Gabriel Zellmer:„Ohne Angst verschieden sein“ – zur Diskussion eines gern genutzten Zitates

Abstract: Adornos Forderung nach einem gesellschaftlichen Zustand, in dem man „ohne Angst verschieden sein“ kann, ist auch im Kontext von Diskursen um das Thema Inklusion ein gern genutzter Aufhänger. Der gesellschaftskritische Anspruch fällt dabei leider allzu oft unter den Tisch und zentrale Überlegungen dazu, was Individualität bedeuten könnte, die bei Adorno im Begriff des Verschieden-Seins aufgehoben ist, und worin der Unterschied zwischen der jetzigen Gesellschaft und jenem besseren Zustand vor dem Hintergrund dieser zentralen Kategorie besteht, werden nicht gestellt oder problematisiert. Eine scharfe Grenzziehung zwischen Adornos Kritik und seiner darin bewahrten Utopie und der gegenwärtigen Situation wird zugunsten der Nutzbarmachung einiger seiner Gedanken für die praxisbezogene Problembearbeitung vermieden. Doch damit geht Wesentliches verloren. Im Beitrag soll eine Kritik am Begriff der Individualität geübt werden, die dafür plädiert, die Gesellschaftskritik der Kritischen Theorie ernst zu nehmen und daran anknüpfend deren eigenes Verständnis für intervenierende Praxis stark zu machen. Dabei wird gezeigt werden, inwiefern Individualität als Ideologie fungiert und welche Vorschläge die Kritische Theorie hat, um dahingehend einzugreifen.

Stichworte: Kritische Theorie, Gesellschaftskritik, Inklusion, Adorno, Individualität, Heterogenität, Bewusstsein, Emanzipation

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Inklusion und Utopie
  3. „Ohne Angst verschieden sein“ im Inklusionsdiskurs
  4. Entfremdung und Subjektformierung
  5. Individualität als Ideologie
  6. Kritik, Reflexion, Veränderung
  7. Gesellschaftliche Implikationen
  8. Verdinglichtes Bewusstsein und „fremder Blick“ - pädagogische Implikationen
  9. Anmerkungen
  10. Literatur

1. Einleitung

Inklusion und die Forderung, „ohne Angst verschieden sein“[1] zu können, scheinen auf den ersten Blick unmittelbar zusammen zu passen, zielen doch zahlreiche Inklusionsverständnisse zumindest vordergründig auf Ähnliches ab und versuchen, Verschiedenheit z.B. im Begriff der „egalitäre[n] Differenz“ (Prengel 2001, S. 96) als „grundlegende […] Idee der Pädagogik der Vielfalt“ (ebd.) so zu fassen, dass auf dieser Grundlage „ein nichthierarchisches, freiheitliches und entwicklungsoffenes Miteinander der Verschiedenen“ (ebd.) angestrebt werden kann oder zielen darauf ab, Verschiedenheit als Normalität einzuführen (prominent z.B. in Richard von Weizsäckers Rede bei der Eröffnungsveranstaltung der Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte (von Weizsäcker 1993, o.S.) oder auch in einer gemeinsamen Empfehlung von Hochschulrektorenkonferenz und Kultusministerkonferenz für eine „Lehrerbildung für eine Schule der Vielfalt“ (KMK 2015, S. 1f.)). Hans Wocken bezeichnet „[d]ie Gemeinsamkeit der Verschiedenen“ (Wocken 2019, S. 12) sogar als „die eigentliche Erkennungsmelodie der Inklusion“ als „ihr[en] substantielle[n] Kern“ (ebd.) und Dieter Katzenbach fasst Inklusion im Hinblick auf die Frage nach einer De-Kategorisierung als „das selbstverständliche, gleichberechtigte und wertschätzende Miteinander unterschiedlicher Menschen, wobei die Selbstverständlichkeit dieses Miteinanders darin besteht, dass ihre Unterschiedlichkeit nicht eigens thematisiert werden muss.“ (Katzenbach 2015a, S. 47). Diese kurze Auswahl soll andeuten, dass Adornos Zitat dazu recht kompatibel zu sein scheint.
Bei genauerer Betrachtung aber offenbart sich, dass sich beim Zusammenbringen von Adornos Anspruch und derartigen Verständnissen und Konzepten von Inklusion Brüche abzeichnen, die vor allem mit Adornos unversöhnlicher Kritik der bestehenden Gesellschaft und der in ihr existierenden Form von Individualität zusammenhängen – wie dieser Beitrag aufzeigen möchte.
Will man Inklusion mit Adorno denken, dann kommt man meines Erachtens nicht darum herum, sich genauer mit den Voraussetzungen und der Gesellschaftskritik zu befassen, die Adornos Satz zugrunde liegen und Grenzen aufzuzeigen, die dabei zutage treten; ebenso aber auch Momente herauszustellen, die es ermöglichen, dass sich eine derartige utopische Forderung überhaupt  konstituieren lässt. Dazu wird es nötig sein, sich zunächst genauer mit Inhalt und Gegenstand von Adornos Kritik zu befassen, um zeigen zu können, inwiefern die Utopie, die in Adornos Forderung aufbewahrt ist, an eine solche unversöhnliche Kritik des Bestehenden gebunden ist und losgelöst von ihr Gefahr läuft, substantiell entkernt zu werden.

2. Inklusion und Utopie

Utopie, wie sie in der Formulierung „ohne Angst verschieden sein können“ aufbewahrt ist, bedeutete für Adorno immer die Veränderung des Ganzen, sie stellt, nicht mehr aber auch nicht weniger, dar, als das Festhalten am Gedanken, dass ein Leben ohne Angst und Hunger möglich ist und daraus zieht sie ihre unversöhnliche Position gegen die Welt, wie sie aktuell ist.
Ein positives Auspinseln einer befreiten Gesellschaft kam für Adorno allerdings zu keiner Zeit infrage und es ist nicht zuletzt bezeichnend, dass gerade die hier titelgebende Formulierung es zu solcher Berühmtheit gebracht hat, erscheint sie doch als eine positiv formulierte Vision. Im Kontext von Adornos Denken wäre selbst dem noch zu widersprechen: Es handelt sich vielmehr um eine Konsequenz, genauer gesagt um eine durch bestimmte Negation dessen, was ist, gewonnene Einsicht. Diese Einsicht offenbart einen gesellschaftlichen Zustand, in dem man weder ohne Angst leben, noch verschieden, geschweige denn beides zusammen sein kann. Adorno wies deshalb konsequent darauf hin, dass es für den Erhalt einer Utopie in diesem Sinne von größter Wichtigkeit ist, am Ungenügen des Bestehenden festzuhalten und immer wieder zu betonen und genau zu bestimmen worin das Falsche dessen, was ist, sich ausdrückt, materialisiert und erkennbar wird. „Utopie“, sagt Adorno in einem Gespräch mit Ernst Bloch, „steckt jedenfalls wesentlich in der bestimmten Negation dessen, was bloß ist, und das dadurch, daß [sic.] es sich als ein Falsches konkretisiert, immer zugleich hinweist auf das, was sein soll. […] vom Falschen, d.h. von dem als falsch Kenntlichen aus bestimmt sich das Wahre“ (Bloch 1978, S. 362).
Wenn man Inklusion also als Forderung nach einem Zustand verstehen will, in dem man ohne Angst verschieden sein kann, wofür ich plädiere, dann ist es unumgänglich, sich mit den Bedingungen und dem Zustandekommen von Adornos Formulierung zu beschäftigen und seine Kritik ernst zu nehmen. Die Forderung nach Inklusion, so verstanden, ist also eine nach Gesellschaftskritik, die sich nicht blenden lässt vom schönen Schein des individuellen Lebens im Kapitalismus. Diesen Schein gilt es mit Adorno vielmehr als Ideologie zu fassen zu bekommen, als einen Schleier, der einer von Lebensängsten, Zwang, Hunger und Not befreiten Gesellschaft im Wege steht, in der sich das Individuum in Freiheit erst durchsetzen könnte. Diese Kritik muss immer wieder Grenzen aufzeigen, die durch sie greifbar werden und – wie gesagt - das Ungenügen des gesellschaftlichen Zustandes betonen und herausstellen, um die Gedankengänge an eine andere Welt überhaupt nur zu erhalten und zu ermöglichen. Das ist utopisch und radikal - und in Anbetracht der zeitgenössischen Zustände notwendig.

