Kersten Reich:Inhalte oder Beziehungen? – Überlegungen zu einer inhaltsdominanten deutschen Schulkultur

Abstract: Die Unterscheidung von Inhalten und Beziehungen durchzieht die Bildungsgeschichte. Aus Sicht der Familienerziehung und der Schule werden Beziehungen und Inhalte näher in herkömmlichen Kontexten beschrieben. Dabei werden Einflussfelder einer Inhaltsdominanz im Erziehungs- und Bildungssystem über Pestalozzi und Humboldt rekonstruiert und in ihrer Bedeutung für heute reflektiert. Insbesondere die Ausbildung von Lehrkräften wird kritisch vor diesem Hintergrund auch der bestehenden Schulfächer und ihrer Auslegung hinterfragt. Es wird herausgearbeitet, dass eine partizipative und kommunikative Wende im deutschen Schulsystem im Vergleich zur internationalen Entwicklung zu vermissen ist, weil vereinseitigt die Inhalte im System bevorzugt werden.

Stichworte: Erziehung, Bildung, Lernen im Wandel, Familienerziehung bei Pestalozzi, Bildung bei Humboldt, LehrerInnenausbildung, Inhalte und Beziehungen, Partizipation und Kommunikation nach Dewey

Inhaltsverzeichnis

  1. Familie als hauptsächlicher Ort der Beziehungen
  2. Schule als dominanter Ort der Inhalte
  3. Lehramtsausbildung als deutscher Sonderweg
  4. Vorrang der Beziehungen, Partizipation bei den Inhalten, kommunikative Wende
  5. Literatur

Vorwort

Für das Lernen, die Erziehung und Bildung in Schulen, gilt vom 18. Jahrhundert bis zur Verflüssigung der Moderne gegen Ende des 20. Jahrhunderts, wie sie Zygmunt Bauman (2000) analytisch beschreibt, das Prinzip einer Priorität der Inhalte über die Beziehungen. Ich kann hier in der Kürze des Beitrags nicht näher darlegen, inwieweit sich dieser Vorrang historisch-systematisch in der Vielfalt seiner Ausprägungen genauer rekonstruieren lässt. Es scheinen mir – vor dem Hintergrund einer größeren Forschungsarbeit, die ich später veröffentlichen werde – aber vor allem vier Einflussfelder zu sein, um diese Priorisierung der Inhalte, die bis heute besonders im deutschen Schulsystem im internationalen Vergleich anhält, zu erfassen:
(1) Die Aufklärung ist überwiegend rationalistisch in das Schulsystem der Moderne übersetzt worden. Obwohl mit Jean-Jacques Rousseau sowohl die rational gesetzgebende Seite in seinem „Gesellschaftsvertrag“ als auch emotional-soziale Aspekte in seinem „Émile“ herausgearbeitet wurden, führte dies in der Ideengeschichte allenfalls noch bei Johann Heinrich Pestalozzi – vor allem in seiner Familienerziehung – dazu, Beziehungen als wesentlich in der Erziehung zu fokussieren. Für das Schulsystem gilt hingegen, exemplarisch bei Wilhelm von Humboldt oder anderen Bildungstheorien seit dem 19. Jahrhundert zu erkennen, eine Betonung der Fachlichkeit, die sich über die Bildungstheorien des 19. Jahrhunderts bis in die Geisteswissenschaftliche Pädagogik und die bildungstheoretische Didaktik nach Wolfgang Klafki fortgesetzt hat. Umgesetzt wurde der ideengeschichtliche Prozess in die Schulpraxis dadurch, dass Inhalte für die Schule und Beziehungen in der Familie in den gesellschaftlichen Verhältnissen früh getrennt konstruiert wurden. Da die Beziehungsseite in ihrer wissenschaftlichen Fachlichkeit – in der Psychologie, teilweise auch den Sozial- und Erziehungswissenschaften – erst im 20. Jahrhundert einsetzte, hatte sie es äußerst schwer, die schon etablierte Fachlichkeit der Hauptfächer in Universität und Schule hinreichend zu erweitern. Die Bildungstheoretische Didaktik und die Fachdidaktik versäumten es, die pädagogisch-psychologischen Grundlagen des Lernens und die kommunikativen und kooperativen Aspekte der Beziehungen hinreichend in das eigene Denken aufzunehmen. Die Wirkung solcher Ansätze unterscheidet Deutschland in der Lehrkräfteausbildung bis heute vom Rest der Welt. Die Zuordnung der Beziehungen zur Familie und der Inhalte zur Schule werden im nachfolgenden Text unter 1. und 2. exemplarisch vertieft.
(2) Die menschlichen Beziehungen in ihrer abstrakten und allgemeinen Wirkung werden seit der Aufklärung gerne in Diskursen, wie z. B. dem auch in dieser Schwerpunktausgabe behandelten Anerkennungsdiskurs, vor allem für die rationale Seite erörtert. Für die Systematik solcher Diskurse habe ich in Reich (2009) einen Ansatz gewählt, der für ein vertiefendes Verständnis über die Ideen in diesem Beitrag hinaus genutzt werden kann. Hier wird erkennbar, dass die rationale Seite der Diskurse nicht ausreicht, um den Anforderungen der auch sozial-emotionalen Beziehungsseite reflexiv und handelnd zu entsprechen. Es zeigte sich in der Wirkung solcher Diskurse zudem, dass die rationalen Diskurse eher theoretische Plätze akademischer Selbstbeschäftigung geblieben sind. Um tatsächlich mit den Beziehungen vor Ort umzugehen, wie sie in der Schulpraxis gelten, hat sich insbesondere eine Kommunikationstheorie mit einem systemischen Verständnis von Beziehungen in den letzten Jahrzehnten entwickelt, die heute in der Praxis von Erziehung und Bildung eher zu Rate gezogen wird als rationalisierende Diskurse. Zwar gab es durchaus immer wieder Versuche, z. B. aus der Psychoanalyse oder der Philosophie, auf die Praxis zu wirken, wie ich in zahlreichen meiner Schriften rekonstruierte[1], aber nachhaltig wurden eher Kommunikationsansätze und eine breite Ratgeberliteratur in der Praxis aufgenommen. Sie sind in Deutschland im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern jedoch kaum ein Bestandteil der Lehramtsausbildung geworden. Hierauf gehe ich im nachfolgenden Text nicht näher ein.
(3) In der Schule regieren seit dem 18. Jahrhundert Schulfächer und mit ihnen ein Fachwissen, das zunächst die christliche Religion und ihre protestantischen und katholischen Lehren favorisierte und diese mit den weiteren lokalen und nationalen Herrschaftsansprüchen des ausklingenden Feudalzeitalters verband. Im 19. Jahrhundert wurde in Deutschland erst spät die Trennung von Kirche und Schule im Jahr 1872 erreicht. Immerhin wurden Rechnen, Schreiben und Lesen zu Fertigkeiten, die für alle Menschen in gewissem Maße wichtig schienen. Aber allenfalls in der höheren Bildung konnte sich die Aufklärung in einer neuhumanistischen Orientierung zeigen, um so auch über die seit der Antike bekannten Tragödien und Komödien nicht nur rationale Aspekte, sondern auch sozial-emotionale Hintergründe menschlicher Handlungen in das Schulwissen einzuführen. Die Art des Unterrichts allerdings ließ im Schulleben wenig Denkfreiheiten und kaum Übertragungen auf die eigene Lebenssituation zu. Mit den an den Universitäten errichteten Fachwissenschaften und der Vermehrung des Wissens entstand zwar seit Ende des 19. Jahrhunderts ein Druck auf die Schulfächer, das sich entwickelnde Wissen insbesondere in Naturwissenschaften und Technik auch in der Schule zu vermitteln, aber dies konnte schrittweise erst im 20. Jahrhundert erreicht werden. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts dominieren in Deutschland bestimmte Fachwissenschaften auch die Lehramtsausbildung. Weltweit bildeten sich hier zwei Wege heraus: In Deutschland entstanden Bildungstheorien, die das stark auf die Vergangenheit orientierte Wissen in disziplinierter und hierarchischer Form mit hohem Leistungsanspruch, starken Selektionsschranken und hoher sozialer Reproduktion des schon erreichten Bildungsstandes in der Herkunft vermittelten, um den vermeintlichen Begabungen und Berufungen der Menschen zu entsprechen. Im englischen Sprachraum gab es vor dem Hintergrund republikanischer Verfassungen andere Entwürfe, die z. B. mit John Dewey einen demokratieorientierten Ansatz anboten, der Beziehungen (Kommunikation und Partizipation) und Inhalte als notwendig zusammengehörig in Erziehung und Wissensvermittlung konstruierte. Auch wenn Ideengeschichte und reale Schulentwicklung hierbei oft im Gegensatz blieben, so haben Länder, die in dieser Tradition stehen, drei Reformen durchgeführt, die es heute sehr viel leichter machen, die kommunikative Wende, die dann umfassend gegen Ende des 20. Jahrhunderts einsetzte, aufzunehmen und in die Ausbildung der Lehrkräfte wie auch die Schulpraxis zu integrieren. Erstens haben viele Länder die Lehrkräfteausbildung von der Ausbildung in den reinen Fachwissenschaften getrennt, um der pädagogisch-psychologischen Grundausbildung und kommunikativen wie kooperativen Kompetenzen der Lehrkräfte Rechnung zu tragen und sie nicht zu spezialisiert in den Fachwissenschaften mit einem Lehrplan ausbilden zu lassen, der den Anforderungen an eine lebensweltliche und berufliche Kompetenzbreite kaum hinreichend entsprechen kann. Zweitens haben sie eine gewisse Öffnung in der Fachbreite der Schulfächer bei gleichzeitigen schulischen Wahlmöglichkeiten der Lernenden von Schwerpunkten nach Interesse und Neigung ermöglicht, was es erleichtert, Veränderungen im Wissen schneller in die Schulen zu bringen. Drittens haben sie in den Schulformen eine einheitliche Schule für alle – ähnlich der Grundschule in Deutschland – bis zur achten und später meist bis zur zehnten Klasse eingeführt, was zu frühe Selektionshürden zumindest mindern kann. Auf solche Aspekte gehe ich weiter unten unter dem Stichpunkt 3. Lehramtsausbildung kurz ein.
(4) Insgesamt sollte bei allen Überlegungen deutlich bleiben, dass weltweit Schulen ein System darstellen, in dem Gruppen von Lernenden gebildet werden, die, seit der Staat für Erziehung und Bildung aufkommt, möglichst kostengünstig an Bedarfe der Gesellschaft, der Berufe, dem Veränderungspotential der Gesellschaft angepasst werden sollen. Traditionell wurden hierzu möglichst homogen gedachte Gruppen gebildet, es wurden Selektionsbarrieren und Aufrückungssysteme eingeführt, Leistungsnormen definiert, Lernzeiten und Lernlängen bestimmt, Lernräume in kasernenform eingerichtet, wobei alle Maßnahmen von utilitaristischer Kosten-Nutzen-Maximierung geprägt waren und überwiegend bis heute sind. Auch die Lehrkräfte spielten hierbei stets eine dominante Rolle, denn ihre Bedürfnisse nach Ordnung, Übersicht, Disziplinierung und einfach zu instrumentalisierenden Selektionsverfahren, z. B. durch Noten, wurden als Denkvorgabe von ihnen verlangt und institutionell eingerichtet, um sich gemeinsam mit den Wünschen der bürokratisierten Schulverwaltung mit obrigkeitsstaatlicher Prägung durchzusetzen. Hier ist es sehr aufschlussreich, dass das obrigkeitsstaatliche System mit komplexer Schulbürokratie sich vor allem in Deutschland bis heute gehalten hat, wohingegen es seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in anderen Ländern längst umfassende Reformen zur Überwindung seiner Ineffektivität im Verhältnis von Kosten und Wirkungen gab. Entschlackte und kommunal direkt verwaltete Schulen zeigen heute weltweit, dass Schule besser in aktiver Mitverwaltung von allen Beteiligten vor Ort reguliert werden sollte. Dies hat sich als Mainstream in den OECD-Ländern herausgebildet. Auch dies ist wiederum, zumindest der Tendenz nach, der Weg nach Dewey, der Partizipation und Kommunikation der Betroffenen vor die hierarchische Kontrollordnung abstrakter und bloß repräsentativ wirkender Ordnungssysteme setzt. Im Schlussteil dieses Textes will ich hierauf kurz eingehen.

