Abstract: Der Beitrag unterzieht die theoretische Grundlegung einer inklusiven Bildung durch das Konstrukt „Inklusive Momente“ (Ulrich Heimlich) einer kritischen Würdigung. Als inklusive Momente werden vom Autor Situationen verstanden, die durch Teilhabe und Teilgabe, durch Nehmen und Geben gleichermaßen geprägt sind. Die Widerrede macht dreierlei Kritikpunkte geltend. Erstens: Die durch die reziproke Dyade von Teilhabe und Teilgabe definierten inklusiven Momente machen nicht den paradigmatischen Kern inklusiver Bildungsprozesse aus; sie nehmen insbesondere nicht den dialektischen Charakter inklusiver Prozesse und Situationen wahr. Zweitens: Weil die bildungstheoretische Grundlegung durch inklusive Momente die Ebene der Schulstruktur vollständig und konsequent ausklammert, wird der Konzeptentwurf als unpolitisch, systemaffirmativ und herrschaftshörig gekennzeichnet. Drittens: Ein inklusiver Bildungsbegriff sollte vor allem als Bildung eines einzigartigen Subjekts verstanden werden. Inklusive Bildung kann entgegen bürgerlichen Vorstellungen grundsätzlich von allen Menschen, auch von Menschen mit kognitiven Einschränkungen erworben werden. Die inklusive Schule muss eine Individualisierung und Personalisierung der Bildung durch einen ziel- und angebotsdifferenten Unterricht ermöglichen.
Stichworte: Partizipation; Bildungstheorie; Ulrich Heimlich; Schulstruktur; Bayern
Inhaltsverzeichnis
Der Inhaber des Lehrstuhls für Lernbehindertenpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Ulrich Heimlich, hat binnen zwei Jahren drei Bücher zur inklusiven Bildung verfasst bzw. editiert, denen der Status von Lehrbüchern oder Standardwerken zugesprochen werden kann:
Alle drei Bände haben eine Gemeinsamkeit: Den krönenden Abschluss der Bände bildet in zwei Fällen ein eigenständiger Beitrag, im Studienbuch ein eigenständiges Kapitel zu der neuen Bildungstheorie. Die Titel dieser Beiträge variieren; sie lauten etwa „Inklusive Momente im Bildungsprozess – Aspekte einer inklusiven Bildungstheorie“.
In einem voraufgegangenen Zeitschriftenbeitrag „Inklusive Momente im Bildungsprozess“ (Heimlich 2017) merkt Heimlich kritisch an, dass bislang „eine grundlegende Klärung des inklusiven Bildungskonzepts“ fehle. Angesichts dieser Lücke sei das Anliegen seiner Arbeiten eine Klarstellung, „was unter inklusiver Bildung verstanden werden soll.“ „Es geht um nichts mehr und nichts weniger als die Entwicklung eines neuen Bildungskonzeptes“ (Heimlich 2017, 171).
Die konzertierte Promotion des neuen Bildungskonzepts wie auch der ambitionierte Anspruch, die erste und einzige Bildungstheorie im inklusionswissenschaftlichen Diskurs zu sein, machen neugierig und lassen aufhorchen. Der folgende Beitrag macht den vorliegenden Entwurf einer bildungstheoretischen Grundlegung inklusiver Bildung zum Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung.
Partizipation hat in Theorie und Praxis der Inklusion einen prominenten Stellenwert. In der UN-Behindertenrechtskonvention sind in englischer Sprache 26mal Wörter aus der Wortfamilie „participation“ zu finden. Die Wortfamilie „inclusion“ kommt dagegen nur zehnmal vor. In der deutschsprachigen UN-BRK findet man die Wortfamilie „Partizipation“ nicht ein einziges Mal. Das ist (nicht schon wieder) ein Übersetzungsfehler, sondern hat einen anderen, ganz einfachen Grund. Es gibt in der deutschen Sprache kein sprachliches Äquivalent, das den vollen Bedeutungsumfang des englischen Begriffs „participation“ auch nur annähernd wiedergeben könnte. Im deutschsprachigen Sprachraum muss man sich wohl oder übel mit der recht blassen Vokabel „Teilhabe“ begnügen.
