Lips, Anna; Besa, Kris-Stephen, Schmitt, Caroline; Heyer, Lea:Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit und Belastungserleben junger Menschen mit Behinderungserfahrung in Zeiten der COVID-19-Pandemie. Ergebnisse der quantitativen Studie „Jugend und Corona“

Abstract: Der vorliegende Beitrag beleuchtet Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit und Belastungserleben junger Menschen mit Behinderungserfahrung während der COVID-19-Pandemie. Grundlage sind quantitative Daten der bundesweit durchgeführten zweiten Erhebung der Studie „Jugend und Corona“ (N = 7.038). Die Ergebnisse zeigen, dass Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit besonders dann als niedrig und das Belastungserleben von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Behinderungserfahrung dann als hoch eingestuft werden, wenn die Befragten keine Unterstützung im Umfeld erfahren. Im Vergleich zu jungen Menschen, die sich als ‚nicht beeinträchtigt und behindert‘ einordneten, zeigen sich signifikante Unterschiede. Die Ergebnisse verweisen auf die Notwendigkeit eines diversitätssensiblen und intersektionalen Zugangs zum Pandemieerleben junger Menschen. Ihre Handlungsfähigkeiten, aber auch Unterstützungsbedarfe sind nicht ausschließlich auf Basis ihres Lebensalters zu bestimmen, sondern erfordern – auch über die Pandemie hinaus – einen differenzierten Blick auf die Vielfalt jugendlicher Lebenswelten. Je nach Wohnort, Geschlecht, psychischer und physischer Situation, Familienlage oder Aufenthaltsstatus sind junge Menschen unterschiedlich von der Pandemie betroffen und haben differente Bedürfnisse. In diesem Zusammenhang gilt es, junge Menschen mit ihren Perspektiven in die Debatte einzubeziehen und ihre Bedürfnisse im Sinne eines gesamtgesellschaftlichen Inklusionsverständnisses in Wissenschaft, Praxis und Politik wahrzunehmen.

Stichworte: COVID-19, Jugendforschung, Behinderung, Inklusion, Diversität, Wohlbefinden, Belastungserleben, Lebenszufriedenheit

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Lebenssituation junger und erwachsener Menschen während der COVID-19-Pandemie
  3. Junge Menschen mit Behinderungserleben in der COVID-19-Pandemie
  4. Forschungsfrage, Studiendesign und Stichprobenbeschreibung
  5. Ergebnisse
  6. Diskussion
  7. Literatur

1. Einleitung

Seit dem Frühjahr 2020 wurden zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie in Deutschland und vielen anderen Ländern Hygiene- und Schutzmaßnahmen politisch beschlossen und umgesetzt, die den Alltag der Menschen massiv verändern. Dies gilt grundlegend für alle Altersgruppen und Lebenskonstellationen. Gleichwohl treffen die Corona-Maßnahmen und ihre wirtschaftlichen wie sozialen Folgen nicht alle Menschen einer Gesellschaft gleichermaßen (Lutz & Kleibl 2020). Aus einer inklusiven und diversitätsorientierten sozialpädagogischen Forschungsperspektive ist es angeraten, unterschiedliche Lebenskonstellationen und -situationen genauer in den Blick zu nehmen. Mit den bundesweiten „Jugend und Corona“-Studien (JuCo) des Forschungsverbundes „Kindheit – Jugend – Familie in Zeiten von Corona“ (Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Stiftung Universität Hildesheim und Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung der Universität Frankfurt, in Kooperation mit der Universität Bielefeld) wurden junge Menschen im Alter zwischen 15 und 30 Jahren zu ihren Erfahrungen und Perspektiven während der COVID-19-Pandemie befragt (Andresen et al. 2020a; Andresen et al. 2020c). Zentrales Anliegen der Studien ist, die Sichtweisen der jungen Menschen und ihr Erleben während der Pandemie zu untersuchen. Dass Jugendliche und junge Erwachsene von den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie besonders betroffen sind, ihnen wichtige Erfahrungen der Jugendphase und des jungen Erwachsenenalters erschwert oder verunmöglicht werden und sie sich durch die Pandemie in noch unsicherer werdenden Übergangskonstellationen bewegen, wurde spätestens seit Herbst 2020 auch in Politik und Fachöffentlichkeit wahrgenommen. Diese Einsicht führte zu Forderungen, die Situation junger Menschen in politischen Entscheidungen stärker zu berücksichtigen (AGJ 2020; Andresen et al. 2020b; Deutscher Kinderschutzbund 2020; Hübner & Rose 2020; Voigts 2020). Im weiteren Diskurs dominierten jedoch auch weiterhin die Stimmen Erwachsener, welche primär die Qualifizierung junger Menschen und deren Organisation fokussieren. So werden vor allem Maßnahmen diskutiert und beschlossen die darauf zielen, Abschlussprüfungen unter den Voraussetzungen der Pandemie durchzuführen sowie erwartete Bildungsdefizite durch Schulschließungen wieder zu reduzieren. Die Fokussierung auf qualifikationsbezogene Aspekte vernachlässigt jedoch relevante Charakteristika jugendlichen Lebens, wie die Freizeitgestaltung und Bedeutung von Peers (AGJ 2020; Andresen et al. 2021; Hübner 2020) sowie die Diversität und Pluralisierung jugendlicher Lebenswelten. Junge Menschen sind je nach Lebenslage, Wohnort, Geschlecht, psychischer und physischer Situation, Familienlage oder Aufenthaltsstatus unterschiedlich von der Pandemie betroffen. Ihre Handlungsfähigkeiten, aber auch Unterstützungsbedürfnisse sind nicht alleine qua ihres jungen Lebensalters zu bestimmen, sondern können sich unterscheiden. Nicht nur zur Zeit der COVID-19-Pandemie gilt es etwa, die Lebenssituationen von jungen Menschen mit Behinderungserfahrung sowie die Lebenswelten von Jugendlichen ohne familiäre Unterstützung, von wohnungslosen jungen Menschen, Care Leaver*innen oder jungen Geflüchteten aus einer differenzierten, intersektionalen Perspektive zu analysieren und unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten und Benachteiligungen in ihren Verschränkungen zu erfassen.
Der vorliegende Artikel greift dieses Anliegen auf und widmet sich der Lebenssituation derjenigen jungen Menschen, die in der zweiten JuCo-Studie eine Selbstverortung als ‚beeinträchtigt/behindert‘ im Fragebogen vorgenommen haben. Während der Fragebogen ‚beeinträchtigt‘ und ‚behindert‘ gleichermaßen nutzt, arbeiten wir in diesem Beitrag primär mit der Bezeichnung ‚Behinderungserfahrung‘, um ‚Behinderung‘ nicht als etwas Gegebenes, sondern als Erfahrung des Behindert-Werdens in sozialen Umwelten zu konturieren.
Der Beitrag gibt zunächst Einblick in den Forschungsstand zu psychosozialen Belastungen junger Menschen während der COVID-19-Pandemie (Kap. 2), bevor er auf die Lebenssituation junger Menschen mit Behinderungserfahrung fokussiert. Hierbei wird das zugrundeliegende Verständnis von Behinderung und Beeinträchtigung geklärt (Kap. 3). Dem folgen Erläuterungen zu Forschungsfrage, Studiendesign und Stichprobenbeschreibung (Kap. 4) sowie die Ergebnisdarstellung (Kap. 5). Dabei werden das psychische Wohlbefinden, Veränderungen der Lebenszufriedenheit sowie das Belastungserleben untersucht und mögliche, durch die Bedingungen der Pandemie hervorgerufene Einflüsse herausgearbeitet. Hierauf aufbauend argumentiert der Beitrag für Inklusion als pädagogische und politische Gestaltungsaufgabe, welche in der Pandemie nicht vernachlässigt werden darf, sondern in ihrer gesamtgesellschaftlichen Relevanz umso deutlicher hervortritt (Kap. 6).

