Julia Lipkina:Das Temperament als schulisch relevante Heterogenitätsdimension

Abstract: Während das Konzept des Temperaments in der Psychologie seit dem Ende des 20. Jahrhunderts wieder an Bedeutung gewinnt, ist es im deutschsprachigen pädagogischen Diskurs gegenwärtig ein eher wenig beachtetes Thema. Der folgende Beitrag möchte im Anschluss an die Theorien und empirische Befunde der Psychologie das Temperament als Dimension von SchülerInnenheterogenität diskutieren. Gezeigt werden soll dabei einerseits, dass eine unzureichende Inklusion von Kindern mit bestimmten Temperamentsmerkmalen angenommen werden kann, sowie andererseits, dass am Beispiel des Temperaments eine andere Perspektive auf Heterogenität und ein bildungstheoretischer Beitrag zu der Frage, wie pädagogisch mit dem Phänomen Heterogenität im Kontext von Schule angemessen umzugehen ist, eröffnet werden kann.

Stichworte: Temperament; Heterogenität; Persönlichkeit; Bildung; Schule

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Das Temperament in pädagogischen Reflexionen
  3. Aktuelle Befunde der Temperamentsforschung und ihre pädagogische Relevanz
  4. Zum Umgang mit temperamentsbezogener Heterogenität
  5. Schluss
  6. Literatur

1. Einleitung

Mit dem Thema „Heterogenität“ wird die Problemstellung verhandelt, wie ein in der Gruppe organisierter Unterricht den Bedürfnissen lernender Subjekte gerecht werden kann, wobei Differenz eine positive Akzentuierung findet und Kritik an der schulischen Praxis geübt wird, durch ihre Bemühungen um Homogenisierung und Selektion die Individualität der Schüler*innen zu missachten. Etabliert werden soll eine Kultur der Wertschätzung, die Vielfalt als Bereicherung auffasst und alle Schüler*innen entsprechend ihren Lernausgangslagen und Lernmöglichkeiten bestmöglich zu fördern beansprucht (vgl. Budde 2018: 41). Mit dem Ziel einer inklusiven Schule und Gesellschaft geht es dabei allgemeiner um die Anerkennung aller Menschen als gleichwertig und – im Sinne eines breit gefassten Inklusionsbegriffs – um die Ermöglichung von Bildung und Teilhabe für alle Schüler*innen unabhängig von ihrem Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, besonderer Lebensbedürfnisse u.v.m.
Der Diskurs wird dabei von diversen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen und außerdisziplinären Forschungsfeldern bearbeitet und lässt sich entsprechend nicht auf eine einzelne Theorielinie oder ein Arbeitsfeld begrenzen (vgl. Trautmann/Wischer 2019). Besonders Verbreitung gefunden haben anerkennungstheoretische Zugänge, Diskurse um soziale Ungleichheiten sowie Vorschläge zur didaktischen Reformierung des Unterrichts, wobei sich je nach Zugang diverse Merkmale finden, auf deren Grundlage Personen voneinander unterschieden werden können. Untersucht werden u.a. Heterogenitätsmerkmale wie Alter, Vorwissen, Intelligenz, soziale Herkunft, Migrationsstatus, Behinderung und Geschlecht, wobei eine hierarchielose Anerkennung von Heterogenität vorrangig als Möglichkeit der Steigerung von Leistungsfähigkeiten und dem Abbau von Bildungsungleichheiten sowie allgemein der Verhinderung von Exklusion diskutiert werden.
Das Temperament als schulisch relevante Heterogenitätsdimension taucht zwar in manchen Merkmalslisten (vgl. Scholz 2016: 12) explizit oder implizit unter anderen Stichworten (vgl. Altrichter/Hauser 2007: 6) auf, wird jedoch nicht systematisch berücksichtigt. Die Psychologie thematisiert das Temperament indes als Teil der Persönlichkeit, der neben Fähigkeiten, Einstellungen, Umweltfaktoren und Erfahrungen einen bedeutsamen Einfluss auf die Formung von Personen hat. Das Konzept steht für die Besonderheiten in „Formaspekten des Verhaltens“ (Asendorpf 2003: 775; H.i.O.) im Sinne einer „emotionalen Reagibilität und Selbstregulation“ (Watzke/Rujescu 2016: 315), die sich bereits früh in der Entwicklung zeigen und im Verlauf der Kindheit zunehmend an Stabilität gewinnen. Dabei wird von einer genetischen Basis ausgegangen, die in wechselseitiger Beziehung mit Erfahrungen steht und sich entsprechend einer Tendenz in der Persönlichkeit des Individuums äußert (vgl. ebd.). Darüber hinaus verfügt das Konstrukt über eine prognostische Validität zur Vorhersage akademischer Leistungen, beruflichen Erfolgs oder der Entwicklung von psychischen Erkrankungen. Die empirischen Befunde der Temperamentsforschung zeugen derweil nicht nur von einer Relevanz des Konstrukts für den schulischen Kontext, sondern verweisen auch auf Verstöße gegen Chancengleichheit, soziale Anerkennung und damit eine unzureichende Inklusion von Kindern mit bestimmten Temperamentsmerkmalen, sodass es durchaus aussichtsreich erscheint, das Temperament als Heterogenitätsdimension genauer in den Blick zu nehmen (vgl. Wenning 2017: 49).
Dazu sichtet[1] der Beitrag zunächst in einem (2) historischen Rückblick bisherige pädagogische Thematisierungsweisen des Temperaments und diskutiert mögliche Gründe für sein Verschwinden aus pädagogischen Reflexionen. Daran anschließend skizziert er für die Pädagogik potenziell relevante (3) theoretische und empirische Befunde psychologischer Temperamentsforschung und arbeitet (4) mögliche Anschlüsse an den aktuellen Heterogenitätsdiskurs heraus. Schließlich zeigt der Beitrag (5), dass am Beispiel des Temperaments bildungstheoretische Reflexionen in den Heterogenitätsdiskurs eingebracht werden können.