Nach Ernst von Kardoff (2014) beinhaltet Partizipation vier Bedeutungen:
Das entscheidende Manko des Teilhabebegriffs sind seine passiven Konnotationen. Schon die lateinische Herkunft von „pars capere“ („Teil“ „fangen, ergreifen, sich aneignen, nehmen“) weist indessen deutlich auf eigene Aktivitäten hin.
Der Begriff Teilhabe hat insbesondere in der Sozialgesetzgebung und Sozialhilfe eine hohe Relevanz. Das Sozialgesetzbuch IX mit dem Titel „Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen“ befördert – ungewollt – das Missverständnis, bei Teilhabe gehe es um die Zuteilung von Sozialleistungen an Bedürftige. Beispielhaft seien genannt: Leistungen für medizinische Rehabilitation, für betreutes Wohnen, für Behindertenfahrdienste, für persönliche Assistenz, zur Unterhaltssicherung und anderes mehr. Der Teilhabebegriff driftet dank seiner vielfältigen, gesetzlich verbrieften Leistungsangebote allzu sehr ins Soziale und Caritative ab; und Teilhabe wird – was noch bedenklicher ist – zu etwas, was man bekommt und empfängt. Inklusion gleicht solchermaßen einem Konsumartikel.
Die Kritik an den misslichen Konnotationen des Teilhabebegriffs ist im sozialpolitischen wie humanwissenschaftlichen Raum weit verbreitet. Ulrich Heimlich hat diese Unzufriedenheit aufgegriffen und – in der Nachfolge zu Klaus Dörner (2007a; 2015) – dem Teilhabebegriff die Begriffe Teilgabe und Teil-Sein zur Seite gestellt. Den neuen Begriff Teilgabe definiert Heimlich durch ein Zitat der Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer: „Teilgabe meint, dass jedes Mitglied einer Gesellschaft seinen Beitrag zur Gestaltung des gesellschaftlichen Miteinanders in allen Fragen, die sein Leben betreffen, leisten kann“ (Gronemeyer, in: Heimlich 2014, 4).
Als der geistige Vater des Teilgabe-Konzepts kann der Psychiater Klaus Dörner gelten. Dörner betrieb in der westfälischen Stadt Gütersloh das Projekt einer schrittweisen, gleichwohl konsequenten Dezentralisierung einer großen Psychiatrieanstalt. Den Patienten der geschlossenen Einrichtung in Gütersloh wurden nach und nach die Tore geöffnet und kleine Wohnungen mitten in städtischen Quartieren zur Verfügung gestellt. Zur großen Überraschung Dörners stellte sich bei den entlassenen Patienten keine volle Zufriedenheit über die neue, selbstbestimmte Lebenssituation ein. Viele Patienten saßen in den schönen, perfekt eingerichteten Wohnungen gelangweilt herum und konnten nicht so recht etwas mit der neuen Freiheit anfangen; sie fühlten sich zur Untätigkeit und zum Nichtstun verdammt.
Dörner hat die Unzufriedenheit der Psychiatrie-Patienten ganz allgemein als ein unbefriedigtes Bedürfnis nach sozialer Anerkennung, näherhin als das Bedürfnis, „Bedeutung für andere“ (Dörner 2007b) zu haben, gedeutet. Erst als die Patienten sich durch kleine Dienste für die Nachbarschaft oder für die städtische Gemeinde nützlich machen durften, entwickelten sie das Gefühl, gebraucht zu werden, nützlich zu sein und „Bedeutung“ zu haben. Diese Erfahrung, dass Menschen zu ihrer Integration selbst einen aktiven Beitrag leisten wollen, hat zur Formulierung des Begriffs „Teilgabe“ und des Begriffspaars „Teilhabe und Teilgabe“ (Dörner 2007b; 2015; kursiv im Original) geführt.