2. Lebenssituation junger und erwachsener Menschen während der COVID-19-Pandemie

Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit wurden bereits in einigen Studien untersucht (Entringer et al 2020; Ravens-Sieberer et al. 2021). Die Arbeiten orientieren sich – ebenso wie die JuCo-Studien – unter anderem am Konzept des Wohlbefindens (engl. „Well-Being“). Dieser Begriff entstammt dem Kontext der UN-Kinderrechtsbewegung und umfasst verschiedene Methoden und Ansätze (Ross et al. 2020). Das Konzept des Wohlbefindens hat sich in der Kindheits- und Jugendforschung bis in die Sozialberichterstattung als ein ganzheitliches Verständnis zur Erfassung von Wohlstand, Teilhabe und Lebensqualität etabliert. Als Modell zur multidimensionalen Analyse der Lebensqualität junger Menschen, an dem sich die JuCo-Studien orientieren, bezieht sich „Wohlbefinden“ einerseits auf die subjektive Seite des Erlebens, also etwa Gefühle, Erfahrungen oder das Empfinden von Glück und Zufriedenheit, sowie andererseits auf die Lebenslagen und -bedingungen. So verweisen internationale Studien auf eine Vielzahl von Aspekten, die für das Wohlbefinden eine Rolle spielen – etwa die gesundheitliche Situation, Bildungschancen, finanzielle Ressourcen, die Wohnsituation sowie soziale Kontakte und das Gefühl, mitbestimmen zu können (z.B. Andresen et al. 2020a, 2020c; Bradshaw et al. 2013; Fattore et al. 2009; Rees et al. 2020).
Bisherige Studien weisen z. B. auf einen Zusammenhang zwischen Wohnsituation und der psychischen Gesundheit/dem Wohlbefinden hin und nehmen unterschiedliche Aspekte wie die Wohnqualität, die Bezahlbarkeit des Wohnraums sowie die Stabilität der Wohnsituation in den Blick (Clair 2019). Auch die sozialen Beziehungen im eigenen Zuhause sind relevante Einflussfaktoren für das allgemeine Wohlbefinden: Wer sich zu Hause sicher und unterstützt fühlt und in wohltuende Sozialbeziehungen eingebettet ist, berichtet über ein höheres Wohlbefinden auch in anderen Lebensbereichen (Andresen et al. 2019; Geis-Thöne 2020; Rees & Main 2015). Im Kontext der COVID-19-Pandemie und der damit verbundenen Aufforderung „stay at home“ gewinnt die Wohnsituation für das psychosoziale Erleben weiter an Bedeutung. Mögliche, in diesem Kontext thematisierte Gefahren umfassen eine Zunahme von häuslicher und sexualisierter Gewalt nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei Paaren (OECD 2020), die Zunahme von Konfliktsituationen durch fehlende Rückzugsmöglichkeiten und die Neuorganisation des Alltags sowie die zunehmende Isolation von Alleinlebenden (Geis-Thöne 2020; Mental Health Foundation 2020). Auswertungen der ersten JuCo-Studie weisen darauf hin, dass sich alleinlebende junge Menschen in Zeiten der Pandemie weniger wohl in ihrem Zuhause fühlen als diejenigen, die mit ihren Familien zusammenleben (Lips 2021).
Das Wohlbefinden ist zudem von Sorgen um die eigene Gesundheit beeinflusst. So kann die verstärkte Angst vor einer Infektion aufgrund von Vorerkrankungen das Wohlbefinden beeinträchtigen und den subjektiven Mobilitätsraum zusätzlich einschränken. Frei von dauernder Angst, Beklemmung und Ärger leben zu können, ist eine Grundvoraussetzung für Wohlbefinden, die jenseits und während einer Pandemie nicht für alle Menschen gegeben ist. Dies gilt möglicherweise insbesondere, wenn aufgrund von Unterstützungsbedarfen oder innerhalb spezifischer Hilfesettings die gebotenen Hygiene- und Abstandregeln nicht immer eingehalten werden können. Bisherige Studien zeigen einerseits, dass viele junge Menschen die Kontaktbeschränkungen und Hygienemaßnahmen sehr ernst nehmen und ihnen in hohem Maße zustimmen (Andresen et al 2020a, 2020c.; Calmbach et al 2020; Decent Jobs for Youth 2020) . Andererseits berichten die jungen Menschen aber auch von ihrem Unverständnis gegenüber ausgewählten Maßnahmen und kritisieren eine fehlende Schlüssigkeit. Zum Beispiel werden Beschränkungen von privaten Zusammentreffen mit Gleichaltrigen im Freizeitbereich von den Befragten angesichts der gleichzeitig wahrgenommenen Infektionsgefahr in überfüllten Schulbussen und in der Schule als nicht nachvollziehbar angesehen (Andresen et. al. 2020c). Für die Akzeptanz der Maßnahmen ist deren Nachvollziehbarkeit und Transparenz jedoch besonders entscheidend (Sturzbecher et al 2020).

