Ulrike Graf/Telse Iwers:Anerkennung und Wertschätzung aus der Perspektive der Humanistischen Pädagogik

Abstract: Anerkennung und Wertschätzung in professionellen Beziehungen finden sich in allen der Humanistischen Pädagogik zu Grunde liegenden Referenzansätzen. Sowohl das Dialogische Prinzip Bubers, die Themenzentrierte Interaktion Cohns, die Personzentrierung bei Rogers, die „Konferenzen“ Gordons, der Gestaltansatz Perls’ sowie die Achtsamkeit eint eine Orientierung an der gesamten Person, verstanden als einer Leib-Seele-Geist-Einheit, und ihren immer schon vermuteten Ressourcen. Leiblichkeit und die Gegenwart, das Hier und Jetzt, gelten als einzig mögliche Zugänge zu Handlungsgestaltung und stellen vor allem hinsichtlich der aktuellen Entwicklungsfelder von Migration und Digitalisierung besondere Herausforderungen dar. Es werden Überlegungen vorgestellt, welchen Beitrag die Humanistische Pädagogik zur Aufrechterhaltung des humanen Prinzips der Personadressierung in den genannten Gestaltungsfeldern zu leisten vermag.

Stichworte: Humanistische Pädagogik, Anerkennung, Wertschätzung, Achtsamkeit, Migration, Digitalisierung

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Anerkennung und Wertschätzung in den Traditionslinien der Humanistischen Pädagogik
  3. Aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen und Entwicklungsfelder
  4. Beitrag der Humanistischen Pädagogik für die Gestaltung von Anerkennung, Wertschätzung und Begegnung angesichts von Entwicklungen in Migration und Digitalisierung
  5. Fazit und Ausblick
  6. Literatur

 

1. Einleitung

Die Humanistische Pädagogik als Disziplin der Entwicklung und Reflexion pädagogischer Interaktion und deren Professionalisierung fußt auf grundlegenden Axiomen, Konzepten und Annahmen der Humanistischen Psychologie. Sie fokussiert damit auf Anerkennung und Wertschätzung sowie Achtsamkeit als Grundelementen existenzieller Beziehungsdimensionen – zu sich selbst und zu anderen in ihrer Vielfältigkeit und Einzigartigkeit (Iwers u.a. 2019). Das Wortpaar „Anerkennung und Wertschätzung“ wird hier genutzt, um Anerkennung als grundlegende Haltung allem anderen gegenüber zu kennzeichnen, die nicht zwischen Zugehörigkeiten und Nicht-Zugehörigkeiten unterscheidet, sondern inklusiv ist. Die Ausgestaltung dieses Inklusiven, d.h. die Anerkennungspraxis, erfordert die wertschätzende Wahrnehmung des Gegenübers und ebensolche Interaktionsgestaltung. Der Zusammenschluss von Anerkennung und Wertschätzung bezeichnet dem entsprechend eine zwischenmenschliche Grundorientierung.
Diese Grundorientierung teilt die Humanistische Pädagogik mit aktuellen Orientierungen in der Erziehungswissenschaft, z.B. repräsentiert in Manifestationen des bildungstheoretischen Diskurses (Stojanov 2006, 2011) und der Professionalisierung (Prengel 2008), aber auch in konkreten Fragestellungen im Kontext von Inklusion und Migration. Sie beschreibt die Bedeutung von Beziehung und deren Gewahrsein in der Bildung im umfassenden lebensweltlichen Sinn und im Sinn professioneller Anregung (vgl. Grunau 2014, 23).
Über diese pädagogische und psychologische Orientierung hinaus hat ebenso die Soziologie z.B. in ihrem Resonanzkonzept (Rosa 2016) auf die Bedeutung eines spezifischen Weltverhältnisses, in dem der Mensch sich in der Begegnung mit Welt affizieren lässt und damit Transformationsprozessen öffnet, aufmerksam gemacht.