3. „Ohne Angst verschieden sein“ im Inklusionsdiskurs

Neu ist dieser Bezug zu Adorno dabei keineswegs, im Gegenteil: „Ohne Angst verschieden sein“ wurde und wird auch im Kontext von Inklusion immer wieder gern verwendet, vermutlich weil Grundkategorien des Inklusionsdiskurses wie Verschiedenheit tangiert werden. Der umfassende gesellschaftskritische Anspruch und die Tragweite werden dabei jedoch oft genug schlicht weggekürzt, doch das bringt das gesamte Zitat um seinen Gehalt. Adornos Gesellschaftskritik, ohne die das Zitat in der Luft hinge, zielte nämlich nicht auf die Anerkennung von Heterogenität im Bestehenden ab, sondern darauf, Verhältnisse abzuschaffen, die Individualität verunmöglichen (vgl. z.B. Adorno 1973, S. 306ff.; Adorno 1972, S. 444ff sowie die Ausführungen unter Punkt V). Lobeshymnen oder auch nur ein positiver Bezug auf die Unterschiedlichkeit der Menschen im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts, die oft als Individualität verkauft wird, sind unter Bezugnahme auf jenes Zitat Adornos also unangebracht und verfehlen dessen Kern. Vielmehr sollte man, ausgehend von Adornos Forderung, den Individualismus unserer Zeit selbst ins Visier der Kritik nehmen um die Kritik an der Gesellschaft in seinem Sinne entfalten zu können. Wird dies ausgeklammert, wird seiner Forderung Wesentliches entzogen und die Grenzen zwischen dem emanzipierten Zustand, auf den Adorno abhebt, und der Welt, wie sie aktuell ist, werden verwischt, anstatt sie in aller Trennschärfe herauszustellen. Letzteres wäre dabei aber ein notwendiges Vorgehen, denn sonst verkommt das, was Adorno vorschwebte, zu einer netten Garnierung eines Vorhabens, welches nicht die von Angst und dem Zwang zur Kapitalakkumulation emanzipierte Gesellschaft, sondern den individualistischen bzw. inklusiven Kapitalismus anstrebt.
Ich möchte an einigen kurzen Beispielen verdeutlichen, was ich damit meine. Adorno wird beispielsweise aus der Mottenkiste gekramt, wenn man gerade einen netten Untertitel für einen Förderpreis im Zusammenhang mit inklusiven Projekten braucht, wie in Bremen geschehen (1a), wenn eine Ausstellung zu Geschichte und Gegenwart von Menschen mit Behinderungen einen markigen Titel sucht (1b) oder wenn die Nieder-Ramstädter Diakonie die Stadtgesellschaft zu mehr inklusivem Engagement bewegen will (1c).  Diese Beispiele sollten zunächst nur illustrieren, inwiefern Adornos Zitat im Kontext von Inklusion auch außerhalb des akademischen Diskurses Verwendung finden. Allerdings wäre es fruchtlos, hier nachzuweisen, dass eine Autorin des Weser-Kuriers keine Adornoexpertin ist oder die Schulleitung es versäumt hat, sich mit der Gesellschaftskritik der Minima Moralia zu befassen. Deshalb möchte ich nun etwas genauer auf Beispiele renommierter Autorinnen und Autoren aus dem wissenschaftlichen Inklusionsdiskurs eingehen, die sich ebenfalls auf Adorno beziehen und deren Texte zum Gegenstand meiner inhaltlichen Kritik machen. Ich möchte dem vorausschicken, dass die Texte, auf die ich mich beziehe, keine theoretischen Abhandlungen um das Denken Adornos sind, sondern sein Zitat als Aufhänger für recht praxisnahe Erörterungen nutzen. Das ist eine Ausrichtung, die von meinem Beitrag durchaus verschieden ist. Dazu sei noch die Bemerkung gestattet, dass Adorno – anders als oft konstatiert – der Praxis nicht ablehnend gegenüberstand, sondern sein Schreiben als eine ganz spezifische Art von praktischem „Eingriff“ verstand. Es stellt sich also weniger die Aufgabe, sein Denken für praxisbezogene Überlegungen fruchtbar zu machen, sondern nachzuvollziehen, welche praktischen Gedanken Adorno selbst anstellte und wie er Intervention auffasste. Das ist auch in Bezug auf Inklusion fruchtbarer, als man zunächst vermuten könnte. Bevor ich darauf später zurückkomme, möchte ich zunächst aber einen Problemaufriss wagen, der auch den Grund meines Beitrages abgibt.
Das Problem, welches ich im Folgenden ins Blickfeld meiner Kritik nehmen werde ist nicht, dass der Versuch unternommen wird, Adornos Gedanken als Bezugspunkt für praktische Überlegungen nutzbar zu machen, sondern vielmehr, dass dabei etwas Entscheidendes droht verloren zu gehen: Die Betonung des Ungenügens und das Existenzialurteil Kritischer Theorie.
Annedore Prengel zum Beispiel schrieb schon 2002 für einen Sammelband zum Thema „Pädagogik der Anerkennung“ einen Beitrag, in dem „Ohne Angst verschieden sein“ im Titel steht. Allerdings drehen sich ihre Überlegungen vor allem um die Problematik von Gleichheit und Differenz, nicht um die Möglichkeitsbedingungen von Verschiedenheit, sondern um den Umgang mit jener. Es stellt sich also die Frage, ob und wie man Adornos theoretischen Anspruch mit den Beschwernissen und Anforderungen der (schulischen) Praxis zusammenbringen kann. Prengel unternimmt den Versuch, seine Forderung mit dem Festhalten an Konkurrenz und Leistungsvergleich im schulischen Alltag zusammenzuführen und Adornos Vision für die Gegenwart unmittelbar gebräuchlich zu machen. Sie schreibt: „Der Wunsch, über Leistungshierarchien und ihre Folgen wahrhaftig zu kommunizieren, kann verknüpft werden mit dem Wunsch, individuelle Heterogenität anzuerkennen […]“ (Prengel 2002, S. 215). Im Kern scheint es das Ansinnen der Autorin zu sein, den Leistungsvergleich in der Schule und die Konkurrenz - wenn auch mit einem anderen Leistungsbegriff - beizubehalten und mittels einer Pädagogik der Anerkennung zu reformieren. Sie denkt also mit Adorno über die Vielfalt, genauer gesagt: über den Umgang mit Vielfalt nach, die in der Schule vorzufinden sei. Die „Leistungsanforderungen und [den] Wettstreit um Leistungen“, so schreibt sie, könne man „gerade auch um der demokratischen Chancengleichheit willen nicht [aufgeben]“ (ebd. S. 211). Das ist ja im Grunde aber genau das Problem, an dem Gesellschaftskritik mit Adorno - auch unter Bezug auf das titelgebende Zitat - ansetzen könnte und sollte. Prengel ergreift diese Möglichkeit in ihrem Text nicht. Der Widerspruch zwischen Vielfalt und Leistung, den sie in ihrem Text auch explizit so benennt, sollte mit Adorno in seinem Zustandekommen, seinen Bedingungen und Konsequenzen entfaltet und zugespitzt werden, auch wenn es natürlich praktisch eines Umgangs bedarf, zu dem Prengel ihre Ausführungen macht. Es zeigt sich hier aber ein zu laxer Umgang mit Adornos Forderung, der letztlich seine Kritik den praktischen Anforderungen unterwirft. Denn Adorno ging es nicht um die Anerkennung von Vielfalt, sondern um notwendige gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen, in denen Verschiedenheit überhaupt erst sich herausbilden kann. Und das sind zwei ganz verschiedene Dinge, die auch abgegrenzt bleiben müssen, damit sie ihre jeweiligen Stärken behalten. Denn Prengels Überlegungen haben im Hinblick auf die Problematisierung von Gleichheit und der Frage nach Wertschätzung und Anerkennung im Kontext Schule und der Frage nach dem praktischen Umgang mit Verschiedenheit und Leistungsvergleichen sicher ihre Stärken. Aber Adornos Gedanken haben die ihren eben genau dort, wo eine Pädagogik der Anerkennung ihre Grenzen hat. Das möchte ich kurz ausführen und zuspitzen, um den notwendigen Bruch herauszustellen.
