Abstract: Die Kategorie Autismus stellt im Kontext Inklusiver Bildung ein kontroverses Feld dar: So wird einerseits die Vielfalt individueller Ausprägungen betont, zugleich jedoch werden – trotz steigender Diagnoseraten – selten Zweifel an der Angemessenheit der Diagnose sowie am schulisch-unterrichtlichen Umgang mit ihr geäußert (vgl. Platte, 2019). Da, ungleich zu Fragen von Förderung, die Herstellung der Kategorie Autismus bisher selten empirisch in den Blick gelangt, wird in diesem Beitrag eine Situationsanalyse – in Anlehnung an Clarke (2012) – entlang einer Komparation zweier Datensorten vorgenommen: Auf Basis von Ratgeberliteratur, die Pädagog*innen adressiert, sowie von Interviewdaten, die im BMBF-geförderten Forschungsprojekt »StiEL« erhoben wurden, soll dabei die Frage gestellt werden, welches Wissen als relevant für den schulischen Umgang mit Autismus aufgerufen wird. Mit theoretischen Bezügen zur kritisch-materialistischen Behindertenpädagogik (Feuser, 2004) sowie pädagogischen Professionalisierung (Bohnsack, 2020) werden grundlegende Ambivalenzen der Kategorie Autismus herausgearbeitet und diskutiert.
Stichworte: Autismus, Situationsanalyse, Ratgeber für Pädagog*innen, Kritisch-materialistische Behindertenpädagogik, Pädagogische Professionalisierung
Inhaltsverzeichnis
Obwohl für Deutschland keine offiziellen Zahlen vorliegen (vgl. Bachmann et al., 2018; UBA, 2020), geht man heute von einer deutlich höheren Prävalenzrate für Autismus als noch vor einem halben Jahrhundert aus: Wurde die Häufigkeit im Jahr 1975 noch mit 0,02 % angegeben (vgl. Tebartz van Elst, 2018), findet sich für das Jahr 2016 stellenweise eine Rate von bis zu 1,85 % (vgl. CDC, 2020), wobei jedoch etwa das Deutsche Umweltbundesamt (UBA, 2020) eine deutlich niedrigere Prävalenz von 0,6-1,0 % ausweist. Die im internationalen Vergleich der Prävalenzraten festzustellenden großen Varianzen (vgl. Elflein, 2020) könnten dabei als Hinweis auf große Ermessensspielräume in der Anwendung der diagnostischen Kriterien verstanden werden. Diese ergeben sich unter anderem daraus, dass Autismus nicht auf eine singuläre biophysische Ursache zurückzuführen ist (vgl. Bernard 2017, S. 16). So betont der Psychiater Tebartz van Elst (2018, S. 150), bei Autismus – wie auch ADHS – handle es sich „um Sammelbegriffe, die unterschiedliche psychobiologische Krankheitsbilder und Normvarianten psychobiologischen So-Seins aufgrund phänomenaler Ähnlichkeiten“ zusammenschließen. Während sich dabei in der Forschung Tendenzen der Ausdifferenzierung im Hinblick auf die Ursachenattribution beobachten lassen (vgl. Bernard, 2017), wird die Kategorie Autismus in den aktuellsten Auflagen der Diagnoseleitfäden DSM-5 und ICD-11 weiter vereinheitlicht, indem Subkategorien wie Frühkindlicher Autismus oder das Asperger Syndrom zur allgemeineren Kategorie Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) zusammengeführt werden (vgl. APA, 2013; WHO, 2020).