2. Das Temperament in pädagogischen Reflexionen

Während die internationale Temperamentsforschung der letzten Jahrzehnten durch eine überzeugende theoretische und empirische Evidenz dazu beigetragen hat, das Temperament als anthropologische Kategorie zu etablieren und Assoziationen mit einer veralteten antiken ‚Säftelehre’ in den Hintergrund rücken, spielt es in aktuellen (schul-)pädagogischen Diskursen keine nennenswerte Rolle. Wirft man hingegen einen Blick in ältere Abhandlungen, zeigt sich, dass sich pädagogisches Denken dezidiert seit dem 18. Jahrhundert mit den Eigentümlichkeiten des Individuums und ihren Implikationen für Erziehung und später auch Unterricht befasst hat.
Es sind vor allem Kants Beschreibungen des Sanguinikers, Melancholikers, Phlegmatikers und Cholerikers im Anschluss an die hippokratisch-galeanische Lehre, die für das folgende Jahrhundert prägend sind (vgl. Boerner 2015: 19). Kant sieht im Temperament eine zentrale anthropologische Kategorie, mithilfe derer grundlegende Verhaltensmerkmale des Menschen differenziert werden können. Für ihn sei der Mensch einerseits Naturwesen und andererseits ein vernünftiges, zur Freiheit begabtes Wesen, wobei das Temperament offenbare, „was sich aus dem Menschen machen läßt“ – der Charakter stehe hingegen dafür, „was er aus sich selbst zu machen bereit ist“ (Kant 1798: 285).
Daran anknüpfend findet das Temperament im Zuge des 19. Jahrhunderts Eingang in die deutsche Pädagogik, in der sich eine intensive Thematisierungswelle zum Verhältnis von Erziehung und Temperament verzeichnen lässt (vgl. Ledl 2008). Gemeinsam haben die Ansätze die Vorstellung, dass das von Natur gegebene kindliche Temperament einer ‚Zähmung’ durch die Vernunft bedarf, wobei sich allerdings im Umgang mit dem Temperament zwei unterschiedliche Ansichten zeigen: Entweder erscheint es als angemessene Beschreibung der natürlichen Analgen des Zöglings, die es erzieherisch zu berücksichtigen gelte, oder das Temperament wird als ein auf erzieherischen Versäumnissen beruhender, schlechter Habitus betrachtet, der durch Erziehung beseitigt werden müsse (vgl. ebd.: 192). Für Schleiermacher (2017) erwächst Individualität durch die Erhebung des Temperaments zum Charakter, wobei er das Temperament als Produkt der Natur und den Charakter als Seite der Freiheit darstellt. Erziehung habe die ungehinderte, aber maßvolle Entwicklung des Temperaments unter der Herrschaft der Vernunft zu unterstützen: bei Kindern habe das Leibliche noch einen großen Einfluss auf das Psychische (vgl. Frohne 1884: 39), wodurch Einseitigkeiten des Temperaments zum Ausbruch kämen, welchen man, je nach Temperamentsausprägung, unterschiedlich entgegenzuwirken habe (vgl. Schleiermacher 1849: 776f.). Die Vernunft als Korrektiv besitze eine harmonisierende Kraft und ermögliche die Entwicklung der individuellen Anlagen zu einer inneren Einheit (vgl. 1826: 76), wobei es nicht darum gehe, dass Temperament zu hemmen, sondern durch die Entwicklung der Vernunft zu unterstützen. Anders als Schleiermacher, der selbst dem gebildeten Menschen ein Temperament zugesteht, ist Herbart (1842) hingegen der Überzeugung, dass jedes Kind zwar mit einer Individualität ausgestatten geboren werde, dass diese jedoch an sich unvollkommen sei und durch Erziehung in einen moralischen Charakter transformiert werden müsse, der schließlich über gar kein Temperament mehr verfüge (vgl. Ledl 2008: 193). Die Individualität zählt für Herbart zum objektiven Charakter – also das im Individuum Vorgefundene und die Ausgangslage für die Erziehung – davon unterscheidet er den subjektiven Charakter als Resultat erzieherischer Bemühungen und Produkt reflektierter Sittlichkeit.
Während sich Schleiermacher und Herbart noch um eine Konzeptualisierung des Temperaments bemühen (vgl. auch Strümpell 1844; Bahnsen 1867), findet man in darauf folgenden pädagogischen Reflexionen kaum noch Versuche einer Weiterentwicklung (vgl. bspw. Hellwig 1889; Salzsieder 1920; Kerschensteiner 1915; Nohl 1947). Im Fokus steht aber weiterhin die Frage nach erzieherischen Einflüssen auf das Temperament, deren normatives Ziel ein sich auf Moralität gründender Charakter ist.Nach Hellwig (1872) muss das kindliche Temperament in der Erziehung explizit berücksichtigt werden, da jedes Kind, je nach Ausprägung, unterschiedlich auf Erziehungsversuche reagiere. Das Ziel der Einwirkungen sei die Herstellung eines Gleichgewichts von Temperamentseigenschaften, was dem Kind erlauben soll, auf eine möglichst große Vielzahl an Situationen adäquat zu reagieren. Er empfiehlt die Identifikation des kindlichen Temperaments auf Basis der kindlichen Physiognomie und des Spielverhaltens. Salzsiedler (1920) diskutiert, welcher Erziehungsstil zu welchem Temperament als passförmig erscheint. Erführt Schwierigkeiten im kindlichen Temperament auf eine mangelnde Individualisierung des Unterrichts zurück und fordert auf Basis der Einsicht in Temperamentsunterschiede die Entwicklung einer differentiellen Didaktik (vgl. Zentner 1998: 19f.)
Obwohl man sich zur gleichen Zeit in der Psychologie zunehmend um eine empirische Fundierung bemüht und auch andere Disziplinen dazu übergehen, die griechischen Temperamentstypen als veraltete Menschenkunde zu betrachten, verharren pädagogische Reflexionen jedoch ohne die Typologisierungen infrage zu stellen, im Streit um die Frage nach dem angemessen Umgang mit den natürlichen Anlagen in ihrer Bezugnahme auf die antike Temperamentslehre, bis es schließlich zu einer Stagnation der Bemühungen kommt (vgl. Ledl 2008).
Lediglich in der Waldorfpädagogik spielt das Temperament nach wie vor eine prominente Rolle und wird bei der Gestaltung des Unterrichts explizit berücksichtigt. Für Steiner gehört die Kenntnisnahme der Differenzen des kindlichen Temperaments zu den zentralen Aufgaben des Pädagogen (1969). Erziehung habe dabei, wie schon bei Schleiermacher, die Aufgabe nicht das Temperament zu beseitigen, sondern es als Bedingung von pädagogischen Interventionen zu betrachten und dahingehend Einfluss zu nehmen, dass die Veranlagungen ihre positiven Qualitäten entfalten können. Auch in der Waldorfpädagogik erscheint damit als Ziel der Temperamentserziehung die Harmonisierung der Anlagen des Kindes und die Vermeidung einseitiger Ausprägungen (vgl. Ullrich 1991: 147). Insgesamt verbleiben die waldorfpädagogischen Zugänge zur Bedeutung des kindlichen Temperaments für die Unterrichtsgestaltung jedoch eher randständig (vgl. Lipps 2004). Auch wenn sich hier durchaus Anschlüsse an die aktuelle psychologische Forschung (vgl. Rittelmeyer 2010) sowie allgemeine pädagogische Diskurse (vgl. Riethmüller 2004) herstellen lassen, steht die Thematisierung der Temperamente auch weiterhin unter Ideologieverdacht (vgl. Ullrich 1991). Darüber hinaus wird deutlich, dass auch im Rahmen der Waldorfpädagogik keine wissenschaftliche Weiterentwicklung der pädagogischen Betrachtung des Temperamentskonzeptes stattfindet: Steiner, so Ullrich, übernehme in seiner Temperamentslehre und -pädagogik letztlich „Merkmale [...] mit nur geringfügigen Modifikationen aus der nicht-wissenschaftlichen Unterhaltungs- bzw. Ratgeberliteratur seiner Zeit [...]. [I]m Hinblick auf analytische Klarheit der Begriffe und Differenziertheit der Deskription fällt seine Seelenkunde deshalb noch hinter die persönlichkeitspsychologischen Lehren von F.A. Carus und Kant zurück“ (ebd.: 176).
Insgesamt zeigt der Blick in bisherige Thematisierungsweisen, dass sich die Pädagogik in der Beschäftigung mit dem Temperament seit Herbart und Schleiermacher kaum weiterentwickelt hat und neuere psychologische Erkenntnisse bislang keine große Resonanz in pädagogischen Kreisen erfahren haben. Damit liegen die Gründe für das Verschwinden des Temperaments vermutlich weniger in einer dezidierten Kritik an aktuellen Modellen, sondern wohl an der Tatsache, dass es die Pädagogik durch das Festhalten an der vorwissenschaftlichen Menschenkunde versäumt hat, Anschlüsse an die psychologische Temperamentsforschung, die sich parallel zunehmend um eine Differenzierung und Verwissenschaftlichung der Persönlichkeitsforschung bemühte, herzustellen, wodurch das Temperament im Kontext der Pädagogik historisch ins Hintertreffen geraten ist.
Die aktuelle psychologische Forschung zeigt jedoch, dass das Temperament eine bedeutende Rolle für Entwicklungsverläufe und -risiken in verschiedenen Lebensbereichen spielt, sodass es für pädagogische Überlegungen sinnvoll erscheint, zu erfahren, in welcher Weise das kindliche Temperament Lern- und Bildungsprozesse beeinflusst.

