Abstract: Im Kontext von Inklusion werden Kindertageseinrichtungen als Orte für alle Kinder mit und ohne sog. Behinderung gedacht. Inklusion kann dabei nicht als Ergebnis eines normativ gesetzten Ziels bestimmt werden, sondern wird in praxi i.S. eines Doing Inclusion und Doing Difference durch die Akteure hergestellt. Der Beitrag fragt, wie der pädagogische Blick auf das Kind in sog. inklusiven Kindertageseinrichtungen ausgerichtet wird. Die empirischen Analysen von regulär stattfindenden Elterngesprächen zeigen auf, dass pädagogische Fachkräfte auf den zentralen Topos Entwicklung der Kinder fokussieren und einen normfokussierten Blick in Anschlag bringen.
Stichworte: Inklusion; Elterngespräche; Norm; reflexive rekonstruktive Forschung
Inhaltsverzeichnis
Zur Frage, wie Inklusion in Kindertageseinrichtungen zu fassen und zu gestalten ist, liegen mittlerweile vielfältige konzeptionelle Vorschläge auch in Form von Leitfäden und Indices vor (u.a. Booth et al. 2006; Prengel 2014; Wagner 2017). Zusammengefasst zeichnet sich eine inklusive Bildung, Erziehung und Betreuung in Kindertageseinrichtungen dadurch aus, dass sie sozial wie persönlich Unterschiede in den Zugehörigkeiten, Lebenslagen und Entwicklungsbedingungen von Kindern wahrnimmt und diesbezüglich die Teilhabebeschränkungen im alltäglichen Zusammenspiel der Differenzlinien pädagogisch bearbeitet (Lütje-Klose/Löser 2013, 134). Mit Prengel (2016) geht es um eine „umfassende Anerkennung heterogener Lebensweisen“, die „über die Differenzlinie der Ability (Befähigung) hinaus auf alle Heterogenitätsdimensionen (Milieu, Ethnizität, Kultur, Geschlecht, Religion usw.)“ (ebd., 22) bezogen ist. Mit einem solchen Verständnis von Inklusion werden hohe Ansprüche an eine professionell gestaltete ‚inklusive‘ frühkindliche Bildung verbunden (u.a. Cloos 2015). Zugleich wird Inklusion als eine gesellschaftlich und wohlfahrtsstaatlich gerahmte und von allen Akteur_innen in Kindertageseinrichtungen partizipativ zu gestaltende Aufgabe verstanden (Prengel 2016).
Hieran anschließend wird in diesem Beitrag eine Forschungsperspektive eingenommen, die reflexiv Inklusion als alltägliche Herstellungsleistung in den Blick nimmt (Doing Inclusion) und die mit Inklusion für die Forschung verbundenen Herausforderungen reflektiert (Hummrich 2017). Eine solche Perspektive geht „sparsam mit Vorannahmen“ (Budde und Hummrich 2017, 37) um und fragt danach, wie Inklusion in Bildungspolitik und Bildungspraxis als Anspruch prozessiert wird (ebd.), ohne den Begriff „als das Ergebnis eines (bislang ungeklärten) Prozesses“ (ebd.) vorwegzunehmen. Eine solche Forschung untersucht: „Wie in Ordnungen von Bildung und Erziehung Inklusion hervorgebracht wird“ (Hummrich 2017, 171). In Anlehnung an Fritzsches Arbeiten zu „doing equality“ setzt die Doing-Perspektive den Fokus auf „Prozesse der Herstellung und Reproduktion“ (Fritzsche 2018, 61) von Inklusion und betont damit die „alltäglich vollzogene, interaktive Herstellung vermeintlich“ (ebd., 62) inklusiver Positionierungen. Anknüpfend an Studien zum „Doing Difference“ (Fenstermaker/West 2002) geraten damit auch die im pädagogischen Alltag situativ hervorgebrachten, in Routinen eingelagerten Unterscheidungen in den Blick, die von den Akteur_innen als bedeutsam markiert werden. Mit Eckermann geht es in der Analyse des „Doing inclusion“ um die „empirische Rekonstruktion der In- und Exklusionsprozesse, welche im Handeln der Akteure verortet werden“ (Eckermann 2016, 273). Diese „praxistheoretische Analyse zielt darauf ab, den interaktiven Gebrauch durch die […] Akteure selbst zu fokussieren“ (ebd.). So geht es in der Perspektive einer reflexiven Inklusionsforschung auch darum, zu untersuchen, durch welche Praktiken pädagogische Blicke auf Kindheit bspw. institutionell präfiguriert und hergestellt werden. Damit wird dann zum einen die interaktive Herstellung von Inklusion betont – bspw. wie Kinder in der Interaktion des Elterngesprächs als ‚besonders‘ markiert werden. Zum anderen ermöglicht es eine kritisch-selbstreflexive Analyse, „auf welche Weise […] das, was gegenwärtig im Sinne der Umsetzung der UN-BRK unter Inklusion firmiert [wird], die Wirklichkeit“ (Dorrance und Dannenbeck 2013, Klappentext) verändert und wie „solchermaßen veränderte Realitäten auf das (politische, fachliche und praxisorientierte) Inklusionsverständnis zurück“ (ebd.) wirken.
