Andrea Fischer-Tahir/Anke Langner: „Schreibt uns nicht ab, aber zwingt uns auch nicht.“ Macht und Ohnmacht in der beruflichen Rehabilitation für Menschen mit Sehschädigung

Abstract: Der Beitrag befasst sich mit beruflicher Inklusion von Menschen mit Sehschädigung in den Zeiten des digitalen Kapitalismus. Er wirft einen kritischen Blick auf Praktiken der Anpassung an die die sogenannte Industrie 4.0 und spürt – mit Fokus auf eine Fallgeschichte – der Erfahrung von Subjekten nach, die im Kontext von digitaler Transformation der Arbeitswelten ihre eigenen Kategorien von Arbeit, Gesundheit und Identität neu verhandeln. Dabei wird der Frage nachgegangen, inwiefern Disziplin als ein sich über diverse Kontrolltechniken realisierendes Machtverhältnis in der beruflichen Inklusion wirksam wird und wie das von Exklusion bedrohte Subjekt reagiert, wenn Expert*innen sein Feld des möglichen Handelns strukturieren. Der Beitrag zielt darauf, Praxis der Inklusion nach Momenten von Exklusion zu überprüfen.

Stichworte: berufliche Inklusion, Sehschädigung, Kompensation, Digitalisierung, Kapitalismus  

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Theoretische Zugänge
  3. Positionalität und methodischer Zugang
  4. Arbeit, Teilhabe und Digitalisierung
  5. Arbeit, Gesundheit und Identität rekonfigurieren
  6. Fazit
  7. Literatur

1. Einleitung

Jene N. ist Mitte vierzig und arbeitet in der Apotheke. Ihren Bachelor in Pharmakologie machte sie in den 1990er Jahren im Irak, erhielt in Deutschland später eine Approbation als Apothekerin. Vor zehn Jahren wurde bei ihr eine Makuladystrophie diagnostiziert. Sie beschloss, diesen Tatbestand gegenüber Kolleg*innen und Vorgesetzten zu verschweigen und entwickelte Strategien der unauffälligen Kompensation. Als sich die Krankheit verschlimmerte, informierte sie den Arbeitgeber – und verlor ihre Anstellung. Die Agentur für Arbeit bewilligte ihr als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben eine zehnmonatige „Maßnahme zur Anpassung und Integration“ bei einem Träger der beruflichen Rehabilitation für blinde und sehbehinderte Menschen. Hier sollte sie 10-Finger-Tastschreiben, den Umgang mit elektronischen Hilfsmitteln und Vergrößerungssoftware erlernen. Über diese Erfahrung erzählt sie: 
„Wir hatten Handwerker, aus denen man versucht hat, einen Büromenschen zu machen. […] Für mich war es schon schwer genug […] Vor allem hab ich ja auch gemerkt, wie es mich visuell belastet. Ich dachte, also wenn das so weitergeht, dann kann man vielleicht die nächsten fünf Jahre noch arbeiten, aber dann werden die Augen so schlecht, dass man irgendwann gar nicht mehr arbeiten kann.“ (Interview Jene N., 18:27-33)
Das Zitat verweist auf Prozesse von Exklusion im hochentwickelten Kapitalismus (Kronauer 2002) bzw. von Exklusion/Inklusion im Funktionssystem Wirtschaft (Luhmann1996). Es scheint allerdings so, als ob ausgerechnet die Inklusionstätigkeit noch größere Angst vor Exklusion hervorruft. Jene N. bezweifelt die Sinnhaftigkeit der Maßnahme, wenn diese aufgrund der PC-Zentriertheit die Augen noch mehr belastet und darauf zielt, Menschen in Bürotätigkeiten zu lenken. Für uns provoziert dieses Zitat die folgenden Fragen: Inwiefern dienen Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation der Disziplinierung von Menschen mit Behinderungen? Und auf welche Weise reagieren die Subjekte auf Formen der Lenkung ihres Verhaltens? Unser Beitrag untersucht Aspekte von Sehschädigung und fragt nach Wechselwirkungen zwischen Arbeit, Gesundheit und Identität. Am Beispiel einer konkreten Fallgeschichte geht es um die Möglichkeiten und Grenzen beruflicher Inklusion im Kontext von Neoliberalismus (Harvey 2007) und digitalem Kapitalismus (Zuboff 2018; Staab 2019). Das Ziel des Beitrages besteht darin, in Praktiken von Inklusion Formen von Exklusion offenzulegen. 