3. Aktuelle Befunde der Temperamentsforschung und ihre pädagogische Relevanz

3.1 Definition

Während das Konzept des Temperaments im deutschsprachigen pädagogischen Diskurs ein eher wenig beachtetes Thema ist, gewinnt es in der Psychologie seit dem Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend wieder an Bedeutung. Trotz einer international expandieren Temperamentsforschung sind die wissenschaftlichen Auffassungen darüber, wie das Temperament zu definieren ist, jedoch alles andere als einheitlich; es existieren je nach Forschungsinteresse unterschiedliche Definitionen und Modelle, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen (vgl. Boerner 2015: 233 ff.; Garstein et al. 2016; Möhler/Resch 2012). Das Temperament bildet damit weniger ein klar umrissenes Konstrukt (vgl. kritisch: Asendorpf 2003), sondern eher eine Forschungsrichtung (vgl. Zentner 1998: 56), die sich umfassend darum bemüht, die Bedeutung früh auftretender Verhaltensphänotypen für die psychologische Entwicklung zu erfassen (vgl. Zentner/Shiner 2012: 674). Trotz unterschiedlicher Theorien und Verfahren lassen sich jedoch einige definitorische Merkmale hervorheben, die sich übergreifend in Temperamentskonzeptionen finden lassen (vgl. Zentner 1998: 15, 58; Boerner 2015: 234ff.; Möhler/Resch 2012): So bezieht sich das Temperament auf 1) die physiologischen, konstitutionellen und damit erbbedingten Wurzeln der Persönlichkeit, die sich als 2) individuelle Unterschiede im Verhalten bereits in der frühen Kindheit zeigen und 3) relativ stabil über die Lebensspanne erhalten bleiben. Gleichzeitig wird in der aktuellen Temperamentsforschung davon ausgegangen, dass temperamentsbezogene Dispositionen auch 4) interaktionistischer Natur und durch Umwelteinflüsse sowie Erziehungspraktiken beeinflussbar seien, was das Konstrukt für pädagogische Überlegungen interessant macht.

