Edvina Bešić, Andrea Holzinger:Fernunterricht für Schüler*innen mit Behinderungen: Perspektiven von Lehrpersonen

Abstract: Bedingt durch die Corona-Pandemie fand im Sommersemester 2020 über mehrere Wochen hinweg der Unterricht an österreichischen Schulen in Form von (digitalem) Fernunterricht statt. Das führte zu einem Reformschub im Bereich der Digitalisierung und zur Erweiterung der digitalen Kompetenzen der beteiligten Personen. Gleichzeitig stellte die Umsetzung aber auch eine große Herausforderung für die Lehrpersonen, Schüler*innen und Eltern/Erziehungsberechtigten dar.
In diesem Beitrag werden Ergebnisse einer Online-Erhebung dargestellt, in der erfasst wurde, welche Chancen und Herausforderungen der Fernunterricht für Schüler*innen mit Behinderungen aus der Perspektive steirischer Lehrpersonen gebracht hat. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die Zugänge und Erfahrungen von Lehrpersonen spezifisch aus Inklusionsklassen der Volksschule. Ziel ist es, durch die gewonnenen Daten erste Einblicke in diese Form des Unterrichts für Schüler*innen mit Behinderungen in Inklusionsklassen zu bekommen und Beispiele guter Praxis zu sammeln.

Stichworte: Fernunterricht; Corona-Pandemie; Inklusionsklassen; Volksschule; Behinderung, Teilhabe; Chancen; Herausforderungen

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Forschungsdesign
  3. Ausgewählte Ergebnisse
  4. Zusammenfassung und Ausblick
  5. Literatur

1. Einleitung

Die Corona-Pandemie führte weltweit zu Schulschließungen und zur Einführung des s.g. (digitalen) „Fernunterrichts” (Fickermann & Edelstein, 2020). In Österreich begann dieser (digitale) Fernunterricht Mitte März 2020 und dauerte ca. neun Wochen, in denen auch eine begrenzte Betreuung in Schulen stattfand. Nach diesen neun Wochen kehrte ein Großteil der Schüler*innen an die jeweiligen Schulen zurück, wobei der Präsenzunterricht in einem Schichtbetrieb abgehalten wurde. Obwohl das Bildungsministerium für das Schuljahr 2020/21 die Wiederaufnahme des Regelbetriebs plant, wird in dem Konzept “Schule im Herbst 2020” angesprochen, dass das Corona-Virus auch dieses Schuljahr prägen wird und somit erneute Schulschließungen und ein (digitaler) Fernunterricht nicht ausgeschlossen werden können (BMBWF, 2020a). Demzufolge wurde seitens des österreichischen Bildungsministeriums ein Masterplan für Digitalisierung (8-Punkte-Plan) veröffentlicht, der Schulen auf den digitalen Unterricht vorbereiten und ein einheitliches System für dessen Durchführung im Schuljahr 2020/21 bieten soll. Dieser Plan beinhaltet Maßnahmen, wie die Bereitstellung einer modernen IT-Infrastruktur und digitaler Endgeräte für Lehrpersonen und Schüler*innen (der 5. und 6. Schulstufe) sowie online Schulungen für Lehrpersonen in Form eines MOOCs (d.h. Massive Open Online Course). Dieser MOOC wurde im August 2020 freigeschaltet und bezieht sich spezifisch auf die Bereiche Organisation von digitalem Fernunterricht, Einsatz von Plattformen, Verwendung von digitalem Content und Kommunikation mit den Eltern (BMBWF, 2020b). Somit findet bedingt durch die Corona-Pandemie ein Reformschub der Digitalisierung in der schulischen Bildung statt. Besonders in der inklusiven Bildung wird Digitalisierung als Chance für die differenzierte und individualisierte Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen verstanden (Thiele & Bosse, 2019), die in Kombination mit assistiven Technologien für alle Schüler*innen „ein Mehr an Teilhabe in Schule und Gesellschaft sowie im Besonderen Möglichkeiten der Rezeption und des Ausdrucks zu eröffnen“ (Bosse & Schluchter, 2019, S. 124). Durch den Einsatz digitaler Medien und assistiver Technologien können Schüler*innen mit Behinderungen gezielter gefördert und Bildungsangebote an ihre besonderen visuellen, auditiven und haptischen Bedürfnisse angepasst werden. Das macht digitale Medien für die schulische Bildung von Schüler*innen mit Behinderungen besonders wertvoll. Diese „Verschmelzung von Bildungsprozessen mit digitalen Technologien“ definiert Fischer (2013, S. 32) als E-Learning. E-Learning, besonders aber Blended Learning Formate, haben nicht nur einen Einfluss auf die Teilhabe in der Schule, sondern zeigen auch positive Wirkungen auf die Fähigkeit zum selbstgesteuerten Lernen, die Flexibilität der Lernenden und ihre Leistungsbereitschaft und Motivation (Sliwka & Klopsch, 2020). Lernprozesse können „räumlich und zeitlich flexibler … organisiert, individuelle Lernwege und Lerngeschwindigkeiten berücksichtigt, Selbstlernphasen durch vielfältige Materialien angereichert und kooperative Lehr-Lernformen sowie Lernerfolgskontrollen integriert werden“ (van Ackeren et al., 2019, S. 109).
Obwohl die Digitalisierung der schulischen Bildung zahlreiche Chancen eröffnen kann (Zorn, Schluchter, & Bosse, 2019), birgt diese auch die Gefahr der Entstehung und Verstärkung bestehender sozialer Ungleichheiten (Kutschner, 2014), da die Nutzung dieser Chancen auch von den „jeweiligen bildungsbezogenen, kulturellen, sozialen und finanziellen Ressourcen“ abhängt (Niesyto, 2019, S. 39). Dies wurde besonders während des durch die Corona-Pandemie bedingten (digitalen) Fernunterrichts ersichtlich, wo vor allem bei Schüler*innen aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status, bei Schüler*innen, die Deutsch als Zweitsprache erlernen und bei Schüler*innen mit einer Behinderung bzw. einem sonderpädagogischen Förderbedarf, Bildungsrückstände erkennbar wurden (Kuhfeld et al., 2020; European Academy of Paediatrics, 2020; Goldan, Geist, & Lütje-Klose, 2020). Es handelt sich dabei somit um Schüler*innen, die bereits vor der Corona-Pandemie Schwierigkeiten an einer gleichberechtigten Teilhabe an der Schule hatten, und somit in der Corona-Zeit noch mehr benachteiligt wurden (Goldan, Geist, & Lütje-Klose, 2020). Dies führt bei Huber et al. (2020, S. 7) auch zu der Annahme, dass sich in “Krisensituationen verschiedene Schulqualitäten deutlicher auswirken [und] vorhandene Unterschiede [zwischen Schüler*innen] ... noch vergrößern” und somit auch die Themen Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in den Vordergrund rücken. Dies wird auch in verschiedenen Untersuchungen evident, die die Auswirkungen des coronabedingten (digitalen) Fernunterrichts auf die beteiligten Personen beforschten.