2. Theoretische Zugänge

Zum Komplex Sehschädigung und Inklusion liegt eine Reihe von Arbeiten vor, die sich mit den Schwerpunkten Kompensation (Högner 2016), Erwachsenenbildung im Alter (Himmelsbach 2009), berufliche Partizipation (Bach 2011; Habeck 2012; Kroos et al. 2017; Zapata 2020) oder Digitalisierung (Petty 2005; Okonji 2018) befassen. In einigen von ihnen schimmert immer noch ein defizitorientiertes Verständnis von Behinderung durch. Unser Beitrag verfolgt einen ressourcenorientierten Ansatz und befragt das empirische Material im Sinne der kritischen Disability Studies nach subjektiver Erfahrung, Repräsentation, sozialem Handeln und kollektiver Identität (vgl. Oliver 1996; Barnes, Mercer & Shakespeare 1999; Waldschmidt & Schneider 2007). Behinderung als ein sozial hergestelltes Verhältnis überlappt mit anderen Unterdrückungsverhältnissen entlang der Differenzkategorien Klasse, Geschlecht, ethnische Herkunft, Staatsbürgerschaft oder Alter. Intersektionalität als analytisches Instrument (Collins & Bilge 2016) ermöglicht, die Komplexität von Marginalisierung herauszuarbeiten.
Wir analysieren berufliche Rehabilitation als Erscheinungsform von Praxis, die nicht „aus freien Stücken“ erfolgt, sondern „unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ (Marx [1869] 1972, S. 115). Bourdieu zufolge entfaltet sich Praxis in einer Dialektik von Habitus und Feld. Akteur*innen tendieren dazu, vermittels relativ unbewusster habitueller Dispositionen der Wahrnehmung, Deutung und Handlung ihre Praxis in einem konkreten vorstrukturierten sozialen Feld auszugestalten, Positionen einzunehmen oder zu beanspruchen und um Bedeutung zu ringen (Bourdieu 1976; Bourdieu & Wacquant 1992). Dabei setzen sie verschiedene Kapitalsorten ein. Kapital als „akkumulierte Arbeit“ (Bourdieu 1983, S. 183) realisiert sich in ökonomischer, sozialer, kultureller oder feldspezifischer Form. In unserem Beitrag interessiert besonders institutionalisiertes und inkorporiertes kulturelles Kapital. In der Forschung wurde die Wirksamkeit dieser Kapitalsorte für Handlung und Identität bereits herausgestellt (Langner 2009). Mit der digitalen Transformation der Wirtschaft entsteht aber eine neue „digitale Klassengesellschaft“, in der Zugang zu Ressourcen und Macht weniger von der alten Klassenposition und Bildungsabschlüssen abhängt, sondern von „technisch-sozialem Wissen“, das immer mehr aufgewertet wird (Jacob 2017: 32). Wieviel ist unter diesen Bedingungen das kulturelle Kapital einer Apothekerin noch wert?
Die Praxis der Anpassung ist nicht nur durch politisch-ökonomische Verhältnisse vorstrukturiert, sondern unterliegt auch Vorstellungen von Behinderung, die in historischen Prozessen entstanden (Jantzen 1987; Mitchell 1997). Berufliche Rehabilitation von Menschen, die behindert werden, verdankt ihre Entstehung einer modernen Medizin, die im 19. Jahrhundert die Bipolarität zwischen „normal“ und „pathologisch“ erfand (vgl. Foucault [1963] 2016: 53). Diese Bipolarität kehrt in Begriffen wie „Maßnahme“ und „Anpassung“ wieder und wird mit Konzepten von Arbeit, Nützlichkeit und Disziplin gekoppelt. So zielt die Rehabilitation nicht nur auf eine „möglichst reibungslose Eingliederung in Kommunikations-, Konsumtions- und Produktionsabläufe“, sondern auch auf die „Einpassung in und Anpassung an eine ‚nicht behinderte‘ Ordnung“ ab (Waldschmidt 2007: 68). Mit Foucault ([1975] 2015) fassen wir Räume dieser Ein- und Anpassung als Disziplinarräume. Expert*innen im Rehabilitationssystem üben eine Reihe von Techniken der räumlichen Kontrolle, der Kontrolle der Zeit und der Tätigkeiten aus, um „das Feld eventuellen Handelns der anderen zu strukturieren“ (Foucault 1987: 255). Foucault spricht von der „‚Führung der Führungen‘“ (ibid.). Wird diese Form der Machausübung von den zu ordnenden Subjekten erkannt, kann sie Einverständnis oder Ablehnung hervorrufen, oder zu unerwarteten Handlungsresultaten führen.

3. Positionalität und methodischer Zugang

Dieser Beitrag basiert auf einer von der Deutschen Rentenversicherung geförderten Forschungskooperation zwischen der TU Dresden, dem Berufsförderungswerk Halle (BFW) und dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz. Das BFW ging aus einer Blindenanstalt bzw. späteren Berufsausbildungsstätte für Blinde und Sehbehinderte hervor, bietet derzeit (ähnlich anderen) hauptsächlich berufsbegleitende, -fördernde oder -bildende Maßnahmen, die auf Bürotätigkeit abzielen. Wir wollten verstehen, wie Personen, die im Erwachsenenalter eine Sehschädigung erworben haben, Angebote zur digitalen Anpassung deuten und auf ihren eigenen Lebensentwurf beziehen. Zwischen Mai und September 2019 führte eine der beiden Autorinnen Befragungen am BFW durch. In der Einrichtung wurden fünf Fokusgruppendiskussionen und außerhalb der Einrichtung sechs narrative Interviews mit damaligen bzw. ehemaligen Teilnehmer*innen an Bildungsmaßnahmen durchgeführt. Die Analyse der vollständig transkribierten Diskussionen und Interviews erfolgte in Anlehnung an Verfahren von Qualitativer Inhaltsanalyse (Mayring 2010), Grounded Theory (Strauss/Corbin 1996) und Narrationsanalyse (Rosenthal 2014, bes. S. 174-211).
Unsere Forschungsperspektive ist geleitet von Positionalität und Reflexivität. Haraway (1988) wies auf die strukturierte und strukturierende Seite des forschenden Subjekts hin; unser Blick kommt nicht aus dem nirgendwo, und er sollte nicht „from above“ den Anspruch auf Objektivität erheben. Vielmehr plädiert sie für die Lokalisierung von Wissen („situated knowledges“), das dann eben nur begrenzt gültig ist (Haraway 1988, bes. S. 581; 584; 589). Sozialwissenschaftliche Forschung muss die sozialen und intellektuellen Bedingungen, unter denen sie entsteht, offenlegen und reflektieren (Bourdieu & Wacquant 1992). Unsere Fragestellung und methodische Vorgehensweise ist nicht nur von bestimmten Epistemen geprägt, sondern auch von persönlicher Erfahrung. So ist eine der beiden Autorinnen selbst medizinisch als „sehbehindert“ kategorisiert und beendete kurz vor Beginn des Projekts eine 12-monatige „blindentechnische Grundrehabilitation“ am BFW. Dies bot für die Befragung, die ihr allein oblag, Vorteile. Denn mit den Befragten teilte sie Erfahrung und Interessen, konnte sich daher mühelos auf ihre Kategorien beziehen und eine Vertrauensbasis herstellen. Gleichzeitig kam auch Misstrauen auf. Hinsichtlich kulturellen, ökonomischen und sozialen Kapitals war die Position der Forscherin gegenüber den (meisten) Interviewten privilegiert. Auch lag der Nutzen der Befragung eher auf ihrer Seite. Darüber hinaus glaubten einige Befragte, die Interviewerin gehöre zum BFW. Die Teilnehmer*innen an Maßnahmen sind aber abhängig von der Beurteilung durch das Rehabilitationsmanagement und dem, was dieses in Archiven über sie speichert. Daher kam es in der Befragung zu Momenten, in denen Selbstzensur zu wirken schien, aber auch zu latenten Vorwürfen an die Interviewerin, die als Teil des Systems wahrgenommen wurde. In den narrativen Interviews außerhalb der Einrichtung herrschte ein höheres Maß an Vertrauen, weil der Gegenstand des Gesprächs zu zweit und mit mehr Zeit besser ausgehandelt werden konnte. Die Machtasymmetrie zwischen Interviewerin und Interviewpartner*in bestand dennoch; sie kann in Interviews als sozialer Handlung auch kaum eliminiert werden (Bourdieu 2010).