1. Familie als hauptsächlicher Ort der Beziehungen

In Pestalozzis Schriften zur Erziehung in der Familie, besonders deutlich in „Lienhard und Gertrud“ (1844) und „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ (1801), wird ein Modell der Inhalte und Beziehungen in der Familienerziehung gebildet, das als prototypisch für die Moderne erscheint.[2] Die weite Verbreitung dieser Erziehungsromane zeigte eine hohe Wirksamkeit bis in das 20. Jahrhundert. Das dabei konstruierte Familienbild ist zu einer Art Leitbild der bürgerlichen Familie geworden, das sich historisch für breite Bevölkerungsschichten maßgeblich in der aufklärerisch orientierten Erziehung und Bildung durchgesetzt hat. Es gestaltet Regeln und Rollen nach folgenden Mustern: Die persönliche Sittlichkeit, die in einer Gemeinschaft, hier dem Dorf, wirkt, erscheint als die wesentliche Antriebsfeder aller Interaktionen. Als Lebensorientierungen gelten dabei Normen und Werte wie Frömmigkeit, Achtung vor dem anderen, christliche Hilfeleistung bei Not, Entwicklung und Erforschung eines gemeinsamen Gewissens zum Wohl der Gemeinschaft, dabei zuerst der Familie, dann der Gemeinde und insgesamt der Nation. Die Gemeinschaft als Konstrukt der Zugehörigkeit und Verpflichtungen nimmt die Menschen dabei je nach der politischen Situation mehr oder weniger in Gefangenschaft. Kriegerische Phasen zeigen einen starken Patriotismus und Nationalismus mit persönlichen Einschränkungen der Freiheitsrechte, wirtschaftliche Aufschwungsphasen stärker liberale individuelle Entfaltungsmöglichkeiten. Die Entwicklung der Moderne ist jedoch insgesamt von einer Ordnung geprägt, die Freiheiten nur begrenzt zulässt. Dies drückt sich insbesondere in Moral- und Sexualitätsvorstellungen aus, die Beziehungen regulieren (vgl. insgesamt auch Bauman 1983, Elias 1976). Die Erziehungsmaßnahmen folgen hier in der Regel den Vorstellungen einer idealtypisch konstruierten nationalen Kultur, sie gehen aber konkret von der Wohnstube aus, in der die Kinder unter mütterlicher Obhut aufwachsen. Hier gelten Verhaltensmaßstäbe: Ordnung, gegenseitige Achtung, Arbeitsamkeit und Sparsamkeit. Sie werden durch Liebe, Frömmigkeit, gemeinsame Gewissenserforschung (habe ich auch entsprechend der Werte und Normen gehandelt?) und Hilfsbereitschaft motiviert. Hinzutreten sollen anschauliches Vorgehen, berufliche Orientierung durch praktisches Tun und handwerkliche Tätigkeiten meist als Nachahmung der elterlichen Berufe. Kopf, Herz und Hand sollen nach Pestalozzi insgesamt in der Erziehung produktiv zusammenwirken.
Das Konstrukt dieser beziehungsbezogenen „natürlichen“ Erziehung folgt durch und durch den bürgerlichen Erwartungen und Hoffnungen an eine Moderne, in der die Generationen ein gemeinsames Ziel haben: Sie wollen den Wohlstand vermehren und aus der Enge ihrer ordentlichen Wohnstube heraus die Welt entwerfen. Dies soll in anschaulichen und nachvollziehbaren Bildern in gemeinsamer christlicher Rücksichtnahme füreinander erfolgen. Im Hintergrund steht ein großer Fortschrittsglaube. Pestalozzi ist sich durchaus bewusst, dass die christliche Moral und ihre Verbindung mit der Herrschaft einer Monarchie, in der das Bürgertum erst nach und nach Freiheitsrechte erstreiten kann, das tatsächliche Leben der Massen viel mehr bestimmt, als es seine aufgeklärte kleine Utopie zeigt. Genau darin lag dann auch der große Publikumserfolg.
Das Interaktionsmodell, das Pestalozzi für die Beziehungen vorschlägt, ist sowohl auf die aktive Konstruktion einer relativ aufgeklärten, vernünftigen Lebensweise als auch auf Nachahmung gerichtet. Dabei dominiert die Nachahmung der Natur, der älteren Vorbilder in der Wohnstube, der „guten“ Herrscher. Dieses Konstrukt hat sich in vielen Familien bis heute als erwartete Bindungsdynamik erhalten. Eine gesteigerte emotionale Zuwendung wird mit der Erwartung eines an die Familiennormen angepassten Verhaltens verbunden. Die Entwicklung der intellektuellen Leistung der Kinder durch hohe Sachkenntnis, der vernünftige Teil der Lebensentwicklung, soll aus der Sicht der Familien auf den emotional gebundenen Beziehungen aufbauen, wobei die Schule nicht in die Familie eingreifen, sondern diese bedingungslos in ihren Vorstellungen unterstützen soll. In diesem prototypischen Erziehungsbild, das für Generationen als ein bekanntes Ideal der Erziehung bürgerlicher Milieus im deutschsprachigen Raum maßgebend blieb, sind die Beziehungen zwar hierarchisch zwischen den Generationen und zwischen Mann und Frau bis weit in die heutige Zeit geregelt, aber im Sinne der Aufklärung soll die Durchführung nicht willkürlich, sondern vernünftig – im Sinne der jeweils gesellschaftlich vorherrschenden Lebens- und Moralvorstellungen – sein. Im Rollenbild kommt besonders der Mutter die Aufgabe zu, das Menschliche und Gütige stets zu bewahren, die Tugendhaftigkeit und Sittlichkeit nie den Ablenkungen, Verführungen und unnützen Unterhaltungen der äußeren Welt zu opfern. Der Vater ist stärker der oft grausamen Realität einer Welt „da draußen“ ausgesetzt. Hier atmet selbst in der kulturkritischen Deutung bei Pestalozzi, der keine heile Welt schildert, eine pädagogische Provinz, wie sie typisch für die Beziehungsdefinition bürgerlicher Erziehung bis weit ins 20. Jahrhundert geworden ist. Die Zuschreibungen von Geschlechterrollen sind dabei ebenso starr wie eine grundsätzliche Unterwerfung unter den christlichen Glauben, der durch die Säkularisierung mittels der aufgeklärten Vernunft erst nach und nach im historischen Prozess relativiert wird.
Insgesamt ist die soziale Reproduktion des sozial-ökonomischen Standes und der erreichten Bildung in der Familie in solchen Vorstellungen durchgehend wirksam. Bis heute zeigt die Betonung der familialen Erziehung und Bildung, dass die soziale Reproduktion von Bildungsgewinnern und Bildungsverlieren so trotz einer steigenden Bildungsexpansion erhalten bleibt (vgl. Bourdieu/Passeron 1988, Reich 2013). Im deutschsprachigen Raum wird dies deutlich weniger infrage gestellt als etwa in Amerika, wo sich durch Einwanderung die Aufstiegschancen auch aus unteren sozialen Schichten zunächst dramatisch im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert für die europäischen Migrantinnen und Migranten verbesserten. Es wurde hier deutlicher erkennbar, dass es einer Umsteuerung von der Dominanz familialer Erziehung hin zu einer staatlichen Erziehungs- und Bildungspolitik bedarf, um die sozialen Nachteile bildungsbenachteiligter Familien auszugleichen. Nach 1945 hatten deshalb insbesondere die Amerikaner Deutschland in einem Reeducation-Programm aufgefordert, das gegliederte Schulsystem aufzugeben. Sie scheiterten am politischen Widerstand konservativer Politik.
In der Praxis zeigte es sich allerdings, dass die soziale Reproduktion und damit der Aufstieg aus benachteiligten Milieus auch in den USA deutlich zu wenig gelingen konnte. Besonders die skandinavischen Länder erreichten es, dass sich die Chancen benachteiligter Kinder in benachteiligten Familien tatsächlich in hinreichender Breite erhöhen ließen, obwohl auch sie keine Wunder der Gleichheit vollbringen (vgl. OECD 2010, 2012).
Die Wohnstube bzw. die Familie ist vor diesem Hintergrund bis heute ein wesentlicher Ort der Erziehung geblieben, aber sie hat sich in der Entwicklung und im Wandel der Moderne (vgl. Bauman 2000) zunehmend als Ort der Individualisierung und Ausgangspunkt möglicher Chancen und Risiken (vgl. dazu ausführlich Bauman 2004) entwickelt. Diese Individualisierung weist mindestens drei Aspekte im historischen Verlauf auf, was die Beziehungen grundlegend verändert hat (vgl. auch Reich 2013, 2018):

