Abstract: Der Beitrag befasst sich mit beruflicher Inklusion von Menschen mit Sehschädigung in den Zeiten des digitalen Kapitalismus. Er wirft einen kritischen Blick auf Praktiken der Anpassung an die die sogenannte Industrie 4.0 und spürt – mit Fokus auf eine Fallgeschichte – der Erfahrung von Subjekten nach, die im Kontext von digitaler Transformation der Arbeitswelten ihre eigenen Kategorien von Arbeit, Gesundheit und Identität neu verhandeln. Dabei wird der Frage nachgegangen, inwiefern Disziplin als ein sich über diverse Kontrolltechniken realisierendes Machtverhältnis in der beruflichen Inklusion wirksam wird und wie das von Exklusion bedrohte Subjekt reagiert, wenn Expert*innen sein Feld des möglichen Handelns strukturieren. Der Beitrag zielt darauf, Praxis der Inklusion nach Momenten von Exklusion zu überprüfen.
Stichworte: berufliche Inklusion, Sehschädigung, Kompensation, Digitalisierung, Kapitalismus
Inhaltsverzeichnis
Zum Komplex Sehschädigung und Inklusion liegt eine Reihe von Arbeiten vor, die sich mit den Schwerpunkten Kompensation (Högner 2016), Erwachsenenbildung im Alter (Himmelsbach 2009), berufliche Partizipation (Bach 2011; Habeck 2012; Kroos et al. 2017; Zapata 2020) oder Digitalisierung (Petty 2005; Okonji 2018) befassen. In einigen von ihnen schimmert immer noch ein defizitorientiertes Verständnis von Behinderung durch. Unser Beitrag verfolgt einen ressourcenorientierten Ansatz und befragt das empirische Material im Sinne der kritischen Disability Studies nach subjektiver Erfahrung, Repräsentation, sozialem Handeln und kollektiver Identität (vgl. Oliver 1996; Barnes, Mercer & Shakespeare 1999; Waldschmidt & Schneider 2007). Behinderung als ein sozial hergestelltes Verhältnis überlappt mit anderen Unterdrückungsverhältnissen entlang der Differenzkategorien Klasse, Geschlecht, ethnische Herkunft, Staatsbürgerschaft oder Alter. Intersektionalität als analytisches Instrument (Collins & Bilge 2016) ermöglicht, die Komplexität von Marginalisierung herauszuarbeiten.
Wir analysieren berufliche Rehabilitation als Erscheinungsform von Praxis, die nicht „aus freien Stücken“ erfolgt, sondern „unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ (Marx [1869] 1972, S. 115). Bourdieu zufolge entfaltet sich Praxis in einer Dialektik von Habitus und Feld. Akteur*innen tendieren dazu, vermittels relativ unbewusster habitueller Dispositionen der Wahrnehmung, Deutung und Handlung ihre Praxis in einem konkreten vorstrukturierten sozialen Feld auszugestalten, Positionen einzunehmen oder zu beanspruchen und um Bedeutung zu ringen (Bourdieu 1976; Bourdieu & Wacquant 1992). Dabei setzen sie verschiedene Kapitalsorten ein. Kapital als „akkumulierte Arbeit“ (Bourdieu 1983, S. 183) realisiert sich in ökonomischer, sozialer, kultureller oder feldspezifischer Form. In unserem Beitrag interessiert besonders institutionalisiertes und inkorporiertes kulturelles Kapital. In der Forschung wurde die Wirksamkeit dieser Kapitalsorte für Handlung und Identität bereits herausgestellt (Langner 2009). Mit der digitalen Transformation der Wirtschaft entsteht aber eine neue „digitale Klassengesellschaft“, in der Zugang zu Ressourcen und Macht weniger von der alten Klassenposition und Bildungsabschlüssen abhängt, sondern von „technisch-sozialem Wissen“, das immer mehr aufgewertet wird (Jacob 2017: 32). Wieviel ist unter diesen Bedingungen das kulturelle Kapital einer Apothekerin noch wert?