Zwar rücken mit der Abkehr von Subkategorisierungen bzw. der Entscheidung, Autismus auf einem Spektrum zu verorten, die neuen Diagnosekriterien einerseits näher an eine Perspektive heran, die Autismus – wie etwa im Konzept der Neurodiversität – als Teil des Spektrums menschlicher Vielfalt betrachtet (vgl. Lindmeier, 2018); andererseits wird durch die prozessierte Pathologisierung – als (Entwicklungs-)Störung – die Abgrenzung von als normal angenommenen Entwicklungsverläufen aufrechterhalten (vgl. ebd.; Theunissen, 2016), die zur Vereindeutigung von Autismus als klar definiertem Störungsbild in alltagspraktischen Kontexten beiträgt. Aus (inklusions-)pädagogischer (vgl. Platte, 2019) wie soziologischer (vgl. Maynard & Turowetz, 2019) Perspektive wird in diesem Zusammenhang Kritik an der Herstellung und Bedeutung der Diagnose formuliert, indem hervorgehoben wird, dass diese ein interaktionales Produkt darstellt, in dessen Entstehungsprozess sowohl die Normalitätserwartungen der diagnostizierenden Person als auch die soziale Dynamik zwischen diagnostizierender und diagnostizierter Person eine Rolle spielen. Trotz der für soziale Interaktionen üblichen Unsicherheiten schafft das Endprodukt der Diagnose dabei eine Eindeutigkeit und wird so zu einem zentralen Moment in der Herstellung von Behinderung.
Der Umgang mit Autismus als administrative Kategorie im schulischen Kontext zeigt sich im bundesdeutschen Vergleich als different, insofern z.B. die Bundesländer Berlin, Hamburg und Schleswig-Holstein einen eigenen Förderschwerpunkte für Autismus ausweisen (vgl. Czerwenka, 2017), während Autismus andernorts u.a. mit Förderschwerpunkten wie geistige oder emotionale und soziale Entwicklung verbunden wird (vgl. ebd.). Diese uneinheitliche Verfahrensweise könnte damit in Zusammenhang stehen, dass die Diagnoseraten für Autismus in den letzten Jahrzehnten stetig gestiegen sind, dem Diagnoseprozess selbst aber – wie aufgezeigt – einige Ambivalenzen und Spannungsfelder innewohnen. Durch die Diagnostizierung von Autismus als Entwicklungsstörung entsteht jedoch eine Kategorie, die im schulisch-unterrichtlichen Kontext handlungspraktische Anwendung findet: Sie ermöglicht es, spezialisierte bzw. terminologisch fokussierte Wissensbestände für den institutionellen Umgang mit Menschen, denen die Kategorie Autismus zugeschrieben wird, aufzubauen, wie dies im deutschsprachigen Diskurs bislang vor allem innerhalb der interdisziplinär informierten Sonderpädagogik geschah. Inhärentes Ziel dieses Unterfangens ist der Aufbau eines Wissensrepertoires – zur Anwendung innerhalb des (sonder-)pädagogischen Handlungsfeldes Autismus bzw. Pädagogik bei Autismus –, insbesondere für das angestrebte Ziel inklusiver Unterrichtssettings (vgl. Eckert & Gruber, 2016). Die Diagnose Autismus wirkt dann als Begründungsfläche für daran ansetzende förderorientierte Handlungsstrategien und Verfahren, z.B. TEACCH® (vgl. Häußler, 2015), entlang derer im Rahmen der Lehrpersonen-Bildung (nach wie vor überwiegend in Sonder- und Allgemeine Pädagogik unterteilt) professionsspezifisches Wissen vermittelt resp. nicht vermittelt wird.
Zugleich können der Perspektive kritisch-materialistischer Behindertenpädagogik (vgl. Feuser, 1995; Rödler, 2000; Jantzen, 2007) folgend auch Einwände gegen diese latent essenzialisierende Praxis der Herstellung und Anwendung kategorial-autismusspezifischen Wissens formuliert werden: Dreh- und Angelpunkt der Kritik ist hierbei das vorausgesetzte und stabile Personenmerkmal Autismus, dessen Produktion als interaktionaler, institutionell gerahmter und hierdurch auch machtbeladener Prozess ausgeblendet wird. So entsteht durch die isolierte und personenbezogene Kategorisierung Autismus eine in pädagogischen Handlungssettings ‚ersehnte‘ Klassifikation, die als Medium für Komplexitätsreduktion fungieren kann. Dieser Vorgang stellt – wie Pfahl (2011) bezogen auf Lernbehinderung zeigt – kein Spezifikum des Labels Autismus, sondern ein Charakteristikum sonderpädagogisch funktionalisierter Kategorien dar. So kann die Diagnose Autismus in engem Zusammenhang von Pathologisierung und Defizitzuschreibung gelesen werden, d.h. als objektivierbare Kategorie, in der die Bedingungen für das Handeln sowie die sozialisationsspezifischen Entwicklungen der als autistisch gekennzeichneten Menschen in den Hintergrund treten. Feuser (2004, S. 4) merkt hierzu kritisch an, der autistische Mensch entstehe „vor unseren Augen nur als ein Konstrukt aus als pathologisch bewerteten Momenten seiner Existenz.“ Auf diese Weise kann – institutionell gewendet – die inklusionspädagogische Konzeptualisierung der Förderung von Schüler*innen mit zugewiesenem Autismus letztlich als Normalisierungs- und Reintegrationsmaßnahme in einem zeitgleich statusdiagnostizierenden (besser-schlechter, normal-anormal) und selektiven Bildungssystem angesehen werden (vgl. ebd.). Innerhalb dieses reziprok angelegten Mechanismus von Förderung und Selektion (vgl. Werning, 2014) ist es wenig verwunderlich, dass das komplexitätsreduzierende Moment der Diagnose Autismus als institutioneller Anlass für Delegation, Besonderung und Exklusion herangezogen bzw. auf professioneller Ebene eine besondere Zuständigkeit legitimiert werden kann, die sich sukzessive in Form der professionellen Rolle Sonderpädagog*in entwickelt und etabliert hat.