  1. Der umfassende Wandel der Lebensverhältnisse steigerte die Bedeutung der Rolle der Frauen und der Kinder. Auch die Art der Beziehungsführung von der funktionalen Ehe zu Liebesbeziehungen und die Intensivierung der Beziehungen zu den Kindern veränderte sich grundsätzlich. Mit Abnahme der Kindersterblichkeit – und einer zuvor vorhandenen emotionalen Distanzierung der Kinder – wächst seither eine Emotionalisierung, die heute besonders im Bildungsbesitzbürgertum ihren gesteigerten Ausdruck in einem Kampf für die besten Chancen des eigenen Nachwuchses findet. Die Bildungsexpansion und die zunehmenden Risiken, die mit der Individualisierung notwendig auftreten, erhöhen die Unsicherheit dieses Prozesses und steigern noch die Bemühungen in der Konkurrenz. Gleichwohl bleibt das Fundament nach Pestalozzi unberührt, die individualisierten und intimen Beziehungen in der Familie erscheinen weiterhin als der zentrale Ort einer vorrangigen Beziehungswelt, die sich gegen den Rest der Welt „dort draußen“ zu behaupten hat. Dies spiegelt sich in den Wohn- und Lebensverhältnissen und in der Wahrnehmung fremder Orte wie der Kindergärten und Schulen als Orte, die wenig Intimität und kaum persönliche Gestaltung zulassen. Allein so lässt sich erklären, dass Eltern die Verwahrlosung vieler Schulen bis heute immer noch recht klaglos hinnehmen.
  2. Die Familie als Ort der wahren, echten, intimen und wertvollen Beziehungen wurde in der Moderne zu einem Glaubensbekenntnis und rechtlich geschützten Zustand. Das Grundgesetz schützt deshalb die Familie. Besonders Eltern, die einen einmal erreichten Bildungsstand verteidigen oder in einen höheren aufsteigen wollen, nehmen die Individualisierung ihrer Kinder zum Anlass, nichts unversucht zu lassen, die erhofften und zugeschriebenen Begabungen der Kinder zu begleiten und zu fördern. Der Konkurrenzdruck erzeugt jedoch unterschiedliche Wirkungen: Wer schon hat, der kann leichter mehr bekommen. Dieses Grundprinzip der Beziehungen zwischen Elternhaus und Erziehungsinstitutionen zieht sich wie ein roter Faden durch die Erziehungsgeschichte. Insbesondere bildungsbenachteiligten Familien gelingt es weniger, aus ihrer prekären Lage heraus, den Kindern bessere Bildungschancen zukommen zu lassen. Deutschland war und ist bis heute international berüchtigt dafür, dass der Bildungserfolg so wie in keinem anderen Industrieland sonst von der sozialen Herkunft abhängt (vgl. ausführlich Reich 2013, 2018). Der Schutz der Beziehungen gilt zwar der Familie, aber nicht explizit den Kindern, insbesondere nicht, wenn sie das Pech haben, in eine Bildungsbenachteiligung qua Geburt zu gelangen. Hier könnte der Staat, wie es insbesondere skandinavische Länder vormachen, ausgleichend eingreifen. Diese wäre mit kostenfreien Kindergärten, Ganztag mit hoher Betreuungsdichte sowie ausgleichender Förderung in einem inklusiven Modell zu erreichen. Andererseits verteidigen bildungsbürgerliche Schichten ihren freien Beziehungsnachmittag mit den Kindern gegen einen obligatorischen Ganztag, der beispielsweise einer höheren Bildungsgerechtigkeit zugutekommen würde. Und insgesamt zeigen viele empirische Erhebungen, dass eine grundlegende Solidarität mit den benachteiligten, beeinträchtigten und behinderten Kindern in Deutschland auf starke Widerstände nicht nur bei denen, die ihren Besitzstand verteidigen, sondern auch bei vielen Lehrkräften stößt. Der Widerstand gegen Inklusion dokumentiert dies ausdrücklich (vgl. weiterführend Reich 2012b).
  3. Die Chancen der Kindheit sind ungleich verteilt, das hat sich als Erziehungs- und Bildungslast historisch erhalten. Dennoch ist in den letzten Jahrzehnten eine große Bildungsexpansion zu beobachten, die insgesamt zu höheren Bildungsabschlüssen für viele führt. Gleichwohl hat dies die Konkurrenz in doppelter Weise verschärft: Einerseits ringen immer mehr Qualifizierte um die Stellen und Aufstiegschancen, wobei die sozialen Beziehungen der Familie eine wichtige Rolle in der Durchsetzung dieser Chancen spielen. Bourdieu spricht hier zutreffend von einer sozialen Kapitalform, die sich hier durchsetzt. Andererseits werden Benachteiligte eher dauerhaft als Bildungsverlierer auf prekäre Beschäftigungen verwiesen. Und für alle Kinder gilt zugleich in der Beziehungswelt mit den Erwachsenen ein stetig steigender Beziehungsdruck, der die Zunahme an Individualisierungen weniger als Freiraum einer möglichen Entwicklung mit Entspannung und Offenheit – auch ausgleichend zu hohen abstrakten Leistungserwartungen – ermöglicht, sondern als Drucksituation in der gestiegenen Konkurrenz immer stärker verschärft hat. Die Bildungsexpansion führt dazu, dass sich alle gegeneinander in der Leistungs- und Selektionsgesellschaft behaupten müssen. Je mehr die Chancen steigen, in der Schule erste selektive Schranken zu überwinden, desto stärker wachsen neue Barrieren dahinter an. Die eine Barriere ist nach innen gerichtet: Bereits in der Grundschule wird eine Selektion nach Schulformen praktiziert, die wie eine Entscheidung für das ganze Leben mit ausweglosen Folgen dramatisiert ist. Je weniger eine Anpassung an den Selektionsdruck gelingt, desto höher fällt eine Bildungspanik in den Familien aus, die die Beziehungen auch in der Familie nachhaltig negativ durch Lernstress beeinflussen kann. Die Barrieren nach außen zeigen sich nach der Schule, weil in der globalen Welt immer weitere Aufrückungshürden in steigender Konkurrenz zu nehmen sind. Bildungsbenachteiligungen aus dem Ort der primären Beziehungen wirken stets im weiteren Leben bei allen Bewerbungen und Hürden nach. In Reich (2013, 2018) entwerfe ich deshalb in Erweiterung zu Bourdieu eine Theorie der Kapitalform Lernkapital, um sowohl gesellschaftliche als auch individuelle Probleme im Umgang mit diesen Hürden genauer aufzuzeigen.

Mit diesem skizzierten Wandel ändern sich nicht nur die Beziehungen in den Familien, sondern auch die äußerlichen und versachlichten Rechtsbeziehungen. In Deutschland dominiert nach wie vor eine Auffassung, die eine Trennung von Staat und Familie insbesondere im Blick auf die Beziehungen wahrnimmt.
Dies wird besonders deutlich bei den Kinderrechten, die trotz zweimaliger Aufforderung durch den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes (1994 und 2004) in der nationalen Gesetzgebung bisher verweigert werden.[3] Insbesondere die Beziehungsdefinition, die Kinder in der Familie nach wie vor als Objekte konstruiert und ihnen keine eigene verfassungsrechtliche Stellung zukommen lässt, sondern hierfür allein die Eltern verantwortlich hält, widerspricht nicht nur dem Artikel 4 der UN-Kinderrechtskonvention, sondern auch der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art. 24). Das Beispiel ist nicht zufällig, sondern zeigt, dass das Konstrukt der Familie als begrenzter Beziehungsort (Wohnstube) mit allen Pflichten bei den Eltern die Beziehungsarbeit aus der Verantwortung möglicher Pflichten des Staates entfernt, der sich in anderen Ländern viel stärker um die Rechte der Kinder bei Versagen der Eltern oder einer benachteiligten Position in der Gesellschaft ausgleichend und fördernd kümmert. Dies drückt die Tendenz in der familienpolitischen Haltung in Deutschland aus, dass letztlich die Familie bzw. das betroffene Kind, das die Geburt in eine Familie als Beziehungsschicksal hinzunehmen hat, für sich selbst verantwortlich ist.
Ähnlich geht es mit der UN-Behindertenrechtskonvention, die zwar seit 2009 in Deutschland gilt, die aber auch nicht konsequent in die Praxis umgesetzt wird.[4] Hier steht es zwar dem beeinträchtigten Kind durch seine Eltern frei, eine Regelschule zu besuchen, um bessere Förderung zu erhalten, aber der Staat versäumt es bisher, hierfür hinreichend Schulen und eine gelingende Qualität an allen Orten bereitzustellen.
Die derzeit in Aussicht gestellte Kinderrechtsreform oder die bescheidenen Versuche der Umsetzung der Inklusion werden vor diesem Hintergrund in näherer Zukunft wahrscheinlich nicht zu einem grundlegenden Wandel etwa nach skandinavischem Modell führen. Um das Problem kurz zu erläutern: Der Staat hätte durch Bereitstellung hinreichender Ressourcen für das Wohl aller Kinder, auch der benachteiligten Kinder zu sorgen, wenn die Eltern oder die soziale Lage es erforderlich machen. Von der Früherziehung über die Schule bis hin in die berufliche Ausbildung oder das Studium müsste ein Ausgleich der Benachteiligung erfolgen, weil es die Heranwachsenden aus eigener Kraft nicht schaffen, die Benachteiligung zu überwinden. Theoretisch wird dies vielfach diskutiert, aber wir benötigten endlich praktische Lösungen, die sich an erfolgreicheren Ländern als wir es sind (gemessen an Aufstiegschancen, Schulabschlüssen, Integration in den Arbeitsmarkt usw.) orientieren.
Wird diese Umstellung auf Verpflichtungen ernst genommen, dann bedeutet dies für alle Erziehungs- und Bildungsinstitutionen eine Umstellung, nicht nur Inhalte und immer mehr Wissen zu vermitteln, sondern auch die Beziehungen stärker in den Fokus zu nehmen. In Reich (2014) habe ich bis ins Detail der schulischen Praxis dargestellt, was dies im Einzelfall bedeuten könnte.

