Sven Bärmig:Betrachtungen zum Verhältnis von Gesellschaft, Arbeit und Bildung

Abstract: Wenn das, was mit der Rede vom inklusiven Arbeitsmarkt intendiert ist, verwirklicht werden soll, kann dies nur geschehen, wenn Arbeit als Lohnarbeit reduziert oder gar abgeschafft wird. Um diese These zu begründen ist es notwendig sich Gedanken darüber zu machen, was 1) der Begriff der Arbeit meint, 2) was Kapitalismus und Arbeit miteinander zu tun haben, weshalb 3) entfremdete Arbeit und 4) abstrakte Arbeit zu unterscheiden sind, 5) welche Aussagen zu aktuellen Arbeitsverhältnissen daraus resultieren und 6) welche Folgen dies für Bildung und Schule hat.

Stichworte: Arbeit, Bildung, Gesellschaft,

Inhaltsverzeichnis

  1. Arbeit - begriffliches
  2. Kapitalismus und Arbeit
  3. Entfremdete Arbeit
  4. Abstrakte Arbeit
  5. Arbeitsverhältnisse
  6. Folgen: für Arbeit und Bildung
  7. Literatur

Die Absicht der hier angestellten Erörterungen lassen sich in folgender These verdichten:
Wenn das, was mit der Rede vom inklusiven Arbeitsmarkt intendiert ist, verwirklicht werden soll, kann dies nur geschehen, wenn Arbeit als Lohnarbeit reduziert oder gar abgeschafft wird. Um diese These zu begründen ist es notwendig sich Gedanken darüber zu machen, was 1) der Begriff der Arbeit meint, 2) was Kapitalismus und Arbeit miteinander zu tun haben, weshalb 3) entfremdete Arbeit und 4) abstrakte Arbeit zu unterscheiden sind, 5) welche Aussagen zu aktuellen Arbeitsverhältnissen daraus resultieren und 6) welche Folgen dies für Bildung und Schule hat.
Als Ausgangspunkt lässt sich formulieren, dass Gernot Böhme 1999 in einem kleinen Text in der Wochenzeitung „Die Zeit“ das Festhalten an der Idee der Arbeitsgesellschaft und die Verweildauer in Bildungsinstitutionen als Zugehörigkeit zur Gesellschaft bezeichnete, die eine gesellschaftliche Spaltung offensichtlich macht. Je mehr Zeit in diesen Institutionen verbracht wird, umso mehr Teilhabe an der Gesellschaft. Von diesem Punkt aus, lässt sich dann fragen, ob es Zufall ist, wenn Menschen mit zugeschriebener Behinderung in Werkstätten für Menschen mit Behinderung, in Maßnahmen der Arbeitsagentur oder in überbetrieblichen Ausbildungsgängen landen oder gar keinen Job finden? Meines Erachtens ist das nicht ganz zufällig und will im Folgenden versuchen ein paar Gedanken dazu anzustellen, die im Sinne kritischer Theorie einen utopischen Charakter nicht ganz vermeiden können…

1. Arbeit - begriffliches

Im „Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik“ verweist Stefan Doose (2016) in seiner Charakterisierung des Arbeitsbegriffs auf 6 verschiedene Punkte:

Bei dieser Aufzählung haben 5 Punkte die Erwerbsarbeit zum Gegenstand, nur einer benennt einen eher allgemeinen Aspekt. Diese Einengung auf die Erwerbsarbeit, genauer noch Lohnarbeit, ist wenig verwunderlich. Die Fokussierung auf die Erwerbsarbeit ist eine eurozentristische Perspektive, die sich im 19. Jahrhundert entwickelte, wie Andrea Komlosy (2014) in ihrer sozialgeschichtlichen Darstellung schreibt. Arbeit hat in unterschiedlichen historischen Gesellschaften unterschiedliche Ausprägungen, je nach Stand von Mitteln und Können und auch das Spannungsfeld um den Wert von Tätigkeiten oder auch dem „Nichtstun“ bis hin zur „Faulheit“ wird immer wieder berührt. Sie schreibt, dass „vor der Festschreibung von Arbeit auf bezahlte Erwerbsarbeit im 19. Jahrhundert eine viel breitere Zuordnung zum Sprachfeld Arbeit existierte als nach der ökonomistischen Wende, mit der vieles, was ehedem selbstverständlich als Arbeit galt, aus der auf Erwerbsarbeit fokussierenden Kategorie ausgeschlossen wurde“ (Komlosy 2014, 37). So verweist auch Doose auf die vorhandene Kluft der Wahrnehmung von Tätigkeiten wie Hausarbeit, Sorgearbeit, die zusätzlich spezifische Geschlechtszuschreibungen erfahren und nicht als Erwerbsarbeit gelten (Verlan/Schnerring 2020, Moser/Pinhard 2010).
Arbeit ist etymologisch abgeleitet aus dem ahd. „arabeit“ und bedeutet Mühe, Plage. Damit wird auf eine seit der Antike vorhandene Doppelgesichtigkeit hingewiesen. Zum einen auf die Idee, sich von der Arbeit zu „befreien“, was zunächst für die Herrschenden und Reichen Privileg war und später (und aktuell vor allem durch den Marxismus) als gesamtgesellschaftliche Dimension begriffen wird (Arbeitsteilung, Maschinenarbeit statt gefährliche Arbeit für die Menschen). Nach Komlosy drückt sich die doppelte Perspektive auch in unterschiedlichen Wurzeln aus. Während „Ponos-labor“ für die angesprochene Mühe und den Zwang steht, ist die schöpferische, kreative Tätigkeit eher aus „ergon-opus“ abgeleitet, wofür technisches Wissen (techne) und künstlerische Fertigkeit (poiesis) gefragt war und ist, in einem Werkstück gipfelt, mit dem sich die tätige Person identifizieren kann. Komlosy (ebd. 44-47) stellt diese unterschiedlichen Wurzeln der Begriffe für insgesamt 8 Sprachen[1] in einer Tabelle dar, bei der es zusätzlich noch um die unterschiedlichen Begriffe auch für die Resultate von Arbeit und Werke und die Arbeitsverhältnisse geht. Die Spannung von Arbeit und Werk verschwindet nach Komlosy ebenso wie die Perspektive des Erleidens von Arbeit durch das Aufgehen des „opus“-Begriffs im „labor“-Begriff, was sie daran anschließend an Hand des Grimm’schen Wörterbuchs nachzeichnet (ebd. 47ff).
Mit Komlosy lässt sich daher festhalten, dass Arbeit als Begriff ein wahres Chamäleon ist, dessen Definition sich im historischen wie regionalen Kontext ändert. Arbeit bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Mühe und Leid auf der einen Seite und kreativer Verwirklichung auf der anderen. Erst die kapitalistische Rationalität hat Arbeit ihres Doppelcharakters beraubt und den Begriff auf produktive Erwerbsarbeit verengt. Damit wurde all jenen Formen der Arbeit, die unbezahlt in der Familie, im Haus und in der Selbstversorgung erbracht werden, der Charakter von Arbeitstätigkeit abgesprochen. Interessant ist also nach dem Zusammenhang von Arbeit und Tätigkeit, von Arbeit und Produktion zu schauen und allein mit dieser Perspektive lässt sich bereits nach gesellschaftlicher Strukturierung und deren Veränderungen fragen. Dass diese Verhältnisse ebenso wenig blindes wie nicht veränderbares Schicksal sind, sollte wenigstens festgehalten werden und das damit Hoffnungen und Begehren verbunden sind auch. „Die Verteilung von Arbeit und die Frage, was überhaupt als Arbeit angesehen wurde unterliegen starken Veränderungen. Daher wäre es falsch, von vornherein irgendein Arbeitsverhältnis auszuschließen“ (ebd. 11).
Die Arbeitssoziologin Sabine Pfeiffer stellt fest, dass ein soziologisch fundierter Arbeitsbegriff, der „aktuelle Phänomene der Entwicklung von Arbeit in ihrer Heterogenität, Widersprüchlichkeit und Ungleichzeitigkeit gleichermaßen theoretisch zu fassen in der Lage ist“ (Pfeiffer 2008, 1483), verschiedenes leisten müsste. Er müsste Reproduktions- und Produktionssphäre analytisch verbinden und empirisch anschlussfähig machen, unterschiedlichste Tätigkeiten und Formen von Arbeit bis hin zur ‚Abwesenheit‘ von Arbeit erschließen. Arbeit wäre dann nicht Gegenstand theoretischer Debatten, sondern anschlussfähig auch für soziologische Analyse und operationalisierbar für empirischen Zugriff. Es geht um einen Arbeitsbegriff, der „die Widersprüchlichkeit unserer Grundkategorie – als Natur unserer Arbeit – ernst“ nimmt. „Und ernst nehmen bedeutet, sie dialektisch zu fassen“ (Pfeiffer 2008, 1483), so Pfeiffer. Sie gibt weiterhin den wichtigen Hinweis, dass mit dieser dialektischen Option die Chance besteht, aus der immer wiederkehrenden Gegenüberstellung von anthropologisch begründetem ontologischem Arbeitsbegriff[2] und dem ökonomisch reduzierten Begriff der Erwerbsarbeit herauszukommen. So entfiele die „Unterstellung“ einer unveränderten „Natur“ von Arbeit und bietet mit der „Anerkennung der Veränderbarkeit der Natur von Arbeit“ (ebd.) die Möglichkeit, die Widersprüche von beiden Positionen aufzunehmen. Die daraus abgeleitete allgemeine Beschreibung lohnt sich ausführlich zu zitieren: „Zur Natur unserer Gesellschaft gehört zudem – und auch diese Erkenntnis verdanken wir Marx –, dass zwischen Arbeit als Natur des Menschen und Arbeit als Natur menschlicher Gesellschaft, sich ein anderer Zweck und Sinn von Arbeit (und auch von Natur) geschoben hat: Beiden ist die Warenform im wahrsten Sinne des Wortes zu einer zweiten Natur geworden. Die Existenz einer zweiten Natur aber bedeutet: die erste Natur – also die physische, organische, leibliche, naturhafte – ist nicht unwiederbringlich überlagert, sondern in ihrer gleichzeitigen Widersprüchlichkeit mitzudenken. Das Medium, über das Menschen all diese Unterschiede und Wechselwirkungen zwischen Arbeit, Natur und Gesellschaft in einem langen historischen Prozess erst herstellten, ist menschliche Arbeit. Und solange die Gattung Homo sapiens lebendig ist, bleibt der Mensch unweigerlich in diesen über seine Arbeit vermittelten Stoffwechsel mit der Natur verstrickt – Arbeit (in welcher immateriellen, technikvermittelten, wissensbasierten Form auch immer) bleibt Natur des Menschen. Anders kann er – der Mensch – nicht. Der Mensch aber heißt: nicht nur der Mensch ≫an sich≪, sondern auch Sie und Du und ich – jeder konkrete einzelne Mensch. Immer schon. Aber auch hier und heute. Jetzt. Und damit ist das bisher Gesagte nicht nur eine Frage von philosophischem Interesse, sondern: das gleichzeitig widersprüchliche Verhältnis von Arbeit, Natur und Gesellschaft ist eine soziologisch höchst relevante Tatsache“ (Pfeiffer 2008, 1484).
Damit ist ein Horizont aufgemacht, der die tätige Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, die in Gesellschaft geronnenen Produktionsverhältnisse (Strukturen) und die immer wiederkehrende Reflexion über die Natur des tätigen (arbeitenden) Menschen umfasst und den ich besonders auch im Hinblick auf die Arbeitsgesellschaft für wichtig erachte, die bspw. zu oft eine Anpassung der Menschen insgesamt aber noch viel mehr der Menschen mit zugeschriebener Behinderung fordert und Exklusions- und Segregationsprozesse hervorbringt und die im nächsten Kapitel beleuchtet wird.