3.2 Die Entwicklung des Temperaments

Einigkeit besteht weitestgehend darüber, dass das Temperament als Vorläufer- und Teilkonstrukt der Persönlichkeit, das sich bereits pränatal zeigt (vgl. Gartstein et al. 2012), betrachtet werden kann (vgl. Rothbart et al. 2000). So korrespondieren verschiedene Schlüsseldimensionen des Temperaments mit den Faktoren des Big-Five-Modells nach McCrae & Costa (2008). Nach Shiner und DeYoung (2013: 113) stellen Temperament und Persönlichkeit letztlich unterschiedliche Arten und Weisen der Beschreibung derselben basalen Eigenschaften dar, wobei die Temperamentsforschung die Kindheit und frühe Ausprägungen dieser Eigenschaften fokussiert, während die Persönlichkeitsforschung das Auftreten dieser Dimensionen im Erwachsenenalter untersucht. Buss und Plomin (1984) gehen davon aus, dass das Temperament das Verhalten in der frühen Kindheit infolge noch nicht entwickelter kognitiver Strukturen oder mangelnder Sozialisationserfahrung dominiert, während im späteren Lebensverlauf zunehmend die Persönlichkeit als Resultat von Reifungs- und Erfahrungsprozessen in den Vordergrund rückt (vgl. Boerner 2015: 109). Nach Cloninger (2004) führen Entwicklungsprozesse idealtypisch zu einem höheren Grad an seelischer Reife und Differenzierung der Persönlichkeit. Er verknüpft seine Überlegungen zum Temperament als Grundlage menschlicher Existenz mit lebensgeschichtlichen Entwicklungen und unterscheidet im Anschluss an Kant zwischen dem angeborenen Temperament und dem finalen Charakter, der das Resultat unterschiedlicher Wirkfaktoren wie individueller Sozialisation, gesellschaftlicher Prägung und individueller Willens- und Werteüberzeugungen darstellt.
Mit dem Fokus der Temperamentsforschung auf das Kindesalter werden Fragen nach Entstehung und Stabilisierung des Temperaments sowie Prädikation möglicher Entwicklungsverläufe, Pathologien oder schulischer Leistung in den Blick genommen (vgl. Karreman et al. 2010; Zentner/Shiner 2012: 688). Auch wenn zahlreiche Ansätze die biologische Basis des Temperaments hervorheben, gilt dabei in der modernen Temperamentsforschung eine dynamische Perspektive als gemeinhin akzeptiert, nach der Temperamentsmerkmale durch Umwelteinflüsse modifiziert und verändert werden können.
Nach Caspi und Roberts (2001: 314ff.) können drei unterschiedliche Konstellationen von Temperament und Umwelt angenommen werden: Reaktive Transaktionen verweisen darauf, dass sich die Art und Weise, wie Umwelt verarbeitet und bewertet wird, je nach Temperament unterscheidet und man von einem temperamentsbezogenen selektiven Wahrnehmungsbias ausgehen kann. Evocative Transaktionen bedeuten, dass nicht nur das Temperament durch Umwelteinflüsse formbar ist, sondern, dass bestimmte angeborene Temperamentseigenschaften auch umgekehrt einen Einfluss auf die Umwelt haben. So können kindliche Temperamentseigenschaften bestimmte Reaktionen Erwachsener auf sie auslösen, welche wiederum die weitere Entwicklung des Temperaments beeinflussen. Prokative Transaktionen meinen schließlich, dass von einer temperamentsbezogenen Selektivität bei der Auswahl und Gestaltung der Umwelt ausgegangen werden kann, d.h. Kinder suchen sich solche Settings und Aktivitäten aus, die am ehesten ihrem Temperament entsprechen.
Damit wird deutlich, dass die Interaktionen zwischen dem Temperament und äußeren Einflüssen zu unterschiedlichen Resultaten führen können. Nicht alle Erziehungspraktiken bewirken bei jedem Kind dasselbe, ebenso wie manche Kinder mehr oder weniger empfänglicher für bestimmte Umwelteinflüsse sein können als andere. Ob und in welcher Weise das Temperament wandelbar ist, hängt damit nicht nur von äußeren Einflüssen, sondern auch von dem jeweiligen Temperament selbst ab (vgl. Zentner/Shiner 2012: 689). So gehen Rothbart und Bates (1998) davon aus, dass das Temperament auf der einen Seite durch Unterschiede in der Reaktivität und auf der anderen Seite durch Selbstregulationskompetenzen, die auf diese Tendenzen Einfluss nehmen, bestimmt wird. Reaktivität bezieht sich auf die biologische Empfindlichkeit eines Organismus gegenüber der Umwelt: Der gleiche Stimulus hat nicht denselben Effekt auf alle Kinder, weil sie sich darin unterscheiden, wie schnell und wie intensiv sie Angst, Frust oder Freude empfinden. Die Selbstregulation bezieht sich auf Verhaltensmuster, die diese Reaktivität modulieren. Sie hat die Funktion, Verhaltensreaktionen zu hemmen und Aufmerksamkeitsprozesse bewusst zu steuern. Individuelle Unterschiede zeigen sich in beiden Aspekten – dem Verhaltensstil und der emotionalen Reaktivität – und können bereits im Säuglingsalter beobachtet werden.
Das Konzept der Anpassungsgüte nach Thomas und Chess (1977) geht indes davon aus, dass sowohl die Umwelt als auch der Organismus von Beginn an in einem Austausch miteinander stehen und sich gegenseitig beeinflussen. In diesem Sinne kann ein Temperamentsmerkmal in Abhängigkeit von bestimmten Werten und Einstellungen jeweils mit positiven oder negativen Interaktionen mit der Umwelt verknüpft werden (vgl. Seel/Hanke 2014: 390). Dabei spielen auch (sozio)kulturelle Einflüsse (wie Werte und Normen einer Kultur) oder das Geschlecht eine entscheidende Rolle bei der Art und Weise einerseits, wie Eltern auf das Temperament ihres Kindes reagieren und andererseits, wie jeweilige temperamentsbezogenen Dispositionen zum Ausdruck gebracht werden. Die Entwicklung verläuft damit in Abhängigkeit davon, wie das kindliche Temperament und die Anforderungen und Erwartungen der Umwelt zusammenpassen. Von einer Übereinstimmung kann ausgegangen werden, wenn „Eigenschaften, Erwartungen und Anforderungen der Umwelt im Einklang stehen mit den Möglichkeiten, Fähigkeiten sowie den Charakterzügen und dem Verhaltensstil des Organismus“ (ebd.: 143). In diesem Sinne kommt Temperamentsmerkmalen nur dann eine prognostische Bedeutung für problematische Entwicklungen zu, wenn sie inkompatiblen Umwelteinflüssen begegnen – das Temperament hat als solches keine determinierende Wirkung auf Verhaltungsstörungen.