4. Arbeit, Teilhabe und Digitalisierung  

Es existiert ein enormer Korpus an Daten über berufliche Inklusion, vieles davon anwendungsorientierte Studien. Unter Bezug auf Art. 27 UN-BRK werden Teilhabechancen untersucht von Menschen mit Behinderungen im Allgemeinen (Kardorff et al. 2013; Niehaus & Bauer 2013) bzw. Blinden und Sehbehinderten im Besonderen (Bach 2011; Kroos et al. 2017). Diese Forschung unterstützt das gesellschaftliche Projekt der Inklusion. Interessant ist der Begriff „Arbeit“, wie er in dieser Forschung erscheint. Er wird meist mit „sozialversicherungspflichtiger Erwerbsarbeit“ gleichgesetzt. Mit Ausnahme einiger weniger Selbständiger, einem Unternehmer und einer Ich-AG, die in den Statistiken von Bachs Untersuchung zur Optimierung der Kommunikation in der Arbeitsvermittlung auftauchen (Bach 2011: 70; 73; 86), sind in diesen Studien fast ausschließlich Menschen mit Behinderungen repräsentiert, die es gilt, in abhängige Lohnarbeit zu bringen. Arbeitgeber*innen und andere Expert*innen im Feld (mit Ausnahme der Interessensverbände von Menschen mit Behinderungen) erscheinen immer als nicht-behindert. Es überlagern sich somit bipolare Vorstellungen von „abhängig“ und “nicht abhängig“ mit „behindert“ und „nicht behindert“. Dabei fordert Artikel 27 (1.f) die Vertragsstaaten auf, Selbständigkeit und Unternehmertum von Menschen mit Behinderungen zu fördern. Die Einengung auf abhängige Erwerbsarbeit verstellt allerdings auch den Blick für andere Formen von Arbeit wie häusliche Pflege oder ehrenamtliche, gesellschaftliche Tätigkeit. Eher insistieren diese Studien darauf, dass es sich bei den Beforschten oft um qualifizierte Fachkräfte handele, die von hohem Nutzen für die nationale Wirtschaft sein könnten (Bach 2011, S. 480; Niehaus & Bauer 2013, S. 6; Kardorff et al. 2013, S. 72). Herrschende Diskurse über den deutschen Fachkräftemangel und die nationale Wettbewerbsfähigkeit finden sich so zwar eingelagert in die Argumente, werden aber nicht kritisch reflektiert.  
Problematisch sind Argumente, in denen Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation als quasi interessefreie Akteure repräsentiert sind, deren Ziele „den Bedarfen“ der Rehabilitand*innen unterliegen würden (bes. Kroos et al. 2017). Dabei sind diese Einrichtungen wirtschaftliche Unternehmen, und ihre Wettbewerbsfähigkeit hängt in einem hohen Maß vom aktivierenden Sozialstaat ab. Euphemistisch werden Rehabilitand*innen inzwischen „Kunden“ genannt. Die Arbeit der Einrichtungen ist an Effizienz- und Erfolgskriterien im Sinne einer Wirtschaftlichkeit ausgerichtet und wird mit neoliberalen Qualitätsmanagementsystemen gemessen (vgl. Schäper 2006; Bröckling 2007). Bei aller Netzwerktätigkeit dieser Einrichtungen, Rehabilitationsträger sind objektiv gezwungen, um „Kunden“ zu konkurrieren, sie an sich zu binden (durch Folgemaßnahmen, Langzeitbetreuung) und sich auf dem Markt der Inklusionsindustrie so zu positionieren, dass sie von staatlichen Kostenträgern bei der Kundenzuweisung bevorzugt werden. Die Aufgabe der Mitarbeiter*innen besteht dann darin, die Erwartungen des Staates zu erfüllen. Damit sind diese Einrichtungen nicht frei von sozialen Interessen, sondern konstituieren Räume der neoliberalen Governmentalität (Foucault 2008). Zu beobachten ist inzwischen die Strategie, sich Vorsprung durch Digitalisierung zu verschaffen; davon zeugt auch unser eigener Forschungskontext. Der Zwang zu digitalen Lehr-Lern-Arrangements während der Corona-Pandemie vermag dem Wettbewerb eine neue Dynamik zu verleihen.
Becker (2015) formuliert harsche Kritik an Inklusion unter den Bedingungen von neoliberaler Arbeitsmarktpolitik und zunehmender sozialer Ungleichheit. Die Erzählung von der notwendigen Aktivierung von Menschen mit Behinderungen berge die Gefahr, dass das von der UN-BRK postulierte Recht auf Arbeit in einen Zwang zur Arbeit umgedeutet wird. Einpassen, so sein Argument, ließen sich ohnehin nur diejenigen, die „präparationsfähig genug sind, um sich – wenigstens im gering qualifizierten Niedriglohnbereich – erwerbstätig aufzuhalten“ (Becker 2015, S. 122-123). Erwachsene Blinde und Sehbehinderte werden offenbar als „präparationsfähig“ betrachtet, zumindest sind im Grünbuch Arbeiten 4.0 „insbesondere […] die Bedürfnisse blinder und sehbehinderter Menschen“ genannt (BMAS 2015: 46). Auch der digitale Kapitalismus hat inzwischen verstärkt Menschen mit Sehschädigung als potenzielle Kund*innen im Blick.[1] Die technischen Möglichkeiten erweitern sich beständig. Elektronische Hilfsmittel und Assistenzsysteme sind durchaus geeignet, um Partizipation an Arbeit zu realisieren. (Ohne Vergrößerungssoftware und Bildschirmlesegerät, Screenreader und elektronischer Braillezeile wäre eine der Autorinnen dieses Beitrags längst nicht mehr in der Wissenschaft tätig.) Digitalisierung hat eine unterstützende Seite. Allerdings muss ihr Einsatz bei der Inklusion von ethisch-moralischen Überlegungen abhängig gemacht werden (Behrendt 2018). Darüber hinaus sollten diese technischen Möglichkeiten nicht auf ihren Gebrauchswert für das einzelne Individuum reduziert werden. Softwarelösungen zur Kompensation von Sehschädigung werden für bestimmte „proprietäre Märkte“, die durch die „Leitunternehmen des digitalen Kapitalismus“ konstituiert werden (Staab 2019, S. 46), entwickelt. Daraus ergeben sich soziale und technische Abhängigkeiten und sehr konkrete Anwendungsprobleme, über die in unseren Befragungen die Teilnehmer*innen lebhaft berichteten. Hilfsmittel für Sehgeschädigte sind extrem teuer; niemand der Befragten hätte sie sich selbst kaufen können. Die hohen Preise für digitale Lösungen zwingen die Menschen in Abhängigkeit vom Staat, der von Kategorien und Kriterien geleitet, Hilfsmittel zuweist. Mangel an ökonomischem Kapital zementiert den Status „behindert“. Darüber hinaus bedeutet Anpassung an die digitale Arbeitswelt eine (zusätzliche) Einpassung in den „Überwachungskapitalismus“ (Zuboff 2018). Der Widerspruch zwischen mehr Teilhabe und mehr Überwachung wurde in unseren Befragungen von Teilnehmer*innen kontrovers diskutiert. Zum Thema der beruflichen Anpassung durch Digitalisierung waren die Meinungen der insgesamt 26 befragten Personen ebenfalls geteilt: Anpassung wurde positiv als berufliche Chance  gedeutet (vor allem bei Personen, die bereits hohe Digitalkompetenz besaßen), als Notwendigkeit, um den sozialen Abstieg abzufedern, oder aber als negativ und Widerspruch zu bisheriger beruflicher Identität. Jene N. gehört zu der zuletzt genannten Tendenz.  