 

2. Schule als dominanter Ort der Inhalte

Neben der Familie tritt die Schule mit einem Bildungsanspruch auf, der über die engeren Familienverhältnisse hinausführen soll. Hier stehen die Inhalte vor den Beziehungen. Und dies hat einen guten Grund, denn die menschlichen Beziehungen erschienen im 18. und 19. Jahrhundert gegenüber den aufklärerischen Ideen oft als zu eng, zu begrenzend, zu provinziell. Aus dieser Sicht kann die Inhaltswelt der Schule den Horizont der Menschen erheblich erweitern. Dabei setzt jedoch eine doppelte Bewegung ein:
Einerseits nimmt seit dem 18. Jahrhundert das Buchwissen immer weiter zu und die Schulbücher werden nach und nach zu einem Ausdruck eines umfassenden Bildungswissens über die mögliche lokale Borniertheit hinaus.
Andererseits aber sinkt bei vermehrtem Buchwissen der eigene Erfahrungsbereich der Lernenden immer stärker auf ein Textwissen ab, das nur schwer mit ihrer eigenen Lebenslage und den dort gemachten Erfahrungen hinreichend vermittelt werden kann.
Interessant für die deutsche Entwicklung ist wiederum prototypisch insbesondere die Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts, die ich hier exemplarisch zur Verdeutlichung der Inhaltsdominanz heranziehen will. Er geht 1792 zunächst vom Staat und nicht der Wohnstube aus, um die Erziehung und insbesondere die Bildung des Menschen zu bestimmen. Sein Ziel ist dabei durchgehend liberal (Humboldt 2002): Der Staat soll eine möglichst hohe Freiheit der Kräfte des Einzelnen und eine Mannigfaltigkeit von Situationen fördern, die Menschen gegen äußere Feinde schützen und ihnen nach innen hin Sicherheit gewähren. Dabei entwickelt er ein idealtypisches Bild eines Staates, der weniger durch seine Staatsordnung und Disziplinierungen als vielmehr durch Rahmensetzungen für die Entfaltung der individuellen Kräfte geprägt ist. Im Blick auf Inhalte und Beziehungen oder Rationalität und Emotionalität dominiert in Humboldts Menschenbild das Rationale, der Mensch wird als vernunftgeleitet konstruiert, und die höchste Bildung ist für ihn eine, in der die Vernunft über zeitbezogene Neigungen dominiert. Eine Disziplinierung von Körper und Geist erscheint hierzu als notwendig. Zu einer solchen Vernunft gehört eine Arbeitsteilung, in der jedes Individuum sich zum Wohle des Ganzen einbringen kann. Dabei erscheint der Mensch als lernfähig, eine Fähigkeit, die er in seiner Bildung besonders ausprägen kann und soll. Lernende in der Bildungsschule sollen weniger eine Beziehung untereinander und schon gar nicht zu den Lehrkräften unterhalten, als vielmehr zu dem Stoff und der disziplinierten Art, ihn zu verarbeiten, was ihnen später als Bildung und verinnerlichte Haltungen dann Eintritte in bestimmte soziale Milieus, Aufrückungen durch Leistungen, Berufe und kulturtechnisch erforderliches Rollenverhalten in der Gesellschaft ermöglichen soll. Lehrkräfte sind hier ein Mittel zum Zweck, sie sollen helfen, dass ein von außen, ein staatlich definiertes Wissen und Verhalten tatsächlich gelernt und verinnerlicht werden. Dabei handelt es sich um ein stark überhöhtes und im Neuhumanismus idealisiertes Wissen, das sich mit den scheinbar höheren Weihen der Antike schmückt, ohne je den tatsächlichen griechischen Lebensverhältnisse jenseits der Idealisierung auf den Grund zu gehen. Wenn im Platonischen Sokrates von den Begierden und der Gier des Menschen die Rede ist, dann hilft, so lautet die Auslegung, allein eine umfassende Vernunft, eine Tugendhaftigkeit des Menschen – durchaus im Einklang mit religiöser Moral des Zeitalters – zu bilden. Lehrkräfte sind Vorbilder des Geistes, aber sie müssen weder Freunde noch sollen sie intime Personen sein, die sich um die persönlichen Belange ihrer Zöglinge kümmern. Sie sind als inhaltliche Vorbilder konfiguriert und werden dementsprechend immer wieder als weltfremde Personen karikiert. Hausbesuche sind deshalb bei den Gymnasiallehrern schon im 19. Jahrhundert verpönt, Eltern werden seither auch als anstrengend angesehen, weil bei ihnen die Beziehungsfrage oft vor der Inhaltsfrage zu stehen scheint. Die Inhalte wiederum scheinen durch das Fachwissen der immer umfassender werdenden Fachwissenschaften legitimiert, die in der Lehramtsausbildung vorherrschen. Nach diesem Prototyp wird die Lehramtsausbildung bis heute ausgerichtet.
Neben der inhaltlichen Vernunft, die als Lösung aller Weltprobleme erscheint, spielen in diesem Modell auch die Kosten eine wesentliche Rolle. Nur auf der Inhaltsgrundlage kann kostengünstig vorgegangen werden, denn pro Lehrkraft lassen sich sehr viele Lernende in dieses Verhältnis binden und diszipliniert im auch für Lehrkräfte effektiven Gleichschritt formen. Gerahmt wird dieses Verhältnis durch eine staatliche Bürokratie einerseits, die hierüber die Regeln, die Bestimmung der notwendigen Inhalte, das erwartete Verhalten von Lehrenden wie Lernenden reguliert und diszipliniert, und andererseits durch die Universitäten mit ihren Fachwissenschaften, die eine inhaltliche Disziplin von den ausgebildeten Lehrkräften erzwingen und die sie ihnen als Lehrauftrag mitgeben. Schulbücher fassen das relevante Wissen dann - besonders seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - so zusammen, dass sie den Lehrkräften eine begründende Arbeit über den Schulstoff in großen Teilen abnehmen.
Diese Ausgangslage von inhaltlich dominanten Interessen bestimmt die Erziehungsinstitutionen bis heute grundlegend. Die persönlichen Belange werden hingegen im intimen Ort der Familie gesehen, wobei es in der Moderne als Glück oder Unglück erscheint, in welche Familie man hineingeboren wird.
Ab etwa 1810 war Humboldt maßgeblich an der Gründung eines öffentlichen Schulwesens beteiligt und konnte politisch insbesondere die Herausbildung von Gymnasien und Universitäten fördern. Die griechische Antike als Wiege der Selbstbewusstwerdung eines aufgeklärten Menschen zeigt, wie Menschen in Selbstbildern das formen, was sie als gebildete Person ausmacht, was sie anderen hinterlassen können, eine Verbindung des Ichs mit der Welt, in der das Individuum mit den Normen und Werten seiner Verständigungsgemeinschaft einen wechselseitigen Kontext und ein „freies“ Verständnis über Sinnzusammenhänge entwickelt. Neben den Inhalten wird hier immerhin eine abstrakte Beziehungswelt als aufgeklärte Verständigungsgemeinschaft eingeführt. Sie wird auf die Auseinandersetzung mit den universal erscheinenden Inhalten bezogen, aus der heraus sich ein selbstständiger Geist ergeben soll. Allgemeinbildung erscheint so als allseitige Entfaltung eines Individuums, als Humanismus, dessen Ausdruck das humanistische Gymnasium sein sollte. Inhalt und Form werden dabei aufeinander verwiesen: Altgriechisch war zu lernen, um die Texte der Antike hinreichend zu erfassen und die scheinbar universellen Normen und Werte in der Selbstbewusstwerdung des Abendlandes zu verinnerlichen. Für Humboldt erscheint in der Antike eine Einfachheit und Naivität einer Kulturperiode, die gerade deshalb für das Lernen junger Menschen einen entscheidenden Ausgangspunkt eigener Selbstbildung darstellen kann, weil sie im Kern alle Probleme auch der Moderne enthält. Hier zeigt sich für ihn ein ursprünglicher Charakter der Menschheit, den er erhalten sehen will, weil dieser nicht auf Nützlichkeit und äußere Werte orientiert, sondern auf Schönheit, Genuss und Tugendhaftigkeit gerichtet ist. Mit dieser Interpretation reagierte Humboldt mit weitreichenden Folgen für die Bildungsgeschichte in Deutschland auf den in seiner Zeit bereits klar hervortretenden Gegensatz von Erziehungs- und Bildungsvorstellungen mit Nützlichkeitscharakter (für bestimmte Berufe, Verrichtungen, Anwendungen) und einer vermeintlichen wertfreien Bildung, die aus einer kulturgeschichtlich spezifischen Sicht begründet ist. Wenn man heute die sehr unterschiedliche Bildungspolitik im internationalen Vergleich verstehen will, dann ist erkennbar, das etwa in England sehr viel realistischer mit der Erziehung und ihrer Nützlichkeit, in Amerika mit einer pragmatischen Einstellung auf das, was den Menschen im Leben tatsächlich helfen kann, reagiert wurde und bis heute wird, als in den deutschen Diskussionen, in denen idealisierte Inhalte aus der Vergangenheit eine deutlich größere Dominanz haben.
Für Humboldt ist es wesentlich, dass die freie Seite humanistischer Bildung nur gesichert werden kann, wenn Menschen eine allgemeine Bildung erhalten, um vernunftbestimmt an der Gesellschaft teilnehmen zu können. Hier werden die Inhalte dominant: Wissenschaften, Künste, die humanistischen Ideale, die schöpferischen Kräfte der menschlichen Geistes- und Kulturgeschichte sind zunächst allen nützlichen Erwägungen und beruflichen Ausbildungen vorzuziehen, um einen universalen Anspruch der bürgerlichen Gesellschaft zu fundieren. Alle Menschen bedürfen einer Bildung, die der Teilhabe an der Gesellschaft und der Entwicklung der dafür notwendigen Moral gerecht wird. Humboldt kann sich in der Theorie sogar ein gestuftes Bildungssystem vorstellen, das allen Menschen eine solche Bildung ermöglicht. Die Preußische Ständeschule, die er praktisch mit errichten half, zeigte dagegen, wie sehr dieses Ideal eine bloße Bildungsillusion blieb, die mit der monarchischen Verfassung und der theologischen Überwachung von Schulen nicht realistisch umsetzbar war. Humboldt selbst wurde ohnehin erst im 20. Jahrhundert zu einem Bildungsmythos. Die tatsächliche Reform, die Humboldt mit antrieb, blieb gegenüber seinem Bildungsideal durchgehend unzureichend.
Bildung, und dies ist die entscheidende Setzung, wird in allen bildungstheoretischen Ansätzen seither als Selbstbildung des Individuums konstruiert, damit kann auch das Maß der Bildung, das je erreicht oder verfehlt wird, als individuelle Bringschuld betrachtet werden. Die in dieser Bildung aufgenommenen bürgerlichen Werte der Selbstdisziplinierung, der Interpretation klassischer Texte, universell unterstellter Aufklärungsideale, der Bevorrechtigung der Sprache, bei gleichzeitiger bürgerlicher Rollenkonstruktion mit patriarchalischen Mustern und bürgerlichen Tugenden, bilden den unhinterfragten Hintergrund eines Leistungsanspruches, der seitdem mit Bildung direkt oder heute verschleiert verbunden wird. Die Stärke solcher Bildung ist der Verständigungskosmos über gemeinsame Normen und Werte, die miteinander ausgelegt werden können, wenn alle im Abitur seit Jahrzehnten die Iphigenie diskutieren, die Schwäche jedoch ist zugleich die Lebensfremdheit zur tatsächlichen historischen und gesellschaftlichen Entwicklung bereits im 19. Jahrhundert in ihrer vorhandenen Breite und mehr noch im Blick auf die dynamische Entwicklung des Wissens und der Gesellschaft.