Bei einer Befragung von ca. 3.500 Lehrpersonen aus allen österreichischen Bundesländern gaben diese an, dass besonders bei Schüler*innen in Deutschförderklassen und Schüler*innen mit niedrigem sozioökonomischen Status die fehlende Infrastruktur (fehlende Endgeräte bzw. begrenzter Zugang zu digitalen Medien), beengte Wohnverhältnisse, aber auch geringe Möglichkeiten der elterlichen Unterstützung Herausforderungen für die Durchführung des (digitalen) Fernunterrichts waren (Kast, Lindner, Gutschik, & Schwab, 2020). Huber et al. (2020) kamen in ihrer Studie, in welcher sie ca. 7.000 Personen (Schüler*innen, Eltern, Lehrkräfte) in Deutschland, Österreich und der Schweiz befragten, zu dem Ergebnis, dass die „‘(Bildungs-)Verliererinnen und -verlierer‘ in der aktuellen Situation [Corona-Krise] […] wahrscheinlich Schülerinnen und Schüler aus sozioökonomisch (hoch) benachteiligten Elternhäusern“ (S. 108) sind. Dies resultiert, ähnlich wie in der Studie von Kast et al. (2020) aus dem Zusammenspiel verschiedener Merkmale, wie „technische Bedingungen (schlechte Ausstattung mit Geräten und aktueller Software), räumliche Situation zuhause (mit vielen Personen auf engem Raum), geringe zeitliche und emotionale Ressourcen der Eltern oder der Geschwister“ (Huber et al., 2020, S. 7), aber insbesondere „aufgrund fehlender Fähigkeiten [der Schüler*innen] zum selbstgesteuerten Lernen und zur Selbstorganisation des Tagesablaufs“ (Huber & Helm, 2020, S. 56). Hoffmann (2020) schreibt diesbezüglich, dass die Corona-Zeit somit nicht nur auf die Problematik der Digitalisierung oder den Umgang mit dieser hinweist, sondern auch insbesondere auf die Problematik, der Hinführung der Kinder zum selbständigen Lernen. Die Ergebnisse von Huber und Helm (2020) deuten somit darauf hin, dass nicht nur die Bereitstellung von Endgeräten, sondern auch eine stärkere Betreuung bzw. personenbezogene Lernbegleitung der Schüler*innen für einen gelungen (digitalen) Fernunterricht notwendig wären.
Nicht nur Schüler*innen aus sozioökonomisch benachteiligten Familien, sondern auch Schüler*innen mit einer Behinderung bzw. einem sonderpädagogischen Förderbedarf, die teilweise in diesen Familien überrepräsentiert sind (Luciak, 2009; Herzog-Punzenberger, 2017; Mayrhofer et al., 2018), würden von dieser personenbezogenen Lernbegleitung profitieren, wie Goldan, Geist und Lütje-Klose (2020) berichten. Die Autorinnen beschreiben, dass für diese Gruppe von Schüler*innen der fehlende persönliche Kontakt zu den Lehrkräften und Mitschüler*innen und die fehlende schulische Tagesstruktur im (digitalen) Fernunterricht besonders herausfordernd sind. Neben diesen Schwierigkeiten nennen die Autorinnen aber auch Maßnahmen, die sich in der inklusiven Laborschule Bielefeld während des (digitalen) Fernunterrichts für Schüler*innen mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf als wirksam erwiesen haben, nämlich: 1) Differenzierung von Aufgaben, 2) bedarfsorientierte Unterstützung, 3) Aufrechterhaltung der Beziehung zu den Schüler*innen, 4) angemessene Rückmeldungen zu den Arbeitsergebnissen und 5) Kontakt zu den Eltern. Besonders die Zusammenarbeit und offene Kommunikation mit den Eltern stellt für die Autorinnen eine wichtige Voraussetzung für die Umsetzung des coronabedingten Fernunterrichts dar, da diese in dieser Zeit stark gefordert und teilweise auch überfordert waren.
Eine Studie, die in Italien mit 3291 Lehrpersonen (85% davon Integrationslehrer*innen) durchgeführt wurde, hebt ebenso hervor, dass der (digitale) Fernunterricht besonders Schüler*innen mit Behinderungen vor Herausforderungen stellte, da die von ihnen benötigten spezifischen Unterstützungs- und Lehrmittel für den digitalen Fernunterricht nicht immer verfügbar waren (Bellacicco & Ianes, 2020). Die Autor*innen berichten, dass in dieser Zeit mindestens eine/r von drei Schüler*innen mit Behinderungen völlig vom Unterricht ausgeschlossen wurde, da sich der Fernunterricht entweder als unwirksam erwies oder für diese Schüler*innen gar nicht angeboten wurde. Fast die Hälfte der Befragten gab an, dass sie Familien kennen, in denen es erhebliche Probleme mit dem (digitalen) Fernunterricht von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen gab. Weiters führten die Lehrpersonen an, dass Schüler*innen mit Behinderungen im Fernunterricht aufgrund mangelnder technischer Ausstattung (n = 69,4%), fehlender IT-Kompetenzen (n = 55,6%), familiärer Probleme (n = 51,3%) oder Sprachschwierigkeiten im Falle von Kindern mit Migrationshintergrund (n = 23,5%) nicht erreicht wurden. Bellacicco und Ianes (2020) berichten auch davon, dass negative Erfahrungen der Schüler*innen mit Behinderungen im digitalen Fernunterricht eine Verschlechterung ihres Verhaltens, ihrer Kommunikationsfähigkeiten und ihrer Autonomie zur Folge hatten. Positiv hervorzuheben ist aber, dass 44% der Befragten angaben, dass Schüler*innen mit Behinderungen gut in den Fernunterricht der jeweiligen Klasse integriert wurden, und fast 20% der Befragten darauf hinwiesen, dass die individuellen Lehrpläne für den Fernunterricht adaptiert wurden. Schließlich schien die Zusammenarbeit mit den Familien für die Befragten zufriedenstellend, die Einbeziehung der Mitschüler*innen in den digitalen Fernunterricht für Schüler*innen mit Behinderungen war aber mangelhaft, was dazu führte, dass die Schüler*innen mit Behinderungen sozial weitgehend exkludiert wurden.
An dieser Untersuchung setzt die explorative Studie dieses Beitrages an. Zunächst werden das Ziel, die Fragestellung und Durchführung der Befragung skizziert. Darauffolgend werden die gewonnenen Ergebnisse dargestellt. Eine Zusammenfassung zum (digitalen) Fernunterricht für Schüler*innen mit Behinderungen vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der vorliegenden Studie und aktueller themenspezifischer Literatur runden den Beitrag ab.