Zur Analyse des aufgezeigten Spannungsfeldes bzw. der Prozesse der Wissensproduktion und -dissemination erscheinen dabei in theoretischer Hinsicht Bohnsacks (2020) – in Fortführung sowie teils kritischer Abgrenzung[1] zu Oevermann (1996) entstandene – Ausführungen zum Thema der Professionalisierung als hilfreiches Konstrukt: Sie schließen insofern an Oevermanns Ansatz an, als letzterer „nicht die Expertise zur Grundlage professionalisierten Handelns nimmt, sondern Probleme der interaktiven Handlungspraxis“ (Bohnsack, 2020, S. 26), was der praxeologischen Basisunterscheidung zwischen kommunikativer (theoretische Ebene) und konjunktiver Logik (atheoretische bzw. handlungsleitende Ebene) entspricht. Es entsteht so eine strukturelle Differenzierung von Wissensformen, die die wissenschaftliche Expertise – als ein explizierbares bzw. theoretisches Wissen – von einem professionalisierten Wissen, welches sich in einem handlungsleitenden Wissen konstituiert, unterscheidet. Hierin schließt Bohnsack auch an eine Feststellung Luhmanns an: Im „Zentrum der Entwicklung der Professionen steht mithin die Distanz zwischen Idee und Praxis, die durch Wissen allein nicht überbrückt werden kann“ (Luhmann, 2002, zit. in Bohnsack, 2020, S. 22). Bohnsack verortet den Modus der Professionalisierung in diesem Sinne vor allem im Rahmen von Habitualisierung (vgl. ebd., S. 24).
Vor dem Hintergrund der differenzierten Formen expertisierten bzw. theoretischen und professionalisierten bzw. handlungsleitenden Wissens (vgl. Kap. 2.2) wird eine Untersuchung von De-/Professionalisierungstendenzen möglich, die im Feld des schulischen Umgangs mit Autismus – wie aufgezeigt – von besonderer Relevanz ist. So soll im vorliegenden Artikel mittels einer explorativen Analyse der Frage nachgegangen werden, in welcher Situation und durch wen welches Wissen zum schulischen Umgang mit Autismus relevant gemacht wird – und welches nicht. Die Situationsanalyse nach Clarke (2012), die zunehmend im Kontext der Inklusionsforschung Anwendung findet (vgl. Gasterstädt, 2019), bietet sich hierbei an, weil diese intendiert, ein möglichst umfassendes Bild zu generieren, welches sich aus vielfältigen Blickwinkeln speist. Um sowohl die schulische Wissensnachfrage als auch die Angebotsseite zu betrachten, werden deshalb für die Untersuchung Daten aus zwei unterschiedlichen Projekten für eine Sekundäranalyse herangezogen: Dies sind zum einen Vorworte aus – im Rahmen der Dissertationsstudie »Konstruktionen von Autismus zwischen Medizin und Pädagogik – eine Diskursanalyse« (Zobel, i.V.) – untersuchter Ratgeberliteratur[2], welche autismusspezifisches Wissen für als inklusiv ausgewiesene Schulsettings aufbereitet und dabei explizit Pädagog*innen als Zielpublikum benennt (Arens-Wiebel, 2019; Horbach, 2016; Menze, 2015; Sautter, Schwarz, & Trost, 2012; Schirmer, 2016; Schuster, 2011; Schuster & Schuster, 2013; Theunissen & Sagrauske, 2019); sowie zum zweiten Interview-Daten, die im BMBF-geförderten[3] Forschungsprojekt »StiEL – Schule tatsächlich inklusiv« erhoben wurden, wobei der Datenkorpus 134 problemzentrierte Interviews (Witzel, 2000) mit schulischen Akteur*innen in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Brandenburg umfasst (vgl. Köpfer, Papke, & Gerdes, 2019).[4]