Eine so verstandene Forschung zu frühpädagogischen Blicken auf Kinder ist erstens professions- (1), zweitens blick- (2), drittens kindheits- (3), viertens normalismustheoretisch (4) und fünftens inklusionspädagogisch (5) verfasst. Wir wollen also zunächst nicht überprüfen, ob die in den von uns untersuchten Elterngesprächen hervorgebrachten Blicke auf Kinder einem spezifischen Inklusionsverständnis entsprechen, sondern gehen der grundlegenden Frage nach, welche Blicke auf Kinder im Diskurs der Elterngespräche interaktiv hervorgebracht werden und welche Orientierungen diesen Blicken zugrunde liegen.
(1) Eine professionstheoretische Perspektive auf inklusive Blicke und Normfokussierungen geht davon aus, dass etwas zu einem Fall zu machen und damit ein fallspezifisches Blicken zu den Kernaufgaben professioneller Akteur_innen gehört (Bergmann 2014). Mit der Konstituierung eines Falles wird z.B. ein Ereignis oder Umstand in Bezug zu einer kategorialen Ordnung gesetzt. Etwas wird zum Fall, wenn Normalitätserwartungen, die mit dieser Ordnung assoziiert sind, irritiert oder auch verletzt werden (Bergmann 2014, 17). Ein Fall kann somit nicht als Fall vorausgesetzt werden. Er ist als Konstruktionsleistung fortwährend im Rahmen seiner Konstituierung zu betrachten (Cloos et al. 2019, 50). Der Fall ist Produkt eines selektiven Vorgehens und bildet sich im Laufe der kollektiven Fallher- und zurichtung (ebd.) als spezifische Gestalt erst heraus. Fälle sind Produkte von Selektionen und sind im Falle von den hier untersuchten Elterngesprächen institutionell in ein Kommunikationsformat eingebettet. Aus dieser Perspektive geht es dann weniger um die für inklusive Kontexte bedeutsame Frage, nach der professionellen Anwendung von diagnostischen Verfahren bzw. um diagnostische Kompetenzen. Aus empirischer Perspektive wird der Frage nachgegangen, was im Zuge welcher Prozesse als Fall hergestellt wird. Elterngespräche stellen dabei nur einen Schauplatz dar, an dem Fallherstellungsprozesse empirisch beobachtet werden können (Krähnert et al 2022).
(2) Auch erziehungswissenschaftliche blicktheoretische Studien (Schmidt et al. 2016) fassen das pädagogische Blicken „als ein Unterscheidungs- und operationales Differenzgeschehen“ (Ricken 2016, 44), beziehen dieses jedoch auf pädagogische Fragestellungen. In „Kette[n] von Differenzierungen“ (ebd.) würden – systemtheoretisch gefasst – Unterscheidungen wie z.B. „veränderbar/nicht-veränderbar“ oder „lernbar/nicht-lernbar“ (ebd.) in Anschlag gebracht und eine spezifische Differenz zwischen „Sein und Sein-Sollen“ dienstbar gemacht, indem man – „jemanden als jemanden“ sehe, „der er schon ist, und zugleich als jemanden, der er noch nicht ist, und daraus Handlungserfordernisse und -möglichkeiten“ ableite (ebd., 46). Konstitutiv sind hier somit Normbezüge als auch Vorstellungen der eigenen Gestaltungspotentiale. Für das pädagogische Blicken haben „habituelle Perzeptionsschneisen“ (Schmidt 2016, 62) eine hohe Bedeutung. Kindheitspädagogische Studien heben hervor, dass Kinder, Fachkräfte und Eltern, insbesondere im Kontext von Beobachtungsverfahren und in der Zusammenarbeit dazu aufgerufen seien, in einer gemeinsamen „Blickproduktion“ den Beobachtungsblick auf Bildung und Entwicklung einzugrenzen (Schmidt et al. 2016, 9).