2. Forschungsdesign

2.1 Ziel und Fragestellung

Das Ziel der vorliegenden Studie war es, mittels einer Online-Befragung mit überwiegend offenen Fragestellungen, Anhaltspunkte zu den Praktiken, den Chancen und Herausforderungen im Hinblick auf die Teilhabe von Schüler*innen mit Behinderungen im (digitalen) Fernunterricht aus Sicht von Lehrpersonen der Volksschule zu gewinnen. Dabei wurden erste Einblicke in diese Form des Unterrichts während des Corona-Lockdowns ermöglicht. Die übergreifende Forschungsfrage lautete: Welche Praktiken und damit verbunden, welche Chancen und Herausforderungen beschreiben Lehrpersonen in inklusiven Settings der Volksschule im Hinblick auf die Teilhabe von Schüler*innen mit Behinderungen im (digitalen) Fernunterricht während der Schulschließung im Frühjahr 2020?

2.2 Stichprobe und Datenerhebung

Der Umfragelink wurde Mitte Juni an 142 steirische Lehrpersonen an Volksschulen per E-Mail verschickt. Bei den kontaktierten Personen handelte es sich einerseits um Lehrpersonen, die in ein laufendes Forschungsprojekt zum Thema Inklusion in der Volksschule eingebunden sind und andererseits um Mitglieder des Netzwerks „Inklusive Bildung“ (Holzinger, Feyerer, Grabner, Hecht, & Peterlini, 2019). Die Befragung erstreckte sich bis Mitte Juli 2020. Zum Zeitpunkt der Befragung war die komplette Schulschließung von Mitte März bis Mitte Mai bereits aufgehoben.
Für die Datenauswertung konnten 47 Fragebögen herangezogen werden. Das entspricht einer Rücklaufquote von 35%. Bei den 12 der 47 Fragebögen fehlten einzelne demographischen Angaben und/oder die Fallbeschreibung. Von den befragten Personen gaben 29 an, eine Qualifikation im Bereich der Inklusiven Pädagogik zu haben. Sieben Personen waren in der Funktion der Schulleitung tätig, vier unterrichteten auch in einer Inklusionsklasse. Das Durchschnittsalter der Befragten lag bei M = 47,32 (SD = 9,89) Jahren. Die jüngste Lehrkraft war zum Zeitpunkt der Erhebungen 27 Jahre, die älteste 62 Jahre alt. Die Befragten befinden sich durchschnittlich seit ca. 23 Jahren (M = 23,05, SD = 11,75) im Schuldienst. Die Person mit der längsten Unterrichtserfahrung ist seit 41 Jahren in der Schulpraxis tätig, diejenige mit der geringsten seit fünf Jahren. Die Mehrheit der Teilnehmer*innen waren Frauen (n = 37).

2.3 Forschungsinstrument

Um die Praktiken, Chancen und Herausforderungen des Fernunterrichts für Schüler*innen mit Behinderungen aus der Perspektive steirischer Lehrpersonen zu erheben, wurde der in der italienischen Studie von Bellacicco und Ianes (2020) eingesetzte Fragebogen übersetzt und dem österreichischen Kontext angepasst.
Bellacicco und Ianes (2020) führten im Rahmen des italienweiten Projektes „Oltre le distanze – Ideen und Projekte für eine inklusivere Schule“ – welches das Ziel verfolgt, den sozialen Benachteiligungen und Lernrückständen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen durch den Fernunterricht entgegenzuwirken -  eine Baselineerhebung durch. Durch die erhobenen Daten wurde ein besseres Verständnis für die Herausforderungen, denen sich Lehrkräfte und Schüler*innen mit Behinderungen im Fernunterricht stellen mussten, gewonnen.