Das Motiv, das Teilhabekonzept um den Aspekt der Teilgabe zu ergänzen, wird aus folgenden Zitaten der Arbeit von Heimlich (2014) sehr deutlich:
Die zitierten Textstellen belegen, dass die zentrale Intention für die Erweiterung des Teilhabekonzepts darin besteht, das halbierte, ja falsche Verständnis von Inklusion als einem passiven Konsum von Teilhabeleistungen zu korrigieren. Das neue triadische Konstrukt kann als eine wichtige und notwendige Bereicherung der inklusionspädagogischen Theoriebildung gewürdigt werden. Wiewohl der Grundgedanke, dass jeder zur seiner Inklusion einen eigenen, persönlichen, aktiven Beitrag zu leisten hat, nicht grundsätzlich neu ist und in dem internationalen Konzept der Partizipation längst mitgedacht wurde, ist die explizite Ergänzung des Teilhabebegriffs um das Element der aktiven Mitwirkung und eigenen Anstrengung durchaus bedeutsam und anerkennenswert, aus sachlichen wie auch aus sprachlichen Gründen. Eine überfällige Ergänzung und Korrektur!
Der Autor belässt es nicht bei der Konstruktion der Trias Teilhabe, Teilgabe, Teil-Sein, sondern bringt diese Dreiheit gleichzeitig als eine neue Grundlegung inklusiver Bildung ins Gespräch. Er möchte das triadische Konzept Teilhabe, Teilgabe, Teil-Sein „für eine grundlegende Klärung des inklusiven Bildungskonzepts“ (2017, 171) nutzen. Als das kleinste, elementare Element einer inklusiven Bildung werden „inklusive Momente“ angesehen: Die „Inklusiven Momente“ gelten „als der Kern einer inklusiven Bildungstheorie“ (2017, 183). Das neue Konstrukt „inklusive Momente“ wird mit einer Fallgeschichte anschaulich gemacht:
Sarah ist ein Kind mit Down-Syndrom, das in einer neunten Klasse der Mittelschule (Hauptschule) inkludiert ist. Sie hat den Frühstücksdienst übernommen. Dazu gehört das Abfragen der Frühstückswünsche aller Klassenmitglieder, das Einsammeln der Gelder, der Einkauf der Frühstücksliste beim Hausmeister, das Bezahlen der gesamten Kosten, das Verteilen der Einkäufe an die Mitschüler.
Diese Situation wird von Heimlich als „inklusiver Moment“ ausgelegt.
„Sarah ist in das Geschehen in ihrer Klasse miteinbezogen, indem sie eine Aufgabe im Rahmen der Klassendienste übernimmt (Erfahrung des Teilhabens). Zugleich kann sie mit ihren Fähigkeiten etwas in die Situation einbringen und den anderen einen Dienst erweisen, sie erfährt Wertschätzung durch ihre Mitschüler (Erfahrung des Beitragens). Teilhaben und Beitragen sind die beiden Seiten dieser Lernerfahrung, die Inklusion ermöglichen. Inklusive Momente im Bildungsprozess entstehen in solchen Lehr-Lern-Situationen, in denen teilhaben und beitragen für alle Schülerinnen und Schüler erfahrbar werden“ (Heimlich 2017, 178; kursiv im Original).
Unverkennbar scheint in dieser Fallgeschichte und ihrer Auslegung das triadische Konstrukt Teilhabe, Teilgabe, Teil-Sein wieder auf. Das Problem ist nun weder die Trias an sich noch das Konstrukt „inklusiver Moment“, sondern der hohe Geltungsanspruch. Der „inklusive Moment“ ist gleichsam das Atom aller inklusiven Prozesse und wird als Elementarteilchen zum basalen Urgrund, zum maßgeblichen oder gar alleinigen Fundament einer inklusiven Bildungstheorie erhoben.
An dieser Stelle beginnt sich Widerspruch zu regen. Die „inklusiven Momente“ als Urgrund und konstitutive Grundlage einer inklusiven Bildungstheorie anzusprechen, scheint mir überzogen. Die Trias Teilhabe, Teilgabe, Teil-Sein ist überfordert, das gesamte Universum inklusiver Prozesse und Situationen abzubilden. In der Inklusion gibt es gewiss die Akte des Gebens und Nehmens. Aber es bestehen erhebliche Zweifel, ob Teilhabe und Teilgabe wirklich den Kern inklusiver Situationen bilden. Inklusion ist weitaus mehr als Geben und Nehmen, als Beitragen und Teilhaben!