Prengel kommt in ihrem Text schließlich zu dem Fazit:
„Wenn Kinder und Jugendliche sich der äußerst schmerzlichen Anerkennung von Begrenztheit, Mangel und Unterlegenheit stellen, die interpersonelle Leistungsvergleiche für viele mit sich bringen, dann ist es wichtig, dass Lehrkräfte niemals eine grundlegende humane Achtung in Frage stellen, ihnen taktvoll beistehen und sie trösten, anstatt sie zu diskriminieren [...]“ (ebd. S. 215).
Das stimmt, und doch wäre genau hier einzuhaken: Denn hier werden Zustände greifbar, die überhaupt erst die Notwendigkeit „interpersonelle[r] Leistungsvergleiche“ hervorbringen und somit Schmerz und Begrenztheit, Mangel und eine spezifische Art von Unterlegenheit produzieren und in der Folge die Voraussetzung dafür bilden, dass „eine grundlegende humane Achtung in Frage“ gestellt werden kann. Praktisch muss die Lehrkraft jenen Schmerz abmildern und versuchen, alles Mögliche dafür zu tun, dass die Schülerinnen und Schüler so wenig wie möglich an ihm zerbrechen; theoretisch muss man aber mit Adorno jene Zustände selbst angreifen und feststellen, dass der Trost ein schlechter Trost ist, weil er den Lehrkräften die Notwendigkeit aufbürdet, als Einzelne abzumildern was sie als Einzelne nicht verursacht haben und als solche auch nicht zu verändern vermögen. Verliert man diese scharfe Grenze aus den Augen, verliert Adornos utopische Forderung nach einem Zustand, in dem man ohne Angst verschieden sein kann - die den Verhältnissen diametral gegenübersteht und daraus ihre Kraft und Tragweite zieht - ihr wesentliches Moment und mit ihrem kritischen Kern auch ihren utopischen Bezugspunkt. Darum gilt es, eine Grenze zu ziehen, um das wesentliche Moment der utopischen Forderung nach einem besseren Zustand zu wahren: Akut müssen Angst und Schmerz gelindert werden, aus Perspektive der Kritischen Theorie muss beides und damit auch die Notwendigkeit zur Linderung aus der Welt verschwinden. Das ist – so meine ich – ein wesentlicher Kern von Adornos Utopie.
Der Bruch zwischen beiden Welten wurde damit umrissen, ein weiteres Beispiel soll diesen noch einmal pointierter darstellen.
Dieter Katzenbach und Joachim Schroeder schrieben in der Zeitschrift für Inklusion einen Beitrag, der ebenfalls den Titel „Ohne Angst verschieden sein können“, allerdings mit dem Zusatz: „über Inklusion und ihre Machbarkeit“, trägt (Katzenbach, Schroeder 2009). Die Autoren stellen sich dann aus diesem Blickwinkel auch nicht die Frage nach einer Veränderung schlechter gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern die, „wie Erziehung und Bildung, vor allem jedoch Schule und Unterricht organisiert werden können, so dass dies für Kinder und Jugendliche ‚angstfrei‘, und dies meint hier zuvörderst: nicht ausgrenzend ist.“ (ebd.). Im Text finden sich dann auch tendenziell missverständliche Behauptungen, wie jene, dass Adorno die „Anerkennung der Ungleichheit“ (ebd.) fordere. Übergangen wird, dass er als Voraussetzung dafür viel mehr die Veränderung von Verhältnissen fordert, die aus Verschiedenheit Ungleichheit werden lassen. Katzenbach und Schroeder fixieren sich darauf, die Ambivalenz von Gleichheitspostulaten und den Ausschluss aus dem Kollektiv der Gleichen, den diese mit sich bringen, darzustellen. Das hat seine Berechtigung mit Blick auf den Gegenstand ihrer Ausführungen, tangiert Adornos Intention aber nur oberflächlich. Mit meiner folgenden Kritik hoffe ich auch, dem Anspruch von Dieter Katzenbach nachzukommen, die Diskussion um theoretische Grundlagen des Inklusionsbegriffs zu intensivieren bzw. möchte ich an dieser Stelle seine Einladung zur Diskussion dieser Grundlagen aus der Perspektive der Kritischen Theorie gern an- und aufnehmen, die er in einem seiner Beiträge ausgesprochen hat (Katzenbach 2015b, S. 19). Der Kernpunkt, der aus meiner Sicht herauszuarbeiten wäre ist, dass unter den herrschenden Verhältnissen nur eine schlechte Gleichheit zu haben ist, die als ihre Kehrseite auch nur einen schlechten, weil leeren und scheinhaften Individualismus hat. Adornos Forderung nach Verschiedenheit ist daher im Wesentlichen eine nach der Veränderung der Verhältnisse bzw. hat diese zur Voraussetzung. Die Frage nach der Machbarkeit kann mit seiner Utopie nicht zusammenkommen, wenn sie das nicht fokussiert, bzw. nicht unversöhnlich darauf insistiert. Müsste man nicht also mit Oscar Wilde radikal fragen: „was ist ein praktischer Plan? Ein praktischer Plan ist entweder ein Plan, der bereits besteht, oder ein Plan, der unter den bestehenden Verhältnissen durchgeführt werden könnte. Aber gerade gegen die bestehenden Verhältnisse wendet man sich; und jeder Plan, der sich in diese Verhältnisse fügen könnte, ist schlecht und töricht.“ (Wilde 1904, S. 84f.). Mitnichten will ich damit die Ausführungen der Autoren als schlechten und törichten Plan abwerten. Die Frage, die ich aufwerfen möchte ist auch keineswegs, ob man über die „Machbarkeit von Inklusion“ nachdenken sollte – das sollte man unbedingt, denn die Menschen können nicht warten, bis die Verhältnisse sich grundlegend geändert haben und dürfen bis dahin aus Prinzip auf keinerlei Verbesserung hoffen. Die Frage lautet vielmehr, ob man mit Adorno nicht eher die Grenzen dieser Machbarkeit betonen und entfalten sollte, anstatt ihn für ein Nachdenken über die Machbarkeit selbst zu bemühen. Ich möchte für ersteres plädieren und einige Punkte anreißen.