Die italienische Version des Fragebogens umfasste 19 geschlossene und eine offene Frage, die seitens der Lehrpersonen eine ausführliche Beschreibung der Chancen und Herausforderungen für Schüler*innen mit Behinderungen im Rahmen des coronabedingten (digitalen) Fernunterrichts erlaubte.
Der Fragebogen der vorliegenden Studie gliederte sich in vier Abschnitte. Der erste Abschnitt bestand aus sechs geschlossenen Fragen, jeweils mit der Option mehrere Antworten auszuwählen, und dazugehörigen offenen Fragen. In diesem Abschnitt, mit dem Titel „Situation in Ihrer Schule”, wurde gefragt, ob und wie der Fernunterricht mit Schüler*innen mit Behinderungen durchgeführt wurde, ob die Schüler*innen in diese Form des Unterrichts gut integriert werden konnten, ob und von wem Materialien angepasst wurden und ob und in welcher Form die Lehrpersonen Veränderungen bei den Schüler*innen in folgenden sechs Bereichen bemerkt hatten:  1) Lernen, 2) Autonomie, 3) Kommunikation, 4) sozial-emotionaler Bereich, 5) Lehrer*in-Schüler*in-Beziehung und 6) Schüler*in-Schüler*in-Beziehung. Im zweiten Abschnitt „Situation in den Familien” wurde mit zwei Fragen abgefragt, ob die Lehrpersonen Familien kennen, in denen die Durchführung des digitalen Fernunterrichts für Schüler*innen mit Behinderungen nicht möglich war, und was aus ihrer Perspektive die Gründe dafür sein könnten. Bei beiden Fragen wurden mehrere Antwortoptionen zur Auswahl gestellt. Im dritten Abschnitt wurden die Befragten gebeten, einen „Fall” zu schildern. Sie sollten dabei ein Kind, mit dem sie den (digitalen) Fernunterricht durchgeführt hatten, beschreiben, spezifisch die Art der Behinderung, mit welchen Medien das Kind und die Lernziele erreicht wurden, und welche Chancen und Herausforderungen der (digitale) Fernunterricht für das Kind brachte. Im letzten Abschnitt wurden die demographischen Angaben abgefragt (Alter, Geschlecht, Berufserfahrung, Funktionen in der Schule, vorherige Erfahrung mit (digitalem) Fernunterricht).

2.4 Auswertung

Die Einschätzungen der Lehrpersonen, die jeweils zu den offenen Fragen vorlagen, wurden inhaltsanalytisch (zusammenfassende Inhaltsanalyse) mit einer induktiven Kategorienbildung ausgewertet. Die Fallbeispiele wurden einer fallübergreifenden Analyse unterzogen. Aus den Daten wurden Möglichkeiten der Realisierung sowie Chancen und Herausforderungen des (digitalen) Fernunterrichts abgeleitet. Die Datenanalyse erfolgte durch die Autorinnen, wobei uneindeutige Aussagen in gemeinsamer kommunikativer Validierung den Kategorien zugeordnet wurden.

3. Ausgewählte Ergebnisse

Die nachfolgenden Ausführungen orientieren sich an der Forschungsfrage und beschreiben Ergebnisse hinsichtlich der schulischen Situation, familiären Situation und der Veränderungen bei den Schüler*innen in sechs Bereichen. An dieses Kapitel schließt die Analyse der Fallbeschreibungen an, wobei hier die Kommunikations- und Lernwege während des (digitalen) Fernunterrichts und die Chancen und Herausforderungen des (digitalen) Fernunterrichts für Schüler*innen mit Behinderungen aus Sicht der Lehrpersonen im Mittelpunkt stehen.

3.1 Schulische Situation 

Von den 47 befragten Personen gaben 29 an, den digitalen Fernunterricht in allen Klassen umgesetzt zu haben, 15 nur in einigen und drei in gar keiner Klasse. Für diese drei Personen war die Umsetzung des digitalen Fernunterrichts nicht möglich, da es bei der Organisation und Planung Probleme gab, die Schüler*innen technische Schwierigkeiten hatten bzw. seitens der Familie keine Unterstützung bekamen. Eine dieser Personen fügte hinzu, dass der digitale Fernunterricht aufgrund der Behinderung des Kindes nicht möglich war, da dieses nur nonverbal kommuniziere. Von den Personen, die den digitalen Fernunterricht umsetzten, gab die Mehrheit der Befragten (31 Personen) an, dass die Schüler*innen, mit denen sie in Kontakt standen, gut in diesen integriert wurden. Fünf Personen gaben an, dass die Integration in den digitalen Fernunterricht nur teilweise möglich war, da dies ihrer Meinung nach von der Behinderungsart und dem Engagement der Eltern abhängig war. Eine Person sprach die Grenzen der Teilhabe der Schüler*innen im Rahmen des digitalen Fernunterrichts an: “Teilweise war es sehr mühsam, weil die Grenzen der Partizipation durch die Behinderung noch stärker aufgezeigt worden sind”.

3.2 Familiäre Situation

Die Frage, ob die Lehrpersonen Familien mit einem Kind mit Behinderung kennen, in denen es für die Kinder keine Möglichkeit gab, am digitalen Fernunterricht teilzunehmen, beantworteten 15 mit ja. Die Befragten konnten mehrere Antworten als Grund dafür auswählen. Von möglichen vier Antwortoptionen, wurden geringe IT-Kompetenz der Familie (n = 12), technische Probleme (z.B. Internetverbindung) (n = 11) und Sprachschwierigkeiten des Kindes/der Familie (n = 6) ausgewählt. Eine weitere Antwortmöglichkeit “Unzureichende Unterstützung des Kindes durch die Familie” wurde nicht ausgewählt.