(3) In kindheitstheoretischer Perspektive wird fokussiert, wie sich (normierende) Muster des Aufwachsens von Kindern im Rahmen von Prozessen der Institutionalisierung von Kindern herausbilden (Zeiher 2009) und durch „Institutionalisierung […] Ordnungen […] in Normen, Regeln und organisatorischen Strukturen verfestigt“ (ebd., 114) werden. Hierdurch werden normative Blicke auf die kindliche Entwicklung institutionell relevant gemacht. Die Institutionalisierung „von Funktionen und Aktivitäten [diene] dazu, das Leben der Kinder Normalvorstellungen zu unterwerfen und somit die individuelle und gesellschaftliche Entfaltung der Kinder in gewünschte Richtungen zu steuern, Kinder also zu normalisieren“ (Zeiher 2009, 119). Durch eine „Entgrenzung von Diagnostik“ (Kelle 2018, 85) würden Kinder so früh und so umfassend in ihrer Entwicklung durch verschiedene Professionen gescreent und diagnostiziert wie noch nie zuvor. Zugleich ließe sich entlang dieser Entgrenzung „eine Verteilung von Verantwortung für die Förderung der Kinder zwischen Professionen und den Eltern“ (ebd., 98) beobachten, die letztendlich zu einer verstärkten „Responsibilisierung von Eltern“ (ebd.) und zu einer „engen Kopplung der Erwartungen an den Entwicklungsstand von Kindern mit der Normierung von Elternverhalten“ (ebd.) führe.
(4) In normalismustheoretischer Perspektive wird Kindheit an Vorstellungen einer „Entwicklungskindheit“ (Bollig 2013) ausgerichtet, für die Vorstellungen von Linearität in der Entwicklung und Hierarchisierbarkeit kindlicher Eigenschaften konstitutiv sind. Dies gehe somit mit Prozessen von Normierungen einher (Kelle/Mierendorff 2013). Die in der Pädagogik mitunter angestrebte Vergleichbarkeit und Zuordbarkeit von Kindheit in artifiziell hergestellten Kategorien wie ‚auffällig – unauffällig‘, ‚normal – unnormal‘ basiert damit insbesondere auf dem aktuell vorherrschenden „[f]ähigkeitsorientierte[m] Regime der Kindheit“ (Buchner/Pfahl 2017, 213). Jürgen Link (2009) arbeitet bspw. heraus, wie „die beteiligten Subjekte imaginäre Normalitätsachsen bzw. Normalitätsflächen mit Mittellinien, Toleranzzonen, Normalitätsgrenzen und Zonen der Anormalität“ entwerfen (ebd., 352). Er geht dabei davon aus, dass der Normalismus als „wissenschaftliche[s] wie praktisch-gesellschaftliche[s] Verfahren der ‚Normalisierung‘ – im Sinne des Normal-Machens, der Produktion und Reproduktion von Normalitäten“ (ebd., 20) in unserer heutigen Gesellschaft zu einer „fundamentalen Querschnittskategorie“ (Link 2008, 59) avanciert ist. Blicke auf Kinder würden sich demnach an einem zugrundeliegenden Gradualismus orientieren, der eine ‚konkrete‘ Trennung zwischen ‚normal – unnormal‘ markiere. Blicke auf Kinder in inklusiven Settings sind demnach auch mit einem potenziell „eindimensionale[m] Kontinuum“ (ebd., 360) von Entwicklung auf der Basis von „Verdatung“ von Menschen (ebd., 332) konfrontiert, die einen Vergleich von Entwicklungsverläufen entlang von statistisch-orientierten Messwerten innerhalb eines Kontinuums erlaube.