3. Junge Menschen mit Behinderungserfahrung in der COVID-19-Pandemie

Die angeführten Studien verdeutlichen, dass das Erleben junger Menschen zu Pandemiezeiten zunehmend mehr Eingang in Wissenschaft und Öffentlichkeit findet. Zugleich sind junge Menschen keine homogene Gruppe. Die jeweilige Lebenssituation bedeutet einen erheblichen Unterschied für das Erleben und Bewältigen der Pandemie. Bisher sind junge Menschen mit Behinderungserfahrung in der deutschsprachigen Debatte noch wenig mit ihren Sichtweisen vertreten.
Der Beitrag orientiert sich in seinem Verständnis von Behinderung am sozialen Modell und den Disability Studies (Waldschmidt 2007). Im sozialen Modell ist Behinderung „kein Ergebnis medizinischer Pathologie, sondern das Produkt sozialer Organisation. Sie entsteht durch systematische Ausgrenzungsmuster, die dem sozialen Gefüge inhärent sind“ (Waldschmidt 2005, S. 18). Entsprechend sind nicht Beeinträchtigungen (impairments), sondern behinderte gesellschaftliche Partizipationschancen (disability) zu problematisieren. Diese Sichtweise gilt es um ein kulturell reflektiertes Verständnis von Beeinträchtigung zu erweitern. Denn auch die Frage, was überhaupt als ‚Beeinträchtigung‘ verstanden wird, ist Ergebnis sozialer Klassifizierungsprozesse, die spezifische körperliche sowie psychische Verfasstheiten von Menschen zum Ausgangspunkt nehmen und Merkmale von Beeinträchtigungen definieren. Hierbei handelt es sich keineswegs um „ahistorische und gesellschaftsneutrale Gegebenheiten“ (ebd., S. 22), sondern um historisch gewachsene Bedeutungsmuster. Dieser Beitrag unterliegt dem Dilemma, eine konstruierte Differenz zwischen Menschen, welche aufgrund von Beeinträchtigungen Behinderungserfahrungen machen und jenen, welche als nicht-beeinträchtigt und nicht-behindert gelten, durch die Art der Erhebung und Analyse zu reifizieren. Er verortet sich in diesen Kategorisierungen alleinig aus dem Anliegen heraus, auf unterschiedliche Partizipationschancen von Menschen aufmerksam zu machen und dabei besonders jene ins Zentrum zu rücken, welche sich als behindert erleben. Dieses Anliegen erscheint umso bedeutsamer, da erste Untersuchungen zum Pandemieerleben von Menschen mit Behinderungserfahrungen auf Benachteiligungen aufmerksam machen. Diese zeigen auf, dass Menschen mit Behinderungserfahrung mit Hindernissen beim Einholen von öffentlichen, Pandemie relevanten Informationen konfrontiert sind, weil diese z.B. nicht für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen zur Verfügung stehen oder die Materialien nicht verständlich formuliert sind (Grier et al. 2020; World Health Organisation 2020). Eine unzureichende Informationslage kann wiederum zu vermehrten Ängsten vor einer Infektion führen, ebenso wie eingeschränkte Möglichkeiten, bestimmte Hygieneregeln in der geforderten Form umsetzen zu können. Eine Studie von Ipsen et al. (2021) untersucht das Vertrauen von Menschen mit Behinderung in Informationen und Präventionsmaßnahmen während der COVID-19-Pandemie in den USA. Die Hintergrundannahme ist, dass das Vertrauen in Informationen die Berücksichtigung von Hygienemaßnahmen und anderem präventivem Verhalten während der Pandemie unterstützt. Die Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass sich ein schwaches Vertrauen und eine geringe Zustimmung zu präventiven Maßnahmen insbesondere bei jenen Befragten zeigt, die neben anderen Charakteristika eine „communication disabiltity“ (ebd., S. 2) angeben, definiert als „difficulty communicating, for example understanding or being understood by others“ (ebd.). Eine Studie von Tough und Kolleg*innen (2017) zeigt wiederum auf, dass als unterstützend erlebte Beziehungen eine wichtige Rolle für das Wohlbefinden von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen spielen. Durch die Maßnahmen zur Einschränkung der COVID-19-Pandemie sind gerade diese sozialen Beziehungen jedoch eingeschränkt. Auch die Einschränkung der Mobilität von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung wirkt sich negativ auf das Wohlbefinden aus (Smith et al. 2021) und verschärft sich aufgrund von Kontaktbeschränkungen, begrenzten Transportmöglichkeiten sowie Schulschließungen. Die Pandemie bedingt zudem ein Wegfallen von Ausgleichsmöglichkeiten zur Steigerung des Wohlbefindens, wie etwa Bewegungsangeboten, obgleich sich Sport und Bewegung bereits vielfach empirisch als bereichernd für die mentale Gesundheit und das Wohlbefinden erwiesen haben (Nemček 2016; Santino et al. 2021).