3.3 Veränderungen bei den Schüler*innen in verschiedenen Bereichen

Lernen
Im Bereich Lernen berichteten 19 Personen (24,7%) von Veränderungen. Vier Lehrpersonen äußerten sich zur Motivation der Schüler*innen für das Lernen. Laut drei Lehrpersonen waren die Schüler*innen aufgrund des Fernunterrichts weniger motiviert zu lernen, wobei eine Person eine Erhöhung der Motivation des Kindes beschrieb, da dieses gerne mit digitalen Medien arbeite. Des Weiteren wurde beschrieben, dass im Allgemeinen weniger Lerninhalte erarbeitet werden konnten, da die Schüler*innen den Fokus auf die Lieblingsgegenstände legten bzw. die Inhalte im Fernunterricht für die Schüler*innen teilweise schwerer zu erfassen waren.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, dass auch bei “Schüler*innen mit Behinderungen” die Heterogenität nicht außer Acht gelassen werden kann. So waren bei einigen Schüler*innen Lernfortschritte zu bemerken, bei anderen Rückschritte, die besonders in der Zeit nach dem Fernunterricht ersichtlich wurden. Spezifisch zu Schüler*innen mit Sehbeeinträchtigungen oder Blindheit schrieb eine Befragte:
Schüler/innen mit Blindheit oder Sehbeeinträchtigung waren stärker gefordert, weil sie viel mehr an Zeit aufwenden mussten, um die Arbeitsaufträge, Erläuterungen, Exzerpte, ... bewältigen zu können. Der Vortrag und die zusätzlichen Erklärungen bzw. durch die Lehrer/innen hat gefehlt. Sie verbrachten noch mehr Zeit am Computer als sonst. Gerade bei Schüler*innen mit Sehbeeinträchtigung hatte dies zuweilen unangenehme Auswirkungen. Der Wechsel zwischen Zuhören und Lesen am Bildschirm hat gefehlt. Der Zeitaufwand für die Arbeiten war wesentlich höher.
Schlussendlich berichteten die Befragten, dass die Schüler*innen die Aufgaben nur durch die Unterstützung der Eltern bzw. Erwachsenen bewältigen/lösen konnten (n = 4).
Autonomie
Dies wurde auch im Bereich Autonomie betont. In diesem Bereich gaben von 10 Personen, die eine Veränderung bemerkten, fünf an, dass die Schüler*innen die Aufgaben nicht autonom erledigen konnten und auch organisatorische Probleme hatten (z.B. Zeiteinteilung für die Aufgaben). Des Weiteren war für Schüler*innen mit einer Sehbeeinträchtigung die Unterstützung einer sehenden Person wichtig. Nur zwei Befragte nahmen eine Verbesserung in der Selbständigkeit der Schüler*innen wahr. Das nachfolgende Zitat beschreibt die Probleme des digitalen Fernunterrichts für Schüler*innen mit einer Sehbeeinträchtigung:
Schüler/innen der Primarstufe waren mit dem selbständigen Lernen teilweise überfordert, weil sie vermehrt auf die Unterstützung der Lehrpersonen angewiesen waren. Teilweise war die Unterstützung Sehender erforderlich, um verschiedene - für Schüler*innen mit Blindheit schwer zugängliche - Plattformen nutzen zu können. Dies hat die Schüler*innen mitunter gestresst. Arbeitsunterlagen waren teilweise nur nach zusätzlicher Adaptierung zugänglich. Einige Schüler*innen mussten sich selbst darum kümmern, dass die Unterlagen für sie adaptiert werden.


Kommunikation
Im Bereich Kommunikation stellten 11 Personen eine Veränderung fest und 10 beschrieben diese näher. Dabei gaben drei Personen an, dass es zur einer verstärken Kommunikation mit den Schüler*innen kam. Die Lehrpersonen berichteten von öfter verschickten Kurznachrichten und über tägliches Videotelefonieren. Die Befragten gaben auch an, dass diese Art der Kommunikation, “deutliches, langsameres Sprechen”, bei den Schüler*innen förderte bzw. den aktiven Wortschatz ausbaute. Weiters berichteten drei Lehrpersonen, dass es zu einer verstärken Kommunikation mit den Eltern – überwiegend der Mutter - kam. Dies war spezifisch bei Schüler*innen mit einer Hörbeeinträchtigung oder ohne Schriftsprachkompetenz der Fall. In diesem Zusammenhang wurden auch die Grenzen der Barrierefreiheit von einzelnen Tools angesprochen.
Sozial-emotionaler Bereich
Annähernd die Hälfte der Befragten (n = 16) gab an, dass bei den Schüler*innen Veränderungen in diesem Bereich sichtbar waren, davon machten 14 Personen nähere Angaben. Die Begründungen waren sehr unterschiedlich und reichten von schwankenden Gemütszuständen, über die Stärkung der Eltern-Kind-Beziehung bis hin zur Isolation im eigenen Heim. Des Weiteren betonten Lehrkräfte, spezifisch für Schüler*innen mit Autismus-Spektrum-Störung, dass die veränderte Tagesstruktur durch den Fernunterricht problembehaftet war. Auch die Zeit des Schichtbetriebs wurde als schwierig für die sozio-emotionale Entwicklung der Schüler*innen beschrieben, da der Kontakt unter den Schüler*innen wieder aufgebaut werden musste. Bei Schüler*innen, die einer Risikogruppe angehören, sei gar kein sozialer Kontakt möglich gewesen, da diese auch während des Schichtbetriebs immer noch zuhause bleiben mussten.
Lehrer*in-Schüler*in-Beziehung
In den Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehungen nahmen 13 Personen Veränderungen wahr. Die Personen berichteten, dass aufgrund des (digitalen) Fernunterrichts die Beziehung zu den Schüler*innen intensiviert wurde (n = 5) - da die Lehrpersonen nicht nur Einblicke in die Wohnverhältnisse der Familien, sondern auch in die Familienstruktur bzw. Tageslauf bekamen - und dies auch notwendig war, da sie sich mehr mit den Schüler*innen austauschen mussten. Zwei Personen gaben an, dass im Schichtbetrieb die Beziehung mit den Schüler*innen wieder aufgebaut werden musste.
Schüler*in-Schüler*in- Beziehung
In diesem Bereich nahmen acht Personen Veränderungen war. Sie beschrieben, dass die Kinder während des (digitalen) Fernunterrichts untereinander wenig Kontakt hatten und darunter auch litten. Dies zeigte sich spezifisch im Schichtbetrieb. Eine Lehrperson berichtete über den Rückzug von Schüler*innen mit Behinderungen von anderen Mitschüler*innen, eine andere davon, dass das Abstandhalten während des Schichtbetriebs schwer möglich war.