(5) Aus einer inklusionspädagogischen Perspektive heraus wird u.a. fokussiert, was in unserer Gesellschaft als ‚normal‘ entworfen, wie diese entworfene Normalität zwischen den Akteur_innen diskursiv ausgehandelt wird und „welche Entwicklungsnormen pädagogisches Handeln leiten und strukturieren“ (Blaschke-Nacak/Thörner 2019, 40). Über die reflexive Betrachtung dessen, was also als ‚normal‘ bzw. ‚besonders‘ in der Entwicklung des Kindes entworfen wird, kann in der Frühen Bildung eine Investitionslogik (Diehm 2018, 21f) und seit PISA ein Drang der Optimierung frühkindlicher Bildungs- und Entwicklungsprozesse näher beleuchtet werden. Dem Entwicklungsparadigma der Frühpädagogik unterliegt eine normative Dimension (Blaschke-Nacak/Thörner 2019, 40): Über die Zielbestimmung, die Teleologie des Terminus der Entwicklung, gehe es in der Trias von Bildung, Betreuung und Erziehung um die Fokussierung auf eine positive Entwicklung, ergo um ein stetiges Voranschreiten im Entwicklungsprozess des Kindes. Katja Zehbe (2021) zeigt, dass auch für die Förderung von Kindern ein spezifisches Ziel ausgehandelt wird und pädagogische Fachkräfte dabei unterschiedlich mit Normen für die Entwicklung der Kinder umgehen. Kinder werden kontinuierlich in ihrer Entwicklung beobachtet, um „Signale drohenden Normalitätsverlustes“ (Bröckling 2012, 93) rechtzeitig wahrzunehmen. Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren fungieren als Operationalisierungen von ‚Bildung‘ und ‚Entwicklung‘, bspw. im Rahmen von diagnostischen Prozessen (Kelle 2018) und prozessorientierter Beobachtung (Schulz/Cloos 2015). Dabei ist der mit dem Beobachtungsimperativ einhergehende Blick auf Kinder auf eine Vereindeutigung der Entwicklung von Kindern entlang institutioneller Vorstellungen ausgelegt. In verschiedenen Settings zeigt sich empirisch, wie Kinder gemessen „am Entwicklungsstand anderer Kinder, am eigenen Entwicklungsverlauf und an den antizipierten Erwartungen der Schule“ (Kuhn et al. 2018, 18) hervorgebracht und entlang von Vorstellungen ‚richtiger‘ Entwicklung eingeordnet werden. Im Kontext von Inklusion werden nun diese kategorialen Zuschreibungsprozesse in ‚normal – unnormal‘, ‚richtig – falsch‘ (kritisch) beleuchtet, die Anerkennung von Vielfalt gefordert sowie eine neu auszuhandelnden ‚Normalität‘ von kindlicher Entwicklung als notwendig erachtet (Schildmann 2015).
Die Frage, wie der pädagogische Blick auf das Kind in sog. inklusiven Kindertageseinrichtungen ausgerichtet wird, wird im Folgenden empirisch am Beispiel von Auszügen aus regulär stattfindenden Elterngesprächen zwischen pädagogischen Fachkräften und Erziehungs- und Sorgeberechtigten (im Folgenden: Eltern) von Kindern mit sog. Behinderung beleuchtet. Fokussiert wird dabei insbesondere, welche Relevanzen die Gesprächsbeteiligten in dieser spezifischen Form der institutionellen Kommunikation einspeisen. Unter Normfokussierungen verstehen wir dabei im Folgenden diskursiv hervorgebrachte Sinngehalte der Gesprächsteilnehmenden, die sich in Fokussierungsmetaphern (Bohnsack 2014, 34) auf Norm(en) beziehen. Die Spezifik – und damit die Abgrenzung zu „Fokussierungsmetaphern“ (ebd.) und „Sequenzen fokussierter Argumentation“ (Nentwig-Gesemann 2020, 71, kursiv i.O.) liegt in ihrem unmittelbaren, zumeist impliziten Sinnbezug zu Alters-, Entwicklungs- und Leistungsnormen (hierzu Zehbe 2021, 33). So zeigt sich in einer Fokussierungsmetapher verstanden als eine Passage mit besonderer metaphorischer oder interaktiver Dichte (Bohnsack 2014, 34) mitunter eine Normfokussierung. Hierin dokumentiert sich in besonders prägnanter Art und Weise, welche Normen diskursiv in Anschlag gebracht und welche Bezugspunkte für diese Norm(en) (teleologisch) entworfen werden. Der Begriff der Normfokussierung bezeichnet daher keine Spezifik einer dokumentarischen Gesprächsanalyse (Przyborski 2004), sondern einen spezifischen Sinngehalt in einem auf Normen fokussierten Orientierungsrahmen im weiteren Sinne (Bohnsack 2017, 104). Im Kontext der Analyse von Elterngesprächen kann dabei die gemeinsam hervorgebrachten und/oder die divergierenden Orientierungen zu Normen im Kontext von Inklusion herausgearbeitet werden.