4. Entfremdung und Subjektformierung

Jetzt erscheint es so, dass die Verhältnisse zunehmend inklusiver, individualistischer und freier werden und dass man fortwährend weniger Angst davor haben müsse, verschieden zu sein. Das stimmt auch. Einerseits ist es unbestreitbar, dass es gesellschaftliche Fortschritte gibt, die immer mehr Lebensentwürfe zulassen und die einer immer größeren Zahl von Menschen Partizipation und Entfaltung ermöglichen. Das sind ganz reale Errungenschaften, die unbedingt ausgebaut und erhalten werden müssen. Andererseits steht das Leben nach wie vor unter dem Imperativ der Mehrwertakkumulation und der Produktion von Waren. Das bedeutet auch, dass „der gesamte Aufbau der kapitalistischen Produktion auf [der] Wechselwirkung von streng gesetzlicher Notwendigkeit in allen Einzelerscheinungen und von relativer Irrationalität des Gesamtprozesses beruht.“ (Lukács 2012, S. 81). Die Befriedigung menschlicher (Grund-) Bedürfnisse bildet demnach nicht den vernünftigen und übergeordneten Endzweck, nach dem sich die gesamte Produktion und Verteilung richtet, sondern der „Zusammenhang von Wert und gesellschaftlichem Bedürfnis ist in der gegenwärtigen Ordnung […] durch die Summation zahlloser unkontrollierbarer Ereignisse vermittelt.“ (Horkheimer 2011 [1936], S. 157; vgl. dazu vertiefend auch Adorno 1972 [1953], S. 440ff.).Und das hat verschiedene Auswirkungen:
Erstens - und das sollte man sich immer wieder bewusst machen - verhungern immer noch unzählige Menschen, weil sie zwar eine Nachfrage nach Nahrungsmitteln haben, allerdings keine zahlungskräftige. Kapitalistisches Wirtschaften produziert eben auch deshalb weiterhin Not und Elend, weil Not und Elend an sich keine Gründe zur Produktion von Gütern darstellen (2).
Zweitens besitzt Arbeit nach wie vor einen Zwangscharakter und ist entfremdet in dem Sinne „daß [sic.] der Arbeiter für den Produktionsprozess, nicht der Produktionsprozess für den Arbeiter existiert.“ (Fromm 1969, S. 53). Entfremdung hat nach Marx vier Komponenten, die dieses Verhältnis genauer bestimmen: Die Entfremdung (1) des Arbeiters zu seinem Arbeitsprodukt und (2) zum Arbeitsprozess, sowie (3) die Entfremdung des individuellen menschlichen Wesens von seinem eigenen Gattungswesen und (4) schließlich jene des Menschen von anderen Menschen, indem der Mensch eine Macht über den Menschen wird (vgl. MEW 40, S. 511ff.). Marx erkannte daher auch, dass die Befreiung des Menschen unbedingt eine
„Befreiung des Menschen von einer Form der Arbeit ist, die seine Individualität zerstört, die ihn in einen Gegenstand verwandelt und ihn zum Sklaven der Gegenstände macht. [Marx] Kritik der kapitalistischen Gesellschaft richtete sich nicht gegen die Art, in der sie die Einkommen verteilt, sondern gegen ihre Produktionsweise, ihre Zerstörung der Individualität und ihre Versklavung des Menschen […] durch Dinge und Umstände, die sie selbst hervorbringen“ (Fromm 1969, S. 53).
Dieses Moment des Beherrscht-Seins durch selbst hervorgebrachte, aber nicht bewusste Umstände, werde ich gleich noch einmal aufnehmen. Hier festzuhalten ist, dass Marx sich im Klaren darüber war, dass Individualität eine vollkommen andere Art der produktiven Tätigkeit voraussetzt; Arbeit von einer Ware zu einer erfüllenden Tätigkeit werden muss, die ihren Zwangscharakter verloren hat und dem menschlichen Bedürfnis entspringt und die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zum Ziel hat. In diesem Kontext ist auch Marx’ berühmter Satz zu verstehen, in dem er jene nichtentfremdete Arbeit als freie Tätigkeit beschreibt, in der der Mensch sich selbst entfalten kann und frei ist, „morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie [er] Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt [sic.] oder Kritiker zu werden.” (zit. n. ebd., S. 48).
Folgende Schlüsse möchte ich aus den kurz skizzierten Ausführungen zu Marx für meinen Beitrag ziehen: Wenn ich von schlechten gesellschaftlichen Verhältnissen spreche, ziele ich darauf ab, dass jene durch entfremdete Arbeit und Verdinglichung konstituiert sind und gegenwärtig die Beziehungen von Herrschaft, Unterdrückung, Ausbeutung und Entmenschlichung die Subjektformierung des Individuums bedingen. Das heißt, Menschen sind nicht einfach so, wie sie sind - das wären sie auch in einer völlig anderen Gesellschaft nicht - sondern sie sind Produkte einer ganz spezifischen Art der Vergesellschaftung. Und diese erfordert in zivilisierten, kapitalistischen und arbeitsteilig organisierten Gesellschaften eine Unterdrückung emotionaler, sexueller und vieler anderer Triebe um einen zweckgerichteten, rationalen Charakter zu entwickeln.
Damit ist neben der Entfremdung noch etwas anderes angesprochen, nämlich die Triebunterdrückung, die freilich mit jener in Zusammenhang steht, aber es doch bedarf, gesondert in den Blick gerückt zu werden. Denn die Beherrschung und Einhegung von (Es-)Trieben ist für die Kulturentwicklung ungemein zentral und auch jenseits spezifischer kapitalistischer Zurichtung ein Merkmal des Zivilisationsprozesses ganz allgemein. Und auch wenn Freud gezeigt hat, dass Kulturentwicklung und Triebunterdrückung nicht zu trennen sind, so bemerkte er doch zugleich, dass die Gesellschaft dem Menschen viel mehr Verzicht und Triebunterdrückung abverlangt, als für ein zivilisiertes Zusammenleben in Wohlstand und in Anbetracht des Standes der gesellschaftlichen Entwicklung wahrscheinlich nötig wäre und dass sie ihm weit weniger dafür zurückgibt, als möglich ist (vgl. Freud 2014 [1930], S. 917ff.). Freud macht aber gleichzeitig deutlich, dass eine Kritik daran nicht in Hass auf moderne Gesellschaften und Zivilisation umschlagen darf (vgl. ebd.).