4. Forschungsfrage, Studiendesign und Stichprobenbeschreibung

Die vorliegende Studie knüpft an die im Forschungsstand aufgezeigten Studien an und verfolgt das Ziel, auf Basis eines vergleichsweise großen, aus Deutschland stammenden Datensatzes Einblick in die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderungserfahrungen zu geben. Denn obgleich in den vergangenen Monaten aus unterschiedlichen Disziplinen und mit heterogenen Fragestellungen zahlreiche empirische Studien erschienen sind, die sich den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie widmen, zeigt sich hier eine Forschungslücke. So liegen bis dato im deutschsprachigen Raum keine Studien vor, die sich explizit den Perspektiven jener junger Menschen auf ihr Wohlbefinden widmen, die sich als ‚beeinträchtigt/behindert‘ verorten.
Im Zentrum stehen die folgenden forschungsleitenden Fragen:

Grundlage zur Darstellung des Erlebens junger Menschen mit Behinderungserfahrung stellen die im Zeitraum vom 9. bis 22. November 2020 erhobenen Daten der bundesweiten Onlinebefragung JuCo II von Jugendlichen und jungen Erwachsene im Alter zwischen 15 und 30 Jahren dar. Die Studie schließt an Befragungen mit dem multidimensionalen Konzept des Well-Being sowie an die Erfassung von Bedarfen und Interessen junger Menschen an. So wurden im Kontext der Children’s World+ Studie (Andresen, Wilmes & Möller 2019) sowie in der international vergleichenden Children’s Worlds Studie (Rees & Main 2015) erprobte Fragen um pandemiespezifische und aus jugendtheoretischer Sicht relevante Fragestellungen ergänzt. Die Studie JuCo II baut zudem auf den Erfahrungen der ersten vom Forschungsverbund initiierten Befragung JuCo I aus dem Frühjahr 2020 auf. In dieser konnten über 5.500 junge Menschen erreicht und zu ihren Sichtweisen befragt werden. Die Ergebnisse verdeutlichten unter anderem, dass die Befragten sich in ihren Sorgen nicht ausreichend wahrgenommen erleben, obgleich die Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie auf vielfältige Art und Weise ihren Alltag beeinflussen und auf ihre Zufriedenheit in unterschiedlichen Lebensbereichen wirken. In ihren Kommentaren zum Fragebogen sowie in weitergehenden durchgeführten Workshops verdeutlichen die jungen Menschen, wie eng das Erleben der Maßnahmen mit ihrer Stimmung, ihrem Wohlbefinden, ihren Belastungen sowie ihren Beteiligungsmöglichkeiten und -wünschen zusammenhängt. Für die zweite Erhebung wurden diese Aspekte ebenso wie Fragen zur Beurteilung der Infektionsschutzmaßnahmen, zu materiellen Bedingungen und Bedarfen vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie aufgenommen und differenzierter erfasst (Andresen et al. 2021).
Auch verdeutlichte die Auseinandersetzung mit dem Sample von JuCo I, dass mit dieser ersten Befragung die Diversität jugendlichen Lebens noch nicht umfangreich genug abgebildet werden konnte. Für die JuCo II Studie wurde daher die für diesen Artikel zentrale Frage zu Beeinträchtigung/Behinderung und Unterstützungsbedarf in diesem Kontext neu aufgenommen. Gefragt wurde hier: „Bekommst du aufgrund einer Behinderung / Beeinträchtigung besondere Unterstützung?“. Die Antwortoptionen auf diese Frage lauteten „Ja“, „Nein und brauche ich auch nicht“ sowie „Nein, aber bräuchte ich.“ Auch Fragen aus dem Kontext Care-Aufgaben und Unterstützung wurden ergänzt, wie etwa die Frage „Musst du dich um einen anderen Menschen kümmern?