Das Erbe der neuhumanistischen Setzung, die tief im deutschen Bildungsdenken verankert ist, hat eine prototypische Wirkung. Was soll der Staat sich um hinreichende Ressourcen für benachteiligte Gruppen von Lernenden kümmern, wenn es doch eine primär individuelle Aufgabe ist, die eigene Bildung aus eigener Kraft, mit Disziplin und entsprechender Begabung zu schaffen?
In der Bildungspraxis sind vor diesem Hintergrund zwei Verfahrensweisen entstanden:
Erstens gilt der Gleichheitsgrundsatz. Jede und jeder sollen das gleiche Recht auf Bildung und persönliche Abschlüsse haben. Es bedarf eines Leistungs- und Selektionssystems, in das sich alle einbringen und bewähren können. Damit ist der Vernunft scheinbar genüge getan.
Zweitens aber gilt der Grundsatz der sozialen Reproduktion, der den Gleichheitsgrundsatz entscheidend relativiert. Nur wer aus den bürgerlichen und gebildeten Milieus kommt, der scheint begabt genug, um die Leistungshürden insbesondere des Gymnasiums zu nehmen. Diese Wechselwirkung von Herkunft und Leistung wird als gleichsam naturgegeben konstruiert und sie zeigt sich als Ergebnis bis heute in jeder Bildungsstatistik.
In der schulischen Realität, so will ich die deutsche Entwicklung zusammenfassen, wurde eine allgemeine Bildung aller Menschen nicht erreicht, mit dem Gymnasium wurde eine Selektionsinstitution geschaffen, die bis heute bildungsnahe und bildungsbenachteiligte Schichten zu trennen hilft. Gleichwohl wird bis heute in Deutschland immer wieder idealisierend von Bildung so gesprochen, als käme sie allen Menschen gleichermaßen zu Gute, als wäre es überhaupt wahrscheinlich, dass sie auch in einer durchgehend auf Konsum geprägten Gesellschaft noch als eine Art hermeneutisches Kontextwissen nachhaltig vermittelbar wäre. Dabei ist solche Bildung längst verloren, denn die alten Griechen mochten zwar zu Beginn der Moderne noch taugen, die Selbstvergewisserung des Bürgertums zu inspirieren, aber der gesellschaftliche Wandel mit seiner durchgehenden Kapitalisierung aller Lebensbereiche, die Konsumgesellschaft mit ihren flüchtigen und flüssigen Tendenzen der Entwertung aller universellen Setzungen und der traditionellen Lösungen, relativierten die humanistischen Bildungsideale und zeigten ihre Begrenztheit auf. An ihre Stelle sind neue Ideale getreten, die Inhalte und Beziehungen deutlicher miteinander vermitteln müssen. So entstanden im 20. Jahrhundert mehr und mehr humanitäre Verpflichtungen durch Gesetze, Rechte und Regeln – Menschenrechte, Menschenwürde, Gleichheits- und Inklusionsrechte – um in einer eher formalen Weise nicht mehr nur auf höhere Ideale mit Vergangenheitsorientierung zu setzen, sondern diese auch aktuell in die Beziehungs- und Lebenswelt der Menschen zu bringen. Eine Lösung mit einer universellen Theorie und einen für alle Menschen verbindlichen reflexiven Charakter erwies sich dabei selbst in ihren höchsten Formen, wie etwa Jürgen Habermas in seiner Theorie des herrschaftsfreien kommunikativen Handelns (2011) darstellte, als kontrafaktisches Ideal, das steter Widerlegung unterliegt. Die Pluralisierung und Diversität der Normen und Werte macht es geradezu unmöglich, heute noch von einer Bildung für alle zu sprechen, weil allenfalls bestimmte Kulturtechniken in einer diversen Gesellschaft verbindend und verpflichtend sein können, aber nicht mehr bestimmte philosophische oder kulturell hegemoniale Deutungsmuster. Die damit verbundene Trivialisierung des Wissens und einer Verblödung qua Medien beobachten Bildungskritiker, wie z. B. Liessmann (2006, 2019), deshalb zutreffend, aber die Lösungen aus der Vergangenheit, die Liessmann andeutet, führen in die Falle und Gefangenschaften einer Bildung, die schon in der Zeit ihrer Entstehung eine Konzeption von Bildungsprivilegien und keinesfalls eine Allgemeinbildung für alle war.
Vor dem Hintergrund der Bildungstheorie – und verstärkt durch die Dominanz bildungstheoretischen Denkens in der Bundesrepublik Deutschland bis heute – ist es wenig verwunderlich, wenn im Schulsystem und Unterricht noch immer das Inhaltsdenken dominiert. Das sind nicht nur der Lehrplan und Lehrkanon, die jeweils einen bestimmten Bildungsstand festhalten sollen, sondern es ist grundsätzlich der Glaube an eine Wirksamkeit von Texten, Vorträgen, Auswendiglernen, Nachahmung und Abfragen, die wie Foucault (z. B. 1991) treffend herausgearbeitet hat, die Fachdisziplinen in eine Disziplinierung des Subjekts, in Technologien des Selbst (1993) verwandelt. An die Stelle einer gemeinsamen Bildung mit übergreifenden Normen und Werturteilen tritt dabei in der Verflüssigung der Moderne ein zunehmend additives Modell des Wissens und der Informationsweitergabe. Auf der einen Seite sind die klassischen Schulfächer mit den Hauptfächern Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen dominant und in ihren Lehrplänen nach wie vor stark auf das überkommene Wissen aus der Vergangenheit orientiert. Hierzu muss man nur die Abiturlehrpläne des Faches Deutsch anschauen, in denen keine Gegenwartstexte vorkommen. Dies erscheint nur ideengeschichtlich als zweckfrei, ist aber tatsächlich eine kulturelle Auslegung, die in deutschen Lehrplänen oft noch aus einer idealisierten Orientierung an Vergangenheit und Klassik entsteht, um Normen und Werte eines dominant werdenden Bürgertums in scheinbar zeitlosen Überlieferungsformaten zu sichern. Dies scheitert als akademisches Anliegen in meinen Augen jedoch grundsätzlich, weil selbst die Lehrkräfte heute in der Regel nur noch additiv Inhalt an Inhalt ohne übergreifende universale Theorie oder diskursive Kompetenz auf Universitätsniveau reihen können und wollen. Deshalb trifft die Klage zu, dass die Lernenden viele Inhalte gar nicht mehr verstehen, und auch die Lehrenden müssen hier eingeschlossen werden. Damit die Vergangenheitsorientierung als sichere Bastion der Bildung dennoch bewahrt wird, ist es die Aufgabe einer Schulbürokratie, den staatlich sanktionierten Wissensstoff festzulegen und die Zeitansätze im Unterricht zu bestimmen. So entsteht die Illusion, dass das, was gemacht werden soll, auch tatsächlich geleistet wird. Einflussreich für solche Setzungen sind neben staatlicher Bürokratie auch die Fachwissenschaften, die sich selbst in ihrem Wissenskanon in Bachelor- und Masterstudiengängen verschulen und immer mehr Stoff zur Vermittlung anbieten. So setzt z. B. das Schulfach Deutsch auf eine klassische Bildung mit einer Überbetonung der vermeintlichen Klassiker, aber wie soll das noch als wissenschaftlicher Fortschritt verkauft werden? Alle Fächer ringen mit den Ministerien darum, ihren übergroßen Stoffanteil, der die gegenwärtigen Lehrstuhlbesetzungen spiegelt, gegen andere durchzusetzen und in die Lehrpläne aufzunehmen. Eine an wichtigen Lebensfragen, an Nachhaltigkeit oder Herausforderungen der Gegenwart orientierte Gesamtdiskussion aller Fächer mit einem gemeinsamen Anliegen, aber ist Fehlanzeige. Man mag über den Sinn des Neuhumanismus im 19. Jahrhundert heute streiten, aber immerhin gab es einen diskursiven Sinn. Die flüssige Moderne hat den Sinn in Stückwerke der Schulfächer zerfallen lassen, die alle ihre eigenen Regeln und Auslegungen verfolgen. Das ist nicht nur unübersichtlich, es ist auch schwer zu kritisieren.
Mathematik und die Naturwissenschaften folgen schon eher als etwa das Fach Deutsch dem Forschungsstand des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und einer Zunahme an neuem Wissen. Das geschieht jedoch immer mit großen Zeitverzögerungen im Rahmen bürokratisierter Zulassungsverfahren. Andere Fächer wie Medizin, Wirtschaft oder Recht schaffen es nicht zum Schulfach, obwohl die Themen, die sie erschließen, von größter Wichtigkeit für viele Berufe und die gesamte Lebenswelt sind. Transdisziplinäre Themen schließlich, die kann die Bürokratie gar nicht zuordnen. Sie bleiben darum außen vor. Die Bildung für nachhaltige Entwicklung, die heute ein Kernfach mit fachübergreifenden Themen sein müsste, darf laut KMK nur in bestehende Schulfächer integriert werden, was völlig am Bedarf vorbei geht. So lebt die Schule bis heute mit einem Inhaltskanon aus dem 19. Jahrhundert, der längst überholt und fragwürdig geworden ist.
Muss das notwendig so sein? In vielen Ländern werden die Schulfächer reformiert und immer stärker auf fachübergreifende Themen bezogen, die von Relevanz für die Gegenwart und Zukunft der Lernenden sind. Deutschland ist hiervon weit entfernt, weil die Bildungspolitik in den gewohnten alten Strukturen noch gar nicht erkannt hat, dass es einen grundlegenden Wandel zu bewältigen gilt. Dieser Wandel schließt mindestens zweierlei ein:
Erstens die Aufnahme der Beziehungsseite in den Schulalltag, einer Förderung aller Lernenden nicht nur auf der Inhaltsseite, sondern auch durch stärkere Partizipation, Unterstützung der Kommunikation, der Kooperation, der sozial-emotionalen Grundlagen des Lernens, der Teamarbeit, der Inklusion, eine Erhöhung der Bildungschancen aller, was nicht nur ursprünglich der Familie vorbehaltene Aufgaben mit aufnimmt, sondern auch strukturell neue Lernformate in selbstwirksamen Formen einführt (zur konkreten Durchführung vgl. Reich 2012a, 2014).
Zweitens eine radikale Veränderung der Inhaltsseite, wobei die Schulfächer sich globalen Themen und globalen Zielen öffnen müssen, wodurch themenorientierte eigene Lernzeiten notwendig werden – in Finnland heute schon 20 Prozent der Unterrichtszeit –, weil und insofern Schulfächer nicht mehr hinreichend ein notwendiges Wissen für Berufe und Leben vorhalten können. Wenn Schule nicht als abgekoppelte Parallelgesellschaft toten Wissens agieren will, dann bedarf es großer Anstrengungen, die Inhalte neu auszulegen. Im Schlussteil werde ich andeuten, wie das auch praktisch geschehen könnte.