Ich konzentriere meine Kritik auf drei Einwände.
1. Die Dyade Teilhabe und Teilgabe rekonstruiert Inklusion als ein reziprokes, konfliktfreies und harmonisches Interaktionsgeschehen
Die komplementäre Handlungsdyade Teilhabe und Teilgabe bzw. Nehmen und Geben kann nicht als die gegenstandstypische, paradigmatische Handlungsstruktur inklusiver Prozesse und Situationen gelten. Als das kleinste, elementare Element, gleichsam als der atomare Kern von Inklusion wird das Konstrukt der inklusiven Momente eingeführt. Die inklusiven Momente befördern so, wie sie beschrieben und verstanden werden, nämlich als eine reziproke, komplementäre Interaktion von Teilhabe und Teilgabe, das fragwürdige Verständnis von Inklusion als eine Win-Win-Situation. Besonders im nichtwissenschaftlichen Raum wird Inklusion ja gerne in den schönsten Farben gemalt und als ein pädagogisches Arrangement beschrieben, von dem alle profitieren und das von allen Schüler*innen gleichermaßen als angenehm und erfreulich empfunden wird. Dieses sehr freundliche Bild von inklusiver Pädagogik ist ja durchaus sympathisch und einladend, aber es verfehlt wie auch das Konstrukt der inklusiven Momente den substantiellen Kern von Inklusion. Das innerste Wesen der Inklusion, des Pudels Kern sind nicht reziproke Austauschprozesse und harmonische Kooperation, sondern Diversität und Differenz. Diversität und Differenz wollen unter einen Hut gebracht werden, und just diese „Einigungen“ repräsentieren wesenhaft inklusive Prozesse und Situationen.
In der Inklusion kommen unterschiedliche Menschen zusammen, mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Befähigungen, Interessen, Weltsichten und Identitäten. Die beträchtliche Heterogenität inklusiver Gruppen lässt eher selten den Gedanken aufkommen, dass all diese verschiedenen Individuen ganz selbstverständlich zueinander passen und auch gänzlich unproblematisch miteinander leben und lernen können. Eher das Gegenteil ist der Fall. Es stellen sich regelhaft mehr oder minder große Zweifel ein, dass diese recht disparate Menge von unvergleichlichen und eigensinnigen Individuen jemals einen friedlichen Umgang miteinander pflegen und obendrein auch noch sich zu koproduktiven Lernprozessen zusammenfinden wird. Heterogene Gruppen neigen dazu, auseinanderzudriften, innerhalb des Kollektivs rivalisierende Untergruppen zu bilden oder sich in Einzelgänger und Sonderlinge zu separieren. Heterogenität trägt allemal die Tendenz zum Auseinanderfallen, zu Abspaltungen und Ausgrenzungen in sich. Die Gemeinsamkeit der Verschiedenen stellt sich jedenfalls keinesfalls von selbst ein. Die Aufgabe und die Kunst inklusiver Pädagogik bestehen darin, die zentrifugalen Kräfte heterogener Lerngruppen zu bändigen, die lauernden Konflikte zwischen den verschiedenen, nicht kompatiblen und mitunter gar aversiven Individuen in eine friedliche Koexistenz zu überführen und ein kooperatives Miteinander zu erzeugen. In der Sprache der integrativen Prozesse: Es geht darum, „Einigungen“ herzustellen zwischen Widersprüchen, Gegensätzen, Differenzen, Unterschieden. Diese „Einigungen“ sind der innerste Kern integrativer Prozesse und Situationen (Reiser u.a. 1986). Wenn Don Camillo und Peppone, ein katholischer Pfarrer und ein kommunistischer Bürgermeister, aufeinandertreffen, dann sind integrative Einigungen gefragt, ansonsten gibt es Krieg.