Um ein systematisches Bild der Konstruktions- und Aushandlungsprozesse von als für den schulischen Umgang mit Autismus relevantem Wissen zu erhalten, lehnen wir uns in methodologisch-methodischer Hinsicht an den „Multisite-/Multiscape-Ansatz“ (Clarke, 2012, S. 209) an: So kann durch Komparative Mappings ein Vergleich von Diskursmaterialen und Interview-Daten erfolgen – z.B. mit dem Ziel zu erfassen, „welche Elemente eines bestimmten Diskurses von realen Personen übernommen werden und welche nicht und vice versa.“ (ebd., S. 214) Vor dem Hintergrund der Bemühung, die Herstellung der Kategorie Autismus in den Blick zu nehmen, erscheint es dabei als besonders relevant, dass sich die Analyse auch dem Nicht-Thematisierten – also den „positions not taken in the data“ (Clarke, Friese, & Washburn, 2018, S.172) zuwendet. Von zentraler Bedeutung ist hierzu das Konstrukt Sozialer Welten, das davon ausgeht, dass kollektive Akteur*innen innerhalb von Arenen in konflikthafte Aushandlungen treten (vgl. Clarke, 2012, S. 77) und dabei solche (taktischen) Leerstellen produzieren. Folgend werden daher die im Datenmaterial vorzufindenden Positionen komparativ gegenübergestellt (Kap. 4), ehe ein umfassender Blick auf die komplexe Arena ‚Autismus‘ (Kap. 5) versucht wird.
Im Weiteren finden sich die Ergebnisse der Mapping-Prozesse auf Basis einer Auswertung nach der Grounded-Theory-Methodologie (vgl. Clarke, 2012), wobei die entstandenen Positions-Maps (vgl. ebd.) zu den Ratgeber- wie Interview-Daten einander gegenübergestellt werden. Die vorgängig ausgeführten theoretischen Bezugspunkte (Kap. 2) flankieren die Analyse:
Abb. 1: Positions-Map der Ratgeberliteratur (Eigene Darstellung)
Abb. 2: Positions-Map der Interview-Daten (Eigene Darstellung)
Die bisher skizzierten Positionen, wie sie bezogen auf die Ratgeberliteratur sowie die schulischen Akteur*innen herausgearbeitet wurden, stellen erste explorative Perspektivierungen eines komplexen (Handlungs-)Feldes ‚Autismus‘ dar. Gemäß der Situationsanalyse nach Clarke (2012, S. 147ff.) ist die Wissensproduktion und das Handeln in Relation zu übergeordneten (gegenstandsbezogenen wie wissenschaftstheoretischen) Diskursen zu stellen. Zur Nachzeichnung dieser Diskurse wird Clarke (vgl. ebd.) folgend eine Map Sozialer Welten skizziert, in der die Akteur*innen und die in der Bildungsorganisation Schule implementierten Konzepte und Kategorien im Kontext von Autismus aufgeführt und zueinander konstelliert werden. So entsteht eine Schul-Arena ‚Autismus‘ (s. Abb. 3), in der
Abb. 3: Die Schul-Arena ‚Autismus‘ (Eigene Darstellung)
sich die Kategorie Autismus als konstitutives Element im Handlungsgefüge zeigt. Folgende Charakteristika können hier zusammenfassend resümiert werden:
