Abstract: Im Rekurs auf Ansätze der Science and Technology Studies sowie Universal Design-Diskursen wird in diesem Beitrag der Begriff des ‚Digitalen Ableismus‘ als ein Analyseperspektive entwickelt, die den Fokus auf ableistische Fähigkeits-, Leistungs- und Normalitätserwartungen im Feld des Digitalen legt. Dafür werden aktuelle Debatten der Disability Studies über Ableismus (ableism) für die Untersuchung gesellschaftlicher bzw. pädagogischer Digitalisierungsprozesse am Beispiel der digitalen Hochschulbildung produktiv gemacht.
Stichworte: Ableismus, Ableism, Digitalisierung, Disability Studies, digitale Hochschulbildung
Inhaltsverzeichnis
In diesem Beitrag soll in einer Synthetisierung von Diskussionen in den Science and Technology Studies sowie Universal Design-Ansätzen der Begriff des ‚Digitalen Ableismus‘ als ein Analyseperspektive entwickelt werden, die den Fokus auf ableistische Fähigkeits-, Leistungs- und Normalitätserwartungen im Feld des Digitalen legt. Es wird der Frage nachgegangen, wie die aktuelle Debatte der Disability Studies über Ableismus für die Untersuchung gesellschaftlicher bzw. pädagogischer Digitalisierungsprozesse produktiv gemacht werden kann.
Begriffe sind nicht allein Wörter, Bezeichnungen oder Labels, sondern präfigurieren unsere Sicht auf die soziale Welt (Bourdieu 1991). Begriffe haben ihre eigene historische, kulturelle und soziale Genese. Nach Koselleck ist ein Begriff nicht allein ein Indikator (z.B. ein Hinweis auf sozialen Wandel), der Zusammenhänge erfasst, sondern zugleich deren Faktor: „mit jedem Begriff werden bestimmte Horizonte, aber auch Grenzen möglicher Erfahrung und denkbarer Theorie gesetzt“ (Koselleck [1972] 2010, S. 289). Begriffe können somit Erkenntnishindernisse produzieren (Bourdieu 1991, S. 107ff) oder aber neue Horizonte erschließen. In diesem Sinne sollen mit dem Analysebegriff des Digitalen Ableismus neue Perspektiven eröffnet, Reflexionsanlässe offeriert sowie innovative Forschungsansätze ermöglicht werden.
Die folgenden Überlegungen beziehen sich aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive exemplarisch auf das Feld der Hochschule, sie sind aber grundsätzlich auf andere soziale Felder übertragbar, die von Prozessen der Digitalisierung bzw. Kulturen der Digitalität (Stalder 2016) geprägt sind. Wie noch zu zeigen sein wird, wird Digitalisierung im Feld der Hochschulen in Deutschland gegenwärtig noch eher technikzentriert bzw. juristisch diskutiert. Auf der Ebene der Hochschulorganisation geht es bspw. um den Verweis auf juristische Standards der Barrierefreiheit (BITV 2.0 oder WCAG), auf der Ebene der Hochschuldidaktik wiederum um Handlungsempfehlungen zur Erstellung barrierefreier Studienmaterialien.
Mit dem Analysebegriff des Digitalen Ableismus wird hingegen ein eher sozial- bzw. kulturwissenschaftlichen Zugang zum Thema Digitalisierung und Inklusion gewählt. Im Rekurs auf aktuelle Diskussionen in den Disability Studies soll mit dem Konzept des Ableismus einen Perspektivenwechsel in der Analyse digitaler Ungleichheits- und Diskriminierungsprozesse vorgenommen werden. Das Erkenntnisinteresse zielt zunächst einmal darauf, welche Formen ableistische Bildungspraktiken im Digitalen aufweisen. Dabei geht es mir um die Entwicklung einer Forschungsperspektive, die den Blick umwendet auf die Norm, also auf das, was sich historisch, sozial und kulturell als ‚normal‘ im Feld der digitalen (Hochschul-)Bildung durchsetzen konnte. Im Folgenden wird aufgezeigt, wie mit dem Begriff des Digitalen Ableismus die als ‚natürlich‘ bzw. legitim anerkannten Fähigkeitsnormen und -ideale in den Fokus geraten, die in digitalen Praktiken und Strukturen eingelassen sind und Ausschlüsse produzieren.