Inklusion ist keineswegs von vorneherein eine Oase des Friedens, ein himmlisches Paradies, eine Stätte der Beglückung und Freude. Ernst Ackermann hat derartige Vorstellungen einmal als „Inklusionskitsch“ bezeichnet (Geyer 2014). Inklusion fängt gerade dann richtig an, wenn es knirscht; wenn das Miteinander nicht gelingt; wenn der Eigensinn der Persönlichkeiten sich zu Wort meldet; wenn Begabungen, Motive, Interessen und Bedürfnisse aufeinandertreffen, die so gar nicht zueinander passen wollen. Die inklusive Wirklichkeit ist eben nicht einfältig, sondern voller Widersprüche, Antinomien, Dilemmata (Schweiker 2017). Sie hält alltäglich ein Füllhorn von Ecken und Kanten, Schwierigkeiten und Problemen bereit:
Alles in allem: Inklusive Verhältnisse sind weitaus weniger durch harmonische, komplementäre, reziproke Austauschprozesse gekennzeichnet als vielmehr durch unstimmige, diversitäre, dialektische Relationen. Das Bild komplementärer Austauschprozesse von Geben und Nehmen, Teilhaben und Beitragen verformt die volle Wirklichkeit inklusiver Prozesse und Situationen zur einer harmonischen und rundherum erfreulichen Veranstaltung. Es ist daher als paradigmatischer Repräsentant für Inklusion nicht geeignet.
2. Der inklusive Moment ist unpolitisch und macht vor der Strukturebene halt. Er ist systemaffirmativ und herrschaftshörig.
Abb. 1: Von inklusiven Momenten zu inklusiven Institutionen (Heimlich 2017)
Der inklusive Moment kapselt sich nicht in seinem atomaren Gehäuse ab, sondern entfaltet weitreichende Wirkungen. Das macht ja gerade seine Fruchtbarkeit aus, dass durch ihn „eine Wirkung für weitere Lernprozesse entsteht“ (2017, 173). Dieser ausstrahlenden Entfaltung des inklusiven Moments entsprechend werden dann auch „weitreichende Konsequenzen für ein inklusives Bildungssystem“ (Heimlich 2017, 183) angekündigt. Entsprechend schreitet der inklusive Moment Stufe um Stufe die Systemebenen hinauf (Abb. 1). „Gelingende inklusive Momente leiten über zu inklusiven Prozessen, aus denen inklusive Situationen hervorgehen, die schließlich inklusive Settings konstituieren. In inklusiven Institutionen ist uns wiederum daran gelegen, inklusive Momente zu verstetigen“ (2017, 181).
Abb. 2: Mehrebenenmodell inklusiver Schulentwicklung
Die inklusiven Momente scheinen indes auf der obersten Ebene der Schulstruktur gar nicht anzukommen, sondern verlieren und verflüchtigen sich vorher in diversen „inklusiven Settings“, Orten und Institutionen. Als äußerster Ring bzw. als oberste Ebene fungieren in dem Mehrebenenmodell „die externen Unterstützungssysteme“ (Abb. 2). Die Makroebene der Schulstruktur und der Schulformen, ein substantieller Bestandteil der ökosystemischen Sozialisationstheorie von Urie Bronfenbrenner, wird von dem Mehrebenenmodell konsequent ausgegrenzt. Auch das bayerische Kultusministerium verbreitet im Internet wie auch in diversen Schriften das beschriebene Mehrebenenmodell. Die Schulstruktur scheint dem Mehrebenenmodell zufolge ein tabuisiertes Areal zu sein, das sich im Alleinbesitz der bayerischen Staatsregierung befindet und für die Wissenschaft, erst recht aber für die Inklusion unzugänglich ist. Beim Aufbau eines inklusiven Bildungssystems muss die Schulstruktur nach bayerischer Lesart nicht entwickelt werden.