Die hier vorgenommenen Analysen sind eingebettet in das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Forschungsprojekt „Begleitung von inklusiven Übergangsprozessen in Elterngesprächen. Eine qualitative Längsschnittuntersuchung (BeikE)[1]. Dieses widmet sich der Frage nach dem „doing inclusion“ (Dorrance/Dannenbeck 2013) in regelhaft stattfindenden Gesprächen zwischen pädagogischen Fachkräften und Eltern sog. ,behinderter' Kinder in Kindertageseinrichtungen und schließt zugleich an eine reflexive Inklusions- (Budde/Hummrich 2015) und Übergangsforschung (Wanka et al. 2020) an. Diese praxeologischen Perspektiven gehen der Frage nach, auf welche Weise bestimmte Akteur_innen etwas als Inklusion und als Übergang entwerfen und relevant machen und welche (sozialen oder institutionellen) Praktiken etwas erst zu Inklusion oder zu einem Übergang machen. Das Projekt richtet seinen spezifischen Fokus dabei auf eine (inklusive) Übergangsgestaltung. Das geschichtete Sample nimmt vier Kohorten in Abhängigkeit vom Alter der Kinder bzw. dem fokussierten Übergang zu verschiedenen Erhebungszeitpunkten in den Blick. Die Grundlage der längsschnittlichen Analysen stellen 30 Elterngespräche mit Eltern von 15 Kindern mit sog. Behinderung dar.
Am empirischen Material wird im Folgenden nun in Form eines Dreischritts aufgezeigt, wie in Elterngesprächen maßgeblich über den Blick der Institution, genauer der pädagogischen Fachkraft, Normfokussierungen eingespeist werden und darüber der Topos ‚Entwicklung‘ als zentrale Fokussierung von Kindern im Kontext von Inklusion sichtbar wird. Diesem Anliegen folgend wird (1) die Verdatung der kindlichen Entwicklung und die Zurichtung von Fällen als Voraussetzung für normalistische Orientierungen in Elterngesprächen dargestellt, (2) der diskursiven Verhandlung der Grenzen von ‚Entwicklung‘ nachgegangen sowie (3) die ‚Verteilung‘ der Kinder entlang der Grenzen des Orientierungsrahmens ‚Entwicklung‘ aufgezeigt.
Dass im Kontext der Institutionalisierung von Kindheit Prozesse ihrer Verdatung zu beobachten sind, ist angesichts professionstheoretischer und kindheitstheoretischer Überlegungen zur Fallarbeit (Bergmann 2014) und zur Entgrenzung von Diagnostik (Kelle 2018) wenig überraschend. Unter Verdatung verstehen wir hier solche Prozesse, in denen Daten über Kinder mehr oder weniger systematisch mit dafür vorgesehenen Verfahren gesammelt und in einer kondensierten Form notiert und dokumentiert werden. In Prozessen von Verdatung werden z.B. auf Basis pädagogischer Beobachtungen durch Selektionsprozesse spezifische Merkmale fokussiert und zu einem Datum, wie z.B. der Grad der Engagiertheit des Kindes, kondensiert (Cloos 2011). Eine Verdatung sichert die Zirkulationsfähigkeit von Wissen ab und trägt zur Herstellung von Fällen und ihrer Besprechbarkeit bei (Bergmann 2014). In Elterngesprächen wird die Verdatung der Kinder über unterschiedliche Medien, zumeist in Wort, Schrift und Bild, von den pädagogischen Fachkräften zentral eingespeist und als Grundlage für das Gespräch genutzt. Dies erfolgt bspw. über Artefakte wie Fotos oder Videos, aber auch über den (visuellen) Vergleich der Entwicklung des Kindes mit der Entwicklung anderer Kinder oder über dessen Zuordnung zu normierten Entwicklungsskalen. Diese spezielle Verdatung der Kinder bleibt jedoch nicht offen oder wertungsfrei in ihrer Darstellung, sondern wird durch die Fachkräfte sprachlich auf den Topos der kindlichen Kompetenzentwicklung im intra- oder interindividuellen Vergleich enggeführt. Somit ist in den von uns erhobenen Elterngesprächen in inklusiven Kontexten nicht nur die Fallkonstituierung durch Verdatung, sondern im Sinne von Bergmann (2014, 28) auch ein „Zu-Richten“ (ebd.; kursiv i. O.) von Fällen zu beobachten. Die Prozesse der Verdatung und der Zurichtung von Fällen sollen im Folgenden exemplarisch über ausgewählte Fälle unseres Samples erläutert werden.