Zunächst soll in einem allgemeinen Sinne auf den Terminus Ableismus eingegangen werden, der für die Entwicklung des Begriffs Digitaler Ableismus einen wichtigen Ausgangspunkt darstellt. In aktivistischen Kontexten der Behindertenbewegung wird unter Ableism mitunter ‚Behindertenfeindlichkeit‘ verstanden. Ein Beispiel ist die folgende Definition aus einer Broschüre der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben (ISL):
„Ableismus (…) ist die alltägliche Reduktion eines Menschen auf seine Beeinträchtigung. Damit einher geht eine Abwertung (wegen seiner Beeinträchtigung) oder aber eine Aufwertung (trotz seiner Beeinträchtigung) […]. Damit erleben behinderte Menschen durch den Ableismus das, was Menschen mit Migrationshintergrund durch den Rassismus widerfährt oder Frauen durch Sexismus erleben. In jedem Fall werden die Betroffenen nicht als gleichberechtigte Gegenüber wahrgenommen, sondern etikettiert und auf- oder abgewertet“ (ISL 2018, S. 4-5; Herv. i.O.).
Für ein solches Verständnis von Ableismus spricht meines Erachtens, dass sie behinderte Menschen in den Mittelpunkt stellt bzw. zum Ausgangspunkt der Definition nimmt. Des Weiteren wird deutlich, dass Ableismus auf Diskriminierung, Stigma und Gewalt basiert. Nicht zuletzt erlaubt eine solche Definition von Ableismus auch den Anschluss an Menschenrechtsdiskursen über Inklusion.
Auf der anderen Seite halten einige Autor_innen der Disability Studies die Gleichsetzung von Ableismus mit ‚Behindertenfeindlichkeit‘ für zu kurz gegriffen (Campbell 2009; Maskos 2015, Köbsell 2015). Das Besondere des Begriffs Ableismus wird darin gesehen, dass er auch einen Perspektivenwechsel vornimmt und ebenfalls die Norm fokussiert. Geht man hingegen von einem reinen Exklusionsmechanismus aus, so etwa Karim und Waldschmidt, würde man empirisch vorzugsweise Diskriminierung finden und „das Wechselverhältnis von Ability und Disability kann nicht in den Blick geraten“ (Karim & Waldschmidt 2019, S. 273). Ferner wird argumentiert, dass Ableismus alle Individuen betrifft- wenn auch in unterschiedlicher Weise (Goodley 2014, S. 26; Köbsell 2015, S. 29; Maskos 2015, o.S.).
In sozialpsychologischen Ansätzen wird unter Ableismus vor allem Vorurteil, Stereotype oder Diskriminierung verstanden (Nario-Redmond 2020, S. 6). Exemplarisch dafür steht folgende Definition von Ableism aus dem Journal of Social Issues von Kathleen Bogart und Dana S. Dunn: „Ableism is stereotyping, prejudice, discrimination, and social oppression toward people with disabilities“ (Bogart & Dunn 2019, S. 651). Ableismus wird somit mit degradierenden Einstellungen, Stereotypenbildung sowie negativen Affekten und Verhaltensweisen in Verbindung gebracht. Erneut wird hier ein monodirektionaler Fokus auf den Aspekt der Diskriminierung gelegt. Ableismus wird damit nicht als „vielgestaltiges relationales Phänomen“ gefasst (Buchner et al. 2015, o.S.).
Wie bereits erwähnt, wird das Potenzial der Ableismus-Forschung von Vertreter_innen der Disability Studies jedoch gerade in der Verschiebung des „Fokus von der Abweichung (Behinderung) auf die Problematisierung der Basisannahme (Fähigkeit)“ gesehen (Buchner et al. 2015, o.S.). Nach Swantje Köbsell lässt sich der Begriff des Ableismus nicht auf individuelle Vorurteile, direkte Feindseligkeit oder paternalistische Fürsorge reduzieren. Im Sinne der Disability Studies sei mit Ableismus vielmehr „ein Gesellschaften durchziehendes und strukturierendes Verhältnis beschrieben: die hierarchische Bewertung von Menschen anhand angenommener, zugeschriebener und tatsächlicher Fähigkeiten“ (Köbsell 2015, S. 21). Als Teil einer Dominanzkultur naturalisiert Ableismus Unterschiede zwischen Menschen, teilt diese in homogene und polarisierte Gruppen ein (‚behindert‘ versus ‚nicht-behindert‘) und bringt sie in eine hierarchische Ordnung- so Hirschberg und Köbsell (Hirschberg & Köbsell 2021, S. 135).