Vor diesem multidiziplinären Hintergrund soll hier im Rahmen eines weiten Inklusionsbegriffs untersucht werden, welchen Beitrag die Humanistische Pädagogik zur Fokussierung auf und Entwicklung von Anerkennung und Wertschätzung von Vielfältigkeit und Einzigartigkeit leistet. Dabei wird exemplarisch diskutiert werden, welche Beziehungsgestaltungsdimensionen die Humanistische Pädagogik zur Entwicklung einer migrationspädagogischen Haltung leistet und welche Schlüsse sich im Zusammenhang fortschreitender Digitalisierung für zukünftige Beziehungsgestaltungen ableiten lassen.

Im Folgenden werden einschlägige Traditionslinien der Humanistischen Pädagogik aus der Humanistischen Psychologie vorgestellt, wobei einige zentrale Ansätze der Humanistischen Psychologie exemplarisch fokussiert werden. Es werden jeweilige Grundannahmen zu Anerkennung und Wertschätzung in Beziehungen bzw. Beziehungsgestaltung vorgestellt. Daraus werden genuine Prinzipien der Humanistischen Pädagogik abgeleitet, welche für die Themenfelder des vorliegenden Bandes von Bedeutung sind. Sie werden im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungsfelder von Migration und Digitalisierung diskutiert.

Der in den 1990er Jahren von Bürmann, Dauber und Holzapfel (1997) entwickelte Begriff der Humanistischen Pädagogik und die darunter summierten und in jüngerer Zeit weiter elaborierten Konzepte speisen sich aus Traditionslinien in Psychologie und Pädagogik, welche

Der Humanistischen Pädagogik geht es somit um eine „Präsenz im Präsens“, in der mit einer ausgeprägten Bewusstheit für den Prozesscharakter jedweder Begegnung in Lern- und Entwicklungsprozessen die vielfältigen menschlichen Dimensionen von Leiblichkeit, Kognition, Emotion und Volition beachtet und in Verbindung mit „Sinn- und Wertfragen“ (Bürmann et al. 1997, 8) einbezogen werden. Damit nimmt sie für sich in Anspruch, Theorie immer auch in Verbindung zu professionellen Praxisfeldern zu denken.
Ein weites inklusives Verständnis vertritt die Humanistische Pädagogik insofern, als dass jeder Mensch in seiner Existenzweise partizipativ wertgeschätzt wird. Daran ansetzend entwickelt die Humanistische Pädagogik ihr Selbstverständnis durch aktuelle Herausforderungen und in gegenwärtigen Entwicklungsfeldern mit den (daran interessierten und davon betroffenen) Menschen weiter.

2. Anerkennung und Wertschätzung in den Traditionslinien der Humanistischen Pädagogik

Zunächst werden grundlegende Konzepte der Humanistischen Psychologie skizziert, bevor auf einige ihrer Hauptvertreter und den Transfer von deren Konzepten in die Pädagogik eingegangen wird.
Die Humanistische Psychologie hat sich historisch als eine dritte Säule neben der Psychoanalyse und dem Behaviorismus entwickelt. Im Spannungsfeld dieser Antonyme geht sie weder von Reiz-Reaktions-Mechanismen noch von einem mechanistischen Menschenbild aus, sondern begreift die Person als zentrale Gestaltungsinstanz, welche ihre eigene Geschichte und Entwicklung ihren erkannten Ressourcen entsprechend ganzheitlich gestaltet (Kriz 2001).

Anerkennung und Wertschätzung in Beziehungen – das Dialogische Prinzip (Buber)