3.3 Das Temperament im Kontext von Schule

Zahlreiche Studien belegen, dass zwischen dem Temperament und schulischem Erfolg ein konkreter Zusammenhang besteht (vgl. Martin 1989; Martin et al. 1994; Duckworth & Allred 2012). Dabei konnte nachgewiesen werden, dass das Temperament unabhängig von Intelligenzniveau, sozioökonomischen Hintergrund oder Lernfähigkeiten in einem Zusammenhang mit Noten und standardisierten Tests steht. So zeigen Martin (1989) und sein Team im Anschluss an Thomas und Chess (1977), dass insbesondere die Dimensionen „Persistenz“, „Ablenkbarkeit“ und „Aktivität“ als wichtige Prädikatoren von Noten und standardisierten Testergebnissen angenommen werden können. Neuere Studien deuten auf direkte Zusammenhänge zwischen schulischer Performance und der Fähigkeit der Selbstregulation im Sinne von Rothbart und Bates hin, die Einfluss auf die Entwicklung von sprachlichen und mathematischen Fähigkeiten hat (vgl. Blair/Razza 2007). Dabei bezieht sich schulischer Erfolg nicht nur auf Leistungen, sondern auch auf die Anpassung an institutionelle Erwartungen und Anforderungen (vgl. Al-Hendawi 2013). Im Anschluss an Rotbarth und Bates wird davon ausgegangen, dass die Selbstregulation dabei einen entscheidenden Einfluss auf den Erfolg der Anpassung hat (vgl. Ellis et al. 2004; Blair/Razza 2007; Checa et al. 2008). Die Fähigkeit zur Selbstregulation ermöglicht adäquates Verhalten im schulischen Kontext, fördert das Erreichen von Lernzielen und führt zu positiven Evaluationen im sozialen Verhalten durch Mitschüler*innen und Lehrer*innen (vgl. Eisenberg et al. 2004), wohingegen schwach ausgeprägte Regulationsfähigkeiten in Kombination mit hoher ausgeprägter negativer Emotionalität in Prüfungsängsten, Lernblockaden oder Verhaltensauffälligkeiten münden können (vgl. McClelland et al. 2007; McIntyre et al. 2006; Eisenberg et al. 2000).
Das Temperament hat auch einen indirekten Einfluss auf Lernleistungen durch Einstellungen Lehrender zur Ausprägung eines bestimmten Temperaments und damit einhergehende Erwartungen (vgl. Zentner 1998: 122). So gehen Keogh und ihre Mitarbeiter*innen im Anschluss an Thomas und Chess davon aus, dass sowohl mit dem Curriculum als auch in sozialen Interaktionen mit Peers und Lehrenden bestimmte Erwartungen und Anforderungen einhergehen, die entweder zu dem Temperament des Kindes passen, und damit eine stressfreie und positive Bewältigung schulischer Aufgaben ermöglichen, oder im Falle einer Nicht-Passung zu schulischen Problemen und Beeinträchtigungen des Lernens führen können (vgl. Rothbarth/Jones 1998: 35). Das von Keogh entwickelte Konzept der teachability, das Wertevorstellungen von Lehrenden über spezifische Schülereigenschaften zusammenfasst (vgl. Keogh et al., 1982; Keogh, 1989, 2003), zeigt, dass Schüler*innen mit den Temperamentsmerkmalen „hohe Aufmerksamkeitsspanne“, „Anpassungsfähigkeit“, „niedrige Aktivität“ und „Reaktivität“ die größten Potenziale zugewiesen werden (vgl. Rothbart/Jones 1998: 36). Ausgeprägte positive Werte auf den Skalen dieser Temperamentsdimensionen entsprechen damit den Vorstellungen eines idealen Schülers oder idealen Schülerin (vgl. Zentner 1998: 123). Koegh (1994) vermutet, dass eine gelungene Lehrer-Schüler-Interaktion eine Frage der Passung zwischen der jeweiligen Persönlichkeit sowie dem Lehrstil der Lehrenden und dem Temperament der Schüler*innen ist, wobei die Präferenzen in einem Zusammenhang mit den jeweiligen angewandten Lehrmethoden und Classroom-Management-Strategien (vgl. ebd.: 172) oder dem Temperament des Lehrenden selbst stehen (vgl. Meisgeier/Kellow 2007): „Such an preference normally results in a modification of teaching behavior towards these children, which manifests in aspects such as the development of more affectionate relationships with them, more willingness to offer them help when these children find problems in solving their school tasks, a tendency to be more patient towards them etc.“ (Fernández-Vilar/Carranza 2013: 937).
Auf indirekte Einflüsse auf schulischen Erfolg verweist auch die etwas jüngere Forschung zu „Hochsensibilität“ (vgl. Tillmann 2018), die deutlich macht, dass das Temperament auch einen Einfluss darauf habe, inwieweit sich Schüler*innen im schulischen Umfeld wohlfühlen und welche eventuellen Kosten die Bewältigung schulischer Herausforderungen für ihr Stresserleben und Gesundheit haben können. Hochsensibilität meint „a phenotypic temperament or personality trait, characterised by greater depth of information processing, increased emotional reactivity and empathy, greater awareness of environmental subtleties, and ease of overstimulation, thought to be driven by a more sensitive central nervous system“ (Greven et al. 2019: 289). Während hochsensible Kinder in einer guten pädagogischen Umgebung bessere Noten, höhere moralische und soziale Kompetenzen, bessere Fähigkeiten der Selbstregulation (vgl. Baryła-Matejczuk et al. 2020: 56f.), höhere Kreativität, Intuition und unkonventionelles Denken zeigen, können durch Überstimulation (z. B. durch die schulische Dominanz von Gruppenstrukturen oder wenig Erholungs- du Rückzugsmöglichkeiten) Überaktivität oder Rückzugsverhalten auftreten, die im schulischen Kontext als Störverhalten dysfunktional erscheinen.