“ mit den Antwortoptionen „Nein“, „Ja, ich versorge ein Kind/ mehrere Kinder“, „Ja, ich pflege jemanden“ und „Ja, ich kümmere mich um ein/ mehrere Geschwisterkind/er“. Zudem wurden die Verteilungswege ausgeweitet und der Fragebogen in einfache Sprache übertragen. Die Übertragung des Fragebogens in einfache Sprache erfolgte aufgrund des Anliegens, die Teilnahme an der Studie auch jungen Menschen mit Lernschwierigkeiten und jungen Menschen mit anderen Erstsprachen als Deutsch zu ermöglichen. Die Datenschutzerklärung sowie der Fragebogen von JuCo II wurden durch eine*n externe*n Auftragnehmer*in bearbeitet. Da bei einer konsequenten Übersetzung des Fragebogens in Leichte Sprache, zum Beispiel durch die Vereinfachung von Skalen-Abfragen, eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse nicht mehr gegeben gewesen wäre, wurde die Variante einer „einfachen“ bzw. „vereinfachten“ Sprachversion entwickelt. Formulierungen sind hier kürzer gehalten und es finden sich Erläuterungen zu bestimmten Items. Auf der Startseite der Befragung konnte dann zwischen den beiden Versionen gewählt werden. Vom „vereinfachten“ Fragebogen machten 9,1% (n = 640) der jungen Menschen Gebrauch (N = 7.038). Die Quote zeigt, dass mit JuCo II mehr junge Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen erreicht werden konnten und Menschen mit sprachlichen Einschränkungen die Umfrage breit genutzt haben. Die Stichprobenziehung erfolgte über ein Schnellballverfahren unter Einbezug sozialer Medien, über welche der Link zur Befragung geteilt wurde. Explizit wurden dabei auch Einrichtungen für und selbstorganisierte Zusammenschlüsse von Menschen mit Behinderungserfahrungen adressiert. Für die Befragung wurde die Plattform Socisurvey GmbH online genutzt.
Der bereinigte Datensatz der JuCo II Befragung beinhaltet Daten von N = 7.038 Befragten im Alter von 15 bis 30 Jahren. Der Altersdurchschnitt lag bei 19,61 Jahren, wobei der Großteil zwischen 15 und 19 Jahren alt war (60,4%). 66,9% der Befragten gaben an, weiblich zu sein, 31,7% wählten die Option „männlich“, 1,5% die Antwortmöglichkeit „divers“. Erreicht wurden zu 40,8% Schüler*innen, zu 23,2% Studierende und zu 12,3% Erwerbstätige. 67,2% der Befragten gaben an, mit ihrer Familie zusammenzuleben, 11,1% lebten in Wohngemeinschaften, 9,3% lebten zusammen mit ihrem*ihrer Partner*in und 8,7% alleine. Nur wenige Befragte lebten in anderen Wohnformen, wie etwa in Wohngruppen (1,3%) oder Pflegefamilien (0,4%). 0,1% gaben an, keine feste Wohnung zu haben.
Neben der Soziodemographie holte der Fragebogen unter anderem die Wohnsituation und den Unterstützungsbedarf durch Einzelitems und übergeordnete Konstrukte ein, für die eine Skalenbildung auf manifester Ebene erfolgte. Es lassen sich drei Gruppen identifizieren:

Nicht alle Befragten machten Angaben zum Unterstützungserhalt und -bedarf. Aus diesem Grund sind bei den durchgeführten Analysen nur diejenigen jungen Menschen berücksichtigt, die einer der drei Gruppen zugeordnet werden konnten. Zu beachten ist, dass es sich hierbei um eine eigenständige Klassifizierung durch die Befragten auf Basis des Fragebogens handelt. Für die Erhebung der Wohnform wurden verschiedene Szenarien erfasst (Wohnen in einer Wohngemeinschaft, Wohnen mit der Familie, Wohnen mit Partner*in, betreutes Wohnen in Wohngruppe, alleine, wohnungslos). Um die Bedeutsamkeit von Unterstützung zu identifizieren, wurde hierbei eine dichotome Verkodung vorgenommen, die einerseits das Leben alleine abbildet, andererseits das Wohnen in anderen Sozialzusammenhängen (z. B. in Familien, mit Partner*in, in Wohngemeinschaften). Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurde die Einschätzung der Zufriedenheit vor und während der COVID-19-Pandemie auf Einzelitem-Ebene mit einer 11er-Skalierung erfasst mit den Polen 0 = „total unzufrieden“ und 10 = „100% zufrieden“. Auf Skalenebene ausgewertet wurden die psychische Belastung (4 Items, α = .77, Bsp.: „Ich fühle mich seit Corona psychisch besonders belastet“), die Angst vor Ansteckung (2 Items, α = .65, Bsp.: „Ich habe Angst, dass ich mich mit Corona anstecke“), die Einschätzung von Hygienemaßnahmen (3 Items, α = .69, Bsp.: „Ich halte die bestehenden Maßnahmen für sinnvoll“) sowie die Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse seitens der Politik (4 Items, α = .83, Bsp.: „Die Sorgen von jungen Menschen werden in der Politik gehört“). Hier erfolgte die Erfassung jeweils über 5er-Likert-Antwort-Skalen mit den Polen 1 = „stimme gar nicht zu“ bis 5 = „stimme voll zu“.