Der englische Begriff able bedeutet soviel wie fähig, kompetent, tüchtig oder begabt (Duden Oxford 1999, S. 901). Die Endung ‚ism‘ soll wiederum – vergleichbar mit sexism oder racism - ein gesellschaftliches Machtverhältnis markieren (Hirschberg & Köbsell 2021, S. 134). Als Vertreterin der deutschen Disability Studies definiert Rebecca Maskos Ableismus wie folgt:
„Ableism ist die Beurteilung von Körper und Geist danach, was jemand "kann" oder "nicht kann" – ein biologistischer, essentialisierender Bewertungsmaßstab, der anhand einer erwünschten körperlichen oder geistigen Norm Menschen be-, auf- und abwertet (vgl. Maskos, 2011, S. 4). Die Person wird auf ihre körperliche und geistige Verfassung reduziert und steht als Stellvertreter*in für eine ganze Gruppe so Beurteilter (…)“ (Maskos 2015, o.S.).
Able-bodyness oder able-mindedness ist somit kein Merkmal von Individuen, sondern ein Bewertungsmaßstab, eine normative Erwartung, ein Ideal an dem sich alle Menschen auszurichten haben. Maskos verweist darauf, dass es insbesondere die Arbeits-Fähigkeit bzw. ökonomische Verwertbarkeit ist, die entsprechende Funktionszwänge und Autonomie-Imperative hervorbringt (Maskos 2015; siehe dazu auch Goodley 2014, S. 26ff.). Die Orientierung am Ideal des ‚spezientypischen Körpers‘ sowie ‚vernünftigen Bürgers‘ ist tief in die Moderne eingeschrieben, so Fiona Kumari Campbell (Campbell 2009, S. 6). Gleichzeitig kann das zugrunde gelegte Körperideal von fast niemandem dauerhaft erfüllt werden:
"Everyone is virtually disabled, both in the sense that able-bodied norms are ‘intrinsically impossible to embody‘ fully and in the sense that able-bodied status is always temporary, disability being the one identity category that all people will embody if they live long enough" (McRuer 2006, S. 30).
Pointiert ausgedrückt, lehnen die Critical Ableism Studies ‚Fähigkeiten‘ oder ‚Fähigsein‘ nicht grundsätzlich ab, sondern verweisen auf die Hierarchisierung von Fähigkeiten bzw. individualisierten, ubiquitären, naturalisierten Fähigkeitsnormen -erwartungen -zuschreibungen und -vorstellungen, die Ausschlüsse produzieren (Buchner et al 2015, o.S.; Buchner & Lindmeier 2019; Merl 2019). Wolbring und Hutcheon sprechen deshalb auch von ability-diversity, die keine Anerkennung erfährt (Hutcheon & Wolbring 2012, S. 40).
Karim und Waldschmidt weisen darauf hin, dass im englischen Begriff disability der Fokus auf ‚Un/Fähigkeit‘ als soziale Zuschreibung nochmal deutlicher angelegt ist als im deutschen Terminus ‚Behinderung‘, der eher auf Barrieren verweist (Karim & Waldschmidt 2019, S. 17). In diesem Sinne könne das englische Sprachspiel dis/ability sowohl einen spezifischen Typus von ‚Anderssein‘ als auch die hegemoniale Position des ‚Normalen‘ benennen (Karim & Waldschmidt 2019, S. 271).