4. Zum Umgang mit temperamentsbedingter Heterogenität

Der Rekurs auf die Temperamentsforschung verdeutlicht die potenzielle Relevanz der Kategorie für die schulische Wirklichkeit. So scheinen bestimmte Temperamentsdimensionen einen direkten Einfluss auf die kognitive Leistung zu haben, indes manche Kinder aufgrund ihres Temperaments vulnerabler für das Stresserleben in der Schule sind, was sich wiederum indirekt auf den schulischen Erfolg auswirken kann. Darüber hinaus können bestimmte Merkmale des Temperaments beeinflussen, wie Lehrende Kinder einschätzen und sich erzieherisch gegenüber ihnen verhalten, womit nicht nur indirekte Effekte auf schulische Leistungen, sondern auch mögliche Normalisierungsprozesse einhergehen können, die mit der Vorstellung eines idealen Schülers oder einer idealen Schülerin zusammenhängen, in denen unerwünschte Verhaltensweisen im schlimmsten Fall auf medizinisch definierte und klassifizierte Pathologien zurückgeführt werden (vgl. Rabenstein/Reh 2009). Daran anschließend lassen sich unterschiedliche pädagogische Konsequenzen und Interventionsmöglichkeiten diskutieren, die (je nach fokussierter Temperamentsdimension) sowohl Fragen des Umgangs mit ungleichen lernrelevanten Ausgangslagen als auch der Anerkennung temperamentsbedingter Differenzen und damit sowohl Aspekte des Lernens als auch der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung tangieren.
Im Fokus pädagogischer Interventionen stehen einerseits die Unterstützung der Entwicklung selbstregulativer Kompetenzen, um Kindern dazu zu verhelfen, in sozial verträglicher Weise interagieren und ihre Emotionen und Verhalten an die Erwartungen der Umwelt erfolgreich anpassen zu können, sowie andererseits im späteren Schulalter die Förderung des selbstregulierten Lernens als zentrale Voraussetzung für das Erlernen von Lerninhalten (vgl. Lohaus/Glüer 2016). Um gezielt fördern zu können, wird gefordert, dass Lehrende sich ein Wissen zum kindlichen Temperament und seiner Entwicklung aneignen und darüber hinaus Elternauskünfte zu emotionaler Reaktivität und Selbstregulationsfähigkeiten einholen bzw. Temperamentsausprägungen mithilfe von Fragebögen einschätzen lernen (vgl. Rothbart/Jones 1998). Auf diese Weise sollen temperamentsbasierende, die altersgemäße soziale und kognitive Entwicklung erschwerende Tendenzen erkannt, Verhaltensstörungen vorgebeugt und Schüler*innen darin unterstützt werden, die gleichen Chancen zu erhalten, die erforderlichen schulischen Leistungen zu erbringen (vgl. Verbeek 2019).
Darüber hinaus wird jedoch auch problematisiert, dass ein (im schulischen Kontext) schwieriges Temperament als Resultat einer Nicht-Passung von Temperament und schulischer Anforderungen bzw. Normalitätserwartungen betrachtet werden kann, sodass über die Feststellung von Temperamentsausprägungen hinaus auch ein kritischer Blick auf die Beteiligung der schulischen Umwelt bei Prozessen der Adaption und problematischen Entwicklungen geworfen werden muss. So kann die Unterscheidung von ‚schwierigen’ und ‚einfachen’ Temperamenten mit Blick auf kulturelle Aspekte dekonstruiert (vgl. Super 2008) und die Typologisierung des Temperaments mit Bezugnahme auf Erwartungen an Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse westlicher Gesellschaften betrachtet werden. Diese tendieren dazu, extrovertierte, energische und kontaktfreudige Individuen zu favorisieren, während Introversion und negative Emotionen pathologisiert werden (vgl. Black/Kern 2020), was erst dazu führt, dass ein bestimmtes Temperament als Risikofaktor für die Entwicklung betrachtet wird (vgl. Zentner 1998: 153ff.). Daran anknüpfend wird eine grundsätzliche Aufwertung ‚marginalisierter’ Temperamentsmerkmale gefordert (vgl. dazu bspw. Cain 2011), die im Kontext von Schule die Erweiterung des didaktischen Repertoires zur Berücksichtigung unterschiedlicher temperamentsbasierender Lernstile sowie die Etablierung förderlicher Lernumgebungen bspw. durch die Schaffung von Erholungsmöglichkeiten (vgl. Baryła-Matejczuk et al. 2020; Oackland/Joyce 2004), erforderlich macht.
Diese Überlegungen erscheinen im Sinne enger Postulate der Anerkennung an den (schul-)pädagogischen Heterogenitätsdiskurses äußerst anschlussfähig: „Sie fokussieren auf spezifische Schüler*innen(gruppen), und zwar auf solche, für die Marginalisierung und Ausgrenzung sowie Benachteiligung eine (besondere) Gefahr darstellen bzw. deren gleichberechtigte Teilhabe an Bildungsinstitutionen und formaler Bildung erschwert ist“ (Balzer 2020: 3). Hier kann unterschieden werden zwischen expliziten Fördermaßnahmen zum Zwecke der Behebung von Defiziten und einer Berücksichtigung und Wertschätzungen temperamentsbedingter Besonderheiten – beide Argumentationsfiguren finden sich auch in den Bezügen auf die Temperamentsforschung. Kritisiert wird im Kontext des Heterogenitätsdiskurses an dieser Zugangsweise jedoch, dass Anerkennung von Differenz einen Beitrag dazu leistet, „Individuen auf eine bestimmte Weise hervorzubringen“ (Dederich 2007: 116f.): Differenzen werden überhaupt erst als „Norm(alitäts)abweichungen und behebungsbedürftige Defizite“ hervorgebracht, was nicht zur Aufwertung, sondern „Assimilation und Unterdrückung von Differenz sowie eine Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen“ führe (Balzer 2020: 3). Daran anschließend wird vorschlagen, nicht mehr einzelne Differenzlinien gesondert hervorzuheben, sondern stattdessen begrifflich zu bündeln, um davon ausgehend zu einem produktiven Umgang mit einer dann gleichsam generalisierten Vielfalt aufzufordern (vgl. Trautmann/Wischer 2019: 221). Als angemessene Lösungsstrategie wird die Individualisierung von Lernprozessen angesehen, um der Unterschiedlichkeit der Schüler*innen adäquat zu begegnen und eine (Über-)fokussierung einer Differenzkategorie zu verhindern (vgl. Wischer 2013: 109). Diskutiert werden in diesem Zusammenhang vor allem, im Sinne einer reformpädagogischen ‚Pädagogik vom Kinde aus’, offene, auf Selbststeuerung, Partizipation und Kooperation ausgerichtete Lehr- und Lernformen (vgl. Dumont 2019; Trautmann/Wischer 2011), in denen Schüler*innen die Differenzierung selbstverantwortlich gestalten und Lehrende in den Hintergrund tretend nur noch als Begleiter von Lernprozessen fungieren. Die Öffnung, Flexibilisierung und Dezentralisierung des Unterrichtsgeschehens soll ermöglichen, unterschiedliche Voraussetzungen und Bedürfnisse von Lernenden einzubeziehen.