Der Prozess der Verdatung wird beispielsweise in folgender Sequenz deutlich, in der im Elterngespräch zu Martin der Mutter ein Foto gezeigt wird, auf dem ihr Sohn mit einem Fotoapparat zu sehen ist:
Mit der Fotografie wird ein Ereignis aus dem pädagogischen Alltag herausgegriffen und dieses als bedeutsam präsentiert. Es wird als Zeugnis von „Etwas“ (Bergmann 2014, 128) in das Elterngespräch eingebracht, über das den Eltern etwas aufgezeigt werden kann. Das „Konservieren“ (ebd., 29) dieses Ereignisses in Form eines Fotos macht es möglich, dieses zum Gegenstand professioneller Betrachtung zu machen. So wird das Foto auch nicht als ein Narrationsgenerator genutzt, um in ein Gespräch über das Geschehen in der Kindertageseinrichtung zu kommen. Vielmehr wird das Foto implizit dazu genutzt der Mutter zu zeigen, in welche Richtung das Foto zu lesen und der Blick auf das Kind zuzurichten ist. Als gedankliche Gegenhorizonte wäre bspw. eine Erzählung der Fachkraft über die Freude des Kindes, seine Neugier oder das Erkunden des Fotoapparats möglich. Das Foto wird dazu genutzt, den Blick auf ein spezifisches Datum selektiv zu richten: auf den Sohn und seine Handlungen („wie er da hantiert“). Anschließend wird noch weiter fokussiert, denn relevant ist nicht so sehr, was der Junge tut, sondern wie er es tut („ganz konzentriert“).Dashier thematisierte Geschehen kann also über Prozesse der Verdatung und daran gekoppelter ‚Vertonungen‘ im Sprechen über die Fotografie transformiert und mittels Deskriptoren („ganz“) einer Bewertung unterzogen werden: Die Bezeichnung „konzentriert“ rückt das kindliche Tun dabei in einen positiven Horizont. Zudem wird auf sein spezifisches unterscheidbares Können hingewiesen, was „manchmal“ aber noch nicht immer gezeigt wird: „Und da benennt er auch im Spiel manchmal selber die Farben“.
Auch beim Gesprächsbeginn des Elterngesprächs über die einjährige Charlotte, bei dem zunächst über die Eingewöhnung des Kindes in die Einrichtung gesprochen wird, wird deutlich, dass hier nicht gemeinsam ganz offen über diesen Prozess gesprochen werden soll:
Im Folgenden zeigen wir, wie auf Basis von Verdatung sowie der Verknüpfung der Fälle mit spezifischen fachlichen Zuständigkeiten in Elterngesprächen Normfokussierungen hervorgebracht werden, d.h. wie spezifische Sinngehalte in einem auf Normen fokussierten Orientierungsrahmen gestellt werden. Die von uns vorgenommenen Rekonstruktionen zeigen auf, dass in den von uns erhobenen Elterngesprächen entlang des Orientierungsrahmens „Entwicklung“ spezifische Entwicklungs-, Alters- und Leistungsnormen diskursiv ausgehandelt werden. Zur Debatte steht dabei in der Regel nicht die Normalitätsfläche (Link 2008), also der Bereich dessen, der als ‚normal‘ für die Entwicklung der Kinder entworfen wird, sondern die Bestimmung der Toleranzzonen und Grenzen, entlang derer Normfokussierungen im Gesprächsdiskurs durchschlagen. Genauer wollen wir den diskursiven Umgang mit Normfokussierungen nun am Beispiel der Grenzbestimmung für den Orientierungsrahmen „Entwicklung“ aufzeigen. Wir nehmen dabei zwei miteinander verwobene Prozesse in den Blick: Zum einen betrachten wir Prozesse der (De-)Normalisierung und zum anderen Prozesse der Fallbe(un)ruhigung. Hierüber werden in den Gesprächen Normfokussierungen verhandelt.