Auch Dan Goodley spricht von einem dis/ability complex (Goodley 2018). In der folgenden Tabelle arbeitet Goodley einige Key Elemente des dis/ability complex heraus:
Dis |
Ability |
Disabled |
Abled |
Emotional |
Rational |
Mad |
Sane |
Dependent |
Autonomous |
Intermeshed |
Atomistic |
Sitting |
Standing |
Collective packs |
Lone wolves |
Crip |
Normal |
Idle |
Labouring |
Entangled |
Alone |
Many others |
The same |
Quelle: Goodley 2018, S. 7
Vergleichbar mit Forschungen zu Critical Whiteness Studies oder Gender Studies deutet sich hier an, dass die jeweils gültige Norm das Andere braucht, um sich selbst zu definieren (Morrison 1995, S. 40; Beauvoir 1989, S. 10 u. 11). Historisch gesehen sind binäre Schemata ein zentrales Kennzeichen des Zeitalters der Moderne. Es gibt in diesem Repräsentationsschema kein dazwischen, kein Kontinuum, keine grauen Zonen oder Hybridität, keine temporären Zustände (Bauman 1991; Hall 1992).
Dieses Grundproblem wird auch von Fiona Kumari Campbell adressiert, deren Begriffsbestimmung von Ableismus international großen Einfluss hat. Man könnte sagen, dass ihre Definition sozusagen zum etablierten Kanon der Critical Ableism Studies gehört. Für Campbell ist Ableism ein
„network of beliefs, processes and practices that produces a particular kind of self and body (the corporeal standard) that is projected as the perfect, species-typical and therefore essential and fully human. Disability then, is cast as a diminished state of being human” (Campbell 2001, S. 44).
In ihrer Definition von Ableismus bezieht sich Campbell u.a. auf die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) Latours sowie Arbeiten von Foucault, Butler und Heidegger. Im Rekurs auf Latour argumentiert Campbell, dass die binären Schemata der Moderne durch Praktiken der purification und translation kontinuierlich abgesichert werden müssen (Campbell 2009, S. 7-10). Stattdessen geht sie von einem relationalen Verständnis ableistischer Formationen aus:
„Humans are endowed by their relations with technologies (cars, vaccines, clothing, implements, clocks, light bulbs to extend the workday, communications devices, prosthesis and drugs etc.). Relations between human and non-human entities (actors) are already hybridised and made up of changeable aspects neither are they obvious or self-contained. Our relationship to context (people, environments, place and cyberspace, mental and bodily changes) means that human typologies are endless, shifting and that’s without factoring in a belief in multi-life narratives (as in Indo-societies). The character of ability can change through interfaces with behaviour modifying drugs and the use of apparatus (speech, memory, virtual reality, hearing and mobility enhancement)“ (Campbell 2018, S. 16).
Im Sinne der ANT geht Campbell somit davon aus, dass Akteure, Artefakte, Technologien, Institutionen etc. hybride Netzwerke herausbilden, die ein Verständnis von ableism bzw. ablement erst hervorbringen. Letztlich sind diese theoretischen Referenzen hoch voraussetzungsvoll und es muss eigentlich erstaunen, dass Campbells Definition von Ableismus so häufig in Publikationen angeführt wird. Wendet sich Campbell doch -wie sie selbst sagt- aufgrund ihrer theoretischen Ausrichtung eher von einem ‚discrimination framework‘ (Campbell 2020, S. 207) ab, da dieser letztlich den in Goodley‘s Tabelle angeführte Binarismus weiter fortführen würde.
In diesem Beitrag soll eine Definition von Ableismus generiert werden, die in einem discrimination framework verbleibt, jedoch ebenfalls ein relationales Verständnis von Ableismus zugrunde legt. Theoretisch möchte ich mich dabei auf die Ungleichheits- und Reproduktionstheorie von Pierre Bourdieu beziehen. Während es in den Disability Studies durchaus Ansätze gibt, die sich in systematischer Weise auf Bourdieu beziehen (z.B. Waldschmidt 2011; van Essen 2013 Köpfer & Wlodarczyk 2014), lässt sich für den Begriff Ableismus noch auf keine entsprechenden theoretischen Vorarbeiten zurückgreifen. Die Folgende Definition ist deshalb als work in progress zu verstehen:
Ableismus ist ein soziales Struktur- und Klassifikationsprinzip, das Akteure anhand als legitim bzw. natürlich anerkannter Fähigkeits-, Leistungs- und Normalitätserwartungen in ein hierarchisches Verhältnis zueinander setzt. Der soziale Maßstab der Bewertung in modernen Gesellschaften ist dabei der produktive, leistungsfähige, fitte, perfekte, autonome Körper bzw. Habitus. Als Macht- und Herrschaftsverhältnis ist Ableismus eingebunden in ein System von Relationen zwischen objektiven sozialen Strukturen, symbolischen Formen und inkorporierten Denk-Wahrnehmungs- und Handlungsschemata.