3.4 Fallbeschreibungen

Von den 47 befragten Personen verfassten 35 eine Fallbeschreibung für jeweils eine/n Schüler*in mit Behinderung. Von diesen 35 Beschreibungen stammen zwei von jeweils einer Schulleitung. Bei einer Leitung war diese kurz (zwei Sätze) und allgemein gehalten. Die andere Schulleitung schrieb “Das ist etwas schwierig zu beschreiben, da ich nicht die Lehrer*in bin, sondern die Leiterin der Schule und das daher nicht so ganz genau weiß. “ Daher wurde diese Beschreibung in die Analyse nicht aufgenommen. Die Beschreibungen sind in ihrem Umfang sehr heterogen und reichen von kurzen bis zu Texten mit bis zu 500 Wörtern. In den Fallbeschreibungen wurden 12 verschiedene Formen von Behinderungen genannt. Diese lassen sich den Förderbereichen Lernen, kognitive Entwicklung, sozial-emotionale Entwicklung, Sehen und Hören zuordnen. Die meisten Fallbeispiele konnten dem Förderbereich Lernen und kognitive Entwicklung zugeordnet werden, der Förderbereich Sehen war durch zwei Fallbeispiele vertreten, der Förderbereich Hören durch eines.
Kommunikations- und Lernwege 
Die Lehrpersonen berichteten, dass die Kommunikation mit den Schüler*innen mehrheitlich nur mit Unterstützung der Eltern möglich war. Wenn das Kind eine Schulassistenz hatte, arbeitete diese mit dem Kind zuhause und die Kommunikation erfolgte über sie. Bei der technischen Unterstützung und bei der Bearbeitung der Arbeitsaufträge spielten Eltern, Schulassistenz aber auch Gehörlosen- und Blindenpädagog*innen ebenso eine zentrale Rolle. Eine Lehrperson brachte die zentrale Rolle der Eltern, wie folgt, zum Ausdruck:
Es hat sich generell gezeigt, dass die Eltern maßgeblich am Lernerfolg beteiligt sind. Von ihrem Engagement konnten viele Kinder profitieren. Kinder von Eltern, denen Schule nicht so wichtig ist, sind leider dann auch die "Verlierer" im System. Sollte es noch einmal zu einem Distance-Learning kommen, so gilt es für mich zu überlegen, wie ich Kinder, die daheim nicht die notwendige Unterstützung bzw. auch nicht die ausreichenden Mittel haben, besser beim Lernen fördern kann.
Des Weiteren gaben die Lehrpersonen an, dass sie überwiegend auf digitale Kommunikations- und Lernwege zurückgriffen. Am häufigsten wurde die Kommunikation per Handy beschrieben, dies inkludiert Telefonate und die Verwendung des Messenger-Diensts WhatsApp, gefolgt von E-Mail, Lernplattformen (Padlet, Schoolfox, elektronisches Klassenbuch) und Videochats (Skype, Microsoft Teams and WebEx). Neben den digitalen Kommunikationswegen kamen auch analoge Formen zum Einsatz, vorwiegend der Ausdruck von Arbeitsblättern und Arbeitsplänen. Die Eltern holten diese überwiegend in der Schule ab, oder die Lehrpersonen brachten diese den Schüler*innen. Insgesamt wird aus der Beschreibung der Fallbeispiele eine große Varianz der verwendeten Kommunikationswege während des (digitalen) Fernunterrichts ersichtlich.
Am häufigsten wurden die Arbeitsaufträge mittels Wochen- und Tagesplänen übermittelt, die auch Links zu Apps und Webseiten enthielten. Abhängig vom Förderbedarf wurden diese Pläne individuell erstellt, oder der Plan wurde für die ganze Klasse für das jeweilige Kind adaptiert. Eine Lehrperson berichtete, dass auf den Wochenplänen auch die Zeiten vereinbart wurden, wo sie die Kinder via Videotelefonie kontaktierte:
Ich [habe die Kinder, zu] am Wochenplan vermerkten Zeiten angerufen und die jeweiligen Inhalte mit ihnen erarbeitet. Dadurch war es möglich, direkt miteinander zu sprechen, und ich konnte an den Gesichtern der Kinder ablesen, ob sie meinen Erklärungen folgen konnten oder auch nicht. Dadurch war ich in der Lage, sofort darauf zu reagieren. Die individuellen Wochenpläne wurden immer zu Beginn der Woche per Mail verschickt und auch in ausgedruckter Form in der Schule zum Abholen bereitgestellt. Das war für viele Kinder notwendig, da sie zuhause keine Möglichkeit zum Ausdrucken von Arbeitsmaterialien haben.
Die Rückmeldung zu den bearbeiteten Arbeitsaufträgen erfolgte entweder über Videotelefonie, per Mail oder über digitale Plattformen. Konnten die Arbeitsaufträge nicht online bearbeitet werden, schickten Eltern beispielsweise Fotos der Produkte oder posteten diese auf die digitale Pinnwand. Auch hier wurde die gute Zusammenarbeit mit den Eltern von den Lehrpersonen erwähnt.