Da Triebunterdrückung ab einem gewissen Alter nicht mehr vorrangig durch äußere Instanzen mittels Zwang erwirkt, sondern vom Individuum selbst geleistet und überwacht wird (vgl. ebd. S. 924ff & S. 934), bedarf es mehr reflexiver Anstrengungen, den gesellschaftlichen Charakter der Forderungen des Über-Ichs zu entschlüsseln, die das Subjekt allzu oft als seine ganz eigenen moralischen Wertmaßstäbe o. ä. verklärt. Freud bringt dieses dialektische Verflochtensein auf den Punkt:
„Bei [dem Einzelmenschen] machen sich nur die Aggressionen des Über-Ichs im Falle der Spannung [zwischen eigenen Strebungen und den Forderungen des Über-Ichs, Anmerk. d. Verf.] als Vorwürfe überlaut vernehmbar, während die Forderungen selbst im Hintergrunde oft unbewußt [sic.] bleiben. Bringt man sie zur bewußten [sic.] Erkenntnis, so zeigt sich, daß [sic.] sie mit den Vorschriften des jeweiligen Kultur-Über-Ichs zusammenfallen. An dieser Stelle sind sozusagen beide Vorgänge, der kulturelle Entwicklungsprozeß [sic.] der Menge und der eigene des Individuums regelmäßig mit einander verklebt.“ (ebd. S. 938f.).
Auch auf diesem Gebiet handelt es sich also nicht um ureigene Anteile des Subjekts, sondern um verinnerlichte gesellschaftliche Gegebenheiten. Dieser Punkt bedürfte der genaueren Ausführung und weiterer Bezüge (z.B. zu Selbstbild und früher Kindheit, Verdrängung und Übertragung usw. usf.), die hier nicht geleistet werden können. Deshalb belasse ich es an dieser Stelle bei der Andeutung unter dem Verweis, dass dieses Feld zur Frage nach der Entwicklung von Subjektivität unbedingt dazu gehört.
Es ist also bis hierhin festzuhalten, dass das Subjekt durch gesellschaftliche Verhältnisse „formiert“ wird und mit viel Gewalt ein hohes Maß an Triebunterdrückung leisten muss, für die es nur ungenügend durch die Gesellschaft entschädigt wird.
Und – um darauf zurückzukommen - unter kapitalistischen Vorzeichen steht die Subjektformierung in besonderem Maße im Dienste der Zurichtung des Selbst zum Zwecke der Selbsterhaltung und damit in Verbindung mit der Verdinglichung des individuellen Lebens zu einem „Behältnis“ von Arbeitskraft. Der Mensch muss seine eigene Lebensäußerung in Form der Fähigkeit, Arbeit zu verrichten, als etwas Dinghaftes begreifen, dass er auf dem Markt anbieten kann. Dieses durch Verdinglichung geprägte Verhältnis beschreibt Marx als charakteristisch für kapitalistische Gesellschaften (vgl. Marx 1969, S. 184). Um also seine Selbsterhaltung zu bewerkstelligen muss das Subjekt die Ware verkaufen, die ihm oft als einzige eigen ist: seine Arbeitskraft, welche es bedingt durch die Trennung der Arbeiter und Arbeiterinnen von den Produktionsmitteln am Arbeitsmarkt „anbietet“.
Das Subjekt nimmt nochmalige Zurichtungen in Kauf, um seine Arbeitskraft möglichst rentabel verkaufen zu können. Der Mensch verschwindet schließlich hinter der Ware und wird - durch eine Entlohnung, die die Reproduktion seines individuellen Lebens (also: seine Erhaltung), ermöglicht - selbst zur Ware und damit zum Ding, was einer völligen Entmenschlichung gleichkommt. In der Produktion erhält die individuelle, produzierende Arbeit die Form der Gleichheit mit der Arbeit Anderer, sie erhält den Doppelcharakter einer sowohl individuellen als auch allgemein warenproduzierenden Arbeit, die eine Ware produziert, die mit der produzierten Ware eines anderen Menschen austauschbar ist (vgl. Pollock 2018 [1923], S. 39). Vom Menschen und seiner konkreten Arbeit wird abstrahiert, es bleibt schlicht der produzierte Tauschwert von Interesse, dessen Wertmaß nicht die individuelle, sondern die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist (vgl. ebd.). Die kapitalistische Produktionsweise erzeugt also - zusammenfassend gesagt - einen von sich selbst, seiner Tätigkeit und deren Produkt ebenso wie von anderen Menschen entfremdeten und durch entfremdete Arbeit entstellten Menschen in allen Segmenten der Gesellschaft, der objektiv am Arbeitsmarkt austauschbar ist und als Einzelner keine Möglichkeit hat, diesen Verhältnissen zu entfliehen bzw. sie zu verändern. Durch die historisch-spezifische Organisationsform der Produktion konstituiert sich ein Herrschaftsverhältnis des Menschen über den Menschen, das zugleich Ausdruck der Entfremdung des Menschen von seinem eigenen Gattungswesen ist.
Die von Adorno anvisierte Versöhnung des Besonderen, in der sich auch das Allgemeine verwirklicht, hängt damit zusammen (auch wenn sie darüber hinaus geht) und drückt ebenso negativ aus, dass die Welt, in der wir leben, unversöhnt ist. Und auf diese Welt muss die Schule, wie inklusiv sie auch sein mag, vorbereiten. Sie muss Subjekte formieren, die in dieser Welt leben können, gebraucht werden und das meint auch: verwertbar sind.