5. Arbeit, Gesundheit und Identität rekonfigurieren

Das Interview mit Jene N. fand auf ihren Wunsch hin in der Wohnung der Interviewerin statt. Jene N.s stammt aus einer deutsch-irakisch-arabischen Mittelklassefamilie. Mit einer Kindheit und Jugend in Deutschland, Großbritannien und Irak wuchs sie dreisprachig auf. Als sie in den 1990er Jahren in Bagdad Pharmakologie studierte, standen den Studierenden keine Computer zur Verfügung. Zurück in Deutschland, 2001, musste sie zunächst Kurse besuchen und Prüfungen absolvieren, weil ihr Hochschulabschluss nicht anerkannt wurde, erhielt dann aber die Approbation. Jene N. ist hinsichtlich kulturellen Kapitals also gut aufgestellt: Zeugnisse, Sprachkenntnisse, interkulturelle Kompetenzen etc.

Den „Makel“ verbergen und weiterarbeiten

Jene N. trägt schon eine Weile eine Brille während der Arbeit. Als mit 34 Jahren die Lesefähigkeit enorm nachlässt, schickt die Augenärztin sie zur Abklärung in die Klinik. Von dort wird sie an weitere Klinik zu einem Spezialisten für Netzhauterkrankungen überwiesen.

„Und da kam eben zu meinem Schock die Diagnose. Womit ich überhaupt nicht gerechnet habe. Ja, es ist eine Netzhautveränderung […] Therapie? Es gibt keine Therapie. Und das war für mich … […] Damals haben sie [die Kolleginnen] mich gefragt, was war. Nee, alles okay, alles okay. Da ich persönlich die Diagnose eigentlich bis heute ablehne und in der Anfangsphase noch mehr, hab ich natürlich nicht darüber gesprochen.“ (3:14-3:18)