Im Anschluss an die Befunde der Temperamentsforschung ist inwieweit offene Unterrichtsformen und auf Selbststeuerung und -verantwortung ausgerichtete Methoden unterschiedlichen Temperamenten gerecht werden. So profieren vor allem extrovertierte Schüler*innen von einem offenen und kooperativen Unterricht (vgl. Oakland/Joyce 2004: 62), während hochsensible Kinder nicht nur Einzelarbeit und eine ruhige Lernatmosphäre bevorzugen, sondern auch durch ritualisierte Abläufe und konkrete Instruktionen besser lernen können (vgl. Baryla-Matejczuk et al. 2020). So liegt schließlich offenen Unterrichtsformen der Normalentwurf eines selbstständig arbeitenden (und damit mit einem bestimmten zugrundliegenden Temperament ausgestatteten) Schülers zugrunde, während „eine Abweichung davon als fehlende Aufmerksamkeit, als Versagen einer Selbststeuerungs- oder Selbstmanagementleistung [...] pathologisiert [wird]“ (Rabenstein/Reh 2009: 168).
Darüber hinaus erscheint aus Sicht der Temperamentsforschung die Betonung der gleichwertigen Individualität aller Kinder problematisch, weil damit Lern- und Entwicklungsprobleme als „Zeichen von Vielfalt, nicht aber als Ausdruck noch nicht realisierter Entwicklungspotenziale (vulgo: Defizite) bewertet werden dürfen“ (Trautmann/Wischer 2011: 66f.). Da kompensatorische Maßnahmen jedoch der inklusionspädagogischen Forderung, alle Schüler*innen in ihrer Besonderheit wahrzunehmen und auf Klassifizierungen und Festschreibungen zu verzichten, entgegen laufen, stellt sich die Frage wie temperamentsbezogene Ausgangslagen angemessen pädagogisch in den Blick genommen werden können, ohne dabei zu einer Dramatisierung von Unterschieden beizutragen.
Weiterführend erscheint der Vorschlag, im pädagogischen Umgang mit Heterogenität Schüler*innen zwar in ihrer Besonderheit wahrzunehmen, sie jedoch dabei nicht auf ein bestimmtes Subjektsein festzulegen und sie auch in ihrer Wandlungsfähigkeit – sowohl im Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit (vgl. Fritzsche 2014) als auch ihre allgemeine Persönlichkeitsentwicklung – zu betrachten.
Dies könnte im Falle des Temperaments bedeuten, es als Grundlageeines allgemeinen (pädagogisch zu unterstützenden) Entwicklungsprozesses, „der idealtypisch zu einem immer höheren Grad an individueller seelischer Reife und Differenzierung der Persönlichkeit führt“ (Boerner 2015: 6), in den Blick zu nehmen, und dabei – über die skizzierte Darstellung hinausgehend – Kindern auch zuzugestehen, einen eigenen Umgang mit dem Temperament entwickeln zu können. Konkret heißt das, sie dazu zu befähigen, nicht nur das eigene Verhalten nach den sozialen Gegebenheiten der Umwelt zu modulieren, sondern dies (auch) vor dem Hintergrund eigener Ideale und Werteüberzeugungen zu tun und letztlich autonom zu entscheiden, in welchen Fällen eine Anpassung sinnvoll und richtig erscheint. Diese Überlegungen gehen indes über bisherige Argumentationen im Heterogenitätsdiskurs hinaus (vgl. Balzer 2020) und sind schließlich an frühere bildungsphilosophische Auseinandersetzungen anschlussfähig, die den Fokus nicht nur auf die Individualität setzen, sondern das Temperament als individuelle Beschaffenheit der Bildsamkeit des Menschen diskutieren. So ist für Herbart Individualität nicht Ziel, sondern „Inzidenzpunkt – also der mehr oder weniger zufällige Ausgangspunkt – des (pädagogischen) Handelns“ (vgl. 1842: 71) und erscheint damit nicht als Selbstzweck, den es zu erhalten gilt, sondern als Bedingung der Ermöglichung von Charakterbildung. Diese gilt es, durch eine beständige Erweiterung von Erfahrung und dem Umgang mit der eigenen Individualität pädagogisch zu fördern. Individualität begrenzt in diesem Sinne den Charakter – der Charakter begrenzt jedoch auch vice versa die Individualität, insofern er ein Selektionsinstrumentarium für die Zulassung und Abwehr biologischer Determinationskräfte darstellt. Er repräsentiert die Verknüpfung von Individualität und Idealität und damit den pädagogisch bedeutsamen Zusammenhang des Willkürlichen und Möglichen, wobei Erziehung die Aufgabe hat, an das individuell Willkürliche anzuknüpfen, um es im Sinne der Vielseitigkeit zu ergänzen. ass diese Überlegungen über die Förderung von Selbstregulation hinausgehen, wird schließlich daran deutlich, dass es nicht um die Festigung eines bloß willkürlichen, sondern um die Ausbildung eines sittlichen Charakters geht und damit eine nicht nur befreiende, sondern auch moralische Bildung, die den Raum des Möglichen mit einer gesteigerten sittlichen Urteilskraft zu weiten erlaubt. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann eine Persönlichkeitsentwicklung auch in einem Widerstand gegen die gesellschaftlichen Erwartungen und in einer Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen münden. Damit beziehen sich pädagogische Einflussnahmen schließlich nicht auf ein bestimmtes zu finalisierendes Temperament, sondern auf die Ermöglichung der ‚Arbeit’ an der eigenen Individualität, die prinzipiell als offener Prozess zu verstehen ist.