Wie bereits gezeigt, fungieren Prozesse der Verdatung und des Zurichtens sowie Normfokussierungen dazu, Kinder selektiv entlang von Grenzen der ‚Entwicklungsnormalität‘ zuzuordnen. An diese Grenzbestimmung bzw. Einordnung der Kinder innerhalb des Orientierungsrahmens „Entwicklung“ schließt sich empirisch nun die Zuführung der Kinder in passende Settings, Angebote und Maßnahmen an.
Aus der Perspektive einer reflexiven (frühkindlichen) Inklusionsforschung wird die Institution Kindertageseinrichtung als ein öffentlicher Ort sichtbar, der die Muster moderner Kindheit über bildungspolitische Normierungsprozesse (mit)bestimmt (Mierendorff 2014). Diese Konstruktion von sogenannten normalen Kindern innerhalb einer modulierbaren Kindheit (Honig/Neumann 2013) ist durch gesamtgesellschaftliche und historisch gewachsene Prozesse einer impliziten Normalitätskonstruktion von Kindern und Kindheit mitgeprägt. Konstitutiv für professionelle Organisationen wie Kindertageseinrichtungen ist, dass sie Fälle als Produkt von Selektionen her- und zurichten (Bergmann 2014). Pädagogische Organisationen entwerfen pädagogische Fälle entlang pädagogischer Fragestellungen in „Kette[n] von Differenzierungen“ (Ricken 2016, 44) und leiten daraus Handlungserfordernisse ab (Ricken 2016, 46). Im Zuge der Institutionalisierung von Kindheit scheinen Vorstellungen einer „Entwicklungskindheit“ (Bollig 2013) bzw. eine Orientierung am „Entwicklungsparadigma“ (Blaschke-Nacak/Thörner 2019, 43) für die Entwürfe pädagogischer Blicke auf Kinder zentral zu sein. Im Kontext von Inklusion scheint das potenziell „eindimensionale Kontinuum“ (Link 2008, 360) von Entwicklung auf der Basis von „Verdatung“ von Menschen (ebd., 332) dazu zu dienen, „der Produktion und Reproduktion von Normalitäten“ (ebd., 20) zuzuarbeiten.
Der vorliegende Beitrag hat Elterngespräche unter einem spezifischen Fokus beleuchtet: Er fragt nach den pädagogischen Blicken von pädagogischen Fachkräften auf Kinder in Elterngesprächen in inklusiven Kindertageseinrichtungen und zeigt anhand der dokumentarischen Analyse auf, wie dort ein spezifisch normfokussierter Blick durch pädagogische Fachkräfte eingespeist, wie dieser auf der Basis von Prozessen der Verdatung und der Zurichtung von Fällen hergestellt und entlang des Orientierungsrahmens „Entwicklung“ selektiert und durch Normfokussierungen an Grenzen der „Entwicklungsnormalität“ verhandelt wird. Grenzen werden über Prozesse der (De-)Normalisierung und Fallbe(un)ruhigung bearbeitet. Die somit entworfenen Blicke auf Kinder erlauben, diese einer verteilten professionellen Zuständigkeit zuzuordnen.
Der Beitrag konnte empirisch nachzeichnen, wie bereits in den ersten Gesprächen mit Eltern spezifische institutionelle Blickschneisen eingespeist werden und die kontinuierliche Aufführung der Verdatungs- und Fallzurichtungsprozesse durch pädagogische Fachkräfte in diesen Elterngesprächen verbunden mit der wiederholten virtuellen Adressierung des Kindes in Bezug auf Normen und Kompetenzen zur Legitimierung eines auf Entwicklung fokussierenden Blicks der Institution beiträgt. Wir deuten diese institutionellen Aufführungen zum einen als professionelle Zuständigkeitsabsicherungen: Fachkräfte sichern sich damit gegenüber Eltern ihre Zuständigkeit für die Überwachung, Beobachtung, Dokumentation, Einordnung und Kommunikation über das „eindimensionale Kontinuum“ (Link 2009, 360) der (Kompetenz-)Entwicklung. Dabei geht es weniger darum, dass in Elterngespräche Ergebnisse diagnostischer Prozesse von den Fachkräften eingebracht werden. Vielmehr wird deutlich, wie interaktiv und konjunktiv – also von allen Gesprächsteilnehmenden gemeinsam – Verdatungs- und Fallzurichtungsprozesse hergestellt werden (können). Bedeutsam ist demnach, dass die von den pädagogischen Fachkräften in das Gespräch eingespeisten Normfokussierungen ausschlaggebend für die Fallkonstituierung eines ‚besonderen‘ Kindes sind. Darüber wird die „alltäglich vollzogene, interaktive Herstellung vermeintlich“ (Fritzsche 2018, 61) inklusiver Positionierungen sichtbarProzesse der (De-)Normalisierung und der Fall(un)ruhigungen sind bei dieser Zuständigkeitsabsicherung konstitutiv. Eltern werden in Prozessen einer gemeinsamen „Blickproduktion“ (Schmidt et al. 2016, 9) aufgefordert, den Beobachtungsblick auf Entwicklung einzugrenzen, und dabei oftmals das Wohlbefinden der Kinder etwa auszugrenzen. Insofern tragen die Elterngespräche auch zur einer „Responsibilisierung von Eltern“ (Kelle 2018, 98) bei, indem sie den teilnehmenden Eltern einen spezifischen Blick auf Kinder nahelegen und diese an spezifische institutionellen Logiken der Förderung von Kindern koppeln.