2. Kapitalismus und Arbeit

2.1 Tätigkeit oder Arbeit?

Tätigkeit als allgemeiner Begriff kann nach Wolfgang Jantzen (2002) als menschliche Aktivität bezeichnet werden, bei der ein Objekt unter dem Aspekt der Bedürfnisbefriedigung wahrgenommen wird und die einen auf die Zukunft bezogenen emotionalen Gewinn verspricht. Der Gegenstand wird damit zu einem Motiv für die Tätigkeit, womit auch so etwas wie Denken als Tätigkeit gefasst werden kann (Jantzen 2002, 112). In der Tätigkeitstheorie, für die Jantzen hier steht, geht es darum, dass sich mit dieser/diesen Aktivität(en) die Persönlichkeit entwickelt, je nach Reichhaltigkeit der sozialen Umwelt und den individuellen Möglichkeiten, tätig zu werden. In diesem Sinne gilt es zu berücksichtigen, wie unterschiedlich tätig eine Person innerhalb ihres sozialen Zusammenhangs sein kann. Weiterhin lässt sich ein gewisses Licht auf unterschiedliche Tätigkeiten werfen, was bspw. für die Schule als Tätigkeit von Kopf, Herz und Hand oder als „Selbstverwirklichung“ im Beruf angesprochen ist.
Tätigkeit im Sinne von „Werken“ oder „Arbeiten“ könnte mit Mihailo Marcovic (1967) folgendermaßen charakterisiert werden: 1. Eine bewusste und zweckmäßige Veränderung der vorgefundenen Gegenstände. 2. die Grenze der Produktion (eines Dings) wird dahingehend überwunden als Tätige*r sich selbst zu entfalten und dabei auch immer wieder neue Dinge zu (er)finden. 3. als gesellschaftliches Verhältnis befriedigt sie nicht nur das eigene Bedürfnis, sondern auch die Bedürfnisse anderer. Letzteres ist nur selten der Fall – in spezifischer Handwerkertätigkeit beim Herstellen von Tischen oder der Sorgearbeit -, tendenziell aber in ihr angelegt. Das beschreiben auch Oskar Negt und Alexander Kluge (1993), die den Arbeitsprozess zunächst unabhängig von kapitalistischen Interessen als „‚zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse (Marx)“ beschreiben. Erst daraus abgeleitet, begreift Marx ihnen zufolge „den Arbeitsprozess als einen Konsumtionsprozeß der Arbeitskraft unter bestimmten organisatorischen Bedingungen“ (Negt/Kluge 1981, 843): Den Bedingungen kapitalistischer Produktions- bzw. Wirtschaftsweise.
Aber die „menschliche Arbeit insgesamt hat, infolge einer Reihe historischer Bedingungen, noch immer keinen menschlichen Charakter“ (Marcovic 1967, 179), was vor allem gesundheitliche Aspekte betrifft. Nach Marcovic liegt das an folgenden Punkten: 1. die Erhöhung der Arbeitsproduktivität führt zu einer Arbeitsteilung und damit zu einer Teilung der Gesellschaft, in Polarisierung von physischer und geistiger Arbeit. 2. Es herrschen Bedingungen, Profit zu erwirtschaften und die Bedürfnisse von wenigen zu befriedigen und nicht von allen, vor allem aber nicht die eigenen Bedürfnisse. 3. Die Struktur der Produktionsverhältnisse zerfällt so, dass der Produzent vom Gegenstand getrennt wird. Diese Entäußerung ist nicht irgendeine, sondern das hergestellte Produkt wird zu einer eigenständigen Macht, die auch den Produzenten als Nutzungsgegenstand behandelt. Anders formuliert, die Tätigkeit als Arbeitskraft wird ebenso wie die produzierten Dinge zur Ware und dies insofern, als in dieser Struktur (Produktionsverhältnissen) Herrschaftsmechanismen existieren, bei der die Arbeit ausgenutzt (Aneignung der Mehrarbeit) werden kann. Tätigkeit wird zur Lohnarbeit und in ein entsprechendes Verhältnis der Menschen (zwischen sogenannten „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“ aber auch als Konkurrenz um einen Arbeitsplatz zwischen den „Arbeitnehmern“) untereinander verwandelt. Hinzutreten müssen nach Michael Heinrich folgende Bedingungen. Es muss Menschen geben, die sich als „Arbeitskraft“ zur Verfügung stellen (können/müssen) und die selbst keine Produktionsmittel besitzen, da sie ja damit selbst Dinge produzieren könnten. So werden in der marxistischen Beschreibung die Arbeitenden als „doppelt freie Lohnarbeiter“ gefasst: Die Freiheit von der Leibeigenschaft und die Freiheit von Besitz an Produktionsmitteln (Heinrich 2005, 88). Daraus ergeben sich Klassenverhältnisse des Besitzes bzw. als Stellung zu den Produktionsmitteln, die nicht mehr so sehr auf personellen Herrschaftsmechanismen beruhen, sondern in einem eigenartigen Tauschverhältnis (Arbeitskraft gegen Lohn). Klasse ist, dies nur als kurze Bemerkung, also weniger Bewusstseinskategorie wie Adorno immer wieder betonte (Adorno 2003) und dabei vor allem auch auf den ungleichen Tausch zwischen Arbeitskraft und Lohn, Macht und Einfluss hinwies. Unter der Überschrift "Von der funktionellen Integration zur sozialen Desintegration" beschreibt Andre Gorz die Veränderungen der Arbeitswelt hinsichtlich der Arbeitsteilung als Funktionalisierung, wobei Arbeit als etwas aufgefasst wird, deren Zweck von außen gesetzt ist (s.o). Dabei haben Fähigkeiten, Leistung, Funktion die Ehre abgelöst. Aber: „Ich mag allseitige Eigenschaften haben – sofern sie an der Stelle, an der ich arbeite oder in Gesellschaft zu sein beanspruche, nicht dem Leistungsprinzip genügen, werde ich ausgeschlossen. Die Selbsteinschätzung oder das Wissen, dass ich auf anderen Gebieten etwas kann, hilft da nichts“ (Negt/Kluge 1993, 127).
Funktion und Bedeutung des Kapitals als Institution regeln nun den strukturellen Zusammenhang zwischen den einzelnen Individuen, die allerdings weniger als Menschen, denn als Funktionsträger spezifischer Leistungen begriffen werden. Das verweist erneut auf die historische Bedingtheit der Analyse, denn erst ab einem bestimmten Niveau der Arbeitsteilung kann diese Funktionalisierung erfolgen und ist schwer wieder rückgängig zu machen. Leistungsnormen, Arbeitszeitregelungen, vorgegebene Verfahren lassen danach lediglich eine Autonomie in der Arbeit zu. Die Konsequenz daraus, der „Fachmensch ohne Geist“ gleicht einem „bornierten und unverantwortlichen Spezialisten“ (Gorz 1994, 121), der lediglich im Dienst ist, im seltenen Falle tätig[3]. Ich komme darauf zurück, aber diese kurze Beschreibung verweist deutlich auf das, was der Begriff Entfremdung anspricht.

2.2 Kapital

Die Veränderung der je konkreten Tätigkeit in Lohnarbeit wurde bereits mehrfach angedeutet. Im Folgenden geht es darum, „dass der Arbeit im Kapitalismus auf historisch spezifische Weise einer Form gesellschaftlicher Vermittlung zugrunde liegt, die jene Gesellschaft wesentlich charakterisiert“ (Postone 2013, 375). Gemeint ist damit nicht, so Moishe Postone, dass materielle Produktion ganz allgemein die wichtigste Dimension dieses Lebens darstellt oder auch nur des Kapitalismus. Nach Georg Fülberth (2005), verbirgt sich dahinter die Frage, ob Kapitalismus Wirtschaftsweise oder Gesellschaftsform ist, seit Beginn kapitalistischer Wirtschaft im 16. Jahrhundert bis heute Diskussionsgegenstand. Insbesondere das Verhältnis von Staat, der als gesellschaftliche Struktur auch erst in Folge dessen entsteht, und Wirtschaft ist damit anvisiert und dessen Regulation über den Markt als aktueller universeller Strategie (Marktwirtschaft). Auch wenn das hier nur angerissen werden kann, lässt sich an Hand der Umstrukturierungen des Sozialstaats (vgl. Butterwegge 2005), der Universitäten oder auch der Wirtschaft selbst zeigen, dass dieses Verhältnis komplex und auch undurchsichtig ist, was wiederum an Hand des „Lobbyismus“[4] gezeigt werden kann. Denn es ist zu sehen, dass immer mehr Bereiche der Gesellschaft unter den regulatorischen Vermittlungen eines „Marktes“ gestellt werden[5], der jedoch keineswegs der alltagsweltlichen Vorstellung eines Wochenmarktes entspricht. Es ist deshalb eminent wichtig, ökonomisches Denken nicht außen vor zu lassen, da es sonst „stillschweigend“ durch die Hintertür wiederkehrt, häufig genug zu wenig wahrgenommen. Es ist also notwendig Gesellschaft und Wirtschaft nicht in Eins zu setzen, ihr Verhältnis zu erfassen, damit verstanden werden kann, wenn bspw. ökonomische Motive eine Rolle spielen.[6] Karl Marx nannte dies „Kritik der politischen Ökonomie“, weil es um die politischen Verhältnisse geht (Füllberth 2005, Heinrich 2005), die das Verhältnis von Wirtschaft und allgemeinem Leben betreffen, was sich sicherlich auch aktuell in der Corona-Pandemie bspw. an der der populär gewordenen „Systemrelevanz“ [7]zeigt. Wie der Staat reguliert, ob bspw. sozialdemokratisch-egalitär oder rechtspopulistisch ist damit eine entscheidende Frage, so Castel/Dörre (Castel/Dörre 2009, 384). Der Staat stellt den äußeren Rahmen und ist selbst von dieser ökonomischen Regulierung nicht frei, was sich an der Steuerbelastung des Staates selbst immer wieder zeigt. Wenn Menschen trotz Arbeit nicht mehr aus der Armut herauskommen, der Staat als Regulationsinstanz – als „aktivierender Staat“ (Vogel 2004) der Flexibilität und Anpassungsbereitschaft fordert –  Druck auf die Arbeitslosen ausübt und gleichzeitig die Ersatzleistungen anders strukturiert (Bsp. Hartz IV), dann sind das beachtenswerte Folgen (Nachtwey 2016). Mit den Begriffen Neoliberalismus, Globalisierung und Deregulierung lässt sich das recht abstrakt und vereinfacht fassen (Altvater/Mahnkopf 1996, Atzert/Müller 2004), kann hier nur angerissen werden. Franco Berardi formuliert bspw. hinsichtlich Deregulierung sehr scharf: "Deregulierung bedeutet nicht etwa, dass sämtliche gesellschaftlichen Regeln aufgehoben sind, alles andere als das: Deregulierung bedeutet vielmehr, dass allem menschlichen Handeln die monetäre Herrschaft aufgezwungen wird. Und die monetären Regeln sind in der Tat das Zeichen von Verhältnissen, die auf Macht gründen, auf Gewalt und auf militärischem Missbrauch[8]" (Berardi 2019,168).
Für Moishe Postone sind Kapital und Arbeit die zentralen Begriffe zur Beschreibung der Struktur des Kapitalismus, für die es notwendig ist auf marxistische Positionen zurückzugreifen (Postone 2013)[9]. Mit Kapital lässt sich dabei eine Struktur beschreiben, die als abstrakte Funktionalisierung, wie mit Gorz bereits angesprochen, eine indirekte Herrschaft entstehen lässt. Sie ist konkreter als Produktionsverhältnis (Erwirtschaftung von Profit unter spezifischen Eigentumsverhältnissen an Produktionsmitteln und innerhalb einer spezifisch politisch regulierten Struktur) erlebbar, welches sich auf die Arbeitsverhältnisse auswirkt, die eben keineswegs automatisch auf Humanisierung zusteuern, sondern spezifische soziale Vermittlungsverhältnisse ergeben. Sie sind damit nicht zufällig, sondern logisch aus dieser Struktur der Produktionsverhältnisse ableitbar und Ergebnisse des Kampfes der Arbeitenden um Anerkennung und für die Humanisierung ihrer Arbeitsbedingungen. Funktionalisierung als ein Effekt gesellschaftlicher Arbeitsteilung führt dazu, dass gesellschaftliche Teilhabe mit der Möglichkeit der Funktionswahrnehmung – in soziologisch systemtheoretischen Termini, welche Rollen (Funktionsrollen, Publikumsrollen) ich wahrnehmen kann - und mit spezifischer Leistung (für die Gesellschaft?) für geleistete Lohnarbeit verknüpft wird (Scherr 2004). Insbesondere wenn die Lohnarbeit das Einzige ist, was eine Person hat um sich den Lebensunterhalt oder ein Leben neben der Arbeit zu sicher. Daraus wird gefolgert: Wer keine Funktion (Arbeit) hat, keine Leistung erbringt, soll sich bescheiden bis hin zum Verunmöglichen der Sicherung des Lebensunterhalts oder gar der Daseinsberechtigung (?), was sich immer wieder in der Diskussion um die „Unproduktiven“ oder „Überflüssigen“ in der Gesellschaft zeigt.[10] Ausnahme ist der Besitz von Geld oder bestimmten Gütern wie Immobilien. Zu bedenken ist dabei: Nur Lohnarbeit garantiert Mehrwertproduktion, also Profit, weil nur Arbeitskraft mehr Wert schafft als sie selbst kostet (Heinrich 2005, 12f). „Arbeitskampf“ ist der Interessensausgleich zwischen sogenannten Arbeitgebern und Arbeitnehmern, genauer um die Höhe des Lohns, den es in unterschiedlichen Formen gibt und der sich bspw. in den westlichen Industrieländern als „Sozialpartnerschaft“ institutionalisiert hat. Allerdings ist der Lohn nicht das Einzige, was sich verändern lässt. Partizipation an der Arbeitsorganisation oder demokratische Kontrolle dieser lassen sich ebenso denken, sind aber nach Joachim Beerhorst vergessen (Beerhorst 2004, 365).
Grundlage der Analyse der wirtschaftlichen Verhältnisse sind also historische gesellschaftliche Prozesse. Historisch spezifisch heißt unter anderem, dass Verteilung von Arbeit und Produkten/Produktion nicht von traditionellen Macht- und Herrschaftsbeziehungen, wie noch im Feudalismus durch das Lehnswesen, bestimmt wird und das gesellschaftliches Leben nicht allein die Wirtschaft betrifft. Für Postone ist vielfach die Kritik vom „Standpunkt der Arbeit“ aus zu einfach, weil dies die Logik der gesellschaftlichen Verhältnisse verkennt und damit die bereits angesprochene „Natur der Arbeit“ mit der „Natur des Menschen“ gleichsetzt. Sie wurde oft auch als Grundlage der Exklusion von Menschen benutzt oder als Überhöhung zum Arbeitsideal, wobei beide Argumentationen spezifische Tätigkeiten (geistige vs. körperliche) gegeneinanderstellten. Lutz Raphael (Raphael 2020) hat ein neues Interesse an der historischen Erforschung des Kapitalismus konstatiert und darauf hingewiesen, dass in einer struktur-funktionalistischen Perspektive ein Gewinn gegenüber den Debatten über die anthropologischen Grundlagen der Menschen zur Arbeit liegt. Daraus folgend kann eine Sozialgeschichte entstehen, die nachvollziehbar macht, welcher Begriff von Arbeit in einer historischen Epoche vorherrscht, wie bei Pfeiffer und Komlosy bereits angedeutet.
Die Abhängigkeiten, Interdependenzen wie Postone das bezeichnet, sind also sehr komplexe Weisen der Aneignung der Produktion und verlangen eine bestimmte Form der Praxis, in marxistischer Terminologie: Produktionsverhältnisse. Arbeit und Kapital hängen in einer spezifischen Weise miteinander zusammen und dieses sehr spezielle Verhältnis lässt bspw. Arbeit zu einer Ware werden und einen Arbeitsmarkt entstehen, bei dem sich die Arbeitenden in Konkurrenz untereinander um die Jobs streiten. Einen wichtigen Hinweis geben Oskar Negt und Alexander Kluge, wenn Sie auf den in der Produktionsweise selber begründeten Schein, „dass die herrschende Klasse die einzig produktive der Gesellschaft“ (Negt/Kluge 1992, 103) und damit alleiniges organisierendes Zentrum der Produktion sei, verweisen. Die gesellschaftliche Form der Arbeit erscheint so als Entwicklungsform des Kapitals, nicht mehr die Produktion von Gebrauchswerten bzw. Aneignung von Natur. Aber: Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ist noch immer existent, denn der Profit ist noch immer das Motiv für die Kapitalbewegung (das Kapital) und damit der Produktion, weniger die Bedürfnisse der Menschen. Heinrich schreibt, dass diese Bedürfnisbefriedigung nur ein Nebeneffekt ist, wenn er sich mit der Kapitalverwertung deckt (Heinrich 2005, 84)[11].
Hier ergibt sich eine als „Realabstraktion“ bezeichnete Verkennung der gesellschaftlichen Realität, da die Menschen „im wirklichen Leben“ etwas vollziehen, „unabhängig davon, ob sie dies wissen oder nicht“ (Heinrich 2005, 47). Das tägliche Arbeiten als Lohnarbeit verdeckt die Möglichkeit der Veränderung, das es auch anders sein könnte, weil die Verhältnisse ja von Menschen gemacht sind und daher auch von Menschen verändert werden kann. Das ist auch deshalb bedeutsam, weil so wieder ins Bewusstsein gerückt werden kann, dass die Rede von den „Klassenkämpfen“ (Marx/Engels) weniger antiquiert klingt, sondern einen realen Kern offensichtlich macht. Der Kampf um die Produktionsverhältnisse bleibt solange aktuell, solange Verhältnisse herrschen, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx/Engels Grundrisse, 385). Postone verweist zurecht darauf, dass Marx das Wesen des Kapitalismus versucht zu erfassen, nicht das Wesen der menschlichen Gesellschaft (Postone 2013,).
Negt/Kluge schreiben deshalb weiter: „Die Entleerung des einzelnen Arbeitsvermögens geht einher mit der wachsenden Synthetisierung der gesellschaftlichen Arbeitskraft, die nicht mehr als einzelne existiert, sondern zunehmend nur als Gesamtarbeiter. Der Gesamtarbeiter, die Gesellschaft als ein großes Atelier, ist Ausdruck der Entfaltung der gesellschaftlichen Kräfte des Arbeiters, ohne ihm jedoch eine Identität in seinen gesellschaftlichen Funktionen geben zu können“ (Negt/Kluge, 1992,106). Auch wenn die Wirtschaftsweise keine allumfassende gesellschaftliche Strukturierung bedeutet, so hat sie doch entscheidenden Einfluss auf die Lebensverhältnisse und steht deshalb auch im Mittelpunkt. Aber das Zitat verweist auf einen weiteren Zusammenhang: Die Synthetisierung der Arbeitskraft ohne Identität zeigt, dass die allgemeingültige Rede vom Job durchaus angemessen ist. Mit diesem Hinweis wird etwas relevant, was bei Marx als „Entfremdung“ gefasst wird.