Herausforderungen
Bei Kindern aus Familien, die zuhause außer dem Handy keine digitalen Geräte zur Verfügung hatten, gestaltete sich der Fernunterricht schwierig. Die Vorgaben des Bundesministeriums, mit den Kindern nicht über Messenger-Dienste zu kommunizieren, wurden kritisch gesehen:
Ich unterrichte an einer Brennpunktschule, wo es unseren Schüler*innen an Vielem fehlt - so natürlich auch an technischer Ausstattung, um gut am Distance learning teilnehmen zu können. In dieser Familie gibt es keinen PC, keinen Laptop und auch kein Tablet. Das einzige Gerät, über das dieses Mädchen für mich erreichbar war, war das Handy der Mutter.
War ein Tablet vorhanden, konnte allein das Installieren von Apps eine große Herausforderung darstellen:
Beim Installieren der App vergingen Stunden, die ich mit dem Kind am Telefon verbrachte, um beim Einsteigen mit den jeweiligen Zugangsdaten zu assistieren. Die Eltern dieser Schüler*in können keine Unterstützung anbieten, da sie die deutsche Sprache nicht beherrschen und Analphabeten sind.
Mehrere Lehrpersonen berichteten, dass sie die Eltern für die Umsetzung des digitalen Fernunterrichts schulen mussten, und dass diese mit dem Lernstoff teilweise selbst überfordert waren. Mehrheitlich wurde die Begleitung der Kinder durch die Eltern als zeitintensiv beschrieben, dass nicht alle Eltern diese übernehmen konnten und dass einige Kinder in der Zeit des Lockdowns auch in der Schule betreut werden mussten. Neben dieser Problematik wiesen die Befragten darauf hin, dass der fehlende Kontakt zu den Mitschüler*innen bei einigen Kindern zu nachlassender Lernmotivation und zu Vereinsamung führte. Auch der persönliche Kontakt mit der Lehrperson wurde als bedeutsam angeführt, wie im nachfolgenden Zitat ersichtlich:
Für die Mutter war es eine große Herausforderung ihn zu motivieren, dem Schüler fehlten auch die sozialen Kontakte. Die Mutter des Schülers musste mir Fotos schicken, damit ich sehen konnte, wie er seinen Arbeitsauftrag erledigte. Er hatte auch immer wieder das Bedürfnis, persönlich mit mir zu sprechen.
Des Weiteren wurden auch die digitalen Tools als nicht barrierefrei beschrieben, was die Teilhabemöglichkeiten der Schüler*innen mit Behinderung einschränkte. Es fehlten somit spezifische (Lern-)Programme, die Kinder ohne Unterstützung der Eltern installieren und bedienen und/oder gezielt zur Förderung eingesetzt werden konnten.
Chancen
Positiv hervorgehoben wurden Arbeitsaufträge, die sich über die digitale Pinnwand im Bereich der Kreativität, Bewegung und Sport an die ganze Klasse richteten. Diese ermöglichten die Teilhabe und förderten die Lernmotivation von Schüler*innen mit Behinderungen. Als Beispiel wurden Präsentationen genannt, die auf der virtuellen Pinnwand gesammelt und dort zu einem gemeinsamen Produkt zusammengefügt wurden: „[die] Buchvorstellung wurde mit dem Handy gefilmt, aufs Padlet der Klasse gestellt und so allen präsentiert. Präsentation konnte gut geübt werden und stärkte[n] das Selbstvertrauen“. Ein vergleichbarer Effekt wurde auch durch Videomeetings wahrgenommen: Durch das Videokonferenztool [..] war es möglich, die Klassengemeinschaft unserer Integrationsklasse digital weiterzuführen und neue Lerninhalte zu erarbeiten“. Bei der Erarbeitung neuer Inhalte erwähnten drei Lehrpersonen auch den Mehrwert von Erklärvideos.
Bei mehreren Fallbeispielen wiesen die Lehrpersonen darauf hin, dass die Schüler*innen an Selbstständigkeit gewonnen hatten: „[die] Schüler*in wurde sehr selbstständig und hatte Spaß am Lernen, da sie in ihrem eigenen Tempo vorgehen konnte und sich Zeit lassen konnte. Es war für sie ein druckfreies Lernen [Lernen ohne Zeitdruck], wo sie sehr viel festigen konnte“. Eine Lehrperson berichtete, dass sich der Erwerb personaler Kompetenzen in der Zeit des Fernunterrichts nachhaltig auf den Unterricht in der Schule auswirkte:
…wieder im Unterricht in der Schule ist ein merkbarer Zuwachs an Selbständigkeit in Bezug auf das Lernen des Kindes zu spüren - das Kind zeigt mehr Organisationsfähigkeit vor allem bei freien Unterrichtsphasen; insbesondere konnte sich auch die digitale Kompetenz des Kindes weiterentwickeln - das Kind zeigt einen selbständigeren Umgang im Unterricht mit technischen Geräten.