Da kommt Verwunderung auf: Haben die inklusiven Momente nicht „weitreichende Konsequenzen für ein inklusives Bildungssystem“ (2017, 183) versprochen? Auf diese kritische Nachfrage sind Wissenschaft und Kultusministerium in Bayern wohl vorbereitet und geben seit Jahren die ewig gleiche, monotone und standardisierte Antwort, die als bildungspolitische Doktrin zu gelten hat. Inklusion kann „an unterschiedlichen Orten im Bildungssystem und in der Gesellschaft stattfinden und sich in unterschiedlichen Umgebungen manifestieren“ (2017, 182). Mit anderen Worten: Inklusion kann und darf überall stattfinden, muss allerdings immer unterhalb des Makrosystems bleiben und darf nie und nimmer die Schulstruktur selbst tangieren. Die programmatische Losung der bayerischen Inklusionspolitik lautet: „Vielfalt der Lernorte!“ (Wocken 2020).
Während die inklusiven Momente am bildungspolitischen Grenzzaun der Schulstruktur ehrerbietig haltmachen, wird eine Diskussionsrunde der Erziehungswissenschaftler Ulrich Heimlich, Ewald Kiel und Rudolf Tippelt von der Universität München ein wenig deutlicher: „Wir brauchen Sondereinrichtungen“ (Tippelt /Heimlich 2020, 34). Die Gesprächsrunde befindet ferner, dass man sich „Bildung natürlich nicht so vorstellen darf, dass das alles in der gleichen Institution oder in derselben Institution geschieht“ (2020, 47).
Die rigorose Ausklammerung der Schulstrukturfrage und die Befreiung der Schulformen des gegliederten, bayerischen Schulwesens vom Auftrag, beim Aufbau eines inklusiven Schulsystems mitzumachen, kommt auch in dem „Studienbuch Inklusion“ (Heimlich /Kiel 2020) zum Ausdruck. Dort werden in dem Kapitel „Inklusives Schulsystem“ (!) folgende „inklusive Settings“ aufgeführt:
Die Schulformen Mittelschule (Hauptschule), Realschule und Gymnasium finden keinerlei Erwähnung, so als hätten sie mit Inklusion auch nichts zu tun. Fast alle genannten „Settings“ tragen schon im Titel das Attribut „sonderpädagogisch“. Man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus, wenn etwa Förderschulen oder Diagnose-, Stütz- und Förderklassen als „inklusives Setting“ deklariert werden.
Noch ein weiteres Mosaiksteinchen für die Ausblendung der strukturellen Verfassung des Schulsystems. Am Ende des Artikels „Inklusive Momente im Bildungsprozess“ (Heimlich 2017) findet sich ein wortwörtliches Zitat des Philosophen Julian Nida-Rümelin, der einer humanen Bildung den „Respekt gegenüber unterschiedlichen Lebensformen, Kulturen, sozialen und geographischen Herkünften“ abverlangt. Der zitierte Satz fährt dann unmittelbar fort: „Humane Bildung verzichtet auf Selektion“ (Nida-Rümelin 2013, 194). Dieser Satz wird schamhaft verschwiegen. Ein Zufall dürfte diese Auslassung wohl nicht sein. Die inklusiven Momente scheinen „weitreichende Konsequenzen für ein inklusives Bildungswesen“ (Heimlich 2017, 183) doch eher zu scheuen.
Schließlich: Der Bericht der Wissenschaftlichen Begleitung über den Start der bayerischen Inklusionsreform wurde ohne rationales Zaudern unter dem Titel „Inklusives Schulsystem“ (Heimlich /Kahlert /Lelgemann /Fischer 2016) veröffentlicht. Bayern hat also – nach Auffassung der bayerischen Erziehungswissenschaft wie der bayerischen Bildungspolitik – ein paninklusives Bildungswesen. Dazu passt, dass auch der renommierte bayerische Sonderpädagoge Otto Speck (2016) nicht mehr von einem gegliederten Schulwesen sprechen mag, sondern das real existierende gegliederte, separierende Bildungssystem schon hier und jetzt als ein „dual-inklusives Bildungssystem“ verstanden wissen will (Kritik: Wocken 2016b).
Der „Aufbau eines inklusiven Bildungswesens“ (BRK Art. 24) wird von der Wissenschaftlichen Begleitung konsequent auf die inklusive Entwicklung einzelner Schulen reduziert. Können Schulen sich zu inklusiven Einrichtungen entwickeln, wenn das überwölbende Schulsystem eine stringente separierende Ausrichtung hat?