5. Ausblick

Der Beitrag verweist auf das Potenzial der Reflexion einer bislang in der Pädagogik eher vernachlässigten Differenzkategorie für inklusionspädagogische Überlegungen und zeigt, dass es durchaus berechtigt erscheint, zu fragen, wie der Heterogenität unterschiedlicher Temperamente angemessen in der Schule zu begegnen ist. Dies erfordert einerseits differenzierte Formen des Unterrichts und Kenntnisse Lehrender zu verschiedenen Ausprägungen kindlichen Temperaments, um Fehleinschätzungen, die aus einer Nichtberücksichtigung des Temperaments resultieren, zu vermeiden. Andererseits bezieht sich der pädagogische Umgang auf die Unterstützung einer allgemeinen Persönlichkeitsentwicklung und damit – über bisherige Argumentationsmuster hinausgehend – nicht nur auf die Anpassung an soziale (schulische) Erwartungen, sondern auch auf die Förderung einer selbstbestimmten Modulation des eigenen temperamentsbezogenen Emotionserlebens und Verhaltens.

Diese Perspektive zum Umgang mit Heterogenität zielt auf Emanzipation, die Entwicklung von Autonomiefähigkeit unddamit auf die Ermöglichung von Bildungsprozessen, womit Heterogenität im Hinblick auf ihre Bedeutung für Prozesse der Selbstkonstitution und -transformation diskutiert werden kann. Eine solch’ bildungstheoretisch ausgewiesene Heterogenitätsforschung, wie sie hier angedeutet wird, widmet sich in diesem Sinne der Frage, wie die Bildsamkeit, die ja prinzipiell allen Menschen zugesprochen wird, individuell beschaffen ist (vgl. Tenorth 2013). Damit geht schließlich auch ein anderer empirischer Zugang zu dem Thema Heterogenität einher: Während es bislang um die Identifikation von Einflussfaktoren auf Lernleistungen mithilfe von quantitativen Verfahren oder die Rekonstruktion von Differenzpraktiken in ethnografischen Studien ging, kann Heterogenität damit im Rahmen der bildungstheoretischen Biografieforschung erforscht werden, deren Anliegen es ist, Bedingungen und Möglichkeiten von Bildungsprozessen von Subjekten zu erfassen (vgl. Marotzki 1999).
Die Frage nach Bedingungen sowie der Allgemeingültigkeit von bildungstheoretischen Heuristiken wird im bildungstheoretischen Diskurs bislang immer noch eher am Rande thematisiert: So wird der bildungstheoretischen Biografieforschung vorgeworfen, dass sie in einer „europäischen, weißen, männlichen, christlichen und bürgerlichen Tradition“ stehe, wodurch eine bestimmte privilegierte Subjektposition implizit unterstellt werde (Wischmann 2014: 300). In diesem Sinne profitiert auch der bildungstheoretische Diskurs von einer stärkeren Öffnung für Fragen der Verschiedenheit, Ungleichheit oder Andersartigkeit sowie der Sensibilisierung für weitere Kategorien, die Bildungsprozesse bedingen und gängige Vorstellungen von Bildung irritieren können: So verweist das Temperament schließlich auf ‚naturale’ Grenzen der Konstitution und Transformierbarkeit von Selbst- und Weltverhältnissen, auf eine Selektivität bei der Auswahl und Gestaltung der Umwelt und damit auf eine differente Empfänglichkeit für Umwelteinflüsse bzw. spezifische Disposition, sich bestimmten Umwelteinflüssen auszusetzen. Die Auseinandersetzung mit Fragen von Erblichkeit scheint jedoch unter Verdacht naturalistischer Fehlschlüsse bzw. einem Biologismus zu stehen und aufgrund sozialpolitischer Implikationen Zündstoff für gesellschaftliche Debatten zu bieten. Dass es – anders als in der Psychologie – nicht zu einer Renaissance des Temperaments gekommen ist, könnte also auch damit zusammenhängen, dass Annahmen zu biologisch-genetischen Determination nur schwer mit pädagogischen Annahmen über die Veränderbarkeit des Menschen vereinbaren lassen. Dies widerspricht schließlich auch den Vorstellungen einer radikalen Transformation durch Bildung (vgl. Koller 2012), sodass nicht nur der Heterogenitätsdiskurs durch eine bildungstheoretische Perspektive irritiert, sondern auch vice versa dazu verleiten kann, gängige Annahmen der Bildungstheorie und der empirischen Rekonstruktion von Bildungsprozessen ihrer Selbstverständlichkeit zu entziehen. Dies sei hier jedoch nur am Rande angemerkt und lädt vielleicht im Kontext einer bildungstheoretischen Heterogenitätsforschung bzw. einer heterogenitätssensiblen Bildungstheorie und -forschung zu weiteren Reflexionen ein.

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[1] Die Recherche erfolgte über Google Scholar, universitäre Bibliothekskataloge sowie die erziehungswissenschaftliche Datenbank FIS Bildung. Gesichtet wurden Monografien, einschlägige Fachzeitschriften mit wissenschaftlicher und praxisorientierter Ausrichtung. Unter dem Stichwort „Temperament“ findet man aktuell überwiegend deutsch- und englischsprachige Beiträge in psychologischen Fachzeitschriften. Einzelne erziehungswissenschaftliche und pädagogische Publikationen lassen sich vor allem im Bereich der Früh- und Sozialpädagogik verorten oder sind Beiträge in anthroposophischen Zeitschriften. Gesichtet wurden anschließend vor allem pädagogisch-psychologische Beiträge (ab den 1970/80er Jahren), die hauptsächlich aus dem angloamerikanischen Raum stammen und sich vor allem mit den Wechselbeziehungen von Temperament und Umwelteinflüssen beschäftigen. Als etabliert und für erziehungswissenschaftliche Fragestellungen von besonderem Interesse haben sich hier die Untersuchungen von Thomas und Chess sowie Rothbart und Bates erwiesen. Diese dienen als Grundlage für empirische Untersuchungen mit Bezug zum schulischen Kontext, die anschließend gezielt gesichtet wurden. Als fruchtbar erwies sich in diesem Zusammenhang die Erweiterung der Suche um weitere Stichworte, die sich auf konkrete Temperamentsdimensionen beziehen.