Die Praxis der Anpassung ist nicht nur durch politisch-ökonomische Verhältnisse vorstrukturiert, sondern unterliegt auch Vorstellungen von Behinderung, die in historischen Prozessen entstanden (Jantzen 1987; Mitchell 1997). Berufliche Rehabilitation von Menschen, die behindert werden, verdankt ihre Entstehung einer modernen Medizin, die im 19. Jahrhundert die Bipolarität zwischen „normal“ und „pathologisch“ erfand (vgl. Foucault [1963] 2016: 53). Diese Bipolarität kehrt in Begriffen wie „Maßnahme“ und „Anpassung“ wieder und wird mit Konzepten von Arbeit, Nützlichkeit und Disziplin gekoppelt. So zielt die Rehabilitation nicht nur auf eine „möglichst reibungslose Eingliederung in Kommunikations-, Konsumtions- und Produktionsabläufe“, sondern auch auf die „Einpassung in und Anpassung an eine ‚nicht behinderte‘ Ordnung“ ab (Waldschmidt 2007: 68). Mit Foucault ([1975] 2015) fassen wir Räume dieser Ein- und Anpassung als Disziplinarräume. Expert*innen im Rehabilitationssystem üben eine Reihe von Techniken der räumlichen Kontrolle, der Kontrolle der Zeit und der Tätigkeiten aus, um „das Feld eventuellen Handelns der anderen zu strukturieren“ (Foucault 1987: 255). Foucault spricht von der „‚Führung der Führungen‘“ (ibid.). Wird diese Form der Machausübung von den zu ordnenden Subjekten erkannt, kann sie Einverständnis oder Ablehnung hervorrufen, oder zu unerwarteten Handlungsresultaten führen.
Dieser Beitrag basiert auf einer von der Deutschen Rentenversicherung geförderten Forschungskooperation zwischen der TU Dresden, dem Berufsförderungswerk Halle (BFW) und dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz. Das BFW ging aus einer Blindenanstalt bzw. späteren Berufsausbildungsstätte für Blinde und Sehbehinderte hervor, bietet derzeit (ähnlich anderen) hauptsächlich berufsbegleitende, -fördernde oder -bildende Maßnahmen, die auf Bürotätigkeit abzielen. Wir wollten verstehen, wie Personen, die im Erwachsenenalter eine Sehschädigung erworben haben, Angebote zur digitalen Anpassung deuten und auf ihren eigenen Lebensentwurf beziehen. Zwischen Mai und September 2019 führte eine der beiden Autorinnen Befragungen am BFW durch. In der Einrichtung wurden fünf Fokusgruppendiskussionen und außerhalb der Einrichtung sechs narrative Interviews mit damaligen bzw. ehemaligen Teilnehmer*innen an Bildungsmaßnahmen durchgeführt. Die Analyse der vollständig transkribierten Diskussionen und Interviews erfolgte in Anlehnung an Verfahren von Qualitativer Inhaltsanalyse (Mayring 2010), Grounded Theory (Strauss/Corbin 1996) und Narrationsanalyse (Rosenthal 2014, bes. S. 174-211).