5. Individualität als Ideologie

Dass es also andere gesellschaftliche Verhältnisse braucht, um überhaupt Verschiedenheit im Sinne von Individualität möglich werden zu lassen, daran ließ Adorno nie einen Zweifel. In den Minima Moralia, die in ihrem Untertitel ausdrücken, welche Beschaffenheit das gegenwärtige Leben hat, schrieb er: „Der Zustand, in dem das Individuum verschwindet, ist zugleich der fessellos individualistische […]“ (Adorno 2016, S. 170). Denn, so Adorno weiter,
„gerade als Absolutes ist das Individuum bloße Reflexionsform der Eigentumsverhältnisse […]. Nicht bloß ist das Ich in die Gesellschaft verflochten, sondern verdankt ihr sein Dasein im wörtlichsten Sinn. All sein Inhalt kommt aus ihr […] Echtheit ist nichts anderes als das trotzige und verstockte Beharren auf der monadologischen Gestalt, welche die gesellschaftliche Unterdrückung den Menschen aufprägt.“ (ebd. S. 175f.).
In der Negativen Dialektik wird er noch deutlicher und stellt fest, dass eine Einsicht ins eigene Geworden-Sein eine narzisstische Kränkung darstelle, die den gesellschaftlich notwendigen Schein des Individualismus zerreißen würde (was wiederum negativ das Potenzial einer solchen Einsicht setzt). Er schreibt:
„Der Vormacht des Allgemeinen ins Auge zu sehen, schädigt psychologisch den Narzißmus [sic.] aller Einzelnen und den demokratisch organisierter Gesellschaft bis zum Unerträglichen. Selbstheit als nichtexistent [sic.], als Illusion zu durchschauen, triebe leicht die objektive Verzweiflung aller in die subjektive und raubte ihnen den Glauben, den die individualistische Gesellschaft ihnen einpflanzt: sie, die Einzelnen, seien das Substantielle.“ (Adorno 1973, S. 306).
Er dechiffriert den Individualismus also als eine notwendig falsche Form des Bewusstseins, als Ideologie, die die Erscheinung zum Wesen verklärt. Auch zu dem Vorhaben, Individualismus unter den gegebenen Verhältnissen zu verwirklichen und dadurch die Gesellschaft rückbezüglich irgendwie zum Besseren zu wenden, hat Adorno in diesem Zusammenhang festgehalten, dass „[w]ahrhafter Vorrang des Besonderen […] selbst erst zu erlangen [wäre] vermöge der Veränderung des Allgemeinen. Ihn [also diesen Vorrang, Anmerk. d. Verf.] als Daseiendes schlechthin zu installieren, ist eine komplementäre Ideologie. Sie verdeckt, wie sehr das Besondere zur Funktion des Allgemeinen wurde, die es, der logischen Form nach, immer auch war“ (ebd., S. 307f.).
Indem Adorno die dialektische Beziehung von Individuum und gesellschaftlichen Verhältnissen ernst nimmt, entschlüsselt er die Individuation des Subjekts als eine Introjektion objektiver Verhältnisse. Das ist nicht im Sinne eines absoluten Determinismus misszuverstehen, denn das Individuum beschreibt bei Adorno auch ein Potential zur Freisetzung, zur Reflexion und Veränderung und ist keineswegs auf seine gesellschaftliche Formung allein zu reduzieren, sondern eben auch als „Kraftzentrum“ (Adorno 1966, zit. n. Jakobs 2010, S. 90) zu verstehen, das dem gesellschaftlichen Druck Widerstand leisten kann. Doch um das zu diskutieren, bräuchte es eine eigene Abhandlung.
Für meinen Punkt relevant ist Folgendes: Das Subjekt, das sich am unabhängigsten von den gesellschaftlichen Verhältnissen glaubt, sitzt jenen am meisten auf, weil es nicht auf sein Geworden-Sein reflektiert und in der besinnungslosen Feier der eigenen „Eigentümlichkeit“ die Hypertrophie des Subjekts, die ohnehin in Mode ist, auf die Spitze treibt. Wenn dann aber beschrieben werden soll, was jene unverwechselbare Individualität denn ausmache, klingt das nicht ohne Grund oft nach jenen abgeschmackten Worthülsen, die man in nahezu jeder Bewerbung so oder so ähnlich finden könnte. Man ist spontan, flexibel, fröhlich, open-minded, teamfähig und kreativ, erfüllt also – kurz gesagt - ziemlich genau die Anforderungen des neoliberalen Arbeitsmarktes.
Bewusstlose gesellschaftliche Verhältnisse werden also nicht reflektiert, sondern ebenso bewusstlos affirmiert. Das Subjekt, welches sich reflektieren müsste, wenn es das Allgemeine erkennen will, weil es ein Moment desselben ist, fetischisiert seine Zurichtung als Individualität und schneidet den reflexiven Zugang zur Erkenntnis ab, bevor er überhaupt angegangen werden konnte. Christopher Lasch bemerkte mit Blick auf die zu seiner Zeit aktuelle „Bekenntnisliteratur“ daher ebenso spitzfindig wie treffend, dass „[das] Zeugnis des Innenlebens […] zur unbeabsichtigten Parodie“ wird (Lasch 1980, S. 39), weil man selbiges nur mit den abgedroschensten Eigentlichkeitsphrasen darzustellen in der Lage ist. Mit ihm und in Anlehnung an Adorno lässt sich weiterhin feststellen, dass das, was als Individualismus erscheint, bei genauerer Betrachtung eher Narzissmus ist.
Lasch hält einige Punkte fest:
„Die Auszehrung von älteren Traditionen des Sich-zu-helfen-Wissens hat die Kompetenz des Menschen im täglichen Leben auf einem Gebiet nach dem anderen beschnitten und das Individuum von Staat, Firmen und anderen Bürokratien abhängig gemacht. Der Narzißmus [sic.] stellt die psychologische Dimension dieser Abhängigkeit dar […].  Seine scheinbare Freiheit von familiären Bindungen und institutionellen Zwängen befähigt ihn keineswegs, auf eigenen Füßen zu stehen oder sich seiner Individualität zu freuen. Im Gegenteil: sie trägt zu seiner Unsicherheit bei, die er nur überwinden kann, wenn er sein »grandioses Ich« in der Aufmerksamkeit anderer reflektiert sieht […].“ (ebd., S. 27).
Diese Einsicht offenbart nicht nur, dass unter zunehmend drückender werdenden und durchgeplanteren gesellschaftlichen Verhältnissen, die das einzelne Subjekt in Beruf und Freizeit immer stärker binden, die Ideologie das Individualismus als narzisstische Aufwertung dient, um einen Schein von Subjektivität aufrecht zu erhalten, sondern mit diesen Erkenntnissen enthüllt Lasch den Narzissmus auch als einen „Abwehrmechanismus gegen aggressive Impulse […] und nicht etwa [als] Eigenliebe“ (ebd., S. 53) (3).
Individualität, die ihren Namen verdiente, könnte sich also nur unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen konstituieren und stünde in einem engen Verhältnis zur Reflexion. Adorno stellte daher in seiner recht bekannt gewordenen Schrift „Erziehung nach Auschwitz“ fest:
„[Es]  gehört zu dem unheilvollen Bewußtseins- und Unbewußtseinszustand, daß [sic.] man sein So-Sein  […] fälschlich für Natur, für ein unabänderlich Gegebenes hält und nicht für ein Gewordenes. […] Das [verdinglichte Bewusstsein, Anmerk. d. Verf.] ist aber vor allem eines, das gegen alles Geworden-Sein, gegen alle Einsicht in die eigene Bedingtheit sich abblendet und das, was so ist, absolut setzt. Würde dieser Zwangsmechanismus einmal durchbrochen, wäre — so dächte ich — doch einiges gewonnen.“ (Adorno 1970 [1966], S. 104)
Derzeit verhält es sich aber gerade anders herum und die Reflexion auf sein eigenes Geworden-Sein wird ausgespart, um vehement Individualismus zu konstatieren. Es geht also nicht nur um ein Beherrscht-Sein des Menschen durch selbst hervorgebrachte, aber nicht bewusste gesellschaftliche Verhältnisse, sondern auch um die komplementäre Ideologie des Individualismus, die ebenso nicht bewusst sich konstituiert und zur Aufrechterhaltung jener Zustände ihren Beitrag leistet.

6. Kritik, Reflexion, Veränderung

Die Grenzen zwischen der Welt, in der wir leben und jener, in der man ohne Angst verschieden sein könnte, sind also insbesondere im Zusammenhang mit der Frage nach dem Bewusstsein von sich selbst, einer Reflexion auf die eigene Zurichtung und auf die Verhältnisse, in denen man lebt, zu verstehen.
Bewusstwerdung und das Entwickeln von Fragen an die Verhältnisse standen folglich auch im Zentrum der Pädagogik der Befreiung. Dies hebt begrifflich darauf ab, dass die herrschenden Verhältnisse wie die Vorgänge der eigenen Individuation unbewusste sind, als naturwüchsig erscheinen und nicht in Frage gestellt werden (vgl. Freire 1971, S. 47f., 52f., 208). Das Unbewusste ist dabei keine rein kognitive Kategorie, die durch Information, Aufklärung o.Ä. dem Bewusstsein zugeführt und damit aufgelöst werden könnte, sondern eine weit umfassendere und im Zusammenhang mit dem Charakter und mit Charakterdispositionen, mit psychologischen und emotionalen Aspekten stehende Kategorie. Eine Veränderung der Verhältnisse hängt daher auch eng zusammen mit einer Veränderung der eigenen Person und umgekehrt. Aufklärung ist immer ein dialektischer Prozess einerseits von Einsicht und Veränderung und damit zusammenhängend der Selbst- und Weltveränderung. In diesem Sinne verstand Freire auch Praxis: Als „Reflexion auf die Welt und Aktion an der Welt, um sie zu verändern.“ (ebd. S. 48). Befreiung meint also Bewusstwerdung seiner Selbst, seiner Zurichtung, seines Geworden-Seins und ebenso die Einsicht in gesellschaftliche Verhältnisse um diese schließlich in Frage stellen und verändern zu können.

