüler, v.a. die aus seiner Sicht zu wenig aufgewendete Zeit bis zur Präsentation des Resultats, zum Beurteilungskriterium wird und zur Zurückweisung des Arbeitsergebnisses führt. Dies geht, wie beschrieben, mit einer ambivalenten Offenheit des Lehrers gegenüber den Aneignungsprozessen der Schüler in Bezug auf den physikalischen Gegenstand einher sowie mit der Enthaltung einer sichtbaren hierarchisierenden Differenzkonstruktion aufgrund der kollektiven Adressierung der Schüler. In diesem Befund deuten sich wiederum Unterschiede gegenüber einer – v.a. im Mathematikunterricht beobachtbaren – Unterrichtspraxis bzw. konstituierenden Rahmung an, die sich zwar ebenfalls durch die Enthaltung eines öffentlichen individuellen Zugriffs auf die Person der Schüler*innen auszeichnet, aber zugleich eine erhöhte Standardisierung der Unterrichtsorganisation sowie des Lösungswegs aufweist (vgl. Wagener 2020: 130ff.). Diesem sich andeutenden Befund müsste jedoch durch eine differenzierte fallinterne- und -externe komparative Analyse weiter nachgegangen werden.
Der Beitrag verfolgte zwei miteinander verbundene Erkenntnisinteressen: ein gegenstandsbezogenes und ein methodologisches. Ersteres bezog sich auf die Rekonstruktion von Differenzkonstruktionen in einem formal als inklusiv gerahmten Naturwissenschaftsunterricht einer 7. Jahrgangsstufe einer Gesamtschule, wobei die Unterrichtsform der Gruppenarbeit im Fokus stand. Das methodologische Erkenntnisinteresse richtete sich auf die Betrachtung des Datenmaterials in der Zusammenführung zweier fachdisziplinärer Perspektiven, einer erziehungswissenschaftlichen und einer physikdidaktischen, mit dem Ziel einer möglichen Erweiterung der Rekonstruktionspotentiale.
Hinsichtlich des methodologischen Erkenntnisinteresses lässt sich eine positive Bilanz bzgl. der Rekonstruktion ziehen, indem sich die verschiedenen Perspektiven in der gemeinsamen Arbeit am Datenmaterial und der damit verbundenen gemeinsamen Diskussionen gegenseitig bereichern konnten. Sie führten nicht nur zu gegenseitigen Ergänzungen der Interpretationen des videografischen Datenmaterials, sondern auch zur Reflexion der eigenen fachlich geprägten Standortgebundenheit. Dies betrifft beispielsweise den Versuch, sich präskriptiver Interpretationen zunächst zu enthalten, sowie eine differenziertere Annäherung an und begriffliche Ausschärfung der fachlichen bzw. physikalischen Aspekte der Unterrichtspraxis einerseits und der sozialen, körperlich-räumlichen Interaktion der Akteur*innen andererseits.
In Bezug auf das gegenstandsbezogene Erkenntnisinteresse besteht ein zentrales Rekonstruktionsergebnis in einer hierarchisierenden, auf ein ‚Können’ der betrachteten Schülergruppe bezogenen Differenzkonstruktion, die mit einer Behinderung der Teilhabe an der Gruppenarbeit sowie der fachlichen bzw. fachsprachlichen Auseinandersetzung eines Schülers mit attestiertem sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in der Interaktion mit einem Lernbegleiter in Bezug auf die von dem Lehrer gestellte Aufgabe – das Experimentieren mit einem Prisma zur Erzeugung der Spektralfarben – einhergeht. Zugleich wird dieses Interaktionssystem vom für den Unterricht verantwortlichen Lehrer mitgetragen, was sich u.a. in den Arbeitsblättern und der ‚geduldeten‘ Arbeit von Markus mit Levin zeigt, auch wenn er sich selbst – zumindest in der hier betrachteten Videosequenz – vergleichbarer Differenzkonstruktionen enthält. Die sich andeutende Koexistenz zweier Interaktionssysteme – dasjenige zwischen Fachlehrperson und Schüler*innen sowie dasjenige zwischen Lernbegleiter und einem Schüler mit zugeschriebenem sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf – verstehen wir dabei nicht personen- bzw. intentionsgebunden. Es handelt sich vielmehr um implizite Bestandteile einer (machtstrukturierten) Unterrichtspraxis. Indem sich, insbesondere seitens des Lernbegleiters, keine Distanzierungen von den Interventionen zeigen, scheint ihr Stigmatisierungspotential handlungspraktisch bzw. implizit nicht reflektiert zu werden (vgl. Bohnsack 2020: 123). Die mit den hierarchisierenden Differenzkonstruktionen in Bezug auf das ‚Können’ der Schüler einhergehenden fachlich-sozialen Behinderungen bleiben somit hinter der Common Sense-Struktur der Förderlogik verborgen.