Bemerkenswert ist, dass in den von uns erhobenen Elterngesprächen (Krähnert et al. 2022) fast durchgängig ein stark auf Entwicklung fokussierter Blick auf Kinder entworfen wird, der in „[f]ähigkeitsorientierte Regime der Kindheit“ (Buchner/Pfahl 2017, 213) eingebettet ist. Alternative Entwürfe von Kindern als bildende Akteur_innen ihrer Lebenswelt, die vielfältige Erfahrungen sammeln (Stieve 2019) oder als Kinder mit Teilhabe- und Partizipationsmöglichkeiten finden sich nicht. Ausgeklammert sind Perspektiven auf Wohlbefinden, Gesundheit, Interessen und Persönlichkeit. Unsichtbar werden damit auch die vielfältigen sozialen wie persönlichen Unterschiede in den Zugehörigkeiten, Lebenslagen und Entwicklungsbedingungen von Kindern (Lütje-Klose/Löser 2013, 134). Entlang des Orientierungsrahmens der „Entwicklung“ scheint es in den Elterngesprächen nicht um eine „umfassende Anerkennung heterogener Lebensweisen“ (Prengel 2016, 22), sondern gerade um die Ausblendung dieser unter dem Paradigma der „Entwicklung“ zu gehen. Dieser auf Normalitätsvorstellungen im Kontext von Entwicklung zugerichtete institutionelle Blick, so ist unsere Vermutung, hängt wesentlich damit zusammen, dass es in den Elterngesprächen um Kinder geht, denen eine „Behinderung“ zugeschrieben wird. Als Kinder mit Behinderung entworfen, sollen sie sich entwickeln, bevor sie sich bilden können. Studien zu Elterngesprächen, bei denen diese Zuschreibungsprozesse (noch) nicht erfolgt sind (Urban et al. 2015) deuten an, dass Kindheit durchaus auch unter dem Paradigma einer Bildungskindheit (Jergus/Thompson 2017) entworfen wird. Dementsprechend gilt es in weiteren Studien zu erkunden, inwieweit „Entwicklung“ und „Bildung“ in Kindertageseinrichtungen als Paradigmen einer normierenden Unterscheidung von Kindern dienen.
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[1] Das Projekt BeikE (Begleitung von inklusiven Übergangsprozessen in Elterngesprächen. Eine qualitative Längsschnittstudie wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert (Förderkennzeichen 01NV1716, Laufzeit 2017-2021). Isabell Krähnert hat neben den Autor_innen die Projektergebnisse erarbeitet. Ohne die gemeinsame Arbeit hätten die hier präsentierten Überlegungen nicht angestellt werden können. Der inhaltlichen Ausrichtung der Förderlinie ist geschuldet, dass der Untersuchungsfokus auf die Konstruktion „Behinderung“ gelegt wurde. Im Folgenden ist von inklusiven Kindertageseinrichtungen immer dann die Rede, wenn diese Einrichtungen auch Kinder aufgrund ihres zugewiesenen Integrationsstatus aufnehmen, unabhängig davon, ob sie aus einer evaluativen Perspektive auch den Ansprüchen an Inklusion genügen.
[2] Es wird hier also keine Diagnostik betrieben, die zu unterscheidende Kinder hervorbringt, sondern bereits unterschiedene Kinder weiteren Unterscheidungen zuführt.