 

3. Lehramtsausbildung als deutscher Sonderweg

Immerhin können sich die Fachwissenschaften nicht durchgehend dem wissenschaftlichen Wandel verschließen. Dies führt zu einer unweigerlichen Vermehrung der Fachinhalte. Und alle Lehramtsstudierenden eigen sich umfassend diese Fachinhalte an, da im deutschen Sonderweg Lehramtsausbildung und Fachwissenschaften in gemeinsamen Vorlesungen und Seminaren ausgebildet werden. Man mag denken, dass dies ein Luxus sei, aber faktisch ist es ein Sparmodell. Die Universitäten müssen kein eigenes, personalintensives Programm für die Lehrämter, Standard in fast allen Ländern der Welt, vorhalten. Stattdessen müssen die Lehrkräfte eigenständig dann später im Praxisschock versuchen, wie sie ihr hochspezialisiertes Fachwissen auf die Schule und das Niveau ihrer Lernenden herunterbrechen. Rund 80 Prozent der Ausbildung in der ersten Phase von Bachelor und Master sind den zwei studierten Fachwissenschaften vorbehalten, um die restlichen 20 Prozent streiten sich die ergänzenden Fächer wie Erziehungs- und Bildungswissenschaften, Sozialwissenschaften und Psychologie, Praxisanteile und andere. In anderen Ländern, wie z. B. Finnland, ist das Verhältnis genau umgekehrt. Verteidigt wird die deutsche Strategie damit, dass die Fachwissenschaften, die nur Nachabiturstoff vermitteln, behaupten, dass nur so eine hohe Qualität der Lehrkräfte erreicht werden könnte. Internationale Vergleiche belehren uns hingegen, dass viele Länder hier durchaus besser abschneiden. Nach Hatties (2012, 24 ff.) umfassender Meta-Analyse führen erfolgreiche Lehrende zugleich gute Beziehungen mit den Lernenden und dem Lehrteam. Sie sind engagiert, achten auf die Beziehungen und das Lernklima, haben aber auch ein gutes Verständnis zu den Lerngegenständen, die sie anschaulich und in wichtigen Punkten zielorientiert und strukturiert vermitteln. Umfassende Kenntnisse aus einem Fachstudium werden dabei immer wieder überschätzt (Hattie 2009, 113; Ahn & Choi 2004), umfassendes Anwendungswissen und praktische Schulungen in pädagogischer Psychologie, Kommunikation und Beratung, Kooperation und Teamarbeit aber unterschätzt. Solche Ergebnisse ändern jedoch bis heute nichts an der dominanten deutschen Fachideologie und Ausbildungspraxis, die durch und durch vergangenheitsorientiert ist.
Der Druck der Anwendbarkeit des Wissens und die Verwendbarkeit des Schulstoffes nehmen zwar zu, dies kann jedoch meist durch die Bürokratie und ihr Beharrungsvermögen in langsame Bahnen geringer Veränderung umgewandelt werden. Viele Länder reagierten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts darauf, indem sie die Verantwortung, die Curricula umzustellen, zeitgemäßer zu gestalten, Wahlmöglichkeiten zu erlauben, in die Hände der Schulen vor Ort legten und nur sehr allgemeine Rahmencurricula setzten. In der deutschen Bildungstradition jedoch steht nach wie vor eine zentrale behördliche Regulierung von ganz oben, die zusätzlich nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland auch noch in einen Länder­­förderalismus zerfällt. Hier fällt jeglicher Wandel sehr schwer, weil entweder nach wie vor so etwas wie Zweckfreiheit der Bildung angenommen oder bloß additiv in der Stoffverteilung vorgegangen wird. Das additive Vorgehen, das mehr und mehr vorzuherrschen scheint, nimmt die Stoffvermehrung der Fachwissenschaften zum Ausgangspunkt, um eher einem Ideal der Vollständigkeit in der Breite als eines exemplarischen Wissens in der Tiefe zu folgen. Die Bürokratie ist ohnehin überfordert, sich wertend und interpretierend für mögliche Auslassungen und Schwerpunkte hinreichend zu entscheiden. Die Fachwissenschaften organisieren sich in Lehrstühle und seit Bachelor und Master in Ausbildungsmodule, die alle für sich reklamieren, das wirklich wichtige Wissen der Fächer und damit auch der Schulfächer zu repräsentieren. Themen, die nicht traditionell in Schulfächern verankert sind, finden kaum Eingang in die Schulen. Zugleich wird die Verschulung in allen Schulfächern verstärkt, um die Stoffmenge noch beherrschen zu können. Das forschende Lernen bleibt so, so zeigen meine umfassenden Erfahrungen in der Begleitung von Schulen und bei der Gründung einer inklusiven Schule (vgl. Reich u.a. 2015), auf der Strecke. Dies führt dazu, dass von einem freien und schöpferischen Umgang mit Wissen, von einer aktiv aneignenden Seite durch die Lernenden mit eigenen Fragestellungen und einer forschenden Orientierung zu wenig gesprochen werden kann.
Lehrpersonen bringen immer schon Beziehungserfahrungen mit und sie haben selbst Schule in bestimmter Weise erlebt, was für ihr eigenes Handeln stark prägend ist. Die Persönlichkeit der Lehrperson, ihre Haltung, Wertvorstellungen, ihr Habitus, Erwartungen, die an sie gerichtet werden und die sie an andere richtet, stellen immer schon Voraussetzungen auf der Beziehungsseite dar, die nicht wesentlich durch Fachwissen in bestimmten Schulfächern und deren Hintergrundwissenschaften verändert werden. Grundsätzlich hängt es von der Lehrperson selbst ab, inwieweit sie sich einlassen kann, eine fördernde, lernbezogene, inklusive und insgesamt professionell andere Menschen fördernde Rolle einzunehmen. Dafür sind nicht alle Menschen allein durch ihre Hochschulzugangsberechtigung geeignet. Ohne Eingangsprüfung wichtiger Qualifikationen für den späteren Beruf zeigt die Gesellschaft, dass sie im Grunde nicht eine Auswahl von geeigneten Personen hier für wesentlich hält, um den anspruchsvollen Beruf jenseits der auch notwendigen Fachlichkeit auszuüben. Insbesondere in Finnland hat man sehr gute Erfahrungen mit solchen Eingangsprüfungen gemacht, weil dadurch die Qualität des Unterrichts insgesamt gestiegen ist (vgl. z. B. Hakala 2009, 193 f.).
Sehr deutlich ist in der internationalen Forschung auch geworden, dass Lehrkräfte eine gute Beziehungskultur benötigen, die mit hohen Erwartungen an die Fähigkeiten der Lernenden und ihren eigenen Erfolgen in der Lehre verknüpft ist (Reich 2012 a). Die Qualität der Kooperation und Kommunikation, um Probleme zu durchdenken und zu lösen, ist dabei entscheidend (Hattie 2009, 115). Für die Beziehungsseite und ihre Bedeutung im Lehr- und Lernprozess wird in empirischen Studien immer wieder auch deutlich, dass es in der Regel um die Erhöhung und Verbesserung der Qualität des gemeinsamen Arbeitens und Kommunizierens geht. Nach Hattie (ebd., 117) gehören dazu vor allem folgende Beziehungsaspekte:
•   „Lehrende setzen angemessene und herausfordernde Ziele für die Lernenden,
•   sie überprüfen kontinuierlich ihre Annahmen über den Erfolg ihres Unterrichts,
•   sie haben ein tiefes Verständnis über ihren Unterricht und seine Wirkungen auf das Lernen,
•   sie sind in der Lage, kontrollierend einzugreifen,
•   sie haben eine hohe Leidenschaft für das Unterrichten und Lernen,
•   sie verfügen über ein tiefes Verständnis ihres Stoffes,
•   sie sind in der Lage, zu improvisieren,
•   sie bevorzugen problemlösende Verfahren,
•   sie schaffen ein positives Lernklima, um Lernen zu ermöglichen,
•   sie haben Respekt vor den Lernenden.“
Auch wenn solche Listen nie vollständig sein können, hier mag insbesondere der Humor fehlen, auch die Teamorientierung wie andere Studien zeigen, so sind gute Beziehungen stets entscheidend für den Lernerfolg. Beziehungen – und hierbei unmittelbar die Beziehungen zu den Lernenden und hohe Erwartungen an deren Fähigkeiten (vgl. ebd., 118 ff.) – gehören zu den entscheidenden Qualifikationen für erfolgreichen Unterricht in der Schule. Und dies gilt insbesondere für eine inklusive Schule, weil in ihr durch die größere Heterogenität der Lerngruppe immer eine intensive Beziehungsarbeit notwendig ist, um niemanden aus den Augen zu verlieren oder zu vernachlässigen.
Wenn Inhalte und Beziehungen produktiv miteinander im Lernen wirken sollen, dann bedarf die Ausbildung einer grundsätzlichen Reform. Dies gilt neben dem Ausbau der Fachdidaktik gegenüber dem reinen Fachwissen gleichermaßen für die umfangreiche pädagogisch-psychologische Forschung, die weltweit eigentlich die zentrale Grundlage der Lehramtsausbildung darstellt, in Deutschland aber gegenüber den inhaltlich geprägten Didaktiken nur in geringem Umfang vorkommt. Die traditionelle Inhaltsdominanz der Schule und die bis heute vorherrschende fachliche Ausrichtung des Lehramtsstudiums an den Fachwissenschaften für die bestehenden Schulfächer hat bereits in meiner Herleitung verdeutlicht, wie schwer es in Deutschland ist, die Beziehungen nicht nur allgemein neben der Familie und in Freundeskreisen auch für die Schule anzuerkennen, sondern dann auch noch wirksam im Lernen zu beachten. In vielen Schriften habe ich darauf aufmerksam gemacht (vgl. bes. Reich 2010, 2012a, b, 2014) wie wichtig dies in der Schulpraxis ist.
Eine solche Reform wird voraussichtlich an einer wesentlichen Hürde scheitern: Die Fachwissenschaften, die für Schulfächer ausbilden, finanzieren ihre Disziplin aus Mitteln der Lehramtsausbildung, die einen wesentlichen Teil ihrer Einnahmen ausmachen. Würde dieses System aufgetrennt, indem entweder die Stundenanteile Richtung Grundlagenausbildung verschoben oder eigene Lehruniversitäten wie international üblich für die Lehramtsausbildung gegründet werden, dann hätten die Fachwissenschaften deutlich weniger Mittel als bisher zur Verfügung. Hier zeigt sich die Kehrseite einer traditionellen Universität mit universaler Bildungsvorstellung und ohne Studiengebühren, die mit anderen Ländern kaum noch vergleichbar ist. Die Qualität der Lehramtsausbildung wird dem universalen System geopfert, weil sich die zukünftigen Lehrkräfte den Ausbildungen der Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler anpassen müssen, ein System das kaum veränderbar erscheint. Dieses System nimmt auch in Kauf, dass in der Lehramtsausbildung das Jahr des Abschlusses als erworbener fachwissenschaftlicher Wissensstand gilt. Es gibt keine verbindliche Fortbildung über die Dauer der Lehrkräftearbeitszeit. So veraltet das Fachwissen oft schon nach wenigen Jahren bei einem Großteil der Lehrenden, wobei manche Schulfächer auch ohnehin ihre Inhalte kaum verändern.
Neue Themen wie Ernährung, Gesundheit, Umwelt und Klimawandel, Banken und Kredite, demokratische Grundlagen, weltweite Konflikte, global goals in der nachhaltigen Entwicklung und viele andere mehr, die in den Nachrichten tagtäglich vorkommen und das Leben der Menschen beeinflussen und bestimmen, tauchen in den Curricula der Lehramtsausbildung wie der Schulen dagegen ohnehin nur in sehr rudimentärer Form auf, weil die Lehrpläne der Schulfächer bereits voll genug sind. Dies gilt vor allem auch deshalb, weil gerade die transdisziplinären Fragen und übergreifende Themen im Grundkanon der Lehre in den Fachwissenschaften an den Universitäten, die das Schulfach bestimmen, ebenfalls noch nicht hinreichend vorkommen.