3. Entfremdete Arbeit

Mit Ingo Elbe will ich ausgehend von Marcovic`s Beschreibung die Trennung und Entäußerung der Menschen und der Tätigkeiten noch weiter beschreiben. Damit wird dann auch ersichtlich, dass diese so bezeichnete Entfremdung nicht als naturhaft begriffen werden darf, sondern als historisch bedingt in der Arbeitsteilung bzw. Funktionalisierung von Tätigkeiten als Lohnarbeit, die auf der zugeschriebenen Leistungsfähigkeit der Individuen verweist, die nichts weiter haben als ihre Arbeitskraft.

Gerade in dieser Hinsicht ist die Unterscheidung in entfremdete Arbeit und die noch zu erörternde abstrakte Arbeit wichtig, weil die Entfremdung nicht nur negativ ist, tendenziell ja in allen Tätigkeiten einer gewissen Qualität der Produktivkräfte, also der Möglichkeiten zur Arbeitsteilung, angelegt ist. Dazu gehört auch, diese Arbeitsteilung nicht zu verteufeln, weil sich gerade aus ihr die Perspektive der Abschaffung von Arbeit gewinnen lässt, kein romantisches Zurück zu einer manuellen Produktion gemeint ist. Nach Elbe sah bereits Marx diese Perspektive der Entfaltung und Realisierung der Potentiale einer Person. Er (Marx) ist dabei liberal im Sinne von Freiwilligkeit für diese Entfaltung und er ist egalitär, weil in der Perspektive der Abschaffung von Arbeit eben die Entfaltung kein Privileg und keine Belohnung in einem konkurrenzförmigen Wettrennen darstellt. Darüber hinaus geht es um eine Dynamik, die keine Tätigkeitsform als höchste, im Wesen des Menschen angelegte auszeichnet, sondern dies immer wieder als Frage aufwirft (Elbe 2015, 8). Wenn ein Computer schneller zählen oder rechnen kann als ein Mensch oder eine Maschine schwere Dinge anheben kann, weshalb sollte das nicht genutzt werden?
Die Gleichgültigkeit gegenüber den Gegenständen betrifft jedoch auch die Kooperation bei der Arbeit, denn die Zusammenarbeit ist keine gelebte Beziehung, da keine selbstgesteuerte Zusammenarbeit, sondern ist ebenso bloßes Mittel zum Zweck. Die einzelnen Arbeiter treten in ein Verhältnis zum Kapital (Kapitalisten) nicht gegenüber anderen Einzelnen bzw. ihnen gegenüber sogar eher als Konkurrenten, die sich potentiell die Tätigkeit streitig machen. Letztlich hat der Arbeiter nur durch das Kapital seine Existenzmöglichkeit ([13]siehe Negt/Kluge oben). Als Konsequenz daraus beschreibt Gorz, dass es unmöglich ist, diese Funktionalität fremdbestimmter Tätigkeiten im Nachhinein wieder als freiwillige soziale Zusammenarbeit zu übersetzen[14]. Stattdessen trifft das Gegenteil zu: „die funktionale Integration der Individuen wird ihre soziale Integration ausschließen. Ihre funktional vorgeschriebenen Interaktionen verbieten es geradezu, kommunikative Beziehungen wechselseitiger Hilfe zu knüpfen, die auf die Zusammenarbeit für gemeinsame Ziele nach gemeinsamen Kriterien gegründet sind; sie machen es ihnen unmöglich, die Erfüllung ihrer Aufgaben als lebendige Zusammenarbeit und als Gruppenzugehörigkeit zu erleben" (Gorz 1994, 68). Eine "organische Solidarität", wie sie idealerweise beschrieben oder unterstellt wird (so bei Honneth 2008), besteht so nur auf dem Papier. Die Arbeit ist eher eine "Organisation militärischen Typs" (Gorz 1994, 68) als Befehl und Gehorsam mit der beständigen Drohung der Entlassung verbunden (Vogel 2004). Eine Motivation zur Arbeit kann deshalb eigentlich nur außen liegen, in der Freizeit, im Konsum, was durch den Lohn realisiert wird.
Für die Anerkennung dieses Zusammenhangs, und das ist eminent wichtig auch für die Perspektive der Reduzierung von Arbeitszeit, ist ein gesellschaftlicher Reichtum notwendig, der diesen Konsum als Ersatz für freie Zeit möglich macht. Gemeint sind damit u.a. eine Infrastruktur wie Straßen, Medien, die alle nutzen, (Pop)Kultur, die alle erreicht, ganz gleich ob als Sitcom, Fußball oder Netflix-Serie, scheinbar unendliche Konsum- oder Freizeitmöglichkeiten usw. und die Akzeptanz dieser Angebote durch die Arbeitenden – wenn es also die Arbeitenden vorziehen mehr zu verdienen als weniger zu arbeiten etwa[15]. Diese individualisierte, persönliche Verfahrensweise führt neben der Verhinderung der Solidarität bei der Arbeit zu einer individualistischen Sicht auf die Probleme des Alltags.[16] "Entfremdung bedeutet in diesem Kontext das Zerreißen der 'Gattungsbande des Menschen (...) in eine Welt atomistischer, feindlich sich gegenüberstehender Individuen (MEW)" (Elbe 2015, 18). Elbe bezeichnet dies als „subjektive Vergleichgültigung“, denn alle sind diesen Bedingungen der Entfremdung unterworfen, ob sie das wollen oder nicht[17]. Entfremdung ist damit allgemein, da Arbeit nicht mehr direkte Subsistenzquelle des Produzenten, sondern Erwerbsquelle, Mittel zum Zwecke des Kaufs von Waren, ganz gleich ob als Besitz von Dingen, als Lebensmittel oder als Kultur. Diese Relation wirft das Verhältnis der Produkte als Waren auf, die einem Wert entsprechen. Sie werden zum Mittel des Tauschs erworben. Das Privateigentum bezieht sich darauf, welche Waren getauscht werden können, andere Individuen kommen in mein Blickfeld oftmals nur, wenn sie Waren oder auch Fähigkeiten haben, die ich benötige oder zu benötigen glaube[18]. "Menschen existieren im Kapitalismus nur, 'insofern sie sich wechselseitig zum Mittel' (Marx) werden" (Elbe 2015, 17). Lohnarbeit konstituiert letztlich ein Verhältnis der Gleichgültigkeit des Arbeiters zu seinem Gegenstand und seiner Tätigkeit, weil sie ein rein äußerlicher Zwang und bloßes Mittel der Selbsterhaltung ist. Die konkrete Qualität der Arbeit wird dem Arbeiter zunehmend gleichgültig, weil sie unattraktiv und lediglich Mittel zum Zweck des Gelderwerbs wird, schlicht austauschbar (gegen jede beliebige andere oder besser bezahlte) wird. "Zudem lassen es nicht nur Charakter und Zeitumfang der entfremdeten Arbeit kaum zu, dass der Arbeiter außerhalb der Arbeit seine menschlichen Potentiale entfalten könnte. Auch die Abtrennung einer Sphäre der selbstbestimmten Konsumtion von der fremdbestimmten Produktion lässt die Freizeit zu einer Sphäre rein kompensatorischer Fähigkeiten mutieren, deren bescheidener Anteil von Selbstverwirklichung und Autonomie, wenn er von meist fremdbestimmt agierenden Akteuren überhaupt genutzt werden kann, niemals auf die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenhangs übergreift, die schon von den entfremdeten Mächten Geld und Kapital bewerkstelligt wird" (Elbe 2015, 9).
Daraus folgt nach Elbe bei Marx also eine Entfremdung vom Gattungswesen, da eben nicht die Potentiale oder die Bedürfnisse des Menschen als sozialem Wesen, der aus anderen Menschen gemacht und auf andere verwiesen ist, im Mittelpunkt stehen. Marx, so Elbe, "formuliert eine Kritik an der Trennung von dispositiver[19] und exekutiver Tätigkeit im kapitalistischen Arbeitsprozess, an der Reduktion des Menschen, vor allem des Proletariers, auf eine quasi-animalische Nischenexistenz hochspezialisierter und fremdbestimmter Tätigkeit, zumal zu Zwecken, die nicht einmal mehr auf die Entwicklung der menschlichen Kultur von Seiten der arbeitsenthobenen Herrschenden zielen" (Elbe 2015, 12). Noch etwas ist wichtig. Tauschwert- und besitzorientierte Vergleichgültigung gegenüber den Gebrauchswerten und ihrer wirklichen Aneignung ist eine allen Akteuren aufgezwungene Handlungsorientierung und daher ist der "Austausch", gemeint ist der Ersatz von Person A durch Person B, von Individuen in einem kapitalistischen System keine Lösung zur Überwindung, sondern eher ihr Erhalt. Es liegt also nicht an der individuellen Maßlosigkeit, wenn nur der Profit gesehen wird, sondern am System. Auch der Kapitalist, und dies ist keine Entschuldigung, sondern Erklärung fürs Handeln, ist lediglich auf Grund des Eigentums an Kapital oder Produktionsmitteln (Fabriken und Maschinen) in dieser Position. Es sind die strukturellen Bedingungen, die dem Kapitalisten die Macht verleihen, die, das sollte dabei nicht vergessen werden, sehr beträchtlich ist[20]. Sie könnten durch gemeinsamen „Besitz“ verändert werden.[21] Damit einher gehen auch auf Seiten der Besitzenden Gleichgültigkeit gegenüber den Gegenständen. Denn wenn man Dinge besitzt, heißt das nicht, dass man mit ihnen etwas anfangen kann. Die Verfügungsgewalt ist abstrakt, weil sie nur potentiell ist, aber sie ist tendenziell maßlos. Habsucht ersetzt Genusssucht, selbst der Genuss des Kapitalisten ist dem Kapital untergeordnet. Diese Maßlosigkeit tilgt auch noch den Genuss, der sich in historisch früheren Zeiten als Reichtum äußerte: Macht der Besitz von Milliarden oder 20 Goldringen glücklicher? Aber es rückt etwas in den Blick, was die Perspektive erweitert: abstrakte Arbeit.