4. Zusammenfassung und Ausblick

Die befragten Lehrpersonen zeichnen mehrheitlich ein positives Bild vom (digitalen) Fernunterricht mit Schüler*innen mit Behinderungen. Dies kommt vor allem in den Fallbeschreibungen zum Ausdruck. Im Gegensatz zu den Ergebnissen von Bellacicco und Ianes (2020) lassen die vorliegenden Ergebnisse nicht den Schluss zu, dass rund ein Drittel der Schüler*innen mit Behinderungen durch den Fernunterricht nicht erreicht werden konnten. Ganz im Gegenteil: Mit der Unterstützung der Eltern und der Unterstützungssysteme wie Schulassistenz und Gehörlosen- und Blindenpädagog*innen wird mit Ausnahme von drei Lehrpersonen davon berichtet, dass die Schüler*innen mit Behinderungen am (digitalen) Fernunterricht teilgenommen haben. Es gilt aber zu bedenken, dass es sich bei der steirischen Stichprobe um einen kleinen ausgewählten Personenkreis handelt, der in aktuell laufenden Inklusionsprojekten der steirischen Hochschulen mitwirkt und bei dem davon auszugehen ist, dass er an der Weiterentwicklung inklusiver Qualität in Schulen interessiert ist. Daher kann die Stichprobe auch nicht als repräsentativ bezeichnet werden und die Ergebnisse können lediglich Einblicke in die Realisierung des (digitalen) Fernunterrichts in der Zeit des Lockdowns während der Corona-Pandemie geben. Dass es auch in der Steiermark Schüler*innen gab, die keine Möglichkeit hatten, am digitalen Fernunterricht teilzunehmen, bestätigen die Antworten von 15 Lehrpersonen, die angaben, solche Kinder in ihnen bekannten Familien zu kennen. Die Begründung für die Nichtteilnahme deckt sich mit Ergebnissen anderer Studien (Bellacicco & Ianes, 2020; Kast et al., 2020; Huber & Helm, 2020) und wird vorrangig mit der mangelnden technischen Ausstattung und sprachlichen Schwierigkeiten des Kindes/der Familie begründet. Auch mangelnde IT-Kompetenzen der Eltern werden in der vorliegenden Studie als Ursache genannt. Da während des coronabedingten (digitalen) Fernunterrichts ersichtlich wurde, dass die Lehrpersonen für dessen Umsetzung auf die Unterstützung der Eltern angewiesen waren, rückt die Bedeutung der Zusammenarbeit mit den Eltern in den Fokus, um einerseits ihrem Gefühl der Überforderung in so einer Unterrichtsform entgegenzuwirken und andererseits die Teilhabemöglichkeit der Schüler*innen mit Behinderungen zu erhöhen.
Die gute Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule kann somit anhand der vorliegenden Ergebnisse als zentraler Parameter für das Gelingen des (digitalen) Fernunterrichts angesehen werden. Eine enge und positive Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus sowie mit und im Rahmen multiprofessioneller Teams wird im Allgemeinen als ein wesentlicher Erfolgsfaktor der inklusiven Bildung verstanden (Ainscow, 2016). Der Austausch zwischen Lehrpersonen und Schüler*innen, Lehrpersonen und Eltern, die Einbeziehung der Unterstützungssysteme wie Schulassistenz und Lehrpersonen mit spezifischen Qualifikationen für die Förderbereiche Sehen und Hören werden in der vorliegenden Studie als bedeutsam erachtet. Welches Medium für diesen Austausch verwendet wird, scheint dabei von untergeordneter Relevanz zu sein. Wichtig sind die Regelmäßigkeit und die Planbarkeit: Wann gibt es für die Eltern die Möglichkeit, mit der Lehrperson zu kommunizieren? Für die Schüler*innen scheint wiederum die Häufigkeit und Qualität der persönlichen Kommunikation mit der Lehrperson im Vordergrund zu stehen. Vor allem das persönliche und zeitnahe Feedback zu Lernfortschritten steigern Lernbereitschaft und Lernmotivation der Schüler*innen. Motivationsfördernd ist auch das Eingebundensein in die Kommunikations- und Lernwege mit der ganzen Klasse. Auf die Bedeutung der sozialen Eingebundenheit und sich als kompetentes Mitglied der Gruppe zu erleben, verweisen auch Goldan, Geist & Lütje-Klose (2020) in ihrer Studie, die sie an der Bielefelder Laborschule zum Fernunterricht mit Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf während der Corona-Pandemie durchgeführt haben.
Dem Einsatz digitaler Medien per se wird ein weiterer Motivationswert zugeschrieben. Das Lernen mit digitalen Medien ermöglichte selbstgesteuertes Lernen und zeigte eine nachhaltige Wirkung in Hinblick auf die Selbstständigkeit der Schüler*innen mit Behinderungen. Wie bei Sliwka & Klopsch (2020) und van Ackeren et al. (2019) vermerkt, kann im digitalen Fernunterricht auf individuelle Lernwege und Lerngeschwindigkeiten besonders gut eingegangen werden, vorausgesetzt die Medien sind so gestaltet, dass sie für das jeweilige Kind zugänglich und nutzbar sind. Das bedeutet im Sinne einer inklusiven Medienbildung, dass in der Schule Programme zum Einsatz kommen müssen, die gemeinsame und zielgruppenspezifische Bedarfe von Menschen mit unterschiedlichen Heterogenitätsdimensionen berücksichtigen (Bosse & Eggert, 2019). Hier besteht ein Entwicklungsbedarf, der in der Zeit der Corona-Pandemie evident geworden ist und seitens der Lehrpersonen im Rahmen dieser Studie stark eingefordert wird. Um diese Entwicklung sicher zu stellen, ist die Bildungspolitik gefordert, die notwendige technische Ausstattung und personenbezogene Lernbegleitung für Schüler*innen mit Behinderungen und aus sozioökonomisch benachteiligten Familien sicherzustellen und Forschung zu fördern, die sich mit inklusiver Medienbildung auseinandersetzt. Schüler*innen mit Behinderungen benötigen bereits in der Volksschule digitale Endgeräte und Assistenz-Technologien. Im 8-Punkte-Plan der Bundesregierung zur Digitalisierung (BMBWF, 2020b) muss daher auch die Volksschule berücksichtigt werden. Inklusive Medienbildung sowie Barrierefreiheit von Lernplattformen, Tools und Unterrichtsmaterialien müssen für alle Schularten in diesen Masterplan aufgenommen werden. Weiters bedarf es einer Schwerpunktsetzung im Bereich der inklusiven Medienbildung und des Universal Design for Learning in den Institutionen der Lehrer*innenbildung - sowohl in der Forschung als auch in der Aus-, Fort- und Weiterbildung für alle Lehrpersonen.

 


5. Literatur

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