5. Ergebnisse

Betrachtet man die Mittelwertsunterschiede der Belastung zwischen den Gruppen, so wird deutlich, dass zum Zeitpunkt der Erhebung bei allen Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine Belastungssituation vorliegt. Die Zustimmung dazu, sich aktuell belastet zu fühlen, liegt um das theoretische Skalenmittel von 3,0 oder sogar über diesem. Diese Werte deuten darauf hin, dass sich die Befragten in der Tendenz als eher psychisch belastet einschätzen. Eine durchgeführte Varianzanalyse hinsichtlich des psychischen Wohlbefindens (F(2, 6955) = 27,498, p < .001) zeigt signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen, wobei Personen, die sich als beeinträchtigt/behindert erleben und keine Unterstützung erhalten die höchsten Zustimmungswerte zur Aussage zeigen, sich aktuell psychisch nicht wohl zu fühlen. Personen mit Beeinträchtigung/Behinderung und Unterstützung weisen etwas geringere Werte auf und Personen ohne Beeinträchtigung/Behinderung stimmten der Aussage, sich aktuell unwohl zu fühlen, am wenigsten zu. Eine durchgeführte Post-Hoc-Testung lieferte dabei zunächst signifikante Unterschiede zwischen sämtlichen Gruppen, legt man allerdings ein adjustiertes Signifikanzniveau unter Berücksichtigung der strengeren Bonferroni-Korrektur zugrunde, so zeigen sich nur noch Unterschiede zwischen der Gruppe von Personen mit Unterstützungsbedarf, die jedoch keine Unterstützung erhalten, und den weiteren Gruppen. Dies macht deutlich, dass das psychische Wohlbefinden insbesondere bei jenen Befragten beeinträchtigt ist, die trotz angegebener Notwendigkeit keinerlei (institutionalisierte) Unterstützung bekommen (vgl. Tab. 1).
Tabelle 1: Mittelwerte des Belastungsempfindens nach Gruppenzugehörigkeit


Gruppe

Belastung
M(SD)

Angst vor Ansteckung
M(SD)

Hygiene­maßnahmen
M(SD)

Wahrneh­mung durch die Politik
M(SD)

Behinderung/Beeinträchtigung mit Unterstützung

3,17 (1,00)

3,46 (1,11)

3,35 (0,85)

2,30 (0,87)

Behinderung/Beeinträchtigung ohne Unterstützung

3,60 (0,94)

3,40 (1,24)

3,20 (0,91)

2,26 (0,92)

ohne Behinderung/Beeinträchtigung

3,02 (0,94)

3,36 (1,04)

3,33 (0,87)

2,36 (0,82)

Gesamt

3,03 (0,95)

3,37 (1,04)

3,33 (0,87)

2,36 (0,83)

Bei den übrigen Konstrukten lassen sich keine signifikanten Gruppenunterschiede finden. Über alle Gruppen hinweg berichten die befragten jungen Menschen, sich zu wenig von der Politik beachtet zu fühlen und über zu wenig Mitbestimmungsmöglichkeiten zu verfügen (vgl. Tab. 1).
Da die Skala zum psychischen Wohlbefinden aufgrund ihrer Itemstruktur stärker auf eine aktuelle Situation fokussiert, wurde zur Einordnung der Ergebnisse erweiternd ein Vergleich der Lebenszufriedenheit vor und seit der Pandemie-Situation durchgeführt. Die Analyse bestätigt die Annahme, dass insbesondere Personen, welche sich als ‚behindert/beeinträchtigt‘ verorteten, von den pandemiebedingten Veränderungen des Lebens betroffen sind. Zwar zeigt sich für alle drei Gruppen eine erwartbare Verschlechterung der allgemeinen Lebenszufriedenheit für die Situation vor und während der COVID-19-Pandemie, jedoch wird bei Betrachtung der Effektstärken der Mittelwertunterschiede deutlich, dass die Abnahme der Zufriedenheit bei Befragten mit ‚Behinderung/Beeinträchtigung ohne Unterstützung‘ besonders deutlich ins Gewicht fällt und mit einem d = -.84 einen starken Effekt in den Konventionen Cohens (1988) abbildet. Befragte ohne Behinderung/Beeinträchtigungen weisen dagegen einen höheren Rückgang ihrer allgemeinen Zufriedenheit auf, als dieses für Personen mit Behinderung/Beeinträchtigung gilt, die aber Unterstützung bekommen (vgl. Tab. 2).
Tabelle 2: Mittelwerte der Zufriedenheit vor und während der COVID-19-
Pandemie


Gruppe

Zufriedenheit vor COVID-19
M(SD)

Zufriedenheit während COVID-19
M(SD)

d (*p<.05; **p<.01)