4. Abstrakte Arbeit

Ein Leben ohne Arbeit, selbst wenn es die stupidesten Tätigkeiten sind und obwohl dies ja in der Antike sehr wohl als Ausdruck von gutem Leben galt, ist für viele schwer vorstellbar. Alles ist auf Arbeit, zunächst ja allgemeines Prinzip der Naturaneignung, genauer noch auf Lohnarbeit ausgerichtet (siehe oben). Konkrete Arbeit ist jener Aspekt der Arbeit, der unter dem Einsatz von Werkzeug einen Rohstoff in einen Gegenstand mit einem spezifischen Gebrauchswert umwandelt. Abstrakte Arbeit dagegen ist der imaginierte Wertmaßstab des Aufwands zur Herstellung, „das energetische Maß der Verausgabung der Arbeitskraft in einem Arbeitsprozess, es entspricht dem physikalischen Begriff der Arbeit. Bei Einsatz von Energie wird durch die physikalische Arbeit (unter Freisetzung von Wärme) ein Ding in ein anderes umgewandelt. Vergleichbar verlangt die Herstellung eines jeglichen nützlichen Gutes nicht nur Arbeitsmittel (Werkzeuge), die ihm entsprechen, die seinen Gebrauchswert als nützliches Gut schaffen, sondern auch einen energetischen Durchsatz (Anstrengung des Arbeiters) bei seiner Produktion, der seinen Wert als tauschbares Gut schafft“ (Jantzen 2004, 254). Konkrete und abstrakte Arbeit unterliegen einem spezifischen Verhältnis. Beide lassen sich nicht getrennt voneinander betrachten, weil die Grundlagen gesellschaftlichen Lebens durch Arbeit in Produktionsverhältnissen (Recht, Staat, Kultur), „materielle Produktion als Selbstentwicklungsprozess der Menschen selbst“ (Jantzen 1992, 19) erfolgt[22]. Inbegriffen ist also auch ein Bildungsaspekt der die gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse mit begreift.
Mit der abstrakten Arbeit ist ein Maßstab für den Tausch gegeben, der sich über Geld realisiert. Nach Berardi sieht Marx damit die Arbeit schlicht „als Produzent von Tauschwerten und also auf die Arbeit als reiner Verteilung von Zeit, die sich in Wert materialisiert (...) Mit dem nützlichen Charakter der in ihnen dargestellten Arbeiten, es verschwinden also auch die konkreten Formen dieser Arbeiten, sie unterscheiden sich nicht länger, sondern sind allesamt reduziert auch gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit" (Marx, hier aus Berardi 2019, 55). Berardi verweist mit der abstrakten Arbeit auf den Zusammenhang von Vergleichgültigung und Entfremdung, die bei Elbe und Gorz als äußere Zwecksetzung angesprochen wurde. „Die banale Tatsache, dass unser in die Form der Zeit geronnenes Handeln Objekte produziert, die einen ganz konkreten Nutzen besitzen, ist vom Standpunkt des Kapitals aus alles andere als interessant. Das Kapital ist nicht an der Tatsache interessiert, dass die in Arbeit investierte Zeit schöne Schuhe produziert oder Töpfe, mit denen sich Kartoffeln kochen lassen. Das Kapital ist daran interessiert, mittels dieser Objekte Kapital zu akkumulieren. Das Kapital ist an der Produktion abstrakten Wertes interessiert. Zu diesem Zweck muss das Kapital keinerlei spezifische und konkrete Fähigkeiten mobilisieren, um qualitativ nützliche Objekte herzustellen, sondern lediglich die abstrakte, eigenschaftslose Verteilung der Zeit" (Berardi 2019, 51).
Jede konkrete Tätigkeit wird tendenziell in der Maßeinheit der abstrakten Arbeit - wie viel in einer Stunde Zeit produziert werden kann, verrechnet.[23] Gleichzeitig gilt es zu verstehen, dass sich die konkreten Tätigkeiten (konkrete Arbeit) je nach historischen Bedingungen verändert haben und verändern. Abstrakte Arbeit ist dann der Begriff für die gesellschaftlich notwendige Produktion von Gütern, Dingen, Dienstleistungen und deren Tausch, weil die Produktionsverhältnisse einer Arbeitsteilung unterliegen. Erst mit dieser Allgemeinheit der Arbeit lässt sich die Produktion vergesellschaften, auch im gesellschaftlichen Interesse anstelle des Profitmotivs. Dies betrifft nun immer mehr auch die geistige Arbeit, die Subsumtion der geistigen Arbeit unter den Produktionsprozess. Arbeit als abstrakte Kategorie ist also eher ein totalisierendes Maß, über das sich die Vergesellschaftung als strukturelle Herrschaft vollzieht (Postone) und dabei die Vermittlungsverhältnisse unter sich begreift. Deshalb ist es wichtig, diesen „Energiedurchsatz“ (Jantzen) und den damit verbundenen Zeitverbrauch zu verstehen. Aber als Gegenposition kann mit Haug festgehalten werden: „In der Perspektive bewusst 'gesellschaftlicher Produktion' der 'assoziierten Produzenten' wird es nach Marx ein wichtiges Mittel und Ziel zugleich sein, die Gleichheit der Arbeit für alle arbeitsfähigen Gesellschaftsmitglieder herzustellen. Oder mit einem anderen Ausdruck, die Allgemeinheit der Arbeit. Sie bezeichnet nichts anderes als die durchgeführte Gleichheit, dass alle im Rahmen ihrer ungleichen Möglichkeit und Fähigkeiten gleichermaßen an der Bewältigung der gemeinsamen Aufgaben mitarbeiten. Warum ist das wichtig? Zum Beispiel deshalb, weil dann jeder, der arbeitet, so wenig wie nur möglich, das heißt, nur das für ein bestimmtes Niveau guten Lebens und gesellschaftlicher Entwicklung Nötige arbeiten muss. Also kann Marx die 'Allgemeinheit der Arbeit' nach dieser Seite hin als eine Grenze für die objektiven Möglichkeiten solidarischer Vergesellschaftung bestimmen" (Haug 2005, 114).
Mit dieser Bestimmung lässt sich nachvollziehen, weshalb es für die Frage der Emanzipation wichtig ist, Arbeit als konkrete zu reduzieren und sie beim vorherrschenden Stand der Produktionsmittel so zu verteilen, dass zum einen unmenschliche (Arbeits-)Verhältnisse – Kinderarbeit, Sklavenarbeit, monotone oder körperlich schwere Tätigkeiten – abgeschafft oder wenigstens weitestgehend reduziert werden. Arbeit ist solange Fluch der Besitzlosen, die dafür ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, bis sie bei einer gesellschaftlichen Organisation der Arbeit auf alle verteilt werden kann, denn eine "Nicht-Arbeit" als Gegensatz zu einem Job gibt es dann nicht mehr. Da allerdings bereits seit den 1970er Jahren von einer Entlastung der Arbeitenden gesprochen wird, bleibt die Forderung des Endes der Arbeit ein realistisches Ziel, weiterhin jedoch bestehend als Utopie, wie dies Gorz bereits betonte und der vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“, so der Untertitel seines Buches, sprach.
Konkrete Arbeit ist notwendig. Zu bestimmen ist, wer was wie macht und wie dies organisiert werden kann, mit Arbeit als abstrakter gesellschaftlicher Kategorie und der Bedürfnisbefriedigung der Menschen als Zweck. Das ist besonders wichtig vor dem Hintergrund der „Arbeit“ in Werkstätten, wenn es darum geht, dass auch (?) die Menschen mit zugeschriebener Behinderung „ein Mindestmaß an verwertbarer Arbeitskraft“ leisten sollen und dies nun auch noch für die „Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf“ als Teilhabe bezeichnet wird. Nur: Welche Teilhabe ist damit eigentlich gemeint?