Unsere Forschungsperspektive ist geleitet von Positionalität und Reflexivität. Haraway (1988) wies auf die strukturierte und strukturierende Seite des forschenden Subjekts hin; unser Blick kommt nicht aus dem nirgendwo, und er sollte nicht „from above“ den Anspruch auf Objektivität erheben. Vielmehr plädiert sie für die Lokalisierung von Wissen („situated knowledges“), das dann eben nur begrenzt gültig ist (Haraway 1988, bes. S. 581; 584; 589). Sozialwissenschaftliche Forschung muss die sozialen und intellektuellen Bedingungen, unter denen sie entsteht, offenlegen und reflektieren (Bourdieu & Wacquant 1992). Unsere Fragestellung und methodische Vorgehensweise ist nicht nur von bestimmten Epistemen geprägt, sondern auch von persönlicher Erfahrung. So ist eine der beiden Autorinnen selbst medizinisch als „sehbehindert“ kategorisiert und beendete kurz vor Beginn des Projekts eine 12-monatige „blindentechnische Grundrehabilitation“ am BFW. Dies bot für die Befragung, die ihr allein oblag, Vorteile. Denn mit den Befragten teilte sie Erfahrung und Interessen, konnte sich daher mühelos auf ihre Kategorien beziehen und eine Vertrauensbasis herstellen. Gleichzeitig kam auch Misstrauen auf. Hinsichtlich kulturellen, ökonomischen und sozialen Kapitals war die Position der Forscherin gegenüber den (meisten) Interviewten privilegiert. Auch lag der Nutzen der Befragung eher auf ihrer Seite. Darüber hinaus glaubten einige Befragte, die Interviewerin gehöre zum BFW. Die Teilnehmer*innen an Maßnahmen sind aber abhängig von der Beurteilung durch das Rehabilitationsmanagement und dem, was dieses in Archiven über sie speichert. Daher kam es in der Befragung zu Momenten, in denen Selbstzensur zu wirken schien, aber auch zu latenten Vorwürfen an die Interviewerin, die als Teil des Systems wahrgenommen wurde. In den narrativen Interviews außerhalb der Einrichtung herrschte ein höheres Maß an Vertrauen, weil der Gegenstand des Gesprächs zu zweit und mit mehr Zeit besser ausgehandelt werden konnte. Die Machtasymmetrie zwischen Interviewerin und Interviewpartner*in bestand dennoch; sie kann in Interviews als sozialer Handlung auch kaum eliminiert werden (Bourdieu 2010).
Es existiert ein enormer Korpus an Daten über berufliche Inklusion, vieles davon anwendungsorientierte Studien. Unter Bezug auf Art. 27 UN-BRK werden Teilhabechancen untersucht von Menschen mit Behinderungen im Allgemeinen (Kardorff et al. 2013; Niehaus & Bauer 2013) bzw. Blinden und Sehbehinderten im Besonderen (Bach 2011; Kroos et al. 2017). Diese Forschung unterstützt das gesellschaftliche Projekt der Inklusion. Interessant ist der Begriff „Arbeit“, wie er in dieser Forschung erscheint. Er wird meist mit „sozialversicherungspflichtiger Erwerbsarbeit“ gleichgesetzt. Mit Ausnahme einiger weniger Selbständiger, einem Unternehmer und einer Ich-AG, die in den Statistiken von Bachs Untersuchung zur Optimierung der Kommunikation in der Arbeitsvermittlung auftauchen (Bach 2011: 70; 73; 86), sind in diesen Studien fast ausschließlich Menschen mit Behinderungen repräsentiert, die es gilt, in abhängige Lohnarbeit zu bringen. Arbeitgeber*innen und andere Expert*innen im Feld (mit Ausnahme der Interessensverbände von Menschen mit Behinderungen) erscheinen immer als nicht-behindert. Es überlagern sich somit bipolare Vorstellungen von „abhängig“ und “nicht abhängig“ mit „behindert“ und „nicht behindert“. Dabei fordert Artikel 27 (1.f) die Vertragsstaaten auf, Selbständigkeit und Unternehmertum von Menschen mit Behinderungen zu fördern. Die Einengung auf abhängige Erwerbsarbeit verstellt allerdings auch den Blick für andere Formen von Arbeit wie häusliche Pflege oder ehrenamtliche, gesellschaftliche Tätigkeit. Eher insistieren diese Studien darauf, dass es sich bei den Beforschten oft um qualifizierte Fachkräfte handele, die von hohem Nutzen für die nationale Wirtschaft sein könnten (Bach 2011, S. 480; Niehaus & Bauer 2013, S. 6; Kardorff et al. 2013, S. 72). Herrschende Diskurse über den deutschen Fachkräftemangel und die nationale Wettbewerbsfähigkeit finden sich so zwar eingelagert in die Argumente, werden aber nicht kritisch reflektiert.