Im Sinne Bourdieus wird unter Ableismus in diesem Beitrag somit ein relationales Struktur- und Klassifikationsprinzip verstanden. Ein Denken in Relationen bedeutet für Bourdieu, sich vom Denken in Substanzen bzw. Eigenschaften zu befreien (Bourdieu 1974, S. 211). Bourdieu geht davon aus, dass soziale Objekte in einem „Netz von Relationen“ eingebunden sind und die ihnen (zugeschriebenen) Eigenschaften im Wesentlichen auf diese Relationen zurückzuführen seien (Bourdieu 2013, S. 262). Ein prägnantes Beispiel dafür ist sein Werk ‚Die männliche Herrschaft‘ (Bourdieu 2012). In dieser Studie wird deutlich, dass sich (Geschlechter-)Klassifikationen nicht auf kognitive Strukturen reduzieren lassen, sie sind nach Bourdieus Verständnis vielmehr mit den objektiven Strukturen der sozialen Welt verbunden (z.B. geschlechtlich codierte Räume, Arbeitsteilungen, Kapitalbesitz etc.) und stets Gegenstand von sozialen Kämpfen. Auf der Basis dieser Definition soll im Folgenden der Begriff ‚Digitaler Ableismus‘ am Beispiel des Feldes der Hochschule entwickelt werden. Dafür wird in der gebotenen Kürze zunächst der Forschungsstand zum Konnex dis/ability und digitale Hochschulbildung skizziert.
Für Bourdieu ist das universitäre Feld „Stätte der Auseinandersetzung und des Kampfes […], in dem es um die Bestimmung der Voraussetzungen und Kriterien der legitimen Zugehörigkeit und Hierarchie geht, das heißt der relevanten, wirksamen Eigenschaften, die sich als Kapital einsetzen lassen und spezifische Profite erzielen, die vom jeweiligen Feld abgesichert werden“ (Bourdieu 1992, S. 45). In diesem Zitat zeigt sich, dass Bourdieu sowohl die Beharrungstendenzen im universitären Feld in den Blick nimmt als auch die konflikthaften Auseinandersetzungen der Akteure. Im hier interessierenden Fall werden Akteure durch ableistische Strukturen, Praktiken sowie Denk- Wahrnehmungs- und Handlungsschemata im Feld der Bildung unterschiedlich positioniert. Auf diese Weise entstehen wiederum unterschiedliche Bedingungen, Möglichkeitsräume und Gelegenheitsstrukturen für den Erwerb exklusiver Bildungstitel, die über das Hochschulstudium hinaus Einfluss auf die soziale Platzierung in der Gesellschaft haben (Bourdieu et al. 1981).
Im aktuellen Sammelband Ableism in Academia (Brown & Leigh 2020) finden sich mehrere Beispiele, wie ableistische Fähigkeits- und Normalitätsregime im Feld der Hochschule nicht nur die Erfahrungen von Studierenden, sondern auch Forscher_innen strukturieren. Dabei haben sich die Fähigkeits- Produktivitäts- und Leistungserwartungen durch die Ökonomisierung des tertiären Bildungssektors nochmal einmal seit den 1990er Jahren verschärft:
„The premise for such a rigid regime of productivity, effectiveness and excellence geared towards tangible outcomes and outputs in order to support the prestige economy (Blackmore 2016) of a university is a standard, normative, fully able and abled being. In brief, ableism in academia is endemic“ (Brown 2020, S. 3).