 

4. Vorrang der Beziehungen, Partizipation bei den Inhalten, kommunikative Wende

Wie kein Kultur- und Erziehungstheoretiker zuvor wies John Dewey auf den Zusammenhang hin, dass ab dem Moment, in dem sich die Moderne mit der Demokratie verbindet, es nicht mehr ausreichen kann, eine Erziehung der Reproduktion des bekannten Wissens vorrangig auf der Inhaltsebene zu betreiben oder auf eine disziplinierte Zukunft der Individuen mit überwiegender Reproduktion von Wissen hinzuarbeiten. Das Wesen einer Demokratie, wenn sie nur einigermaßen in ihren Ansprüchen überleben will, ist es, dass wir „Demokratie und Erziehung“, wie er eines seiner Hauptwerke 1916 nennt, miteinander verbinden (Dewey MW: 9).[5] Sofern die Erziehung in der Familie und in den institutionellen Bürokratien es nicht versteht, das undemokratische Verhalten, das sich in Herrschaftsbildern der Erziehungs- und Bildungsinstitutionen durch eine fehlende Teilhabe aller Betroffenen und Beteiligten vor Ort immer wieder ausbreitet, grundlegend abzubauen, ist die Demokratie gefährdet. Sie ist vor allem gefährdet, wenn die Erziehung von Konventionalismus in den Werten des Nationalen, der Abgrenzung alles Fremden, der Überheblichkeit einer Rasse oder der Leistungen nationaler Helden, aber auch den begrenzten Besitzstandswünschen des Bürgertums oder den Sehnsüchten eines Kleinbürgertums vor allem durch eine Suche nach Sicherheit und Ordnung geprägt ist und Experimente im Lernen wie demokratischen Wagemut in der Teilhabe vermeidet. Je starrer die Bindung an Werte und Normen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen ist, die in der Vergangenheit erfolgreich schienen, desto weniger offen kann das Lernen für die Herausforderungen der Gegenwart im Blick auf eine Zukunft sein. Wenn dann noch in der Familie oder Schule eine Erziehung zum blinden Gehorsam, zu autoritärer Unterwürfigkeit praktiziert wird, dann werden die selektiven Interessen einseitig anpassend ausgelegt und alle anderen für nichtig oder unbedeutsam erklärt. Deshalb sah es Dewey als entscheidend an, dass zwei Kriterien in der Erziehung und Bildung beachtet werden, die Beziehungen und Inhalte der Menschen miteinander verknüpfen (vgl. auch Reich 2005):
(1) Je größer die Unterschiedlichkeit innerhalb einer sozialen Gruppe von Menschen in der demokratischen Gesellschaft sein kann und von allen in der Gruppe akzeptiert wird, desto leichter ist Demokratie erreichbar. Aber dies allein reicht nicht aus.
(2) Je größer zwischen solchen sozialen Gruppen in einer demokratischen Gesellschaft die Unterschiedlichkeit sein kann und von allen akzeptiert wird, ohne dass diese Gruppen sich gegenseitig zu Feinden erklären, sondern stattdessen miteinander in Respekt und Toleranz leben können, desto demokratischer wird eine Gesellschaft insgesamt sein können.
Die Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte zeigen, wie richtig die Annahmen Deweys waren, und wie wenig diese Grundsätze gerade in Deutschland gelebt wurden. Eine demokratische Schule sollte eine Offenheit gegenüber der Lebenswelt und eine kritische Auseinandersetzung mit dieser ermöglichen, sie müsste eine Vielfalt an Perspektiven, Zugängen und Lernwegen gestatten, dem Subjektiven, Sensiblen und der Fantasie Raum lassen, aber Vereinfachungen im Denken wie Stereotypien, Aberglaube, Abwehr des Emotionalen abzubauen versuchen. Dewey hatte schon lange vor der „Dialektik der Aufklärung“ oder den „Studien über den autoritären Charakter“ eine zumindest pädagogisch mögliche Antwort gegeben, wie Schule demokratisch orientiert werden kann. Für ihn geht es darum, die Kommunikation in Beziehungen beim Lernen nicht nur in der Familie, sondern auch in der Schule als eine hohe Kunst zu sehen. Denn das Lernen beginnt für ihn immer mit einer emotionalen Reaktion auf einen Gegenstand, ein Problem, auf eine Person, vornehmlich die Lehrkraft, zu denen der Lernende in einer Beziehung steht. Diese Beziehung anzuerkennen, bedeutet nicht nur die Inhalte, sondern die soziale und kommunikative Beziehung selbst zum Thema der Unterrichtsgestaltung zu machen. Dies hat zwei Folgen für die Schule:

  1. Eine Verordnung der Lehr- und Lerninhalte ohne umfassende Beteiligung der Lernenden und den Einbezug ihrer Bedürfnisse – typisch für die deutsche Schulbürokratie und ihre Leitlinien bis heute – muss überwunden werden. Lehrpläne müssen minimiert, Aufsichten abgebaut und dezentralisiert, Selbstverpflichtungen und Selbstverantwortung vor Ort gestärkt werden. An diese Regeln halten sich mittlerweile sehr viele demokratische Länder in ihrer Bildungspolitik.
  2. Die Beziehungsseite wird selbst zum Thema in der Schule, indem Kommunikation und Kooperation miteinander nicht nur bei Konflikten, sondern grundlegend in der Durchführung und bei allen unterrichtlichen Handlungen zu beachten sind. Leitbilder, Teamregeln, ständige Gesprächsrunden, Mitbestimmung der Lernenden sollten nicht bloße Bekenntnisse, sondern täglich praktizierte Handlungen mit konkreten Folgen in allen Bereichen der Schule sein.