„Dialogisches Leben ist nicht eines, in dem man viel mit Menschen zu tun hat, sondern eines, in dem man mit den Menschen, mit denen man zu tun hat, wirklich zu tun hat.“ (Buber 1984, 167). Dieser Anspruch der dialogischen Philosophie Martin Bubers findet sich in Schlagworten wie „das dialogische Prinzip“, „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ oder „Das Ich wird am Du zum Ich“ als Allgemeingut verdichtet. Buber hat in der Sprache seiner Disziplin formuliert, was Erikson (2015) in den 1950er Jahren mit seiner psychosozialen Entwicklungstheorie und die aktuelle Bindungsforschung (Grossmann & Grossmann 2012) bestätigten und wofür Kaspar Hauser als ein Beispiel steht: Der Mensch braucht zunächst, in seiner frühesten Entwicklung, ein menschliches Gegenüber, durch welches das Neugeborene sich selbst im Spiegel der Erwachsenen verstehen lehrt. Jede Gefühlsregung des Babys ist auf einen Erwachsenen angewiesen, der dessen Gefühlsäußerung richtig deutet (Feinfühligkeit) und eine angemessene Antwort (Angemessenheit) gibt, sodass die Welt für das Kind als eine verlässliche erfahren wird (Ainsworth et al. 1974). Erikson sprach von der Ausbildung des Urvertrauens, das natürlich in der konkreten Interaktionserfahrung ein Spektrum von Vertrauensausprägung kennt (Erikson 2003, 2015). In der Pädagogik der frühen Kindheit ist die Notwendigkeit einer Resonanz (Schäfer 2014, 62) als ein Aspekt professioneller Beziehungsgestaltung etabliert. Buber greift über die frühen Jahre hinaus, denn sein Prinzip einer Begegnung auf Augenhöhe als zentralem Element von gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung thematisiert diese als humane Werte. Im Licht einschlägiger Motivationsforschungen (Deci & Ryan 2012) ist die soziale Verbundenheit ein dem Menschen angeborenes Grundbedürfnis, das befriedigt werden muss, damit der Mensch seine Handlungsmotivation aufrechterhalten kann. Auch Forschung zum subjektiven Wohlbefinden stützt diese Erkenntnis (Bucher 2009, Valtl 2018). Die soziale Verbundenheit bleibt kein rein formales Kriterium, sondern lebt aus psychologischer und menschenrechtlicher Sicht von der Qualität der Beziehungen, wie auch Erkenntnisse aus der Forschung zu Sozialer Unterstützung (vgl. zusammenfassend Kassis et al. 2019, 4) zeigen. Buber (1919/2005) hat in seiner Rede „Über das Erzieherische“ dialogische Prinzipien des erzieherischen Verhältnisses beschrieben: Zentral sind

Anerkennung und Wertschätzung in Beziehungen – die Themenzentrierte Interaktion (Cohn)

Ruth Cohn hat die Themenzentrierte Interaktion, ein Modell lebendiger Gruppenleitung, aus biografischen Erfahrungen des Holocaust heraus entwickelt (Cohn & Farau 1999). Ihr Anliegen war es, in pädagogischen Kontexten dazu beizutragen, dass Menschen weder Opfer noch Täter werden. Daher rührt ihr Fokus, Autonomie in der Interdependenz zu ermöglichen. Sie fußt damit explizit auf einer existenziellen anthropologischen Grundlage: Der Mensch ist Individuum und soziales Wesen zugleich. Er wird am Du zum Ich, wie Buber sagte. Autonom kann er nur in der Interdependenz, der Allverbundenheit oder gegenseitigen Angewiesenheit sein. Interdependenz kann damit aufgefasst werden als eine Grundkonstante anerkennungssensibler Abhängigkeit. In der oben erwähnten Bindungsforschung und der Entwicklungspsychologie Eriksons findet sich diese psychosoziale Sichtweise in der Sprache und Gedankenwelt der jeweiligen Zeit und Konzepte wieder; ebenso benennt die Selbstdeterminationstheorie (Deci & Ryan 2012) beide Größen als angeborene Grundbedürfnisse: Autonomie und soziale Verbundenheit. Alleine diese beiden Bedürfnisse führen den ständigen Balanceakt vor Augen, da sie ein beständiges Pendeln zwischen der Selbstbestimmung und der Verständigung mit anderen über gemeinsame Ziele erfordern.
Cohn zielt mit dem Modell der „dynamischen Balance“ aller an einer Lernsituation beteiligten Faktoren auf die Anerkennung und Wertschätzung der Ganzheitlichkeit einer Person unter Einbeziehung des Kontextes: Das berühmte Dreieck im Kreis bzw. die Pyramide in der Kugel verdeutlicht mit den gleichschenkligen Achsen die Gleichrangigkeit der Größen Ich – Wir – Thema unter Berücksichtigung der „nahen und fernen“ situationalen Gegebenheiten: „Ist genügend frische Luft im Raum?“ ist dabei eine ebenso wichtige Frage wie „Welchen Einfluss hat ein Curriculum eines nicht freiheitlich-demokratischen Staates auf die Lernsituation?“. Von der gleichrangigen Wertschätzung aller Aspekte geht im Kern der Bildungsauftrag aus, denn er zielt auf die Persönlichkeitsentwicklung als Mensch und Bürger/-in und rückt dabei die Kompetenzentwicklung ins Zentrum. Der Begriff Kompetenz umfasst sowohl Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Volitionen und Wertentscheidungen (Weinert 2014, 28). In der institutionellen pädagogischen Realität bewegen sich fachliche Annäherungen allerdings eher im Bereich des „sichtbaren Eisbergs“, also der reinen Sachlogik (Langmaack 1991/2011, 60).
Die Anerkennung dessen, was ist, zeigt sich besonders im so genannten „Störungspostulat“ der Themenzentrierten Interaktion: „Störungen angemessenen Raum geben“, heißt es und zielt darauf, Störungen als Erkenntnisquelle für unbefriedigte Bedürfnisse zu werten und auf eine Weise darauf einzugehen, dass die Rückkehr zur gemeinsamen Arbeit wieder möglich ist (im Unterschied zu therapeutischen Kontexten). Hier erfüllt sich Cohns Anspruch: „Lebendiges Lernen heißt: zu leben, während ich lerne.“ (Löhmer & Standhardt 1995, 13). Dazu gehören neben dem erwähnten anthropologischen Autonomie-Interdependenz-Axiom zwei weitere, die Cohn als unhintergehbare Voraussetzungen setzt: Das ethische Axiom betont den Respekt vor dem Wachstum alles Lebendigen; das pragmatisch-politische, dass freie Entscheidung möglich ist und entfaltet werden kann (Cohn & Farau 1999, 356f.).