5. Arbeitsverhältnisse

Die Funktionalisierung der Arbeit lässt nach Gorz 3 Gruppen von Arbeiter*innen entstehen. 1) Stammarbeiter*innen, festgebunden, gut qualifiziert und mit „Karrierechancen“; 2) Randarbeiter*innen, die sich entweder als festangestellte um diverse vor allem organisatorische Dinge (bspw. Techniker*innen, Hausmeister, Büroangestellte) kümmern oder als Zeitarbeiter*innen für diese Jobs eingestellt werden; und schließlich 3) externe Arbeiter*innen, die zeitweise von anderen (Zeitarbeitsfirmen!) oder als Selbstständige eingekauft werden. Die Jobs selber können dann in Spitzenzeiten von hochqualifizierten und gut bezahlten Tätigkeiten bis hin zu schlecht bezahlten Hilfstätigkeiten reichen (Gorz 1994, 103). Nachtwey schreibt dazu folgendes. "Auf solche Phänomene stößt man in vielen Branchen: Häufig arbeiten Beschäftigte mit unterschiedlichen Niveaus an sozialer Sicherung und wirtschaftlichen Bürgerrechten Seite an Seite und üben nicht selten sogar die gleichen Tätigkeiten aus" (Nachtwey 2016, 156). Damit ergibt sich eine Zweiteilung in eine „Arbeiterelite“, die mit der „alten Arbeiterklasse“ nichts mehr gemein hat und einem immer größeren Anteil an prekär Beschäftigten. „Elite“ heißt es deshalb, denn sie „genießen eine Beschäftigungssicherheit, Einkommen, Arbeitsplätze und Aufstiegschancen, um die sie alle Welt beneidet. Vor allem verdanken sie ihren hervorgehobenen Status den Umstand, daß sie beruflich die Tüchtigsten, ökonomisch die produktivsten und als Individuen die arbeitsamsten sind" (Gorz 1994, 103).
Ein wichtiger Aspekt soll hier noch berücksichtigt werden. Sind Aufstiegsmöglichkeiten nicht mehr vorhanden und solidarisches Handeln nicht möglich oder wird erschwert, so Nachtwey, verfallen die Menschen auf Strategien der „Selbstoptimierung". Damit werden Überstunden, Stress akzeptiert, wird permanente Arbeitsbereitschaft signalisiert, auf work-life-balance wird verzichtet. Wie Bröckling bemerkt, heißt die Anerkennung der Notwendigkeit einer solchen Balance, dass es eine Differenz zwischen Arbeit und Leben gibt, „das Leben erst nach der Arbeit beginnt“ (Bröckling 2017, 276). Damit verstärkt sich nur noch mehr die individuelle Sinnkrise, weil damit die "Schuld" bei sich gesucht wird. "Der arbeitswütige Selbstproduktivismus ist das Merkmal eines wettbewerblichen Selbst, das offenbar keine Möglichkeit sieht, im Umgang mit Unsicherheit, Abstiegsangst und intensivierter Marktvergesellschaftung soziale und solidarische Wege zu finden. Gesellschaftliche Normen wie das Leistungsprinzip werden zu pathologischen Mitteln der Selbstbehauptung, zu regellosen Coping-Strategien pervertiert (Honneth 2013). Dies endet nicht selten in Ausgebrannt Sein und Erschöpfung" (Nachtwey 2016, 166, Schmidbauer 2011)[24]. Gleichzeitig werden die Bildungsbemühungen und Aufstiegsorientierungen intensiviert lediglich um den eigenen Status zu erhalten (166). Dabei ist nach Byung-Chul Han zu bedenken, dass hier lediglich Herr und Knecht[25] in eine Person verlagert sind. Das Leistungssubjekt unterscheidet sich vom Gehorsamssubjekt zwar, der (scheinbare) Wegfall der Herrschaft führt jedoch nicht zur Freiheit. Der Exzess der Arbeit und Leistungsfähigkeit verschärft sich zur Selbstausbeutung. „Diese ist effizienter als Fremdausbeutung, denn sie geht mit dem Gefühl der Freiheit einher. Der Ausbeutende ist gleichzeitig der Ausgebeutete. Täter und Opfer sind nicht mehr unterscheidbar. Diese Selbstbezüglichkeit erzeugt eine paradoxe Freiheit, die aufgrund der ihr innewohnenden Zwangsstrukturen in Gewalt umschlägt. Die psychischen Erkrankungen der Leistungsgesellschaft sind gerade die pathologischen Manifestationen dieser paradoxen Freiheit" (Han 2018, 24/25; Bröckling 2007). Neben den vielen Freelancern und Selbstständigen, die ihre prekäre "Autonomie" mehr schätzen als einen festen Job, gilt die Fragmentierung/Vereinzelung auch für das "Dienstleistungsproletariat" (Nachtwey 2016, 178) und die vielen Servicearbeiter*innen bis hin zu den Wissenschaftler*innen des Mittelbaus bzw. in den unzähligen universitären Projekten. Dass die in weiten Teilen gleiche Tätigkeit – vor dem Computer sitzen – kein automatisches Klassenbewusstsein entstehen lässt, wusste auch Marx schon, da vielfach ohne Beziehung zueinander durch die getrennte Produktionsweise, so Nachtwey (2016, 166 FN) in der dazugehörenden Fußnote.

5.1 Werkstatt für Menschen mit Behinderung

Kurz anreißen möchte ich noch die Arbeitssituation für Menschen mit Behinderung, die auf einen spezifischen Zusammenhang verweisen, der m.E. nicht gern gesehen wird. Die Kritik an den Arbeitsverhältnissen ist vor allem von Seiten der Menschen mit zugeschriebener Behinderung selbst zahlreich, fundiert und eindeutig. Ganz aktuell kann man dies bei der Initiative „jobinklusive.org“ nochmals nachlesen. Mein Votum zur Abschaffung der Arbeit richtet sich nicht grundsätzlich gegen die Möglichkeit mit Hilfe der eigenen Lohnarbeit den notwendigen Lebensunterhalt zu verdienen. Solange Lohnarbeit notwendig ist, ist es für Jeden (!) statthaft diese einzufordern und ihr nachzugehen. Doch gilt es festzuhalten, dass vor allem das System der Werkstätten alle, außer die „nichtbehinderten“ Beschäftigten, daran hindert, genau dies zu tun. Auf diese Perspektive macht die genannte Kampagne auch aufmerksam:

Arbeit in der Werkstatt folgte und folgt immer noch einem „Mindestmaß der verwertbaren Arbeitskraft“. Sie wird aber innerhalb der Werkstatt nicht als volle Erwerbsarbeit behandelt, sondern als arbeitnehmerähnlich, weshalb bspw. kein Mindestlohn gezahlt wird. Allein die eher nicht stattfindende Diskussion um den Mindestlohn zeigt sehr deutlich, dass es eigentlich nicht um Verbesserung der Teilhabe geht. Wenn Andre Thiel[26] davon berichtet, dass er keinen Anwalt findet, der mit ihm die Frage des Mindestlohns gerichtlich durchfechten will oder wenn verschiedene Urteile immer zugunsten der Werkstattbetreiber entschieden werden, bleibt ein mindestens schaler Beigeschmack. Thiel betont, dass zwar Werkstatträte existieren, aber keine Rechte einklagen können, die Mitwirkung an einem schlechten System wenig lukrativ erscheint. Auch Gewerkschaften, so Thiel haben kein Interesse sich diesem Thema anzunehmen.
Noch entschiedener spricht Ulrich Scheibner, über lange Jahre Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM): „Es ist unverantwortlich, dass beeinträchtigte Menschen in den "Werkstätten“ als einzige Personengruppe eine Art Leistungslohn erhalten und keinen Zeitlohn. Es ist ebenso unverantwortlich, dass dieser Leistungslohn auch noch vom Jahresergebnis und damit von der Qualität des Wirtschaftsmanagements abhängig gemacht wird. Zu diesen Demütigungen gehört, dass "Werkstatt“-Träger mit ihren Verbänden und die Politik so tun, als hinge die Höhe der Arbeitseinkommen beeinträchtigter Beschäftigter von ihrer individuellen Leistung ab. (…) Die schwarze Liste an Benachteiligungen und Diskriminierungen im "Werkstätten“-System ist damit lange nicht vollständig“ (Scheibner 2020[27]). Einen wichtigen Punkt will ich noch hervorheben. Werkstätten sind, so Scheibner „Produktionsstätten“, das heißt sie erhalten Aufträge aus der Wirtschaft. Sie sind durch die Entgeldzahlungen günstiger als andere Firmen, auch bspw. als Integrationsfirmen, die ihre Mitarbeiter*innen auch entsprechend bezahlen. Sie können diese Aufträge jedoch auch nur durch die „leistungsstarken“ Beschäftigten realisieren und haben damit auch ein Interesse gerade sie zu halten und nicht in den Arbeitsmarkt zu entlassen. Darüber hinaus ist durch diese Auftragsabgabe der Anreiz für Unternehmen eigene Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung zu schaffen nicht mehr gegeben. Sie können sich damit nämlich um die Ausgleichsabgabe drücken, die fällig ist, wenn man keine entsprechenden Jobs schafft.
Entfremdung spielt auch in den Werkstätten eine wichtige Rolle. Exemplarisch zeigen Daniel Bergelt/Nico Leonhardt (2020) dies, wenn sie auf das geringe Interesse, das Menschen mit Behinderung ihrer Arbeit beimessen, verweisen. Im von ihnen geführten Interview spielt die tatsächliche Tätigkeit als (Erwerbs-)Arbeit, um die es gehen sollte, nur eine geringe Rolle. „Auf konkrete Fragen zur Arbeit reagiert der Befragte teils sogar mit Vermeidungsstrategien. Die Freude oder der Spaß an der Arbeit wird einzig über die Späße mit den anderen, vor allem den Kollegen gestiftet“ (Bergelt/Leonhardt 2020, 410). In der Fußnote dazu steht, dass die „sozialen Beziehungen“ die „entscheidende Arbeitsmotivation“ sind. Die Werkstatt ist Stelle des sozialen Kontaktes jenseits oder innerhalb der totalisierenden Einrichtungen, in denen Menschen, die in einer Werkstatt arbeiten, oftmals wohnen. Für eine andere Person sagen die beiden Autoren das Gleiche und vermuten, dass die vordergründige Bedeutung von Arbeit darin“ zu liegen (scheint), dass sie eine ‚tägliche Zeitstruktur definiert“ (Bergelt/Leonhardt 2020, 412). Erkennbar ist die „Entfremdung“ von Tätigkeit und Produkt: sie interessieren schlicht nicht für ihre Arbeit, wie das bei Gorz für die Industriearbeit beschrieben wurde. Die Autoren verweisen auf die Vorteile partizipativer Forschung, wenn es um „strukturelle und machttheoretische Aspekte in Institutionen der Behindertenhilfe /wie bspw. einer WfbM) mehrperspektivisch analysiert werden“ und „bestimmte (Arbeits-)Prozesse und Beziehungsgefüge innerhalb einer WfbM“ (Bergelt/Leonhardt 2020, 415) herausgearbeitet werden können. Nur leider schreiben sie nicht genauer, welche das sind und es stellt sich schon die Frage, was das dann bedeutet? Verändert sich damit die Teilhabe oder die Qualität der Tätigkeiten? Verändert das den Lohn?
Antje Ginnold (Ginnold 2021) stellt in ihrer Rezension zu Jonna Blancks Dissertation, die den Übergang Schule-Beruf untersucht hat, folgendes fest: Im Vergleich zu Hauptschüler*innen (mit max. einem Hauptschulabschluss) haben Förderschüler*innen noch eingeschränktere Chancen auf einen Ausbildungsplatz, vor allem direkt nach dem Verlassen der Schule. So sind ein Jahr nach Verlassen der Schule mehr Förderschüler*innen in einer Ausbildung, meist nach erfolgreichem Abschluss einer Berufsvorbereitung. In diesem Jahr wird versucht, die vorher nicht möglichen Schulabschlüsse dann nachzuholen, was, wie zu sehen dann gelingt und die Frage aufwirft, weshalb dies dann nicht vorher möglich sein soll? Gleichzeitig ist aber auch eine Zunahme von „Ausstiegen“ in Erwerbslosigkeit zu beobachten. Der Erfolg der Berufsvorbereitungen ist somit geteilt: entweder folgen weitere Maßnahmen oder die Aufnahme einer Ausbildung. Nach Ginnold kann Blanck zudem den negativen Effekt des Förderschulbesuches mit ihren Analysedaten nachweisen. Förderschüler*innen kommen überwiegend aus soziökonomisch benachteiligten, armen(!) Familien. Der Förderschulbesuch verstärkt diese Benachteiligung im Übergang nach der Schule und wirkt unabhängig und zusätzlich von den Faktoren Wissen, Können und Fähigkeiten. Dieser Befund steht damit im Kontrast zum Anspruch, die Benachteiligungen durch die Förderschule aufzuheben. Die Übergangsverläufe sind nach Blanck auch ein „Ergebnis von Klassifizierungs- und Zuweisungsprozessen der Berufsberatung der Agenturen für Arbeit“ (Blanck 2020, S. 188, hier nach Ginnold 2021). Die Klassifizierung von Förderbedürftigkeit und Behinderung erfolgt durch ein standardisiertes, defizitorientiertes Vorgehen, wiederum im Gegensatz zum formulierten Anspruch die Stärken, Schwächen und Unterstützungsbedarfe zu analysieren und ist Fortsetzung der stigmatisierenden Effekte der Schule. Denn dass die Berufsberatung die Ausbildungseignung von Förderschüler*innen direkt nach dem Verlassen der Schule, ohne Schulabschluss(!) feststellt, ist eher sehr unwahrscheinlich. Beratung erfolgt eher hin zu außerbetrieblichen Ausbildungen, geringe Erwartungshaltung und institutionelle Vorgaben für die Beratung sind auch zu finden, die eher darauf zielt einen Umweg über die Berufsvorbereitung zu gehen. „Abschließend resümiert Jonna Blanck, ‚dass die Berufsberatung nicht dazu beiträgt, die Benachteiligung zu kompensieren (Blanck 2020, S. 185 zitiert nach Ginnold 2021). Immerhin erlangen hier Förderschüler*innen betriebliche Ausbildungen nicht nur überbetriebliche, die als weitere Maßnahme betrachtet werden kann. Förderschüler*innen profitieren insgesamt jedoch weniger als Hauptschüler*innen von der 2. Chance auf Teilhabe nach der Schule, so Ginnold. Wenn darüber hinaus die Wirtschaft sich darüber beklagt, dass die Schulabgänger nicht mehr die richtigen Kompetenzen mitbringen, könnte das auch ein Hinweis darauf sein, dass bislang die Schule etwas geleistet hat, was der Wirtschaft zu Gute kam. Neben der Grundbildung noch Allokation oder Selektion. Alle drängen zum Abitur, nur wenigen hilft es und Bildung ist es am Ende kaum noch.
Für den Zusammenhang entscheidend ist, dass diese systematische Ausgrenzung der Menschen mit zugeschriebener Behinderung bereits in der Schule beginnt. Auswirken davon treffen aber alle Schüler*innen. In der Mehrgliedrigkeit des Schulsystems zeigt sich der spezifische Fokus auf das Gymnasium und damit das Abitur. Tendenziell werden damit die anderen Schulabschlüsse abgewertet, oder aber Schüler*innen des Förderschwerpunktes geistige Entwicklung, mitunter auch die des Förderschwerpunkts Lernen, können, rein formal, überhaupt keinen Schulabschluss erwerben (Schulgesetz Baden Württemberg, Sachsen; (Hünig 2017) bzw. Schüler*innen mit dem gleichen Förderbedarf erlangen in der Förderschule regelmäßig weniger Abschlüsse als an der Regelschule (Kemper/Goldan 2018). Dies führt u.a. auch dazu, dass der Hauptschulabschluss kaum zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit führt[28], das Abitur dagegen als fast schon obligatorisch für die meisten Berufe notwendig ist. Durch diese Entwertung der Schulabschlüsse wollen alle das Abitur, ja sie müssen es sogar erwerben. Der Wettbewerb darum beginnt praktisch bereits in der 3. Klasse mit den ersten Noten und mit der nachfolgenden Ausstellung der Bildungsempfehlung für das Gymnasium in Klasse 4. Kinder- und Jugendliche, die bspw. Interesse an einer technischen Bildung und kein Interesse am Studium haben, werden so zum Abitur gedrängt, welches weniger auf technische Bildung ausgerichtet ist und so mehr Dummheit produziert als nötig (Blankertz 2006[29], Illich 1979), wie auch das Abitur selbst eher standardisiert wird.
Wenn Schule weiterhin bevorzugt als Selektionsinstrument oder abgeschwächter als Allokationsinstrument, und noch spricht trotz Inklusionsforderung nichts dagegen, verstanden wird, dann erfordert die anvisierte Bildung lediglich Anpassung, obwohl doch mit Bildung etwas Anderes gemeint ist. Roland Stein (Stein 2010) hebt für die langfristige, sie beginnt in den Förderschulen bereits im 7. Schuljahr mit immer wiederkehrenden Praktika, Gestaltung des Übergangs eine Lebensorientierung hervor. Wenn es gar nicht um einen Abschluss geht, ist es durchaus nachvollziehbar, die Jugendlichen bereiten sich auf die Kontakte mit Ämtern und ähnlichem vor als sich mit Physik zu beschäftigen. Wobei aber sicher auch danach gefragt werden kann, was Lebensorientierung beinhaltet und ob das Gymnasiast*innen bspw. nicht auch brauchen könnten. Allerdings wäre auch anderes vorstellbar. Stein erwähnt die Orientierung an einem bürgerlichen Bildungskanon, die in den Förderschulen eher am Rande stattfindet, fast beiläufig. Damit gehen durchaus Chancen verloren, so Stein, denn, und das wäre zu ergänzen, die damit einhergehende Anspruchshaltung lässt eher eine Reduktion erkennen: Kinder und Jugendliche werden in der (Förder)Schule gar nicht mehr herausgefordert[30].