Die Schul-Arena ‚Autismus‘ im Kontext von Inklusion zeigt so ein transformatives Bedingungsfeld, innerhalb dessen eine veränderte Anforderung an die Wissensproduktion, -dissemination und -aneignung gegeben ist. In dieses komplexe Feld hinein adressieren die Autismus-Ratgeber Pädagog*innen und bieten ihnen Lösungsstrategien für den Umgang mit Veränderungsprozessen an. Dabei betonen die Ratgeber die Krisenhaftigkeit der Veränderungsprozesse und charakterisieren ihre Adressat*innen als unvorbereitet und überfordert. Die Fremd- und Selbstbeschreibung erweist sich in diesem Punkt als ebenso kongruent wie die Orientierung an medizinisch-psychologischem Grundwissen über Autismus. Das Wissen zur Symptomatik dient dabei einerseits als Grundlage für allgemeine Überlegungen zur Eingliederung von Schüler*innen mit Diagnose Autismus, andererseits als Anknüpfungspunkt für vorstrukturierte Handlungsstrategien. Zwar wird betont, dass diese keine allgemeingültigen Handlungsanweisungen darstellen können, dabei scheint es sich jedoch eher um eine Absicherung gegen das Scheitern im Einzelfall als – angesichts deren Omnipräsenz – um einen grundlegenden Zweifel an der Angemessenheit der Praktiken zu handeln.
Trotz dieser Einschränkung und der teilweisen Berücksichtigung wenig instrumenteller Ansätze (z.B. im Aufgreifen der Stärken-Perspektive) fehlen sowohl in den Ratgebern als auch den Interviews diskursive Positionen, die die Relevanz einer „Reflexion innerhalb [H.i.O.] der eigenen Praxis“ (Bohnsack, 2020, S. 22) betonen bzw. zu dieser hinleiten. Genau diese Art von Reflexion ist nach Bohnsack jedoch als „Voraussetzung für flexible Handlungsfähigkeit“ (ebd.) zu betrachten, mit der die Überbrückung eines Spannungsverhältnisses zu den theoretischen Wissensbeständen wie zu den organisationalen Normen bzw. das Eingehen einer interaktiven Praxis mit den Schüler*innen gelingen kann. Die Interaktion wäre somit der Ort, an dem sich das „Verstehen der Anderen“ (ebd., S. 28) und eine tatsächlich professionalisierte Praxis vollziehen kann. Eine Methodenliteratur, bzw. Fortbildungskonzeption, hätte sich vor diesem Hintergrund stärker der Gestaltung von gemeinschaftlichen Prozessen zu widmen, in welchen Lehrpersonen und Schüler*innen für das Lernen als hemmend bzw. unterstützend erlebte Situationen erkunden. Hierzu könnten etwa formative und prozessbegleitende Ansätze einer pädagogischen Diagnostik fruchtbar gemacht werden (vgl. Prengel, 2016), womit auf ein ‚Matching‘[6] mit medizinisch-psychologischen Kategorien verzichtet wird. So würde auch der grundsätzlichen Schwierigkeit entgegengetreten, aus disziplinfremden Kategorien pädagogische Konsequenzen abzuleiten – und damit eine De-Professionalisierung zu prozessieren. In diesem Sinne wäre etwa Boban und Hinz (2017, S. 106) beizupflichten, wenn sie herausstellen, dass es im Rahmen einer inklusiven Diagnostik darum gehen müsste, die „pädagogischen Situationen so zu betrachten, dass ihre Verwobenheit mit individuellen Lernprozessen wie mit dem sozialen Geschehen in den Blick kommt.“ Dabei würde „jegliche Diagnostik fragwürdig, die nur den einzelnen lernenden Menschen betrachtet, ihn anhand von Normalitätsvorstellungen kategorisiert und womöglich einem spezifischem Angebot, einer Stufe oder einer Gruppe zuweist“ (ebd.).