Was den aktuellen Forschungsstand betrifft, lassen sich zum Thema Ableismus und Hochschule sowohl in Deutschland als auch international lediglich erste Forschungsarbeiten verzeichnen (z.B. Hutcheon & Wolbring 2012; Powell 2013; Kattari 2015). Neben dem oben zitierten Sammelband ist hier insbesondere auf Jay Dolmages Monographie Academic Ableism (2017) zu verweisen, in welcher der Autor eine Reihe unterschiedlicher Problemfelder adressiert. Angefangen beim elementaren Beitrag der Universitäten zur Geschichte der Eugenik sowie der Entwicklung des medizinischen Modells von Behinderung, über elitäre Bildungsinstitutionen, in denen akademische Selektion als Gütekriterium angesehen wird, bis hin zu architektonischen Barrieren von Gebäuden liefert Dolmage einen umfassenden Überblick über ableistische Traditionen, Praktiken und Strukturen an angloamerikanischen Universitäten.
Das Thema Dis/ablity im Feld der Hochschule wird in der Forschung zumeist mit Bezug auf das menschenrechtlich fundierte Ziel der Inklusion im Bildungssektor aufgegriffen (UN BRK, § 24). Gleichwohl die Hochschulrektorenkonferenz 2009 das Leitbild einer ‚Hochschule für Alle‘ proklamierte (HRK 2009), lassen sich in der deutschsprachigen Forschung noch viele Forschungsdesiderata ausmachen (vgl. Tippelt & Schmidt-Hertha 2013; Klein 2016; Dannenbeck et al. 2016; Mölter & Dannebeck 2019). Nach Klein und Schindler hat sich das Thema inklusive Hochschulbildung als eigenes Forschungsfeld in Deutschland bisher noch nicht etabliert (Klein & Schindler 2016, S. 7). Zur Zeit dominieren hier eher programmatische, juristische und hochschulpolitische Texte sowie Praxisberichte, Evaluationen, Inklusionskonzepte oder Leitfäden für eine barrierefreie Lehre (z.B. Rothenberg et al. 2016; Platte et al. 2018).
Noch am besten erforscht ist die Studiensituation von Studierenden mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung in Form von quantitativen Studien (z.B. DSW 2012 u. 2018). Qualitative Studien sind hingegen eher selten (Rothenberg 2012; Knauf 2014; Stemmer 2017). Herausforderungen der Digitalisierung standen jedoch bisher weder in quantitativen noch qualitativen Untersuchungen im Fokus des Erkenntnisinteresses. Auch in bildungspolitischen und praxisorientierten Dokumenten wird das Thema digitale Hochschulbildung eher technikzentriert in den Blick genommen. Zum Beispiel in Form von Hinweisen zur Erstellung barrierefreier pdf.-Dateien oder der Untertitelung von Lehrvideos. Das gilt m.E. tendenziell auch für das Konzept des Universal Design, mit dem in Deutschland entweder erneut eher technischen Fragen der Barrierefreiheit, Nutzbarkeit und Teilhabe gestellt werden oder bei dem die noch wenigen Forschungsbeiträge fast schon in ein Gegenteil umschlagen und einen durchweg abstrakten bzw. programmatischen Charakter annehmen (für einen Überblick siehe Fisseler 2020).
International ist der Themenkomplex Hochschule, Digitalisierung und Behinderung bzw. Inklusion weitaus besser erforscht (Kimball 2016). Allerdings haben auch diese Forschungsarbeiten zum großen Teil einen ausgeprägten Anwendungsbezug. Das Erkenntnisinteresse zielt hier z.B. auf die Zugänglichkeit und Barrierefreiheit von digitalen Lernmanagementsystemen, Webseiten und digitalen Lehr-Lernszenarien (z.B. Kent 2016; Fichten et al. 2020; Seale 2020). Forschungsbeiträge zu Konzepten des Universal Designs im tertiären Bildungssektor sind im angloamerikanischen Sprachraum dabei sehr viel stärker verbreitet als in Deutschland (z.B. Burgstahler & Cory 2008; Lombardi & Murray 2011; Ableser & Moore 2018). Forschungsdesiderate im Hinblick auf sozial- erziehungs- und kulturwissenschaftliche Analysen zur digitalen Hochschulbildung lassen sich allerdings auch international verzeichnen (s. dazu Kent et al. 2019; Seal et al 2019). Eine Analyseperspektive, wie sie der Begriff Digitaler Ableismus offeriert, bietet somit auch international innovative Impulse.