Die Perspektive der Disability Studies auf eine ableistische Struktur der Gesellschaft verweist auch für die Bildung auf Überzeugungen, die ein- oder festgefahren sind, dass sie als Normalismen nicht mehr wahrgenommen werden. Die Gesellschaft „verlangt“ einen bestimmten funktionalen Menschen und Behinderung zeigt die körperlichen, seelischen, geistigen Abweichungen, die jedoch „ein Spektrum von Erscheinungen, die nicht mit Natur, Körper oder Geist allein fassbar sind sondern durch das Zusammenspiel mit Umwelt- und Gesellschaftsbedingungen und damit auch ökonomischen und staatlichen Kriterien entstehen“ (Maskos 2015). Es gilt dabei auch die Illusion der Autonomie, die es in der Pädagogik gibt, zu problematisieren ohne die Idee der Mündigkeit zu verabschieden. Das ist ein wichtiges Spannungsfeld, dass sich zwischen der Annahme einer potentiellen Mündigkeit, der Suche danach, diese zu verwirklichen und dem Eingeständnis, dass in manchen Punkten Abhängigkeit unvermeidlich ist, bewegt (Schuppener/Schlichting/Goldbach/Hauser 2021, 30ff). Das könnte allgemein heißen, Gesellschaft daran zu messen, welche Bedingungen sie für ihre Mitglieder zur Mündigkeit bzw. Bildung zur Verfügung stellt (Böhme et al 2009) und wie gerade die Schule dabei eine Normalität unterstellt, die sich durch den Ausschluss bestimmter Personen potentiell als unangreifbar darstellt (Reiser 1998).
Denn: Mündigkeit als Perspektive verlangt nach kritischer Reflektion und weniger nach Anpassung, wie in der kritischen Bildungstheorie (vgl. Pongratz/Bünger 2017, Heydorn 1973) gelernt werden kann. Für die Förderschüler*innen, so scheint es, wenn ich Stein ernst nehme, ist es bereits jetzt relativ gleichgültig, was in der Schule gelehrt wird, sie sollen sich bereits vor dem Schulende mit Erwerbslosigkeit auseinandersetzen. Scheinbar wird ihnen eher Überlebensnotwendigkeit attestiert, was jedoch gleichzeitig eine bestimmte Aussage zur Gesellschaft beinhaltet.
Ergänzen will ich das eben Gesagte um einen Aspekt, der m.E. unausgesprochen wirkt bzw. nochmals die Verbindung von Arbeit in der Werkstatt und an der Universität auf andere Weise thematisiert. Daniel Oberholzer hat das Verhältnis von Menschen mit Behinderung und der Erwerbstätigkeit der „Normalos“ wunderbar formuliert und legt den Finger tief in die Wunde: „Die Aussprüche und Beispiele belegen, dass auch der Normalo, obwohl er die Ansprüche des Zentrums erfüllt, unter ihnen leidet. Kein Wunder, denn von ihm wird nur gefordert. Die totale Leistung nämlich. Die Leistungsgesellschaft hat ihren Preis: malochen und nochmals malochen, weiterbilden, immer souverän auftreten, sich vom Chef zusammenscheißen lassen, Puffer in der Familie in sich hineinfressen, nur ja keine Schwäche zeigen. (…) Diesem permanenten Dauerstress setzen Behinderte ihre schon fast provokative Ruhe entgegen. Alle Viere von sich gestreckt, harren sie immobil im Rollstuhl. Und den Geistigbehinderten – man sieht es ihnen auf den ersten Blick an – sind all diese Probleme ohnehin Wurst“ (Oberholzer 1993, 160).
Und hier scheint m.E. die politische Seite der Inklusion/Inklusionsforschung auf. Denn die eigenen Arbeitsverhältnisse an der Universität sind ebenso zu reflektieren, wie die derjenigen, die da beforscht oder die in der Lehre zum Gegenstand gemacht werden. Studierende, die in den Seminaren sitzen, müssen ebenfalls oft ihren Lebensunterhalt durch Lohnarbeit verdienen. Sie haben später mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die sie entweder auf eine „Nichterwerbstätigkeit“ vorbereiten oder die ebenso für den Wettbewerb um die rarer werdenden lukrativen Jobs fit gemacht werden sollen. Damit hat sowohl der eigene Arbeitsplatz – wie sieht meine Lehre aus, wie gehe ich mit Studierenden um, wenn ich 20 SWS abzuleisten habe [31](?), – als auch das Zukünftige der bei mir Lernenden Auswirkungen auf die je spezifischen Lebenswelten und die der damit unmittelbar Betroffenen. Wenn es sich zunächst ungewohnt anhört, so plädiere ich dafür, die Entfremdung für die „Wissensarbeit“, wie sie auch in der Hochschule stattfindet, als zutreffend anzusehen. Nicht zuletzt, da die Wissenschaft ebenfalls in die allgemeine Arbeitsteilung eingespannt ist. Hier sind vielfältige prekäre Verhältnisse zu finden, keineswegs selten befristete Anstellungen[32] mit Kettenverträgen, ständig laufenden Projektanträgen und daraus resultierende Unsicherheiten. Sie verursachen ebenso Stress, Burn-Out, Krankheiten. Und auch hier kann von einer „organischen Solidarität“ keine Rede sein, weil die weiter oben beschriebene Zersplitterung der Tätigen dies oftmals verhindert.
Zu reflektieren wären weiterhin die trotzdem unterschiedlichen Arbeitsverhältnisse. In der Werkstatt ein sicherer aber langweiliger, stupider Job, der keine Möglichkeit der Existenzsicherung und auch keine „Aufstiegsmöglichkeiten“ bietet. Dagegen haben auch die Wissenschaftler*innen zu reflektieren, dass sie in einem der prekärsten Bereich arbeiten, bei dem sie selbst scheinbar nicht der gleichen Klasse angehören, weil der Verdienst doch ein anderer ist. Aber wenn die Stellung zu den Produktionsmitteln Klasse charakterisiert, wäre danach zu fragen, welche Produktionsmittel die Wissenschaftler*innen besitzen und welche Funktion ihre Forschung bspw. auch zu den Arbeitsverhältnissen der Menschen mit zugeschriebener Behinderung hat. Das wirft ein entsprechendes Licht auf das, was sich als Teilhabeforschung versteht und den Blick bspw. für die Armut als gesellschaftliches Problem eher trübt, weil mit den Begriffen von Teilhabe oder Inklusion Exklusionsmechanismen nicht mehr analysiert werden können (Steinert 2017, Kronauer 2013). Bergelt et al (2018) weisen darauf hin, dass sich die Werkstattmitarbeiter*innen an ihre Arbeitssituation gewöhnt haben, da sie oft nichts Anderes kennen und die geäußerten Zufriedenheitswerte entweder Präferenzanpassung bedeutet oder schlicht soziale Anpassung, denn welche Kritik äußere ich, wenn dies meinen täglichen Arbeitsalltag betrifft. Schuppener/Schlichting/Goldbach/Hauser (2021) stellen die berechtigte Frage, ob eine Teilhabe an diesem System überhaupt wünschenswert ist (279)?

6. Folgen: für Arbeit und Bildung

Jeder Rationalisierungsprozess, so Heydorn; sucht Herrschaft zu sichern und Bildung funktionell abzurichten, denn auch der Prozess der Bildung ist eingespannt in den gesellschaftlichen, genauer noch wirtschaftlichen [33]. Eva Borst (Borst 2009) weist darauf hin, dass bei Heydorn „Arbeit“ als Erkenntnisprozess gelesen werden kann (siehe oben bei Pfeiffer 2008), der Muße voraussetzt. „Die Wiederherstellung der Menschlichkeit ist nur unter der Prämisse einer Vernunft möglich, die gepaart ist mit Produktionsverhältnissen, die es zulassen, dass der schöpferische im Unterschied zum nur funktionalen Menschen zum Vorschein kommt“ (Borst 2009; 163). Wiederherstellung meint dabei weniger ein Zurück als eine Wahrnehmung von Möglichkeiten, die bislang abgewehrt, vermieden oder vergessen wurden. Positive Hinweise müssen zunächst beschränkt bleiben, der Prozess selbst bringt die Theorie hervor. Aber Pädagogik könnte so einen Teil zum Befreiungskampf der Menschheit beisteuern, Schule könnte ein Ort dafür sein. "Das politische Postulat, das unter diesem Gesichtspunkt zunächst zu erheben ist, versteht sich als Aufhebung aller Bildungsrestriktionen unter den Bedingungen der Überflußproduktion" (Heydorn 1972, 124). Wirklich radikal gedacht, heißt Aufhebung aller Bildungsrestriktionen eben eine Schule für alle in einer Gesellschaft, die nach den Bedürfnissen Aller produziert und in der (Lohn-)Arbeit auf ein Minimum reduziert ist!
Aufgabe der Pädagogik ist es, diese Bedingungen für die Schule überhaupt erst herzustellen. Denn, so Heydorn, diese "material realisierbare Forderung als Utopie zu verwerfen heißt nichts anderes, als die Gesellschaft der menschlichen Strangulation aufrechtzuerhalten" (Heydorn 1972, 125).