Das war 2009. Auf der Arbeit entwickelt sie ab jetzt bewusst Kompensationsstrategien. In den folgenden Jahren wechselt sie dreimal die Apotheke, immer auf der Suche nach besseren Arbeitsbedingungen. Um „keine Fehler zu machen“, kontrolliert sie Rezepte und Produkte mehrmals, „kriecht in den Bildschirm“ und entschuldigt Sehprobleme mit einer vermeintlich „nicht perfekten Brille“. Irgendwann aber scheint dem Umfeld ihr Verhalten erklärungsbedürftig: „ich wurde wohl auffällig“ (5: 23). Erst im Sommer 2015 kommt es zu einem Gespräch mit dem Chef. Im Interview spielt dieses Gespräch eine wichtige Rolle. Jene N. nimmt mehrere Anläufe, um es zu erzählen, bricht ab, geht in der Erzählung vor, dann wieder zurück, dann wieder vor. Sie spricht davon, „gebeichtet“ zu haben (6:14). Besonders wichtig scheint ihr, klarzustellen, der Chef habe sie nicht wegen irgendwelcher Fehler, sondern aus Vorsicht nicht weiterbeschäftigt. Sie sagt: „Da kann ich echt stolz darauf sein, dass mir keine Fehler passiert sind“ (5: 33-34). In die Arbeitslosigkeit entlassen sucht sie, beraten von Augenärztin und Interessensverband für Blinde und Sehbehinderte, nach einer Möglichkeit der beruflichen Rehabilitation, um weiter Apothekerin zu bleiben. 
Die Rekonstruktion von Jene N.s Fallgeschichte erlaubt die Identifizierung von teilweise überlappenden Phasen des Schocks/der Verleugnung, der Verdrängung, Angst und des aktiven Handelns (vgl. Kübler-Ross 1969). Interpretationsbedürftig ist bis heute die Diagnose ablehnen. Die Aussage könnte als mangelndes Vertrauen in die Verstehbarkeit des Stressors (vgl. Antonovsky 1997, S. 38) interpretiert werden. Jene N. leugnet aber zu keinem Zeitpunkt des Interviews, „sehbehindert“ zu sein. Nur die Diagnose einer erblich bedingten Netzhauterkrankung erscheint ihr vor dem Hintergrund eigenen gesundheitsbezogenen und Familienwissens als nicht sicher. Womöglich ist sie es auch nicht; auch andere Befragte wiesen auf Erfahrungen komplizierter Diagnosefindung und unsichere Befunde. Um weiter mit Antonovskys Konzepten zu sprechen, Jene N.s Kompensationsstrategien deuten auf Vertrauen in die Handhabbarkeit der Sehschädigung. Entscheidend ist wohl aber die Bedeutsamkeit, die Jene N. der Krankheit beimisst – sie hat Angst zu erblinden, trennt in ihrer Erzählung auch immer strikt „sehbehindert“ von „blind“. An einer Stelle sagt sie: „Sind nicht die Augen das Wichtigste, was wir haben? Und einen Makel daran will man doch nicht haben (9: 19). Das führt uns zu den Formulierungen „auffällig geworden“ und „beichten“. Im Interview spricht sie von ihrem Verlust der „normalen“ Sehfähigkeit zweimal als „Defizit“ und sechs Mal als „Makel“. Auf Jene N.s Fremdartigkeit, die sie zu verbergen sucht, reagiert das Umfeld mit Sanktion. Damit verweist die Repräsentation auf Vorstellungen von Stigma und Wechselwirkungen zwischen Erwartungen der „out-group“ und „in-group“ (Goffman [1975] 2018, S. 151). Auch scheint Jene N. Benachteiligungen als Frau in einer „appearance-oriented world“ (Fannon 2016) zu antizipieren, sollte sie sich „outen“. Die lange Phase der heimlichen Kompensation erklärt sich auch mit Hinblick auf Interdependenzen zwischen den „Konstrukten Geschlecht und Behindertwerden“, die beide „über Leistungsfähigkeit hergestellt werden“ (Langner 2009, S. 246). Jene N. hatte bereits die Erfahrung gemacht, dass aufgrund von Staatsbürgerschaft ihre kulturellen Leistungen geleugnet wurden. Daher betont sie „Stolz“ auf ihre Leistungen in der deutschen Apotheke. Im Sinne von Antonovsky (1997, S. 16) kann gesagt werden, dass diese Einstellung als Erscheinungsform von kultureller Stabilität eine generalisierte Widerstandsressource konstituiert. Sie verleiht Jene N. Handlungsmacht. Die gleichzeitige Ohnmacht angesichts der Barrieren findet sich verdichtet im Begriff „Schock“ – denn er bezieht sich sicherlich nicht nur auf die Angst vor Erblindung, sondern auch darauf, dass ausgerechnet in einem Gesundheitsberuf kein Platz ist für jemanden mit einem „Makel“. 

Sich gut führen und führen lassen

Erst ein Jahr nach Beantragung einer Leistung zur Teilhabe, wird Jene N. an das BFW geschickt. Dazwischen liegt eine Zeit der Unsicherheit. Zum einen ist ihre Mutter schon vor einer Weile schwer erkrankt und muss zu Hause gepflegt werden. Zum anderen verdeutlicht ihr die Agentur, dass sie ALG 1 nur erhalte, wenn sie Nachweise über Bewerbungsaktivitäten liefere. Jene N. bewirbt sich auf Stellen. In Bewerbungsgesprächen geht sie offensiv mit der Sehschädigung um, in der Hoffnung, nicht angestellt zu werden, denn: „Es ist nämlich ein bisschen hart zu arbeiten und zu pflegen“ (7: 5). Außerdem schätzt sie inzwischen realistisch ihre Sehfähigkeit ein und weiß, was zu tun ist: „In dem Sinne war auch die Maßnahme wichtiger“ als eine neue Arbeit (7: 24). Kaum sagt sie diesen Satz, bricht es schon aus ihr heraus: 

„[…] ich denke, lass doch Leute, die ein Defizit haben und wegen dieses Defizits arbeitslos geworden sind, in Ruhe, bis sie an diese Maßnahme gekommen sind […]“ (7: 24-27)

Die Zahlung von Leistungen aus der Kasse, in die die Werktätigen beständig einzahlen, an die Androhung von Sanktionen zu koppeln, ist nur ein Beispiel für die Disziplinartechniken des aktivierenden Sozialstaats (vgl. auch Beck 2015, S. 88-103). Absurd aber wirkt der Einsatz dieser Technik im Falle einer Sehbehinderten, die weder elektronische Hilfsmittel hat, noch jemals je in deren Umgang eingewiesen wurde. Sie muss doch erst „präparationsfähig“ gemacht werden! Das Zitat deutet darauf, dass Jene N. optimistisch war, durch eine „Maßnahme“ in ihrer Leistungsfähigkeit wiederhergestellt zu werden. Über die Maßnahme n zur Anpassung und Integration findet sich folgendes auf der Webseite des Bildungsträgers:
„Klärung benötigter Hilfsmittel; Motivation und Selbstsicherheitstraining; Erfassung individueller Defizite/Teilnehmerprofile; Assessment-Center; Berufswegplanung/Berufseinstiegsanforderungen, Arbeitsorganisation; Kommunikationstraining; Aktualisierung der Anwendung neuer Software; Bürokommunikation (Internet, Online, Fax); Aktualisierung vorhandenen Wissens; neue Rechtschreibung; Bewerbungs- und Integrationstraining; Praktikumsvorbereitung.“[2]