Behinderung/Beeinträchtigung mit Unterstützung

6,40 (2,68)

5,10 (2,70)

-.53**

Behinderung/Beeinträchtigung ohne Unterstützung

6,28 (2,58)

4,07 (2,53)

-.84**

ohne Behinderung/Beeinträchtigung

7,32 (1,97)

5,82 (2,28)

-.66**

Gesamt

7,28 (2,02)

5,76 (2,31)

-.66**

Um der zweiten Forschungsfrage zu begegnen und die Bedeutsamkeit verschiedener Einflüsse auf das Belastungsempfinden bei den Befragten der Kategorisierung ‚mit Beeinträchtigung/Behinderung‘ zu ermitteln, wurde eine zweistufige multiple lineare Regressionsanalyse durchgeführt. Vorab berechnete Korrelationsanalysen zeigten, dass keine Korrelationskoeffizienten größer .3 zwischen den Prädiktoren im Regressionsmodell vorliegen, sodass nicht von Multikollinearität ausgegangen werden muss. Die Prädiktoren wurden in zwei Schritten in das Modell eingefügt (s. Tab. 3), um so zu prüfen, welche Einflüsse (1.) die selbsteingeschätzten äußeren Umstände (Hygienemaßnahmen, Ansteckungsangst, Wahrnehmung durch die Politik) und (2.) die lebensweltlichen Rahmenbedingungen im Sinne der Wohnsituation bzw. die vorhandene weitere Unterstützung auf das Belastungsempfinden der Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer Beeinträchtigung/Behinderung haben.
Die Analysen zeigen für beide Modelle signifikante Einflüsse der Prädiktoren auf die psychische Belastung (ANOVA Modell 1: F(3, 299) = 20,313, p < .001; ANOVA Modell 2: F(5, 296) = 14,210, p < .001). Die Varianzaufklärung für das erste Modell liegt mit einem R2 = .17 im eher moderaten Bereich nach Cohen (1988). Alle drei Prädiktoren liefern signifikante Effekte, wobei höhere Ansteckungssorgen zu höherer Belastung führen, während die Akzeptanz der Hygienemaßnahmen und eine subjektiv empfundene stärkere Wahrnehmung durch die Politik negativen Einfluss auf das psychische Belastungsempfinden haben (vgl. Tab. 3).
Tabelle 3: Schrittweise lineare Regression zur Vorhersage des Belastungsempfinden


Prädiktoren

Modell 1 (β)

Modell 2 (β)

Angst vor Ansteckung

.29**

.30**

Hygienemaßnahmen

-.18**

-.16**

Wahrnehmung durch die Politik

-.26**

-.24**

Wohnsituation

 

.17**

Unterstützung

 

.19**

R2

.17

.24

Anmerkung: Regressionskoeffizienten sind standardisiert; * p < .05; ** p < .01
Erweitert man das Modell um zwei Prädiktoren, die eine mögliche Unterstützung im sozialen und familiären bzw. institutionalisierten Umfeld abbilden, so steigt die aufgeklärte Varianz auf einen Wert von R2 = .24 und liegt damit nach Cohen (1988) im mittleren Bereich. Die beiden dichotomen Dummy-Variablen sind derart verkodet, dass für die Wohnform der Wert 1 das Leben in einem sozial eingebundenen Kontext und der Wert 2 das Leben alleine bedeutet, bzw. dass bei Unterstützung der Wert 1 eine vorhandene Unterstützung abbildet, während der Wert 2 bedeutet, dass keine Unterstützung erhalten wird. Deutlich wird in dem Modell bei Betrachtung der standardisierten Regressionskoeffizienten, dass das Wohnen alleine und eine nicht-vorhandene Unterstützung ebenfalls signifikante Effekte liefern. Wohnen Personen also nicht in einer Gemeinschaft, sondern stärker isoliert oder haben sie keine weitergehende Unterstützung, so führt dies zu höheren Werten bei der psychischen Belastung.