Mit Andre Gorz will ich direkt an den Ausgangspunkt bei Böhme anschließen: Die Utopie einer Gesellschaft der befreiten Zeit, die „Emanzipation der Individuen, ihre freie Entfaltung und die Neuzusammensetzung der Gesellschaft haben die Befreiung von der Arbeit zur Voraussetzung" (Gorz 1994, 148/149, kursiv i. O.). Dem entgegen steht, dass Castel/Dörre (2009) im Fazit des von ihnen herausgegebenen Sammelbandes zur Prekarität ein Festhalten an der Zentralität der Erwerbsarbeit beschreiben, auch wenn die Formen nicht mehr zwangsläufig auf eine lange Vollzeitbeschäftigung festgelegt sind. Ihnen zufolge lässt sich jedoch nachweisen, dass die vielen Zumutbarkeiten prekärer Arbeitsverhältnisse entgegen der Zwänge, die von den Arbeitsagenturen zur Aufnahme einer Arbeit auferlegt werden, nicht die gleiche gesellschaftliche Integrationskraft besitzen wie die vielfach abgelöste „geschützte Lohnarbeit“ (Castel/Dörre 2009, 382). Sie schreiben, auf Dauer zehren die herrschenden Verhältnisse an der Leistungsfähigkeit und Aktivitätsbereitschaft, gleichzeitig wird die Polarisierung der Erwerbs- und Lebenschancen durch eine Ausweitung der prekären Arbeitsverhältnisse zunehmen. Postone hat die Selbstverwirklichung der Arbeitenden in ihren bestehenden Verhältnissen kritisiert und ihm zufolge führt Marx selbst kein anthropologisches Metasubjekt der Geschichte ein, liefert viel mehr die Grundlage für die Kritik dieser Vorstellung (Postone 2003, 381). Unter Bezugnahmen auf Marxsche Positionen beschreibt Gorz entsprechend eine zweifache Möglichkeit: Einmal die reflexive Wendung der Arbeitenden auf ihre Tätigkeiten und der Möglichkeit freier Entfaltung auch durch Arbeit. Dazu müsste jedoch die Produktion aus Profitgründen einer bedürfnisorientierten weichen. Entfaltung geht nur durch Reflexivität, Muße und nicht durch Stress und Hektik. Zum zweiten die damit einhergehende Möglichkeit (Notwendigkeit?) die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren, insbesondere wenn die ökonomische Rationalität, die effiziente Organisation der Produktion, ihre Grenze erreicht oder die technischen Möglichkeiten dies nahelegen. Wenn das verwirklicht wird, ist das nicht die Verwirklichung des Sinns von Arbeit, sondern das "Geschichte machen" des handelnden Menschen.
In dieser Hinsicht gelingt es die Brücke zur Bildung zu schlagen. Bildung innerhalb kritischer Bildungstheorie ist der Prozess des Mündigwerdens in Gesellschaft und meint nach Heinz-Joachim Heydorn (Heydorn 1972) die fortschreitende Befreiung des Menschen zu sich selbst, enthält die Aufhebung jeder (!) Unterdrückung des Menschen. "Die Aufhebung der Entfremdung als institutionalisierte Bildung ist Teil der Aufhebung aller Entfremdung. Das comenianische Postulat menschheitsumfassender Bildung kann Wirklichkeit werden" (Heydorn 1972, 122). Denn Bildung ist die immer wiederkehrende Potentialität, wie der "menschenzerstörende" Bewusstseinszustand aufgehoben werden kann, die immer wiederkehrende Erinnerung an Utopia. Klassengesellschaft und Ausbeutung stehen im Gegensatz zur Bildung, sind wesentlicher Bestandteil der Unterdrückungsgesellschaft. So schreibt auch Armin Bernhard: "Die Gesellschaft in ihrer konkreten Herrschafts- und Arbeitsstruktur verweigert strukturell, über alle Klassengrenzen hinweg, was Bildung verspricht: die Freisetzung eines mündigen Subjekts" (Bernhard 2016, 117). Aber für Heydorn geht es gar nicht ausschließlich um die Kritik einer naiven, vielleicht illusorischen Vorstellung von Reformen im pädagogischen Geschäft und dem Nachweis der Funktionalität der Bildungsinstitutionen im kapitalistischen Betrieb, wie Carsten Bünger und Ludwig Pongratz schreiben. "Im Vordergrund steht für Heydorn vielmehr das Problem einer Verstrickung des Pädagogischen in die Reproduktion gesellschaftlicher Herrschaft, weil - und das ist der springende Punkt - die Bemühung um Bildung zugleich den einzigen Weg darstellt, der auf die Möglichkeit der Überwindung von Herrschaft verweist. Die Schule und ihre Reformen stehen für Heydorn unter Kritik, weil sie der Ort sein könnte, über die sich die gegenwärtige Gesellschaft verändern ließe. Nicht in dem Sinn indoktrinierter Politisierung, sondern als Schulung der Abstraktionsfähigkeit, der rationalen Durchdringung der gegebenen Bedingungen" (Bünger/Pongratz 2017, 38).
Heydorn betont, dass die Aufhebung der Klassengesellschaft keineswegs Unterdrückung des Menschen mechanisch mit aufhebt, aber Bildung als Idee zielt auf das Ende der Unterdrückung. In diesem Sinne ist Pädagogik ein " 'Experiment' (Heydorn) mit heranwachsenden Menschen, die zu ihrer Selbstbefreiungsangelegenheit werden sollen, um sich als Menschen und nicht als Funktionsträgerinnen und Funktionsträger eines unvernünftigen Gesellschaftssystems verwirklichen zu können" (Bernhard 2016, 118). Die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur als „Überleben“ nähert sich dem Ende, Theorie und Praxis, Institution und Leben können sich auf neue Weise verbinden, "Mündigkeit aller rückt in die Nähe" (Heydorn 1972, 122). Wenn Schule gar nicht mehr qualifizieren/selektieren muss, hat sie Zeit sich den Schülern anders zu widmen. Nimmt man die Perspektive von Gorz oder Haug ernst, könnte sowohl die Bildung, die dann nicht mehr als Vorbereitung auf Arbeit, sondern als Entwicklung aller individuellen Fähigkeiten betrachtet werden kann, als auch Arbeit einen anderen Charakter haben und Werkstattarbeit wäre von diesem „Mindestmaß an verwertbarer Arbeitskraft“ ebenso entkoppelt wie eine Lehrtätigkeit an den diversen Schulen von der Notwendigkeit der Allokation/Segregation. Es bestünde damit die Chance die vielfach bereits jetzt bestehenden kreativen Ideen, insbesondere in der sogenannten „Tagesförderung“ als Leistung zu würdigen und diejenigen als Personen und nicht als Leistungsempfänger anzusehen.
Wohlstand, so Berardi, ist Zeit zum Genuss, was die Natur und die gemeinsame Arbeit der Menschen für alle Menschen erreichbar macht. Damit zerfiele das Fundament des Kapitalismus (Berardi 2019, 193/194). Berardi bezieht sich auf den Wohlstand, auf den gesellschaftlichen Reichtum, der nichts mit Kaufkraft zu tun hat, sondern mit Zeit und Verfügung über Ressourcen und Materialien, was sich ja bei Böhmes Kritik bereits andeutete und notwendigerweise die Entkopplung von Leistung und Verdienst, worauf uns nicht zuletzt die Corona Pandemie hinweist.

"Wohlstand als Zeit - Zeit für die Freude, Zeit zum Reisen, Lernen und für die Liebe" (Berardi 2019, 157)

7. Literatur

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[1] Der Unterschied zwischen „labor“ als Lohnarbeit und „work“ als allgemeinem Begriff für Arbeit ist bekannt. Im Französischen gibt es die Unterscheidung zwischen „labeur“ oder „travail“ (Arbeit) und „oeuvre“ (Werk), im Russischen zwischen „rabota“ (Arbeit) und „proisvedenie“ (Werk).

[2] Das ist gemeint im Sinne von „Der Mensch ist ein Arbeitstier“ oder „Wer essen will, soll auch arbeiten“, was

[3] Günther Anders (1956/2002) bezeichnet dies in seinem gleichnamigen Buch als eine der Antiquiertheiten der Menschen, weil sie eben nicht tätig sind, eher überwachen, dass nichts passiert. So muss dann mal was schieflaufen, damit man selbst tätig wird. Er vergleicht dies mit den Feuerwehrleuten, die selbst einen Brand legen, damit sie ihr Können, was sie ständig nur trainieren, auch mal zeigen können. Die andere Seite, gerade für die monotone Fabrikarbeit ist entweder Erlebnissport/Risikosport oder Zerstreuung als „action“.

[4] https://www.bpb.de/politik/wirtschaft/lobbyismus/

[5] Dies ist bewusste Politik und kein Automatismus. MAYNTZ, Renate/SCHARPF, Fritz (2005) Politische Steuerung – Heute? In: Zeitschrift für Soziologie, Jg.34, Heft 3, Juni 2005, S.236-243 konnten zeigen, dass bspw. der Umbau des Gesundheitswesens auf der bewussten Strategie beruht die Akteure selbst entscheiden zu lassen statt gesetzliche Vorgaben zu setzen.

[6] Für die Pädagogik, die sich gern als idealistisches Projekt versteht, halte ich das für besonders wichtig. Bildungsökonomie, Entscheidungen über Schullaufbahnen, Bildungsmonitoring, selbst Bildungsstandards sind Motive, die mit Effizienz und Effektivität zusammenzubringen sind und wer sie mit welcher Intention ins Spiel bringt. Mit kritischer Theorie ist damit das Interesse verschiedener Gruppen der Gesellschaft anvisiert (Literatur???).

[7] Wer ist für wen relevant? Sind die Pflegkräfte, sowohl die in den Altenheimen als auch die auf den Intensivstationen für das System relevant, weil Sie sich um die Schwachen kümmern und werden sie entsprechend ihrer Bedeutung und Gefahr auch entlohnt? Ist die Schule relevant, damit die Eltern weiterhin „ungestört“ arbeiten gehen können? Und: in welchem Interesse erfolgt das?

[8] Wichtig, es handelt sich dabei zunächst um einen „Wirtschaftskrieg“, der nur im Notfall militärisch bestritten wird, worauf Postone mit der indirekten Herrschaft hinweist. Er wird geführt mit Steuerpolitik, Freihandelszonen und Flüchtlingsbekämpfung.

[9] In der „klassischen“ marxistischen Diskussion gilt der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit als DER Gegensatz, der zu den Kämpfen um Arbeitsbedingungen, Löhne, Absicherungen usw. führt. Ich halte das auch weiterhin für wichtig, weil damit klar die Dimension der Ausbeutung angesprochen wird, die doch hin und wieder, insbesondere in intellektuellen Kreisen, schnell vergessen wird. Die meisten Doktorand:innen können ein Lied davon singen. Ich werde unten darauf zurückkommen.

[10] Es ist schon eigenartig, dass sich Menschen, die vom gesellschaftlich bestimmten Existenzminimum leben, dafür rechtfertigen müssen, wenn sie ein paar Euro mehr bekommen, als läge darin das Wohl und Wehe der Gesellschaft. In der Coronapandemie wurde diese Frage zugespitzt auf die Entscheidung über Leben und Tod als Triage, der Priorisierung von Hilfeleistungen
Das zeigt sich auch am Aufblühen bzw. der Verbreitung von „Bullshit-Jobs“ (David Graeber 2018). Das interessante daran: Es sind Jobs, die keine andere Funktion haben, als Leute zu beschäftigen, bei denen sich die betreffenden Personen selbst fragen, welche Funktion sie haben. Teilweise sogar gut bezahlt! Klaus Dörner hat die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise als „größtes verhaltenstherapeutisches Experiment“ (Dörner 1989???) bezeichnet, bei dem deutlich wurde, dass ein guter Lohn die Menschen weniger dazu animierte in die Fabrik zu gehen. Erst mikrige Löhne führten dazu und darüber hinaus zu solch langen 18stündigen Fabriktagen und ist auch heute gültig, wenn ein oder zwei Jobs nicht dazu ausreichen den Lebensunterhalt zu sichern. Eine andere Variante findet sich bei Heinrich Bölls Kurzgeschichte „Parabel zur Senkung der Arbeitsmoral“, die noch immer nichts von ihrem Gehalt eingebüßt hat.

[11] Das ist erkennbar an der Diskussion um die Umverteilung von Gütern, die immer wieder geführt wird und darauf hindeutet, dass genug da ist, sie aber nicht gerecht verteilt werden.

[12] Hier liegt die Verkennung von „produktiver“ und „unproduktiver“ Arbeit begründet, die schnell zur bereits erwähnten inhumanen Sicht auf die „Nützlichkeit“ von Personen überleitet: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen! Wenn sich die Menschen mit Behinderung als nützlich erweisen sollen, in dem sie wie andere auch einen 8stündigen „Arbeitstag“ verleben, dann wäre das m.E. falsch verstandene Inklusion (vgl. Maskos 2015).

[13] Diese Verkehrung der Perspektive haben Negt/Kluge sehr schön beschrieben und lässt sich aktuell nachzeichnen im oft zitierten Satz, dass es leichter ist sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus (Fischer 2013, 7). Ich hoffe ein wenig gegen diese Umkehrung argumentieren zu können und etwas in den Mittelpunkt zu stellen, was kritische Theorie immer versucht: Wir selbst gestalten Gesellschaft und können sie auch jederzeit umgestalten, selbst wenn das langwierige Prozesse sind.

[14] Dies wird m.E. durch so etwas wie eine „corporate identity“ versucht, die durchaus karikaturhafte Züge der Einschwörung der Arbeitenden auf ihre Tätigkeit annimmt, aber auch durch Leitbilder, die eher der moralischen Legitimation nach außen dienen als dass sie tatsächlich gelebt werden. Dazu gehört m.E. auch die Universität, die trotz „flacher Hierarchien“ Abhängigkeitsverhältnisse aufweist, die selten in Frage gestellt werden.