Sie dient also dazu, vermeintliche Defizite zu beseitigen und die Person mit Sehschädigung in Arbeit zu bringen. Das kommt teilweise Jene N.s Erwartungen entgegen – obwohl sie sagt, sie habe nie auf die Homepage geschaut und auch vorab kein Programm erhalten. Nur wenige Tage nach Beginn der Maßnahme, so erzählt sie, ist sie bereits verunsichert. Der Schulungsraum, dem sie zugeordnet wird, erinnert an Schule, nur, dass jede Menge Technik auf den Tischen steht wie größerer PC-Monitor, große Tastaturen mit gelb-schwarz-Kontrast sowie Bildschirmlesegerät. Es werden gemeinsam mit Teilnehmer*innen anderer Bildungsprogramme aus den benachbarten Räumen in einem Speisesaal die für alle kostenlosen Mittagsmahlzeiten eingenommen und sich einmal die Woche in der Turnhalle kontrollierten Körperertüchtigung und der Entspannung wie Qi Ging hingegeben. Der Tagesablauf ist zeitlich genau getaktet – Zuspätkommer am Morgen oder nach Pausen werden streng ermahnt. Es gibt einmal die Woche einen Tag, um selbständig am PC zu einem „Projekt“ zu recherchieren und anschließend das Halten von Vorträgen zu üben. Jene N. sagt, ihre Vorträge seien immer sehr gut benotet worden, anderen aber, etwa einem zurückhaltenden Elektriker, habe diese Aufgabe überfordert. Die Rehabilitationsmanagerinnen, von Jene N. öfter liebevoll als „die beiden Damen“ genannt, sind freundlich, aber ihre Rolle bleibt der Teilnehmerin etwas unklar, denn dem Bild von Lehrerinnen entsprechen sie nicht. Jene N.s Erzählung deckt sich mit denen anderer Befragter und den Beobachtungen einer der Autorinnen dahingehend, dass das „Aktualisieren vorhandenen Wissens“ auch Übungen in, am Computer abzuarbeitenden „Lernfeldern Deutsch/Mathematik“ meinte, während es eine Stunde „Wirtschaft und Soziales“ gab, in der einige der oben im Zitat genannten Komplexe berührt wurden. Da Jene N. kaum Computerkenntnisse hat, will sie Neues lernen. Das an der Einrichtung etablierte Lerntätigkeitsformat entspricht aber nicht ihren Erwartungen:
„[…] meine Haupterwartung war, dass man uns beibringt, wie man mit dem Computer im Alltag umgeht. Und nicht […] du musst ab jetzt selbst mit dem Rechner arbeiten. […] Das war für mich ein Schock.“ (16: 21-22)

Jene N. kommt mit dem Format der digitalen Anpassung nicht gut zurecht. Erwartet wird selbständiges Einarbeiten in den Umgang mit Bildschirmlesegerät, Vergrößerungssoftware, Screenreader, Tastenkombinationen und Grundlagen der Datenverarbeitung. Über das „Tippkönigin“-Programm sollen die Teilnehmenden 10-Finger-Tastschreiben lernen. Das Personal betritt den Raum nur sporadisch, zur Kontrolle und zu organisatorischen Ankündigungen; wir gehen davon aus, sie sind mit der „Erfassung individueller Defizite/Teilnehmerprofile“ sowie anderen bürokratischen Aufgaben, die der Kostenträger verlangt, befasst. Aufgrund mangelhafter Vorkenntnisse kann Jene N. viele der Arbeitsaufgaben ohne Hilfe nicht erfüllen. Direkte Kommunikation mit einer Lehrkraft und anderen Lerner*innen hätte ihre Lerntätigkeit sicher positiv beeinflusst. Außerdem hätte mündliche Kommunikation und soziale Interaktion den Anteil der Mensch-Maschine-Operationen reduziert und so die Augen entlastet. Es findet aber keine inklusive berufliche Bildung statt, sondern eine in Zeit und Raum kontrollierte selbständige Abarbeitung von Aufgaben, die willkürlich kontrolliert werden. Die ständige Arbeit am PC ermüden die Augen:
„Es war manchmal mit Grausamkeit, so nach dem Motto, ein Beinamputierter muss unbedingt rennen. So hab ich mich manchmal gefühlt.“ (24: 2-3)