Anerkennung und Wertschätzung in Beziehungen – der Personzentrierte Ansatz (Rogers)

Der von Rogers schon in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts begründete Ansatz der klientenzentrierten Gesprächstherapie und der personzentrierten Beratung, inzwischen als personzentrierter Ansatz bezeichnet, fokussiert drei grundlegende Variablen der zwischenmenschlichen Aktion, welche die im Individuum angelegten Selbstheilungs- und Selbstaktivierungsprozesse (re-)aktivieren können. Dabei handelt es sich um Empathie, Akzeptanz und Kongruenz. Sofern diese drei Variablen in Interaktionsprozessen gegeben seien, werde es dem Gegenüber ermöglicht, an seine eigenen Ressourcen anzuknüpfen, indem verschiedene fehlerhafte Annahmen das eigene Selbst betreffend in einem geschützten Rahmen rekonstruiert und zugleich dekonstruiert werden. Rogers hat sich in seinen umfangreichen Studien mit der Frage befasst, welche Bedingungen eine von dem/der Klient-/in als gelungen und gewinnbringend eingestuften Beratung ausmachen und ist dabei auf diese Variablen gestoßen. Empathie wird dabei von ihm beschrieben als die Fähigkeit, sich „in die Mokassins des Gegenübers zu begeben“ – also einen Perspektivwechsel vorzunehmen, der die kognitive, emotionale, aktionale und volitionale Dimension umspannt. Während dieser Perspektivwechsel erfolgt, sei es allerdings bedeutsam, sich dieses Perspektivwechsels bewusst zu bleiben. Wird dieses außer Acht gelassen, entsteht ein Mitleid, welches die eigentliche Bezugnahme zum anderen verstellt. Akzeptanz bedeutet bei Rogers die Fähigkeit, den anderen in seiner Ganzheit zu akzeptieren und alle seinen Aktualisierungen als seine zum gegebenen Zeitpunkt bestmögliche Weise des In-der-Welt-Seins aufzufassen. Das gezeigte Verhalten ist Ergebnis der aktuellen Verfügbarkeiten des Selbstkonzeptes.
Als Resultat der Interaktion mit der Umgebung und insbesondere als Resultat wertbestimmender Interaktion mit anderen wird die Struktur des Selbst geformt – eine organisierte, fließende, aber durchweg begriffliche Struktur von Wahrnehmungen, von Charakteristika und Beziehungen des „Selbst“ zusammen mit den zu diesen Konzepten gehörenden Werten (Leffers 1980, 430). Die wertbestimmenden Interaktionen können dabei zu einem verzerrten Selbstkonzept führen. Dieses zu rekonstruieren und zu dekonstruieren sei, so Rogers, Ziel der klientenzentrierten Arbeit und werde durch Empathie, Akzeptanz und Kongruenz ermöglicht. Dabei nimmt Rogers Kongruenz, d.h. selektive Authentizität aller Kommunikationsakte in der Beratung allerdings als die wichtigste der drei Variablen an, denn eine nicht kongruente Begegnung führt im Gegenüber zu Irritationen. Es entstehen Irritationen kognitiver Art, wenn ein Unterschied zwischen den vermittelten Inhalten und ihrer Darbietung vorliegt. Dies entspricht einem der Axiome der zwischenmenschlichen Kommunikation bei Watzlawick, in dem er digitale und analoge Aspekte der Kommunikation aufzeigt und die Notwendigkeit von deren Übereinstimmung (1972/2017, 70ff.), oder auch dem Kommunikationsquadrat nach Schulz von Thun (1981/2019), der u.a. den Beziehungsaspekt vom Inhaltsaspekt trennt und auf verschiedene Verstehensweisen des Empfängers hinweist. Kongruenz als wesentliche Dimension der Interaktionsgestaltung kann nach Rogers so verstanden werden, dass größtmöglicher Respekt mit dem Anliegen größtmöglicher Wahrhaftigkeit einhergeht und Kennzeichen von Interaktion sein sollte. Größtmöglich deshalb, weil entwicklungsbedingte Irritationen im Selbstkonzept beide Interaktionspartner betreffen und beide nur so wahrhaftig interagieren können, wie es ihnen möglich ist.