Dewey war seiner Zeit weit voraus. Seine Wirkung im englischen Sprachraum war zwar groß, aber sie hat in den letzten Jahren nochmals deutlich zugenommen. Die kommunikative Wende erfolgte seit den 1960ern allerdings zunächst noch nicht in Erziehung und Bildung, sondern erst in den Sprach- und Kommunikationswissenschaften. Nach Bateson und in Aufnahme durch Watzlawick u. a. (1985) unterscheiden wir in jeder Kommunikation seither eine Inhalts- und eine Beziehungsebene, die sich wechselseitig beeinflussen. Die Inhaltsebene zeichnet sich durch Informationen aus, d. h. hier geht es um sachlich-inhaltliche Probleme. Die Beziehungsebene bezieht sich auf Verhalten, Einstellungen, Erwartungen zwischen Menschen, und sie reicht bis in emotionale Tiefen, wo Empfindungen, Gefühle und Stimmungen vermittelt werden. Beide Ebenen erscheinen in jeder Kommunikation. Bereits zuvor hatte George Herbert Mead zeitgleich mit Dewey ein Interaktionsmodell aufgestellt, das die Beziehung zwischen einem Ich und einem anderen als stets reziprok, als rückwirkend, aufgefasst hatte. Hierauf hat sich später Habermas bezogen und dies setzt sich heute in Diskursen über die Anerkennung des anderen in der Kommunikation fort (vgl. z. B. Honneth 2018). Die Stärke des Meadschen Modells ist es, dass er die Herausbildung eines Selbst stets im Spannungsverhältnis von Ich- und Me-Anteilen sieht, wobei die Ich-Anteile stärker die individuelle Spontaneität, Kreativität und Eigensinn ausdrücken, die Me-Anteile hingegen die Normen und Werte eines generalisierten anderen verdeutlichen, die als gruppenbezogene Normen verinnerlicht werden sollen.
„I“ und „Me“ streiten in uns, um unser Selbst zu bilden (vgl. ausführlich Reich 2010). Vor diesem Hintergrund sind Beziehungen und Inhalte immer miteinander verschränkt und vermittelt: im Lernen, in der Erziehung und Bildung. Es gibt unzählige Beispiele aus den alltäglichen Erfahrungen in Schulen, dass es erfolgreiche Lehrkräfte mehr als andere schaffen, die Lernenden aus Sympathie für sie lernen zu lassen. Dies gilt selbst bei Stoff, den die Lernenden eigentlich nicht mögen. Die erfolgreiche Beziehungslehrkraft spricht für einen Vorrang der Beziehungsseite im Lernen.
Nun wird oft eingewandt, dass auch die Beziehungen schließlich inhaltlich beschrieben werden müssen. Insoweit scheint es aus dieser rationalen Sicht einen Vorrang der Inhalte zu geben. Aber das ist ein Streit, der wenig bringt. Denn in Beziehungen wird in der Tat immer auch um Inhalte gerungen und inhaltlich werden auch Beziehungen diskutiert. Aber dies bedeutet nicht, dass die Beziehungen bloß inhaltlich aufgelöst, verstanden, geklärt werden könnten. Es geht ja bei der Betonung der Beziehungsseite genau um diese Grenze, dass Menschen aus ihrem Beziehungsverständnis heraus sozial-emotionale Einsichten betonen, die ihr Inhaltsverständnis orientieren. Wenn jemand das kommunikative Handeln als rationale Lebensform für ausschlaggebend hält, dann müssen die Inhalte das kommunikative Handeln leiten. Wenn er nach dieser Regel seine Lebenspartnerschaft führen will, dann wird eine frühe Trennung wahrscheinlich, weil Menschen nicht durchgehend rational und logisch handeln. Dies lernen Lehrkräfte in der Regel aber nicht in den Fachwissenschaften - mit wenigen Ausnahmen -, sondern in der Lebenswirklichkeit und in ihren Beziehungserfahrungen (vgl. einführend Reich 2010).
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Lehrkräfte sich heute nicht mehr allein auf Inhalte zurückziehen können, obwohl Inhalte wichtig bleiben. Wenn einer Lehrkraft Inhalte als wichtig erscheinen, dann muss sie Beziehungen beachten, um eine hinreichende Vermittlung zu ermöglichen. Wenn Lehrkräfte z. B. eine notwendige Partizipation der Lernenden bei der Auswahl der Inhalte, den Methoden der Bearbeitung, der Sicherung der Ergebnisse verweigern, dann werden sie nur durch Notendruck ihr Lernsystem aufrechterhalten können. Eine forschende und kritische Einstellung, ein Zugang zu unterschiedlichen sozial-emotionalen Zugängen wird so leider nicht hinreichend gefördert.
Warum haben Beziehungen in der Schule Vorrang? Die persönliche Ebene in der Beziehungsarbeit zeigt konkrete Wechselspiele. Ist z. B. die „Gefühlsunterwasserwelt“ durch nicht ausgetragene Konflikte, unausgesprochene Störungen, einen wechselseitigen Kampf um Anerkennung bzw. Hierarchien geprägt, so kommt es z. B. zu folgenden Störungen auf der Inhaltsebene: Missverständnisse nehmen zu, der Informationsfluss funktioniert nicht richtig, Entscheidungsprozesse werden undurchsichtiger oder werden problematischer, die Arbeitsmoral und -motivation nehmen ab und inhaltliche Lernprozesse werden insgesamt gestört. Umgekehrt gilt: Ist die „Gefühlsunterwasserwelt“ durch Wertschätzung, Offenheit, Ver­­trauen, Anerkennung sowie ein gutes Lernklima geprägt, so ist die Beschäftigung mit inhaltlichen/sachlichen Fragen ungestörter möglich. Mittlerweile sind solche und viele andere Aspekte der Beziehungsseite infolge der kommunikativen Wende vielseitig in das Alltagsbewusstsein eingedrungen. International bilden konstruktivistische Theorien hierbei eine Basis für ein neues Verständnis über Kommunikation. Maßgebend sind hier vor allem klassische Lerntheorien (Piaget, Dewey, Wygotski), aber auch Theorien über das Lernen als Konstruktionsvorgang, über die Sozialisation und soziale Konstruktion (vgl. z. B. Omrod 2004, 2006, Slavin 2006, Woolfolk 2008).
Die demokratische Ebene wird hierbei direkt erkennbar. Eine offene Beziehungskommunikation kann sich nicht auf den Standpunkt eines letzten, einen besten, für immer gültigen Wissens oder Verhaltens stellen. Auch inhaltliche Aussagen unterliegen der Konstruktion von Wahrscheinlichkeiten, die mehr oder minder stark ausgeprägt sind. Im Lernen kommt es deshalb vor allem darauf an, die Lernenden partizipativ mitzunehmen, ihnen Zweifel, Kritik und begründete Nachfragen nicht zu erschweren, sondern diese als Teil einer Mitwirkung im Verstehen und Erforschen zu sehen. Dies betrifft das gesamte Schulsystem, in dem vor allem die Bürokratie mit ihren letzten Wahrheiten und Setzungen grundsätzlich zu hinterfragen und durch deutlich partizipativere Formen zu ersetzen ist. Hier hat Deutschland mehr als andere Länder nicht nur ein Problem dominanter Fachinhalte in einem recht geschlossenen Wissenskanon statt problemorientierter Themenauswahl durch die Beteiligten vor Ort, sondern auch ein grundsätzliches Problem der Überregulierung aller Abläufe.
Abschließend will ich nochmals an die Argumentation von Dewey erinnern, um zu verdeutlichen, dass die Beziehungsseite wesentlich mit der Partizipation, Kommunikation und Kooperation in einer Demokratie zusammenhängt. Wenn es hier nicht gelingt, eine Demokratie im Kleinen bereits in der Schule erfahrbar zu machen, dann wird es unwahrscheinlich, sie auf Dauer im Großen zu erwarten.

 

 

 

5. Literatur

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Woolfolk, A. (200810). Pädagogische Psychologie. München: Pearson.


[1]  http://www.uni-koeln.de/hf/konstrukt/reich_works/index.html

[2]  Kindheit ist für mich ein Konstrukt, wie ich in Reich (1998) darlege. Den Begriff Prototyp verwende ich im Sinne des Kulturalismus nach Peter Janich (1996).

[3] Die UN kritisiert Deutschland diesbezüglich. Vgl. auch http://www.bpb.de/apuz/32519/un-kinderrechtskonvention-bilanz-und-ausblick?p=all .

[4]  Vgl. dazu die Kritik des Deutschen Instituts für Menschenrechte, das von der Bundesregierung als Clearingstelle eingesetzt wurde. Die Kritik gilt der unzureichenden Umsetzung: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/monitoring-stelle-un-brk/themen/inklusion/ .

[5]  Hier kann nicht hinreichend in das sehr umfassende Werk von Dewey eingeführt werden. Zu einer Interpretation, an der ich beteiligt bin, vgl. insbesondere Garrison/Neubert/Reich (2012, 2016).