Jene N. spürt wohl den Druck der Anpassung an die „nicht-behinderte“ Ordnung. Anpassung dieser Art widerspricht aber ihren eigenen Bedürfnissen. Je stärker das Gefühl, Leistungsanforderungen nicht erfüllen zu können, desto mehr nimmt Jene N.s Aversion gegen den Computer zu; im Interview schimpft sie auf die Aufwertung von Computerkenntnissen und hält dieser Entwicklung ihre „pharmazeutische Kompetenz“ entgegen (2: 20). Am Ende wird in dem Bericht, der dem Kostenträger ihre Fortschritte und noch vorhandenen „Defizite“ dokumentiert, vermerkt sein, sie würde nur unzureichend Anordnungen auf Deutsch verstehen. Jene N. bezieht sich während und nach dem Interview darauf: „Umschalttaste oder Menütaste … Da wusste ich doch nicht, was sie [die Rehabilitationsmanagerin] meinte!“ (Gesprächsprotokoll 10.05.2019). Im praktischen Teil der Maßnahme absolviert sie ein Praktikum in einer Apotheke; ihr sei es peinlich gewesen, sich auf unbezahlte Praktika bewerben zu müssen, erzählt sie. Am Ende der Maßnahme erhält sie auf eine der vielen Bewerbungen eine Zusage. Kostenträger, Leistungserbringer, Arbeitgeber sowie eine Hilfsmittelfirma wirken nun zusammen, um die Anstellung zu forcieren. Der Arbeitgeber soll für die ersten sechs Monate des auf zwei Jahre befristeten Vertrages vom Staat einen Zuschuss zu den Lohnkosten in Höhe von 60 Prozent erhalten. Jene N. kommen Zweifel: Befristung bedeutet keine Perspektive und der Umstand, dass die Fahrt zu der außerhalb der Stadt liegenden Apotheke täglich zweimal anderthalb Stunden dauern würde, bedroht die weitere Ausübung der Pflege der Mutter. Der Bildungsträger rät ihr aber dringend zu, erzählt Jene N.; es hieß, sie würde in ihrer Situation keine viel besseren Angebote bekommen. So nimmt sie die Stelle an. Als die Interviewerin sie sieben Monate nach dem Interview wiedertrifft, steht Jene N. kurz vor der Kündigung.
Auf den ersten Blick wirkt dieses Beispiel als gelungene Inklusion. Sehbehinderte hat wieder Arbeit, und sogar in ihrem Beruf. Aber ist es gute Arbeit? Gute Arbeit würde bedeuten, wie Hauke Behrendt moralphilosophisch argumentiert, dass die Arbeitnehmerin nicht instrumentalisiert wird und die Arbeitgeberin ihrer Fürsorgepflicht nachkommt (Behrendt 2018, S. 18-26). Beides ist nur schwach oder gar nicht gegeben, und der Verdacht liegt nahe, die Arbeitgeberin wollte vor allen Dingen von der staatlichen Hilfe profitieren. Außerdem droht wieder die Exklusion aus dem beruflichen Feld. Auch aus einer von kulturhistorischer Tätigkeitstheorie geleiteten lerntheoretischen Perspektive repräsentiert das Beispiel nicht gerade gelungene Inklusion: Alle Teilnehmer*innen haben das gleiche, standardisierte Programm, es wird weder an Lernausgangsbedingungen, noch an dem persönlichen Sinn, den Wissensvermittlung ansprechen sollte, angeknüpft; es zählt vornehmlich diejenige Bedeutung der Tätigkeit, die sich für den Bildungsträger rechnet. Bedeutung und Sinn fallen hier also auseinander (vgl. Leontjew 1982; Jantzen 2005). Darüber hinaus zeigt die Verwechslung von Deutschkenntnissen mit Computerkenntnissen durch die Expertinnen, auf die Jene N. in Bezug auf ihren Abschlussbericht hinweist, einen Exklusionsmechanismus auf, der aus der Intersektionalität von Behinderung mit der Differenzkategorie ethnische Herkunft herrührt. Defizite werden nicht in der Wissensvermittlung, sondern in der Wissensaneignung verortet und ein strukturell entstandenes Problem auf das Individuum zurückgeworfen.
Machtausübung durch Aufteilung des Raumes, Kontrolle der Zeit, Arbeit am Körper, Zuweisung von Tätigkeiten, willkürliche Kontrolle, Beurteilung und schließlich Dokumentation und koordinierte Überwachung – diese Disziplinartechniken (Foucault [1975] 2015, bes. ab S. 181), verfehlen im vorliegenden Fall ihre Wirkung nicht. Sicher, aus Jene N. würde keine Bürokraft werden, aber in ihrer Führung lässt sie sich dennoch führen und müht sich ab, und entgegen ihren eigenen Interessen nimmt sie eine unsichere Stelle mit ungünstigen Konditionen an. Die Frage ist, warum tut sie das? Ist es die Angst vor dem sozialen Abstieg? Eine solche Angst formulierte eine ganze Reihe der Befragten. Oder ist Jene N. durch ihre Sehnsucht nach Anerkennung ihrer Leistungsfähigkeit motiviert? Wir interpretieren ihr Handeln in folgender Weise: Die Maßnahme vermittelt, dass bestimmte Fähigkeiten weniger wert sind als andere und dass berufliche Chancen für Menschen mit Sehschädigung in ihrer Diversität objektiv eingeschränkt sind. Offenbar hat Jene N. dieses soziale Wissen akzeptiert. Da ihr aber das aufgewertete digitale Wissen fremd bleibt, sogar feindlich erscheint, hält sie sich verzweifelt an dem fest, was ihr früher einmal Sicherheit verliehen hatte.

An der Identität arbeiten

Auch wenn Lehr-Lern-Format, die Aufwertung digitaler Kompetenzen bei gleichzeitiger Abwertung anderen Wissens und anderer Fähigkeiten sowie der Zwang zur Arbeit in Jene N.s Erzählung als problematische Aspekte der Maßnahme betont werden, sie verweist im Interview auch auf positive Momente. In ihrem Beruf muss sie mehrheitlich und viele Stunden stehen, außerdem beansprucht die Pflege der Mutter sie körperlich. Vor diesem Hintergrund war sie darüber „glücklich“, mehrheitlich sitzen zu dürfen und empfand die Maßnahme als „kleine Auszeit“ (19: 2). Einen Schonraum bot die Maßnahme freilich nicht; Jene N. erklärt sogar, dass durch die Dauerbelastung am PC sich ihre Sehleistung weiter verschlechtert habe, denn intensive Bildschirmarbeit sei für sie eine ungewohnte Belastung gewesen; „weil so viel und nur vorm Rechner ist man in der Apotheke nicht“ (16: 21-31). Woran sie sich offenbar gern erinnert, ist das Zusammensein mit Personen, vor denen sie ihren „Makel“ nicht verstecken muss; zu diesen Personen zählt sie auch die Rehabilitationsmanagerinnen. Jene N. knüpft Beziehungen, die die Maßnahme überdauern. Im Gegensatz zu anderen Befragten spricht sie dennoch vergleichsweise wenig darüber, dass sich die Teilnehmer*innen für gewöhnlich viel miteinander austauschen, Erfahrungen bewerten und Informationen über Augenkrankheiten, die staatliche oder kassenärztliche Versorgungsbürokratie, barrierefreie Kulturangebote oder Gesundheitsvorsorge teilen. Ja, über Erfahrung mit digitalen Hilfsmitteln sei auch geredet worden, und darüber wie Sprachassisstenten und Apps helfen, draußen den Weg zu finden, aber:

„Ich komm aus einem Land, wo man Leute fragt. (lacht) […] Da gibt es keine ordentliche Adresse, gibt es keine Straßennamen. Man fragt einfach, wo wohnt der Herr Soundso. Und jemand Wildfremden zu fragen […] das hab ich mit der Muttermilch aufgesogen.“ (30: 2-9)