7. Gesellschaftliche Implikationen

Eine praktische Implikation des hier Dargestellten ist es, den Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu richten, die sich radikal ändern müssen und ins Zentrum der Überlegungen zu rücken, dass die Entwicklung der Produktivkräfte soweit fortgeschritten ist und die materiellen Möglichkeiten heute gegeben sind, so dass ein Leben ohne Hunger, Elend und Not für alle Menschen praktisch möglich ist (4). Soll Inklusion also eine umfassende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse sein, die alle Menschen angeht, dann muss darauf insistiert werden, denn:
„Wenn es wahr ist, daß [sic.] ein Leben in Freiheit und Glück heute möglich wäre, dann wäre es eine der theoretischen Gestalten der Utopie, […] daß [sic.] man konkret sagen würde, was bei dem gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte der Menschheit möglich wäre – das läßt [sic.] sich konkret und das läßt [sic.] sich ohne Ausmalen und […] ohne Willkür sagen. Wenn das nicht gesagt wird, wenn dieses Bild nicht auch […] handgreiflich erscheint, dann weiß man im Grunde gar nicht, wozu das Ganze eigentlich da ist […] ohne dieses [positive] Moment käme man doch in einer Phänomenologie des utopischen Bewußtseins [sic.] nicht aus.“ (Adorno 1978, In: Bloch 1978, S. 363f.).
Um diese Perspektive allerdings breit diskutierbar zu machen, ist es nötig, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse von möglichst allen Menschen als veränderbar begriffen werden (vgl. auch Freire 1971, S. 45 & 52). Die Veränderung der objektiven Verhältnisse kommt also schon in diesem Punkt (dem der Erkenntnis der Veränderbarkeit) nicht ohne einen veränderten Blick der Subjekte aus. Doch damit ist es nicht getan, denn wenn sich nicht die Bewusstseinsstruktur der Subjekte selbst grundlegend verändert, sie nicht die verinnerlichte Objektivität reflexiv bearbeiten, gilt: „ohne eine radikale Veränderung des Bewußtseins [sic.] ist Umsturz für das Volk nur Gefängnistausch.“ (Lange 1971, S. 27). Deshalb betonte Freire auch beharrlich „den eminent pädagogischen Charakter der Revolution“ (Freire 1971, S. 69). Das führt zurück zum Praxisverständnis Kritischer Theorie.

8. Verdinglichtes Bewusstsein und „fremder Blick“ - pädagogische Implikationen

Adorno pointierte im Vorwort zu seiner Aufsatzsammlung mit dem Titel „Eingriffe“, dass er sein Schreiben als praktische Intervention verstand: Als eine ins „verdinglichte Bewußtsein [sic.]“ mit der Einschränkung, „daß [sic.] Bewußtsein [sic.] kritisiert wird, wo es nur Reflex der Realität ist, die es trägt.“ (Adorno 1966, S. 8). In dieser Differenzierung kommt auch das dialektische Verständnis von Subjektivität zum Tragen, weil nicht jedwedes Bewusstsein Gegenstand der Kritik ist. Auf dieser Basis ließen sich nun allerhand praktische Überlegungen für eine inklusive Pädagogik anstellen, wie ein solcher Eingriff gelingen kann (5) und damit Verhältnisse fraglich werden, die es nicht ermöglichen, dass Menschen ohne Angst verschieden sein können. Einiges möchte ich abschließend andeuten. Dabei kann es jedoch lediglich darum gehen, einige Grundlagen zu skizzieren um in Didaktik und Unterrichtsplanung eine fruchtbare Umsetzung emanzipatorischer Praxis zu ermöglichen, nicht jedoch um eine methodische oder didaktische Diskussion an sich – dies bedürfte eigener Abhandlungen (interessante Anschlüsse finden sich bei Jakobs (2010), bei der mentalisierungsbasierten Pädagogik (Gingelmaier, Taubner, Ramberg et al. 2018) oder auch bei Paulo Freire, vor allem im Hinblick auf die dialogische Methode, die zahlreiche relevante Bezüge zur Bildungspraxis hergibt (Freire 1971, S. 93ff.)).
Vor allem der Begriff des „fremden Blicks“ (Brecht, zit. n. Heydorn 2004, S. 17) scheint hier einige Möglichkeiten zu eröffnen, deutet dieser doch etwas an, was als Wesentlich für die Reflexion bezeichnet werden kann und was Heydorn deshalb ins Zentrum seines Bildungsbegriffes rückte: Distanz zu sich selbst und zur Welt, um einen Raum zum Nachdenken zu eröffnen: „Bildung [...] bedarf eines Entrücktseins von der Unmittelbarkeit des Lebens, damit der Mensch ein Selbstbewußtsein [sic.] gewinnt und für die Unmittelbarkeit im Sinne einer eigenen, kritischen Artikulation handlungsfähig wird.“ (ebd.). Auch Helmuth Plessner beschreibt aus philosophisch-anthropologischer Perspektive die „Kunst des entfremdeten Blicks“ als „eine unerläßliche [sic.] Voraussetzung allen echten Verstehens“ (Plessner 2003, S. 94). Und weil diese Fähigkeit zum distanzierten, entfremdeten Blick grundsätzlich jedem Menschen eigen ist, stellt sie einen Anknüpfungspunkt für eine inklusive Pädagogik und Didaktik dar. Vor allem im Hinblick auf den oft geforderten Lebensweltbezug in inklusiven settings lassen sich einige weiterführende Anstöße formulieren. Vor dem Hintergrund des entfremdeten Blickes muss die Lebenswelt nicht nur aufgegriffen, sondern im wörtlichen Sinne zum Gegenstand gemacht werden. So können spezifische Konstellationen und Probleme entdeckt, bearbeitet, kritisiert und wenn möglich und nötig auch verändert werden. Erst durch die kritisch-distanzierte Betrachtung der eigenen Umwelt lassen sich schließlich auch Einflüsse entdecken, die zur Formung der eigenen Persönlichkeit beigetragen haben, die also ein kleines Stück der eigenen Identität erklären könnten (ohne, dass diese jemals vollständig ausgeleuchtet werden kann) und diese nicht nur als „gemacht“ sondern reziprok ebenso als – immer auch begrenzt – veränderbar aufscheinen lässt. Aber nicht nur zur Lebenswelt ist die Gewinnung von Distanz notwendig, sondern – wie dabei schon angedeutet - auch zu sich selbst. Das kann im Unterricht praktisch eingeübt werden, indem etwa bewusst die affektive Beteiligung an bestimmten Themen artikuliert und bearbeitet werden kann und darf (aber nicht muss!). Denkbar wäre z.B.