In Ratgeber- wie Interview-Daten wird dieser Prozess allerdings größtenteils umgekehrt – und es soll das theoretische (und disziplinfremde) Wissen über die Kategorie Autismus den Ausgangspunkt für Interaktionen bilden. Daran knüpfen dann sowohl Überlegungen zum organisationalen Zuweisungsprozess (z.B. zum ‚richtigen Förderort‘; vgl. Arens-Wiebel, 2019) als auch zum Arbeitsbündnis zwischen Lehrperson und Schüler*in an, welches sich vor allem über eine Anpassung der als autistisch identifizierten Schüler*innen an die schulisch-unterrichtliche Norm mittels kompensatorischer Maßnahmen (Unterstützungsangebote, Strukturierungshilfen, etc.) und der Expertisierung der Lehrpersonen für diese Anpassungsaufgabe (behinderungsspezifisches Wissen, Kenntnisse über Fördermöglichkeiten) ausformt. Die Möglichkeit, auf Grundlage einer professionalisierten und reflexiven Praxis, die Dissonanzen zwischen dem konkreten Einzelfall und dem organisationalen Rahmen nicht automatisch den betroffenen Schüler*innen anzulasten, sondern stattdessen Veränderungen der schulischen Praktiken auszuloten, wird folglich im Kontext der betrachteten Daten von vornherein ausgeschlossen. So verharren etwa die Ratgeber in ihrer Perspektive der Einzelförderung, die die Klasseninteraktion – v.a. die Peer-Ebene – nicht näher in den Blick nimmt. In der Folge können sie trotz anders lautender Ziele letztlich nur eine defizitorientierte Perspektive auf diagnostizierte Schüler*innen stabilisieren – und systemische Perspektiven (vgl. Kron, Schmidt, & Fischle, 2018) bleiben ausgeblendet.
Den schulischen Akteur*innen scheint es hingegen vermehrt, um eine Kontrolle von störendem Verhalten zu gehen, da sie ihre Zuständigkeit bei der Klasse als ganzer verorten, die hinsichtlich der Selektionsanforderungen auf einen Abschluss vorbereitet werden muss. Obwohl die schulischen Akteur*innen im Vergleich stärker auf die pädagogische Handlungssituation des Klassenunterrichts fokussieren, teilen sie mit den Ratgebern die Auffassung, dass die etablierten Kommunikationssituationen nicht angefragt werden können. Darin auftretende Probleme werden den als autistisch diagnostizierten Schüler*innen ursächlich zugeschrieben, wobei diese selbst wie auch deren Peers als „stumme Akteure“ (Clarke, 2012, S. 128) zu identifizieren sind. So kristallisieren sich in der skizzierten Arena an die Schüler*innen gerichtete „Inklusionsbedingungen“ (Weisser, 2017, S. 147) – im Sinne eines unthematisiert bleibenden Katalogs an Voraussetzungen (z.B. hinsichtlich des Verhaltens) heraus, deren Nicht-Erfüllung Exklusion zur Folge hat (vgl. ebd., S. 145). Es zeigt sich dabei, dass auf Grund ihres impliziten Charakters nicht die Bedingungen selbst in den Blick geraten, sondern vielmehr die Exklusionseffekte – auf Basis ‚objektivierter‘ Diagnoseprozesse bzw. in personenbezogenen Etikettierungen – „den betroffenen Kindern und Jugendlichen überantwortet“ (ebd., S. 146) werden.
Aus der Einordnung der explorativen Analyseergebnisse in den Fach- und Forschungsdiskurs wird deutlich, dass die eingenommene materialistische Analyseeinstellung weiterführende Fragen des Umgangs mit (Herstellungsprozessen von) Diagnosen bzw. Kategorisierungen aufzeigt. Nachdem erste Verschränkungen von Handlungspraxis, Wissensproduktion und zugrundeliegenden (erziehungswissenschaftlichen bzw. fachmilieuspezifischen) Diskursen aufgezeigt werden konnten, drängen sich ebenso weitere empirisch zu bearbeitende Leerstellen auf. So könnte zum Beispiel – bezogen auf den Zusammenhang der Produktion und Verbreitung von Wissen über Ratgeber und deren Disseminationswege in der Praxis – eine weiterführende empirische Perspektivierung (z.B. via Interviews) zur Anwendung von ratgeberspezifischem Wissen in schulischen Kontexten erfolgen. Hierbei könnte der Fokus auf die handlungspraktische Ausgestaltung von Unterstützung gerichtet und potenzielle Barrieren bzw. „Inklusionsbedingungen“ (Weisser 2017, S. 147) rekonstruiert werden (vgl. hierzu Köpfer et al., 2019). Weiter wären Verhandlungen von Autismus in multiprofessionellen Teams sowie an der Schnittstelle von inklusionsorientierten Schulen und Erziehungsberechtigten zu untersuchen. Die bislang auf die Handlungsperspektive der Pädagog*innen fokussierte Analyse könnte so – wie in der Map der Sozialen Welten abgebildet – auf weitere Akteur*innengruppen ausgedehnt werden. Zudem könnten die spezifischen Mechanismen der Autismus-Arena mit Fokus auf die Ratgeber untersucht werden – zum einen hinsichtlich der auch ökonomisch motivierten Herstellung einer Bedarfslage entlang von (defizitorientierten) Klassifikationen und zum zweiten mit Blick auf die inter- und transdisziplinären Verbindungen/Abgrenzungen von medizinischen, psychologischen sowie (sonder-)pädagogischen Wissensbeständen (vgl. Dissertationsstudie v. Zobel, i.V.).