Immerhin hat das bayerische Landesamt für Statistik die begrifflichen Vernebelungen nicht nachvollzogen. Es bestätigt mit nackten empirischen Daten, dass trotz der paninklusiven Anstrengungen in Bayern nicht – wie unter der Vorgabe der Inklusion eigentlich erwartet werden muss – weniger Schüler*innen Förderschulen besuchen, sondern im Gegenteil immer mehr Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Katakomben von separierenden sonderpädagogischen Einrichtungen verschwinden (Wocken 2020).
Eine Bildungstheorie sollte dem Erfordernis einer allgemeinen Gültigkeit genügen, der Ansatz der inklusiven Momente kann aber über Bayern hinaus kaum Geltung beanspruchen. Es ist schwer verständlich, dass eine ambitionierte Bildungstheorie die inklusionspolitische Programmatik der bayerischen Staatsregierung keiner kritischen Analyse unterzieht und sich ohne Vorbehalte und Einwände den bildungspolitischen Vorgaben des herrschenden Systems unterwirft. Muss man die inklusiven Momente als eine devote, herrschaftshörige Bildungstheorie einstufen? Von den inklusiven Momenten muss die herrschende bayerische Bildungspolitik jedenfalls keinerlei Kritik befürchten.
3. Den inklusiven Momenten mangelt es an Individualisierung und Personalisierung
Der letzte Einwand steht auf einem etwas unsicheren Boden. Es geht um einen herausragenden Grundsatz inklusiver Pädagogik, um das zieldifferente Lernen.
Inklusiver Unterricht hat Abschied genommen von der Norm der Gleichheit, die ja die Erkennungsmelodie des gegliederten Schulwesens ist: Gleiche Schüler, gleiche Ziele, gleiche Inhalte, gleiche Lernwege, gleiche Lernzeit, gleiche Ergebnisse (Wocken 2018). Das gegliederte Schulwesen ist ein System von Gleichheitsschulen: Homogene Schulformen, homogene Jahrgangsklassen, Lernen im gleichen Schritt und Tritt. Homogenität und Gleichheit sind der Nabel und das Rückgrat des gegliederten Schulwesens! Würde man der vorherrschenden Gliederung des Schulwesens nur ein einziges Element rauben, nämlich das Prinzip des zielgleichen Lernens, dann bräche das gesamte System wie ein Kartenhaus zusammen. Nicht allein die verschiedenen Schulformen, sondern auch Sitzenbleiben und Abschulungen könnte es nicht mehr geben. Und auch der allgegenwärtigen Hierarchisierung der Schüler*innen durch Noten, Tests und Zeugnisse fehlte jegliche legitimatorische Grundlage. Wollte man den substantiellen Unterschied zwischen einem inklusiven und separierenden Schulwesen mit möglichst knappen Markierungen beschreiben, dann wären die Gegensatzpaare Heterogenität versus Homogenität, Verschiedenheit versus Gleichheit, zieldifferentes Lernen versus zielgleiches Lernen geeignete und notwendige Bestimmungsmerkmale.
Ein inklusiver Unterricht ist auf das Prinzip des zieldifferenten Lernens unabdingbar und zwingend angewiesen. Das dürfte unmittelbar einsichtig sein. Lernschwache und kognitiv eingeschränkte Schüler*innen können schlichtweg nicht die geltenden Unterrichts- und Schulziele erreichen und sie können Stunde um Stunde, Tag für Tag nicht mit dem gleichschrittigen Lernen der „normalen“ Schüler*innen mithalten.
Wenn also das zieldifferente Lernen einen so überragenden Stellenwert in der inklusiven Pädagogik und Didaktik hat, müsste dann nicht dieses Prinzip auch in irgendeiner Form in einer inklusiven Bildungstheorie Einzug halten und dort einen prominenten Platz einnehmen? Ich bin mir freilich nicht sicher, ob die Bildungstheorie der richtige wissenschaftliche Ort für die Erörterung der konstitutiven Individualisierung inklusivpädagogischen Handelns ist.