Problematisch sind Argumente, in denen Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation als quasi interessefreie Akteure repräsentiert sind, deren Ziele „den Bedarfen“ der Rehabilitand*innen unterliegen würden (bes. Kroos et al. 2017). Dabei sind diese Einrichtungen wirtschaftliche Unternehmen, und ihre Wettbewerbsfähigkeit hängt in einem hohen Maß vom aktivierenden Sozialstaat ab. Euphemistisch werden Rehabilitand*innen inzwischen „Kunden“ genannt. Die Arbeit der Einrichtungen ist an Effizienz- und Erfolgskriterien im Sinne einer Wirtschaftlichkeit ausgerichtet und wird mit neoliberalen Qualitätsmanagementsystemen gemessen (vgl. Schäper 2006; Bröckling 2007). Bei aller Netzwerktätigkeit dieser Einrichtungen, Rehabilitationsträger sind objektiv gezwungen, um „Kunden“ zu konkurrieren, sie an sich zu binden (durch Folgemaßnahmen, Langzeitbetreuung) und sich auf dem Markt der Inklusionsindustrie so zu positionieren, dass sie von staatlichen Kostenträgern bei der Kundenzuweisung bevorzugt werden. Die Aufgabe der Mitarbeiter*innen besteht dann darin, die Erwartungen des Staates zu erfüllen. Damit sind diese Einrichtungen nicht frei von sozialen Interessen, sondern konstituieren Räume der neoliberalen Governmentalität (Foucault 2008). Zu beobachten ist inzwischen die Strategie, sich Vorsprung durch Digitalisierung zu verschaffen; davon zeugt auch unser eigener Forschungskontext. Der Zwang zu digitalen Lehr-Lern-Arrangements während der Corona-Pandemie vermag dem Wettbewerb eine neue Dynamik zu verleihen.
Becker (2015) formuliert harsche Kritik an Inklusion unter den Bedingungen von neoliberaler Arbeitsmarktpolitik und zunehmender sozialer Ungleichheit. Die Erzählung von der notwendigen Aktivierung von Menschen mit Behinderungen berge die Gefahr, dass das von der UN-BRK postulierte Recht auf Arbeit in einen Zwang zur Arbeit umgedeutet wird. Einpassen, so sein Argument, ließen sich ohnehin nur diejenigen, die „präparationsfähig genug sind, um sich – wenigstens im gering qualifizierten Niedriglohnbereich – erwerbstätig aufzuhalten“ (Becker 2015, S. 122-123). Erwachsene Blinde und Sehbehinderte werden offenbar als „präparationsfähig“ betrachtet, zumindest sind im Grünbuch Arbeiten 4.0 „insbesondere […] die Bedürfnisse blinder und sehbehinderter Menschen“ genannt (BMAS 2015: 46). Auch der digitale Kapitalismus hat inzwischen verstärkt Menschen mit Sehschädigung als potenzielle Kund*innen im Blick.[1] Die technischen Möglichkeiten erweitern sich beständig. Elektronische Hilfsmittel und Assistenzsysteme sind durchaus geeignet, um Partizipation an Arbeit zu realisieren. (Ohne Vergrößerungssoftware und Bildschirmlesegerät, Screenreader und elektronischer Braillezeile wäre eine der Autorinnen dieses Beitrags längst nicht mehr in der Wissenschaft tätig.) Digitalisierung hat eine unterstützende Seite. Allerdings muss ihr Einsatz bei der Inklusion von ethisch-moralischen Überlegungen abhängig gemacht werden (Behrendt 2018). Darüber hinaus sollten diese technischen Möglichkeiten nicht auf ihren Gebrauchswert für das einzelne Individuum reduziert werden. Softwarelösungen zur Kompensation von Sehschädigung werden für bestimmte „proprietäre Märkte“, die durch die „Leitunternehmen des digitalen Kapitalismus“ konstituiert werden (Staab 2019, S. 46), entwickelt. Daraus ergeben sich soziale und technische Abhängigkeiten und sehr konkrete Anwendungsprobleme, über die in unseren Befragungen die Teilnehmer*innen lebhaft berichteten. Hilfsmittel für Sehgeschädigte sind extrem teuer; niemand der Befragten hätte sie sich selbst kaufen können. Die hohen Preise für digitale Lösungen zwingen die Menschen in Abhängigkeit vom Staat, der von Kategorien und Kriterien geleitet, Hilfsmittel zuweist. Mangel an ökonomischem Kapital zementiert den Status „behindert“. Darüber hinaus bedeutet Anpassung an die digitale Arbeitswelt eine (zusätzliche) Einpassung in den „Überwachungskapitalismus“ (Zuboff 2018). Der Widerspruch zwischen mehr Teilhabe und mehr Überwachung wurde in unseren Befragungen von Teilnehmer*innen kontrovers diskutiert. Zum Thema der beruflichen Anpassung durch Digitalisierung waren die Meinungen der insgesamt 26 befragten Personen ebenfalls geteilt: Anpassung wurde positiv als berufliche Chance gedeutet (vor allem bei Personen, die bereits hohe Digitalkompetenz besaßen), als Notwendigkeit, um den sozialen Abstieg abzufedern, oder aber als negativ und Widerspruch zu bisheriger beruflicher Identität. Jene N. gehört zu der zuletzt genannten Tendenz.