Mit diesem habitualisierten Handlungsmuster deutet sie auf eine wichtige Ressource, die ihr gegenüber den anderen (den deutschen) Sehbehinderten einen klaren Vorteil verschaffe. Mit anderen Sehbehinderten scheint sie aber auch ein Gefühl kollektiver Identität entwickelt zu haben. Inzwischen ist sie Mitglied in einem Interessensverband für Blinde und Sehbehinderte, nimmt an Treffen, Informationstagen, Hilfsmittelausstellungen, Ausflügen und Weihnachtsfeiern teil. Dabei hat sie sich lange gegen das Label „sehbehindert“, welches sie von Optikerinnen, Ärztinnen und Institutionen erhalten hatte, gewehrt; „Ich bin doch nicht behindert. Und sehbehindert schon gar nicht“, habe sie früher gedacht (31: 5-6). Die kollektive Identität erscheint in ihrer Narration aber oft negativ, wie etwa: „Wir sind den Leuten suspekt“ (3: 32) oder „Wenn man uns unbefristet einstellt, wird man uns nicht los“ (5: 24). In dieser Weise reflektiert sie nicht nur biografische Erfahrung, sondern auch Vorstellungen von Unterdrückung. Mit „wir“ und „uns“ meint sie „uns Sehbehinderte“ (13: 3), und damit wohl auch die sehbehinderte Interviewerin. Verwirrend für die Interviewerin wird es dann aber am Ende der Begegnung. Jene N.s narrative Repräsentation endet gewissermaßen auf dem Weg zum Bahnhof, zu dem sie die Interviewerin begleitet. Wieder kommt sie auf den erlebten Druck durch die Agentur für Arbeit und das BFW zurück und plötzlich sagte sie: 
„Was ich mir wünsche, dass man uns auch mal in Ruhe lässt. Ich sag immer, schreibt uns nicht ab, aber zwingt uns auch nicht.“ (Gedächtnisprotokoll, 10.05.2019)

Wer ist hier das „Wir“ und „Uns“ und an wen richtet sich die Aussage – das BFW, den deutschen Staat, die „Nicht- Behinderten“? Oder doch auch an die Interviewerin? Immerhin hat diese es verglichen mit ihr selbst irgendwie besser: ihr deutsches Hochschulzeugnis ist anerkannt, ihre Staatsbürgerschaft nicht angezweifelt aufgrund binationaler Herkunft und sie wurde nicht zu einer Arbeit überredet, die sie nicht will. Vielleicht ist der Adressat eine Vermengung mehrerer Instanzen. So oder so: das Individuum bäumt sich auf gegen eine Inklusion, die aus einem Recht auf Arbeit einen Zwang macht. Dabei schwingt ein Gefühl von Ohnmacht mit.    

6. Fazit

Wir haben die Fragen aufgeworfen, inwiefern in beruflicher Inklusion die Disziplin als ein sich über bestimmte Kontrolltechniken realisierendes Machtverhältnis wirksam wird und wie das Subjekt reagiert, wenn andere sein/ihr Feld des möglichen Handelns strukturieren. Unter Verwendung einer Fallgeschichte, die immer wieder notwendigerweise im Gesamtmaterial kontextualisiert wurde, lenkten wir den Blick auf einen konkreten Ort. Uns interessierte, wie aus subjektiver Perspektive Bildungsangebote gedeutet werden, deren erklärtes Ziel es ist, Menschen mit Sehschädigung an Arbeit teilhaben zu lassen, sie insbesondere an die Erfordernisse der Industrie 4.0 anzupassen. Mit dieser Agenda ordnet sich die berufliche Inklusion in den Prozess der Normalisierung einer digitalen Klassengesellschaft ein, zu deren Entstehung die neoliberale Governmentalität beigetragen hat (vgl. Zuboff 2018). Das Subjekt erfährt diesen Prozess als gleichzeitig Inklusion und Exklusion. Einerseits ermöglichen elektronische Hilfsmittel und Assistenzsysteme Teilhabe, andererseits kommt es durch die Aufwertung technischen Wissens und die Orientierung auf Bürotätigkeiten zur gleichzeitigen Abwertung von anderen Berufsbiografien. Dennoch müht sich das Subjekt. Wenn aber Wissensvermittlung mehrheitlich digital ausgestaltet und interpersonale Kommunikation minimiert wird, wenn sie nicht inklusiv erfolgt, schließt sie diejenigen aus, die von bestimmten Entwicklungen längst abgehängt sind. Darüber hinaus bleiben Erfolge begrenzt bzw. scheitert Wissensaneignung, wenn Bildungsangebote weder an den Erfahrungsraum, noch an die individuellen Erwartungen anknüpfen, wenn Sinn und Bedeutung auseinanderfallen. Damit sind sowohl eine Neuorientierung, als auch die Bewältigung von Behinderung gefährdet (Jantzen 2005; Langner 2009).
Die Disziplin hat aber auch nicht intendierte Folgen: Die angepasst werden sollen, finden sich im Anderssein zurecht, suchen im Anderssein nach Sinn und Identität. Letztere muss nicht immer positiv besetzt sein, sondern kann sich auch als Flucht in ein Kollektiv, mit dem die Erfahrung von Ausgrenzung geteilt wird, darstellen. Der Disziplinarraum ist also von Widersprüchen geprägt. In seiner Herstellung durch das Handeln aller beteiligten Akteur*innen wirken gegenläufige Tendenzen, und er wird von anderen Machtverhältnissen überlagert (Fischer-Tahir/Wagenhofer 2017). Die Arbeit an der individuellen und kollektiven Identität kann zumindest dazu führen, dass die durch die enormen Herausforderungen des Alltags stark ausgeschöpften Widerstandsressourcen ein Stück weit aufgefüllt werden.

 

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[2] https://bfw-halle.org/bildung/anpassungsqualifizierung/massnahme-anpassung.html [15.9.2020]