Außer dem vorgetragenen pragmatischen Argument für die zwingende Notwendigkeit zieldifferenten Lernens können jedoch auch genuin bildungstheoretische Überlegungen ins Feld geführt werden. Es ist eine bleibende Einsicht der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, dass alle Bildung durch die Selbsttätigkeit eines lernenden Subjekts hervorgebracht wird. Maria Montessori hat das Kind als „Baumeister seiner selbst“ bezeichnet. Jedes Kind, ja jeder Mensch ist „Akteur seiner eigenen Entwicklung“ (Kautter u. a. 1998).
Der Bildungsbegriff muss person- und individuumbezogen gefasst werden, d.h. so, dass alle Menschen, auch Personen mit einer geistigen Behinderung (!), als gebildet gelten können! Jeder Mensch, der das geworden ist, was er seinem Vermögen gemäß werden konnte, hat sich gebildet und ist gebildet. Es ist ein ebenso traditionsreiches wie unausrottbares bürgerliches Missverständnis, Bildung mit hohen Schulabschlüssen, akademischen Titeln und vollen Bücherschränken gleichzusetzen.
Bildung ist ein höchst individuelles Geschehen. Aus bildungstheoretischer Sicht, die das Kind als Agens seiner Entwicklung sieht, ist es daher fragwürdig, alle Kinder den Lehrplänen gemäß gleichzuschalten. Schule sollte vielmehr auch dem Recht jedes Kindes auf seine eigene Bildung Raum geben durch eine ziel- und angebotsdifferente Pädagogik. Die heutige Schule praktiziert aber eher „gleiche Bildung für alle“ und ist aufgrund dieser Gleichmacherei inklusionswidrig. Zieldifferentes Lernen ist keine spezifische Forderung inklusiver Pädagogik, sondern immanent in dem Recht aller Kindes auf ihre je eigene Bildung begründet!
In neuerer Zeit unterstreicht insbesondere die konstruktivistische Erkenntnistheorie, dass die Aneignung von Wissen immer als eine höchst individuelle, aktive Konstruktionsleistung verstanden werden muss. Wenn also Bildung per se und von Grund auf immer schon eine subjektive, individuelle Tätigkeit ist, dann sollte auch schulisches Lernen mit einem hohen Grad an Individualisierung und Personalisierung einhergehen. Das könnte man als eine bildungstheoretische Fundierung des zieldifferenten Lernens ansehen.
Diese Einsichten sind auch dem Konstrukt der inklusiven Momente allzu bekannt und vollauf bewusst. Da ist zum Beispiel von „Selbstbildung des Einzelnen“ (2017, 175) und von der „selbsttätigen Auseinandersetzung“ (S. 178) die Rede, da wird die Einsicht hervorgehoben, „dass der ‚fruchtbare Moment‘ von der Selbsttätigkeit des Lernenden getragen wird“ (S. 173) und da findet auch das systemtheoretische Konstrukt der „Autopoiesis“ gebührende Erwähnung. Der Grundgedanke, Bildung als eine selbsttätige, individuelle Aneignung zu verstehen, ist also durchaus explizit und in gesättigter Form vorhanden. Nach meinem persönlichen Eindruck verliert sich dieses wichtige Moment von Bildungsprozessen dann aber im Verlaufe der Darstellung zunehmend. In der zentralen Definition „Inklusive Momente im Bildungsprozess entstehen in solchen Lehr-Lernsituationen, in den teilhaben und beitragen für alle Schülerinnen und Schüler erfahrbar werden“ (2020, 246) ist von der unabdingbaren Notwendigkeit einer Individualisierung und Personalisierung nicht mehr die Rede. Ich vermisse diesen Aspekt in dem Entwurf einer inklusiven Bildungstheorie. Wenn Bildung ganz konsequent als eine selbsttätige und individuelle Aneignung von Kenntnissen und Fähigkeiten zu verstehen ist, dann ist die inklusive „Didaktik der Vielfalt“ (Wocken 2016a) mit ihrem Herzstück „zieldifferentes Lernen“ theoretisch wohl begründet und gegenüber der vorherrschenden frontalen Unterrichtung von separierten, homogenen Lerngruppen deutlich im Vorteil.
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