Als besonders relevant erscheint im Zuge der präsentierten Ergebnisse eine Erweiterung des Blicks auf die Situation um die Perspektiven der Schüler*innen, die etwa via des bereits formulierten Desiderats einer partizipativen Forschung (vgl. Lindmeier, 2018) – d.h. „eines gemeinsamen Forschens im Kontext von Behinderung“ (Goeke, 2016, S. 37) – verfolgt werden könnte. Anders als im Falle der vielfach hiermit verbundenen ‚Empowerment‘-Strategien, die notwendigerweise die Konstruktion homogener Gruppen vornehmen (vgl. Bröckling, 2003), um geteilte Positionen artikulieren zu können, ist jedoch eine Distanzierung von personenbezogenen Kategorisierungen erstrebenswert. Über die Involvierung aller am Unterrichtsgeschehen beteiligten Personen kann in dieser Hinsicht der Zusammenhang zwischen (zugeschriebenen) Behinderungen und den schulischen Bedingungen (wieder-)herzustellen versucht werden (vgl. Weisser, 2017).
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[2] Als Kriterium für die Auswahl fungierte dabei, dass die Ratgeber (bis Erscheinungsdatum: Januar 2019) es sich zum Ziel machen, Wissen und Strategien für den Unterrichtsalltag anzubieten. Die Vorworte wurden als geeignete Untersuchungsgegenstände ausgewählt, weil die Autor*innen hierin selbst das – aus ihrer Sicht – für die schulische Praxis erforderliche Wissen definieren.
[3] Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in der Linie »MQInkBi – Qualifizierung Inklusion« (Laufzeit: 2017-2020) gefördert.
[4] Obwohl der Interview-Leitfaden keine expliziten Fragen zu Autismus vorsah, finden sich in 54 der 134 Interviews Passagen, in denen die Gesprächspartner*innen eigenständig auf diese Thematik eingehen.
[5] Dass – wie Oelkers (2012, vgl. S. 214) beschreibt – Ratgeber auf Lösungen und nicht etwa Kritik angelegt sind, wird deutlich, wenn Schirmer (2016, S. 10) im Kontext schulischer Inklusion ein „Spannungsfeld von systemischer und individuumszentrierter Betrachtung von Lern- und Lehrprozessen“ diagnostiziert, um dies wenig später folgendermaßen abzutun: „Dies ist noch pädagogische Zukunftsmusik im deutschsprachigen Raum. […] Ungeachtet des Ausgangs der derzeitigen und zukünftigen theoretischen Diskussionen in der Pädagogik und ihrer Umsetzungen bleibt zumindest anteilig die Notwendigkeit einer individuumszentrierten Pädagogik bestehen, denn spezifische Probleme der Schüler im Autismus-Spektrum sind unabhängig von ihrer Beschreibung Sachverhalte, die im pädagogischen Alltag berücksichtigt werden müssen.“ (ebd., S. 10)
[6] Mit ‚Matching‘wird ein Vorgang bezeichnet, im Rahmen dessen disziplinfremde mit disziplineigenen – also pädagogisch relevanten – Unterscheidungen in Passungsverhältnisse gebracht werden (vgl. Emmerich & Hormel, S. 81-82).