Für die Entwicklung des Begriffs Digitaler Ableismus sollen im Folgenden zwei Diskussionsstränge zusammengebracht werden. Zum einen Diskussionen aus den Science Technology Studies (STS) zum anderen kritische Perspektiven aus Universal Design Ansätzen. Dabei verstehe ich den Begriff Digitaler Ableismus - vergleichbar mit dem Begriff gender in der Geschlechterforschung - als ein Analyse-Instrument.
In den Science Technology Studies führte Ashley Shew 2020 den Begriff Technoableism ein:
„Technoableism is a term I have coined to describe a rhetoric of disability that at once talks about empowering disabled people through technologies while at the same time reinforcing ableist tropes about what body-minds are good to have and who counts as worthy“ (Shew 2020, S. 43).
Als Beispiel für Technoableism verweist Shew auf Chochlea Implantate, die mit der Intention entworfen wurden, dass Menschen mit Hörbeeinträchtigungen an einer ‚normalen‘ Kommunikation teilnehmen können. Für einige Angehörige der Deaf community, so Shew, sind Chochlea Implantate allerdings ein Affront gegen die eigene Gehörlosenkultur (ebd., S. 44). Ein weiteres Beispiel, das Shew anführt, ist der Hype um Exoskelette. Für Shew sind dies markante Beispiele für einen Technoableismus, der darauf abzielt, Behinderung zu kurieren, zu beheben oder gar zu eliminieren. Die Message von Exoskeletten ist: stehen bzw. gehen ist besser als einen Rollstuhl zu fahren. Vordergründig sollen Menschen mit Behinderung durch Technoableismus empowert werden, kritisiert Shew, tatsächlich aber werden ableistische Vorstellungen davon reproduziert, welche Körper wertvoll sind. Das Problem der Barrierefreiheit wird erneut dem Individuum aufgebürdet, nicht der Umwelt, die eine Transformation erfahren muss (ebd., S. 46).
Der Begriff Technoableism ist meines Erachtens instruktiv, allerdings bezieht er sich konzeptionell noch eher auf Ableismus als ‚Behindertenfeindlichkeit‘, da er primär den Assimilationsdruck an körperliche und psychische Normen sowie die implizite Degradierung der Lebensentwürfe, Erfahrungen und Identitäten von Menschen mit zugeschriebenen Behinderungen kritisiert. Der Beitrag von Shew zielt vor allem auf technische Innovationen, die dazu angetreten sind, Individuen mit Hilfe technischer Lösungen an eine ableistische Umwelt anzupassen, statt diese selbst barrierefrei zu gestalten. Wie zu Beginn angeführt, sehen einige Autor_innen der Disability Studies das besondere Potenzial des Begriffs Ableismus allerdings in einem Perspektivenwechsel auf die Norm. Um zu verdeutlichen, was dies bedeuten könnte, soll im Folgenden zusätzlich auf Debatten zu Universal Design Ansätze in der digitalen Hochschulbildung zurückgegriffen werden.
Eine zentrale Grundannahme des Leitbildes Universal Design ist, dass Institutionen ihre Digitalisierungsstrategien und -angebote von Beginn an an den Standards der uneingeschränkten Zugänglichkeit, Nutzbarkeit, Verfügbarkeit und Teilhabe ausrichten, ohne technischen bzw. inhaltlichen Qualitätsverlust. Des Weiteren orientieren sich Universal Design Ansätze in ihrer Entwicklung von vornherein an den Bedürfnissen und Bedarfen heterogener Nutzergruppen (Mace 1985; Burgstahler & Cory 2008; Fisseler 2020). In den Forschungsarbeiten zum Universal Design findet sich eine elaborierte Kritik an dem so genannten Accommodation Approach oder auch Retrofit-Approach, der im Folgenden für die Entwicklung des Begriffs Digitaler Ableismus produktiv gemacht werden soll.