Das Interview mit Jene N. fand auf ihren Wunsch hin in der Wohnung der Interviewerin statt. Jene N.s stammt aus einer deutsch-irakisch-arabischen Mittelklassefamilie. Mit einer Kindheit und Jugend in Deutschland, Großbritannien und Irak wuchs sie dreisprachig auf. Als sie in den 1990er Jahren in Bagdad Pharmakologie studierte, standen den Studierenden keine Computer zur Verfügung. Zurück in Deutschland, 2001, musste sie zunächst Kurse besuchen und Prüfungen absolvieren, weil ihr Hochschulabschluss nicht anerkannt wurde, erhielt dann aber die Approbation. Jene N. ist hinsichtlich kulturellen Kapitals also gut aufgestellt: Zeugnisse, Sprachkenntnisse, interkulturelle Kompetenzen etc.
Jene N. trägt schon eine Weile eine Brille während der Arbeit. Als mit 34 Jahren die Lesefähigkeit enorm nachlässt, schickt die Augenärztin sie zur Abklärung in die Klinik. Von dort wird sie an weitere Klinik zu einem Spezialisten für Netzhauterkrankungen überwiesen.
Erst ein Jahr nach Beantragung einer Leistung zur Teilhabe, wird Jene N. an das BFW geschickt. Dazwischen liegt eine Zeit der Unsicherheit. Zum einen ist ihre Mutter schon vor einer Weile schwer erkrankt und muss zu Hause gepflegt werden. Zum anderen verdeutlicht ihr die Agentur, dass sie ALG 1 nur erhalte, wenn sie Nachweise über Bewerbungsaktivitäten liefere. Jene N. bewirbt sich auf Stellen. In Bewerbungsgesprächen geht sie offensiv mit der Sehschädigung um, in der Hoffnung, nicht angestellt zu werden, denn: „Es ist nämlich ein bisschen hart zu arbeiten und zu pflegen“ (7: 5). Außerdem schätzt sie inzwischen realistisch ihre Sehfähigkeit ein und weiß, was zu tun ist: „In dem Sinne war auch die Maßnahme wichtiger“ als eine neue Arbeit (7: 24). Kaum sagt sie diesen Satz, bricht es schon aus ihr heraus:
Auch wenn Lehr-Lern-Format, die Aufwertung digitaler Kompetenzen bei gleichzeitiger Abwertung anderen Wissens und anderer Fähigkeiten sowie der Zwang zur Arbeit in Jene N.s Erzählung als problematische Aspekte der Maßnahme betont werden, sie verweist im Interview auch auf positive Momente. In ihrem Beruf muss sie mehrheitlich und viele Stunden stehen, außerdem beansprucht die Pflege der Mutter sie körperlich. Vor diesem Hintergrund war sie darüber „glücklich“, mehrheitlich sitzen zu dürfen und empfand die Maßnahme als „kleine Auszeit“ (19: 2). Einen Schonraum bot die Maßnahme freilich nicht; Jene N. erklärt sogar, dass durch die Dauerbelastung am PC sich ihre Sehleistung weiter verschlechtert habe, denn intensive Bildschirmarbeit sei für sie eine ungewohnte Belastung gewesen; „weil so viel und nur vorm Rechner ist man in der Apotheke nicht“ (16: 21-31). Woran sie sich offenbar gern erinnert, ist das Zusammensein mit Personen, vor denen sie ihren „Makel“ nicht verstecken muss; zu diesen Personen zählt sie auch die Rehabilitationsmanagerinnen. Jene N. knüpft Beziehungen, die die Maßnahme überdauern. Im Gegensatz zu anderen Befragten spricht sie dennoch vergleichsweise wenig darüber, dass sich die Teilnehmer*innen für gewöhnlich viel miteinander austauschen, Erfahrungen bewerten und Informationen über Augenkrankheiten, die staatliche oder kassenärztliche Versorgungsbürokratie, barrierefreie Kulturangebote oder Gesundheitsvorsorge teilen. Ja, über Erfahrung mit digitalen Hilfsmitteln sei auch geredet worden, und darüber wie Sprachassisstenten und Apps helfen, draußen den Weg zu finden, aber:
Wir haben die Fragen aufgeworfen, inwiefern in beruflicher Inklusion die Disziplin als ein sich über bestimmte Kontrolltechniken realisierendes Machtverhältnis wirksam wird und wie das Subjekt reagiert, wenn andere sein/ihr Feld des möglichen Handelns strukturieren. Unter Verwendung einer Fallgeschichte, die immer wieder notwendigerweise im Gesamtmaterial kontextualisiert wurde, lenkten wir den Blick auf einen konkreten Ort. Uns interessierte, wie aus subjektiver Perspektive Bildungsangebote gedeutet werden, deren erklärtes Ziel es ist, Menschen mit Sehschädigung an Arbeit teilhaben zu lassen, sie insbesondere an die Erfordernisse der Industrie 4.0 anzupassen. Mit dieser Agenda ordnet sich die berufliche Inklusion in den Prozess der Normalisierung einer digitalen Klassengesellschaft ein, zu deren Entstehung die neoliberale Governmentalität beigetragen hat (vgl. Zuboff 2018). Das Subjekt erfährt diesen Prozess als gleichzeitig Inklusion und Exklusion. Einerseits ermöglichen elektronische Hilfsmittel und Assistenzsysteme Teilhabe, andererseits kommt es durch die Aufwertung technischen Wissens und die Orientierung auf Bürotätigkeiten zur gleichzeitigen Abwertung von anderen Berufsbiografien. Dennoch müht sich das Subjekt. Wenn aber Wissensvermittlung mehrheitlich digital ausgestaltet und interpersonale Kommunikation minimiert wird, wenn sie nicht inklusiv erfolgt, schließt sie diejenigen aus, die von bestimmten Entwicklungen längst abgehängt sind. Darüber hinaus bleiben Erfolge begrenzt bzw. scheitert Wissensaneignung, wenn Bildungsangebote weder an den Erfahrungsraum, noch an die individuellen Erwartungen anknüpfen, wenn Sinn und Bedeutung auseinanderfallen. Damit sind sowohl eine Neuorientierung, als auch die Bewältigung von Behinderung gefährdet (Jantzen 2005; Langner 2009).
Die Disziplin hat aber auch nicht intendierte Folgen: Die angepasst werden sollen, finden sich im Anderssein zurecht, suchen im Anderssein nach Sinn und Identität. Letztere muss nicht immer positiv besetzt sein, sondern kann sich auch als Flucht in ein Kollektiv, mit dem die Erfahrung von Ausgrenzung geteilt wird, darstellen. Der Disziplinarraum ist also von Widersprüchen geprägt. In seiner Herstellung durch das Handeln aller beteiligten Akteur*innen wirken gegenläufige Tendenzen, und er wird von anderen Machtverhältnissen überlagert (Fischer-Tahir/Wagenhofer 2017). Die Arbeit an der individuellen und kollektiven Identität kann zumindest dazu führen, dass die durch die enormen Herausforderungen des Alltags stark ausgeschöpften Widerstandsressourcen ein Stück weit aufgefüllt werden.
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