Dabei können Hindernisse und Grenzen erkannt werden, die die Umsetzung des eigenen Lebensentwurfes behindern. Schließlich können diese auf ihre Entstehung, Notwendigkeit und Veränderbarkeit hin untersucht und (zusammen mit anderen Menschen) abgestellt, überwunden oder zumindest kritisiert werden. So wird (inklusive) Pädagogik auch der Bestimmung des Menschen als sich selbst Zwecke setzendes Wesen gerecht (vgl. Heitger  2002, S. 125ff), ohne dem Aberglauben an ein vollständig autonom gesetztes Subjekt aufzusitzen.
Mit einer so verstandenen Pädagogik der Kritischen Distanz könnte auch dem entgegen gewirkt werden, was Adorno und Horkheimer als „Ticketdenken“ beschrieben haben, also der Tatsache, dass anstelle „von Erfahrung [das] Cliché [tritt], anstelle der in jener tätigen Phantasie [die] fleißige Rezeption.“ (Adorno/Horkheimer 1988, S. 211). Somit wäre es auch eines ihrer ersten Ziele, dass die Menschen dagegen „immun“ werden „besinnungslos die Dinge durch die [vorgegebenen] Denkmodelle hindurch zu sehen.“ (ebd.). Dies muss allerdings nicht nur als Postulat gelten, sondern sich in Form und Inhalt einer solchen Pädagogik, in ihren Methoden und ihrer grundsätzlichen Haltung niederschlagen. Mit der Betonung von Erfahrung und Phantasie im Kontext von reflexiver Besinnung ist zugleich einer eingeengten und rein kognitivistischen Auffassung von Reflexion widersprochen und ein Grundstein gelegt für das Aufbrechen von Ressentiments im Prozess der (schulischen) Bildung, der nicht auf die (oberflächliche) Korrektur von Meinungen mittels Vermittlung von Fakten beschränkt ist, sondern die emotionale, affektive Beteiligung der Person ernst nimmt und selbst zum Gegenstand macht. Dies bietet auch Anknüpfungspunkte für Diskurse und Strategien um eine pädagogische Gegenwehr gegen rechte, populistische oder islamistische Agitation.
Inklusive Pädagogik bedeutet demnach ein Bemühen darum, allen Schülerinnen und Schülern einen distanzierten, reflexiven Zugang zur Welt und zu sich selbst zu eröffnen um ihr Selbst-Bewusstsein zu stärken und gesellschaftliche Verhältnisse als durch menschliches, gemeinsames Handeln veränderbar zu begreifen mit der Perspektive sie nach den Maßgaben der Vernunft und zum Wohle aller einzurichten. Dies sind die Grundpfeiler um „ohne Angst verschieden sein“ zu können. Es geht letztlich um die „Herausforderung, über mich und die Welt um mich herum nachzudenken; sie gemeinsam mit anderen zu ändern, wo sie verändert werden muß [sic.], will sie menschliches Leben nicht ersticken, sondern ermöglichen. Eine behindertengerechte Welt ist immer eine menschengerechte Welt […].“ (Klee 1980, S. 289). Hier eröffnen sich konkrete Handlungsfelder für eine emanzipatorische Bewegung, aber auch für sonderpädagogische Felder, wie z.B. die politische Bildung an Förderschulen oder in inklusiven settings.

9. Anmerkungen

Dieser Beitrag ist eine erweiterte Verschriftlichung eines Vortrages, den ich im Rahmen der IFO2020 Tagung in Wien in einem gemeinsamen Symposium mit Sven Bärmig zum Thema „Ohne Angst verschieden sein – was hindert uns daran“ gehalten habe.
Ich danke Patrick Baumgärtner für wichtige Hinweise, Anmerkungen und Diskussion.
(1) Die Beispiele für die „Popularität“ von Adornos Zitat beziehen sich hierauf:
(1a) https://www.weser-kurier.de/bremen/stadtteile/stadtteile-bremen-mitte_artikel,-Sags-mit-Adorno-Ohne-Angst-verschieden-sein-_arid,1096649.html
(1b) https://www.ohne-angst-verschieden-sein.de/fileadmin/bilder/ausstellung_ohne_angst/faltblatt_ausst.pdf
(1c) https://www.nrd.de/de/blog/posts/Ohne-Angst-verschieden-sein.php
(2) „Die Weltbank vermutete 2009, dass rund 50000 Kinder in Afrika aufgrund der Wirtschaftskrise zusätzlich [!] sterben würden, wegen ihrer strukturellen Vernachlässigung fast ausschließlich Mädchen.“ (Britten 2010, S. 31). Und auch der Welthunger-Index lässt klarwerden: „Viel zu viele Menschen leiden unter Hunger und Unterernährung: Fast 690 Millionen Menschen sind unterernährt; 144 Millionen Kinder sind aufgrund chronischer Unterernährung wachstumsverzögert; 47 Millionen Kinder leiden an Auszehrung – ein Zeichen akuter Unterernährung; und im Jahr 2018 starben 5,3 Millionen Kinder vor ihrem fünften Geburtstag, häufig infolge von Unterernährung.“ (Welthunger-Index 2020, o.S.). Und auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie werden wahrscheinlich verheerend sein: „Der Wirtschaftseinbruch könnte die Zahl der Kinder, die in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen an Auszehrung leiden, um 6,7 Millionen anwachsen lassen. Dieser eklatante Anstieg sowie die pandemiebedingten Einschränkungen in der Nahrungs- und Gesundheitsversorgung könnten zu fast 130.000 zusätzlichen Todesfällen bei Kindern führen“ (Headey et al. 2020, zit. n. ebd.).
(3) Hier könnte man einige Überlegungen von Haubl einbeziehen, der Behindertenfeindlichkeit als eine Form der „narzisstische[n] Abwehr der eigenen Verletzlichkeit“ beschreibt (Haubl 2015, S. 103) – das würde allerdings an dieser Stelle den Rahmen sprengen.
(4) Hier wird eine weitere praktische Implikation der Forderung „ohne Angst verschieden sein“ deutlich: Wenn Verschiedenheit im Sinne von Individualität überhaupt Wirklichkeit werden soll, müssen die materiellen Mittel für jeden Menschen gesichert sein, so dass er ohne Angst vor existenziell bedrohlichen Einbußen sich entfalten und seinen Interessen und Bedürfnissen nachgehen kann. Die Forderung Oscar Wildes, dass Maschinen die notwendigen Güter produzieren sollten, damit die Menschen sich den schönen und erfüllenden Dingen zuwenden können (vgl. Wilde 1904, S. 47), wäre vor dem Hintergrund der Möglichkeiten der Digitalisierung energisch zu vertreten, die diese Forderung in greifbare Nähe rückt. Es wäre auch mit Schülerinnen und Schülern zu diskutieren, wie und wozu moderne Technologie genutzt werden soll, denn es ist keine Naturnotwendigkeit, dass der Mensch an sich überflüssig wird, wenn seine Arbeit aufgrund der technologischen Entwicklung von einer Maschine abgelöst wird. Unter anderen Verhältnissen wäre dies im Gegenteil ein begrüßenswerter Vorgang, der sogar – nach Marx - eine Bedingung menschlicher Emanzipation darstellt (Marx 1974, S. 589). Dies birgt neben der Chance auf deutlich mehr Freizeit und weniger materielle Not auch ein inklusives Potenzial: Arbeit wäre nicht mehr dem Maßstab der Nützlichkeit unterworfen und menschliche Tätigkeit bekäme einen Wert an sich.
(5) Einige Anmerkungen zu nochmaligen Besonderheiten des verdinglichten Bewusstseins im Zusammenhang mit Behinderung sind in der materialistischen Sonderpädagogik zu finden. Vor allem in den 80er Jahren waren marxistische Argumentationsfiguren durchaus verbreitet. Als Beispiel dafür möchte ich hier nur die Gruppe um Ernst Klee nennen, die besonders in Frankfurt aktiv war. In einer seiner zentralen Schriften schreibt Klee vom enteigneten Bewusstsein bei Menschen mit Behinderungen und erkennt es als zentrale Aufgabe im Kontext von Emanzipation, an diesem Bewusstsein anzusetzen und es zu überwinden. Die Konstitution eines „neuen Selbstbewußtseins [sic.]“ (Klee 1980, S. 288) begreift er folglich als Grundvoraussetzung für die Einrichtung eines besseren gesellschaftlichen Zustands.

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[1]
Das Zitat stammt aus dem Aphorismus „Melange“ in den Minima Moralia (Adorno 2016, S. 116).