Wenngleich hier nur eine Sequenz differenziert betrachtet wurde, so dokumentiert sich in handlungspraktischer Hinsicht eine Orientierung an (virtualen) Identitätsnormen, die dem nahekommen, was als „Zwei-Gruppen-Theorie“ (Hinz 2002: 357) bezeichnet wird: Die Unterscheidung von Schüler*innen entlang von zugeschriebenem sonderpädagogischem Förderbedarf, die hier mit einer spezifischen (professionellen) Zuständigkeit für die pädagogische Begleitung Levins einhergeht. Während den Schüler*innen ohne zugeschriebenen Förderbedarf Freiheitsgrade der Gestaltung resp. Organisation ihrer Arbeitsphase eröffnet werden, bleibt Levin dieser peerbezogene Austausch im weiteren Unterrichtsverlauf verwehrt. Diese Ergebnisse erscheinen vor dem Hintergrund, dass der Lernbegleiter vermutlich mit der Intention eingesetzt wird, den Schüler Levin in seiner Teilhabe an dem fachlichen Lernen der Klasse zu unterstützen, insofern problematisch, als diese Form Exklusion bzw. Marginalisierung mit hervorbringt.
Für den physikunterrichtlichen bzw. physikdidaktischen Inklusionsdiskurs ist vor dem Hintergrund der Rekonstruktionen v.a. die Frage nach Gestaltungsmöglichkeiten fachlicher Partizipation relevant. Dabei liegt ein erhöhtes Interesse auf den Experimentierphasen des Unterrichts, die ein Spezifikum des naturwissenschaftlichen Unterrichts gegenüber anderen Fächern darstellen und sich durch ein besonderes Handlungsmoment auszeichnen. Ausgehend von den rekonstruierten Ergebnissen lässt sich präskriptiv fragen, inwiefern unterschiedliche Möglichkeiten fachlicher Entscheidungen in Experimentierphasen, wie z.B. die Materialien zu verschieben, um den Lichtstrahl zu brechen, und die jeweilige Versuchsanordnung zu kommentieren, fachliche Teilhabe eröffnen. Dies wird v.a. durch die Kontrastierung der beiden Phasen und die Einflussnahme und Arbeitsblattorientierung des Lernbegleiters deutlich. Während in der zweiten Sequenz der Lehr-Lernprozess von Markus und Levin im Vergleich zu denen seiner drei Mitschüler durch die (fach)sprachliche Ausrichtung der Interaktion stärker restringiert erscheint, ist die Möglichkeit einer fachlichen Teilhabe Levins in der ersten Sequenz im Rahmen einer Experimentierphase weniger begrenzt. Experimentierphasen könnten demnach – und dem wäre weiter nachzugehen – in besonderem Maße das Potential einer fachlichen Teilhabe bieten, was dann ggf. bei der Planung inklusiven Physikunterrichts mitgedacht werden kann. Perspektivisch wäre es für inklusiven Physikunterricht von Interesse, Erkenntnisse darüber zu generieren, wie Teilhabe in unterschiedlichen Arbeitsphasen von Physikunterricht von und mit den verschiedenen Akteur*innen gemeinsam hergestellt wird oder eben nicht realisiert wird.
Die hier dargelegten Rekonstruktionen müssten in einem nächsten Schritt durch weitere empirische Analysen sowohl mit fallinternen als auch -externen Vergleichshorizonten ausgeschärft werden. Damit verbunden könnte auch dem unter 3.4 angedeuteten Fachvergleich weiter nachgegangen werden. Auf diesem Wege ließen sich allgemeine und besondere Aspekte und Herausforderungen eines bisher noch wenig beforschten inklusiven Naturwissenschaftsunterrichts herausarbeiten.
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