Ein Retrofit-Approach zielt auf eine nachträgliche bzw. individuelle Anpassung digitaler Technologien an die Bedarfe von behinderten Menschen (Müller 2014; Perez 2015; Thousand, Villa & Nevin 2015, S. 11ff.). In der digitalen Hochschulbildung produzieren entsprechende Post-Production-Adjustments ein Patchwork an technischen Lösungen, die zeit- und kostenintensiv sind (IBS 2016; Fichten et al 2020, S. 24). Für Studierende hat dies zur Folge, dass sie die behindernden Strukturen der Hochschule durch individuellen Mehraufwand kompensieren müssen und potenziell in die Position von ‚Bittsteller_innen‘ gebracht werden (Walgenbach & Körner 2020, S. 22).
Wenn man Studien zu Behinderung und digitaler Hochschulbildung quasi ‚gegen den Strich‘ liest, lässt sich einiges über Strukturen, Praktiken und Formen eines Digitalen Ableismus lernen, der sich aus einem Retrofit-Approach ergibt. Ein Digitaler Ableismus zeigt sich bspw. in der Ausrichtung digitaler Lehr-Lernszenarien, Lerninfrastrukturen und technischer Supportangebote an eine als homogen angenommene Zielgruppe, den ‚normalen‘, gesunden, leistungsfähigen, autonomen Studenten (siehe z.B. den Forschungsüberblick von Fichten et al 2020). Fähigkeiten des Sehens, Hörens, Schreibens etc. werden in digitalen Lehrangeboten und -infrastrukturen als selbstverständlich und alternativlos vorausgesetzt sowie privilegiert (siehe z.B. die Studie von Kent 2016). Die zeitlichen Formen des Digitalen Ableismus manifestieren sich in kurzfristigen, befristeten und häufig erst verzögert zur Verfügung gestellten technischen Problemlösungen sowie zeitlich unflexiblen Lernsettings (siehe z.B. Dolmage 2017, S. 70). Die Verantwortung bzw. Zuständigkeit für Zugänglichkeit, Nutzbarkeit und Teilhabe an digitaler Lehre wird -zumindest von der Ausgangslage her - den Studierenden zugewiesen (siehe z.B. Müller 2014, S. 18). In seinen Handlungsschemata ist Digitaler Ableismus reaktiv und individualisierend ausgerichtet (ebd.). Digitaler Ableismus produziert somit Ausschlüsse und erschwert die Bildungsteilhabe von Studierenden, welche die als legitim bzw. natürlich anerkannten Fähigkeits-, Leistungs- und Normalitätserwartungen in behindernden digitalen Lernsettings nicht erfüllen.
Für Bourdieu leiten Begriffe als modus operandi die wissenschaftliche Praxis an. Sie sind damit quasi Denkwerkzeuge, deren Güte sich erst im Forschungsprozess erweisen muss (Bourdieu 2013, S. 196 u. 197). Am Beispiel der digitalen Hochschulbildung wurde aufgezeigt, welches Potenzial ein Perspektivenwechsel auf ableistische Fähigkeits-, Leistungs- und Normalitätserwartungen in sich birgt, wenn man vorhandene Forschungsbeiträge quasi ‚gegen den Strich‘ liest. Daraus soll nun abschließend eine allgemeine Definition des Digitalen Ableismus abgeleitet werden, die auch für weitere soziale Felder produktiv sein könnte:
Unter Digitalen Ableismus lässt sich verstehen, dass digitale Angebote auf eine als homogen angenommene Nutzergruppe kalibriert sind. Auf diese Weise findet eine einseitige Präferenzsetzung und Hierarchisierung von als ‚normal‘ bzw. ‚natürlich‘ angesehenen Fähigkeiten in Digitalisierungsprozessen statt. Die Verantwortung für Zugänglichkeit, Verfügbarkeit und Nutzbarkeit von digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien wird dabei den Nutzer_innen zugewiesen und nicht den Anbieter_innen, Institutionen oder Designer_innen. In seinen zeitlichen Formen zeichnet sich der Digitale Ableismus durch eine nachträgliche Bereitstellung technischer Problemlösungen aus, die zudem temporär und zeitlich unflexibel angelegt sind. In seinen Handlungsschemata ist er reaktiv, additiv und individualisierend ausgerichtet. In der Konsequenz produziert Digitaler Ableismus Ausschlüsse und forciert digitale Ungleichheit.
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