[15] Nach Gorz ist dazu bereits im Vorhinein eine "Erziehung" notwendig. Entweder zum Konsum als Ersatz oder zur Arbeit als pragmatischem Gelderwerb. Bell Hooks beschreibt, wie sehr die Armen nach den gleichen Gütern streben und denken, sie erhalten so die Anerkennung oder wenigstens die gleiche Befriedigung (Hooks 2020).

[16] Alle „Probleme“ werden als solche individualisiert So verweisen die Hilfen für in Not geratene Menschen auf individuelle Zuweisungen, denen bspw. auch eine individuelle Diagnose wie Behinderung vorangeht. In der Schule wird das Scheitern tendenziell den Schüler*innen angelastet, die entsprechenden „sonderpädagogischen Förderbedarf“ erhalten. Arbeitslosigkeit ist individuelle „Schuld“ des Ungenügens und auch die dem „burn-out“ vorbeugende Prävention richtet sich an die einzelne Person.

[17] Kollektivität muss sich immer als Gleichmacherei rechtfertigen, Solidarität verkommt zu einer Geste des Klatschens auf dem Balkon, wie in der Coronapandemie geschehen. Demokratisierung der Wirtschaft scheint in utopischer Ferne und das in einer Zeit, in der die Einflusssphären bestimmter Konzerne, die Daten der Menschen ebenso besitzen wie Verlage und Medien, immer bedeutender werden.

[18] Das ist die Aufgabe von Werbung!

[19] Die eigenen Wünsche und Fähigkeiten entsprechend ausgeübte Tätigkeiten. Was heißt es, dass der Lehrberuf „nur“ ein Job unter vielen ist.

[20] Es ist schon etwas anderes, wenn eine einzelne Person mehr Geld besitzt als eine Reihe von Staaten als wenn es „nur“ um drei Ländereien und ein paar Schlösser geht. Trotzdem sind, auch das muss zugegeben werden, die Verhältnisse komplexer und schwerer für einzelne Personen zu steuern. Hierin wiederum liegt die Faszination von Verschwörungstheorien.

[21] Die Idee oder das Konzept der „Commons“ sind hier zu erwähnen, die einen veränderten Blick auf Eigentums- und Wirtschaftsverhältnisse werfen und dadurch vor allem auch die Möglichkeiten der Vernetzung jenseits des Profitmotivs aufzeigen. https://www.boell.de/de/commons

[22] Es sollte nachvollziehbar sein, dass damit der Unterschied zwischen der unmittelbaren Aneignung von Lebensmitteln durch Sammeln von Früchten oder Jagen von Tieren und landwirtschaftlicher Produktion von Lebensmitteln gemeint ist. Das sind unterschiedliche Produktionsverhältnisse, die zwar beklagt, aber nicht mehr zurückverwandelt werden können. „Die Tätigkeit hat ab menschlichem Niveau, dies hatte ich hervorgehoben, generell die Struktur von Arbeit, ist also ewiger Stoffwechsel des Menschen mit der Natur, von dem weder nach Seiten des Objekts, also hier den gesellschaftlichen Verhältnissen, abstrahiert werden darf, noch nach Seiten des Subjekts. (…) Der Analyse von Arbeit kommt somit die zentrale Rolle zu für die Erschließung der gesellschaftlichen Zusammenhänge wie der Aneignung der Natur einerseits, wie der Herausbildung der Subjektivität andererseits“ (Jantzen 1992, 20). Dieser unterschiedliche Aneignungsprozess wird wunderbar durch die kulturhistorische Schule beschrieben, wenn die Differenzen zwischen den Generationen dargestellt werden und uns unsere Großeltern komisch anschauen, wenn wir bestimmte Dinge nicht mehr wissen, die sie noch konnten oder wir sie, weil es für uns selbstverständlich ist, für jede Frage das Smartphone aus der Tasche zu ziehen.

[23] Der Stundenlohn ist Ausdruck der Entschädigung der Lohnarbeiter:innen für das zur Verfügung stellen der Ware Arbeitskraft für diejenigen, die über die Produktionsmittel verfügen. Nur als „abstrakte Arbeit“ kann jede konkrete Arbeit, ganz gleich ob sie als Dienstleistung unmittelbar verbraucht wird oder als Herstellung eines Gegenstands mit Gebrauchswert in einem Laden landet, verglichen werden. Nur so können alle Dinge zu vergleichbaren Waren und an Börsen gehandelt werden, die der Metapher des Marktes, im Sinne eines Wochenmarktes für Lebensmittel, schon lange nicht mehr entspricht. (Wie ist es eigentlich mit dem Arbeitsmarkt?) Geld ist wie beschrieben das Mittel, welches die je konkreten Werte abstrakt zu Gleichen macht. Deshalb sind die Geldbesitzer die „Herrschenden“ im Kapitalismus, weniger diejenigen, die etwas wissen oder können. Sie, die Geldbesitzer können sich natürlich jedes Wissen und Können kaufen, so wie die Armen denken, sie wären anders, wenn sie sich die teuren Klamotten kaufen oder das gleiche teure Auto fahren. Mit diesem Totalitätsanspruch des Geldes kann man den „Fetischcharakter“ der Ware verstehen, denn wenn alles durch Geld zu erwerben ist, dann verspricht das Erwerben von Geld eben auch Waren. Aber auch dies ist nur ein Verhältnis, welches verändert werden kann.

[24] In der Sendeliste von Deutschlandradio Kultur finden sich insgesamt 117 Ergebnisse zum Thema, mal mehr mal weniger direkt zum burn-out, aber vor allem quer durch fast alle Berufssparten, von der Sportlerin bis zum Politiker. Auffällig ist eher, dass die schlecht bezahlten Jobs wie 1-Euro Jobs, jene in der Lebensmittelproduktion oder dem Handwerk und der Dienstleistung dabei nicht bis wenig vorkommen. Zuletzt am 20.7. Arbeit als Lebensinhalt https://www.deutschlandfunkkultur.de/arbeit-als-lebensinhalt-noch-erfuellt-oder-schon-ueberlastet.976.de.html?dram:article_id=500547 oder am 17.5. „Immer gestresst, chronisch erschöpft“ https://www.deutschlandfunkkultur.de/das-burn-on-syndrom-immer-gestresst-chronisch-erschoepft.1008.de.html?dram:article_id=497378

[25] Dies ist eine alte Figur bei Hegel, die eine Abhängigkeit der beiden voneinander kennzeichnete und die m.E. vor allem in den hochbezahlten und hochspezialisierten Jobs wichtig ist. Im Lohnarbeitsverhältnis hat der Arbeitende Macht, da der Arbeitgeber von der Tätigkeit, nicht allein von dessen Qualität, abhängig ist. Wenn bestimmte Jobs aber auf Selbstständigkeit der Tätigen beruhen, fallen Herr und Knecht zusammen, wird endlos bzw. auf Abruf gearbeitet. Hier bekommt auch die Selbstorganisation ein anderes Gesicht. Wird die Organisation der Tätigkeiten in die Hände der Tätigen gelegt, haben diese dafür einzustehen, ob die Ergebnisse entsprechend der Vorgaben aussehen oder in einer gewissen Zeit vorgelegt werden. Arbeiten bspw. Einzelne oder Teams unabhängig voneinander an einem Projekt, entsteht ein Wettbewerb, der auf Selbstausbeutung beruht. Bröckling (2007) hat das als „unternehmerisches Selbst kritisiert: „Du kannst deine Arbeit machen, wann du willst, Hauptsache du machst sie und dann ist der Kollege schneller, weil er keine Kinder zu betreuen hat…

[26] https://jungle.world/artikel/2020/47/wir-sind-weltmeister-im-aussortieren

[27] https://kobinet-nachrichten.org/2020/10/19/werkstatt-entlohnung-licht-in-dunkle-sachverhalte-bringen/; zuletzt am 03.02.2021
Das liest man jedoch eher auf den Internetseiten der Behindertenbewegung, wie eben Kobinet, als in Fachtexten der Sozialwissenschaftler*innen oder Sonderpädagog*innen. Eine einfache Abfrage bei „Google-scholar“ hat keine Treffer aus der Sonderpädagogik, die das Thema Mindestlohn betreffen.

[28] Im DJI-Übergangspanel, erstellt im Bundesministerium für Bildung und Forschung steht folgendes: „Der Bildungsbericht 2008 greift diese Frage erneut auf: „Nach Schulende haben die Jugendlichen mit und ohne Hauptschulabschluss die weitaus niedrigsten Übergangsquoten in eine vollqualifizierende Ausbildung“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 162). https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs/276_9896_Von_der_HS_in_Ausbildung_und_Erwerbsarbeit.pdf
Der Bericht der Bundesregierung wiederum hält fest: „Mit den vorliegenden Statistiken (können) die Wege junger Menschen mit Behinderung von der Schule in das Maßnahmen-, Ausbildungs-und Arbeitsmarksystem nicht analysiert werden“ (vgl. BMBF 2012: 10). Jeder bzw. jede vierte deutsche Jugendliche mündet in das Benachteiligtensystem, darunter überproportional viele Jugendliche mit Migrationshintergrund, die sich wiederum in der Schulzeit überdurchschnittlich häufig im Förderschwerpunkt Lernen finden. Ilka Benner (Benner 2020) schreibt, dass 80% der Schüler*innen ohne Hauptschulabschluss und 42% derjenigen mit Hauptschulabschluss direkt in das Übergangssystem „einmünden“.  71% der Förderschüler*innen verlassen die Förderschule ohne Hauptschulabschluss. Aber mein Punkt ist ja auch nicht, hier an der ein oder anderen Stellschraube zu drehen, sondern eine allgemeine Kritik an der Arbeit und die Auswirkungen auf Bildung.

[29] Zu Stefan Blankertz eine kurze Anmerkung: Ich beziehe mich hier (Blankertz 2006) auf seine Arbeit zur Gestaltpädagogik und das Nachwort zu George Dennison „Lernen und Freiheit - Aus der Praxis der First Street School - Ein Bericht von George Dennison. Blankertz gilt als libertärer Anarchist, was Überbetonung der individuellen Freiheit meint, wie das im Anarchismus immer wieder anzutreffen ist. Er selbst ist Pädagoge, hat als solcher auch publiziert, arbeitet seit 1998 als Redakteur der Zeitschrift „eigentümlich frei“, die der Neuen Rechten Bewegung zuzuordnen ist, was am zutreffenden Argument nicht viel ändert. Er ist damit einer der wenigen, die eine solch konsequente libertäre (freiheitliche) Haltung den Eltern gegenüber vertritt, die m.E. vor allem die Illusion des rationalen Handelns offenbart und darauf verweist, was staatliche Regulation bedeutet.

[30] Das ist eine der wichtigsten nicht quantifizierbaren Erkenntnisse, die sich aus vier Jahren Lehrtätigkeit im Lehramtsstudium quasi nebenbei ergab. Sowohl in der Schule noch tätige Kolleg*innen als auch Studierende im Praktikum erzählen immer wieder, dass bestimmte Themen oder Fragestellungen von Lehrer*innen als zu anspruchsvoll angesehen werden, ohne es nur auszuprobieren.

[31] Das kann noch ausgedehnt werden: Wie gestaltet sich das in einer Werkstatt bzw. wie sehr werden dort die Menschen zu einer Arbeit gedrängt? Was lehre ich in der Schule, Anpassung und den Blick auf einen Job um jeden Preis oder doch auch mal etwas weniger Praktisches?

[32] „Nirgends sind befristete Jobs so verbreitet wie an Hochschulen. Sie stellen viele Nachwuchsforscher ein, brauchen aber nur wenige Professoren. Über eine berufliche Perspektive von Projekt zu Projekt“ SZ vom 23.6.2019; https://www.sueddeutsche.de/karriere/wissenschaft-karriere-befristet-1.4484574 oder „Die unendliche Befristung“ FORSCHUNG UND LEHRE VOM 10.10.2019; https://www.forschung-und-lehre.de/politik/die-unendliche-befristung-2202/ Dort wird der Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs zitiert: Unter 35 Jahren sind rund 98 Prozent der Nachwuchswissenschaftler befristet beschäftigt, zwischen 35 Jahren und 44 Jahren noch immer rund 80 Prozent. Oder „Flexible Dienstleister der Wissenschaft“ FAZ vom 27.3.2018; https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/akademischer-mittelbau-flexible-dienstleister-der-wissenschaft-15502492.html

[33] Hier teile ich alle Bedenken der Bildungstheoretiker an der neuen Lernkultur, auch wenn sie unter dem Stichwort der Inklusion firmiert, denn die Konstruktion von Arbeitsblättern ist noch keine Inklusion.