6. Diskussion

Die Ergebnisse zeigen in hohem Maße die Bedeutsamkeit von Unterstützung von jungen Menschen mit Behinderungserfahrungen. Dies wird sowohl in der durchgeführten Regressionsanalyse zur Ermittlung von Faktoren, die die psychische Belastung beeinflussen, als auch mit Blick auf die durchgeführten Mittelwertvergleiche zwischen den Gruppen von jungen Menschen, die sich als ‚beeinträchtigt/behindert‘ oder als ‚nicht beeinträchtigt/nicht behindert‘ zuordneten deutlich. Jugendliche und junge Erwachsenen, die sich als beeinträchtigt/behindert erlebten und gleichzeitig keine Unterstützung erfahren, weisen die höchste Belastung aller untersuchter Gruppen auf und zeigen die geringste Zustimmung zu den politisch beschlossenen Hygienemaßnahmen.
Betrachtet man die Prädiktoren der Regressionsanalyse, so wird neben der Wohnsituationen und der Angst vor Ansteckung mit dem COVID-19-Virus deutlich, wie stark politische Maßnahmen auf das Belastungserleben dieser jungen Menschen wirken. Die Hygienemaßnahmen bringen eine Einschränkung sozialer Kontakte mit sich; die als gering eingeschätzte Wahrnehmung der Sorgen seitens politischer Entscheidungsträger*innen korreliert negativ mit dem Wohlbefinden der jungen Menschen. Wie in der Studie von Ipsen und Kolleg*innen (2021) zum Vertrauen von Menschen mit Behinderungserfahrung in Informationen und Präventionsmaßnahmen während der Corona-Pandemie zeigt sich auch in unserer Untersuchung, dass das Gefühl, gehört und mit unterschiedlichen Bedarfen wahrgenommen zu werden, elementar ist. Dies ist nicht nur wichtig für das Wohlbefinden junger Menschen während einer Pandemie, sondern ganz grundlegend bedeutsam, um eine barrierefreie, inklusive und jugendgerechte öffentliche Kommunikation zu gewährleisten.
Die Befunde der Untersuchung weisen einmal mehr auf die gesamtgesellschaftliche Relevanz von Inklusion hin. Gemeinschaftliches Wohnen, inklusive Kommunikation, inklusive Medienformate und die Partizipation aller junger Menschen an Parteienpolitik und politischen Maßnahmen schaffen jenseits globaler Krisen Formen von Sozialität, welche nicht nur in Krisenzeiten puffernd auf das Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit rückwirken.
In dieser Analyse wurde der Blick explizit auf Menschen mit Behinderungserfahrungen gelegt. Die Perspektive intersektionaler Inklusion (More & Ratković 2020) einzunehmen verlangt darüber hinaus danach, mehrdimensionale Benachteiligungen und Privilegierungen und damit einhergehende ungleiche Machtverhältnisse zu thematisieren. Dieser Anspruch konnte in diesem Beitrag allenfalls angerissen, nicht aber vertieft oder gar eingelöst werden. Es ist daher wichtig, diese Perspektive im weiteren Verlauf intersektional auszuweiten und die Interaktion mit weiteren Kategorisierungen einzufangen. Die quantitative Aufarbeitung der Relevanz von Kategorisierungen wie ‚Beeinträchtigung/Behinderung‘ gilt es entsprechend um biografische, qualitative Studien zu ergänzen, um das Erleben, die Belastungen, aber auch Ressourcen und Handlungsfähigkeiten der Akteur*innen zu erfassen und einer dichotomen Festigung der Gruppierung ‚beeinträchtigt/behindert‘ und ‚nicht beeinträchtigt/nicht behindert‘ gegenzusteuern. In der Abfrage solcher Kategorisierung stellt sich insbesondere in quantitativen Studien die große Herausforderung, ob und wie Benachteiligungen sichtbar gemacht werden können, ohne durch die Konstruktion von Kategorien in einem Fragebogen Differenz tendenziell zu (re-)produzieren. Wie quantitative Studien differenzsensibel und inklusiv angelegt werden können, ist in unseren Augen eine methodologische Herausforderung, welcher noch mehr Aufmerksamkeit gebührt.
Aus methodischer Perspektive sind für das quantitative Design der vorliegenden Studie einige Einschränkungen zu beachten. Auch wenn die Studie auf einen großen Datensatz zurückgreift, können die genutzten Daten keine Repräsentativität beanspruchen. Durch die Verteilungswege und das Format der Online-Befragung ist von einer hohen Selbstselektivität der Befragung auszugehen. So wurden vor allem junge Frauen sowie Gymnasial-Schüler*innen und Studierende erreicht, von denen der Großteil mit der eigenen Familie zusammenlebt. Mit Blick auf die Zuordnungsmöglichkeit ‚beeinträchtigt/behindert‘ gilt es zudem zu beachten, dass diese Kategorie in sich hoch divers ist und nicht zwischen verschiedenen Formen von Behinderungserfahrungen unterschieden wird. Dieses Anliegen verlangt nach weiterführender Forschung.
Für die Frage nach der Lebenszufriedenheit vor der Corona-Pandemie sind zudem retrospektive Verzerrungen zu vermuten, die in beiderlei Richtung wirksam sein könnten. Einerseits drückt eine aktuelle negative Einschätzung möglicherweise die Gesamtzufriedenheit auch im Rückblick nach unten. Andererseits könnte die Vor-Pandemie-Situation aber auch idealisiert werden, sodass Stimmungsabfälle möglicherweise überschätzt werden. Auch die Struktur der Regressionsanalyse vor dem Hintergrund eines Querschnittsdesigns kann kritisch hinterfragt werden. Für die Wohnform und Unterstützung ist eine größere Zeitstabilität bzw. damit zusammenhängend ein Wirkungsgeflecht naheliegend. Für die weiteren Prädiktoren wurde die Kausalannahme aus anderen Studienkontexten abstrahiert, nicht auszuschließen ist jedoch auch eine umgekehrte Wirkrichtung, in der etwa ein grundlegend niedrigeres Wohlbefinden zu einer geringer eingeschätzten Wahrnehmung durch die Politik auch in der Corona-Pandemie führt.
Ungeachtet dieser Limitationen zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Studie auf, welche Herausforderungen die COVID-19-Pandemie für junge Menschen mit Behinderungserfahrung birgt. Mangelnde Unterstützung und verstärkte Isolation, die etwa durch Hygienemaßnahmen bedingt werden können, bedeuten eine zusätzliche Belastung, die von Politik und Forschung noch stärker als bislang in den Blick zu nehmen ist und zudem verlangt, junge Menschen in die Debatte einzubeziehen.

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