Anerkennung und Wertschätzung in Beziehungen – der Ansatz nach Gordon

Von Thomas Gordon wurde das theoretische Modell der Selbstkonzeptentwicklung und das praktische Beratungsmodell der nichtdirektiven empathisch, akzeptierend und kongruent interagierenden Bereitschaft zum Zuhören von Rogers übernommen und z.B. unter den Stichworten „Lehrer-Schüler-Konferenz“ (1977/2006) und „Familienkonferenz“ (1977) in verschiedene Interaktionskonzepte transferiert. Er entwickelte zunächst das aktive Zuhören, mit dem es ermöglicht werde, das allumfängliche Zuhören zu üben, zu realisieren und auch zum Ausdruck zu bringen. Dieses aktive Zuhören findet sich in nahezu jedem Einführungswerk über Methoden der Beratung und stellt inzwischen quasi ein Sine-qua-non der Beratungshaltung dar. Aufbauend auf seinen Arbeiten zum aktiven Zuhören hat Gordon sich mit der Frage befasst, wie die wertschätzende Interaktion in pädagogischen Handlungsfeldern gestaltet werden kann, die nicht durch eine eindeutige Beratungsqualität gekennzeichnet sind. Er hat z.B. Phasenmodelle der Gesprächsführung in Schulklassen entwickelt, welche sich durch ein hohes Gewahrsein der Perspektiven aller Beteiligten ebenso auszeichnen wie durch hohe Wertschätzung und einen achtsamen Umgang mit ihnen. Grundlegend ist in diesen Modellen neben dem Prinzip des aktiven Zuhörens die partizipative Haltung, d.h. die Erfassung, Akzeptanz und Zusammenführung aller Perspektiven aller Beteiligten ohne deren Bewertung. Diese partizipative Haltung ist sowohl für die entwicklungspsychologisch bedingte Heterogenität von Perspektiven wie die einstellungsbezogene Vielfalt und auch die Mannigfaltigkeit von beeinträchtigungsbedingten Äußerungsformen inklusionsrelevant.
Gordon befindet sich damit in der Nähe des Prinzips der Gewaltfreien Kommunikation nach Rosenberg (2001/2016). Werden alle Sichtweisen aller am Geschehen Beteiligter in gleicher Weise berücksichtigt und nicht durch Ausgrenzungen und Eingrenzungen dekonstruiert, fühlen sich alle wertgeschätzt und es kann ein Wechsel, eine Hinwendung von der Befassung mit den aufgetretenen hin zu den dahinter liegenden Bedürfnissen erfolgen. Das ist aber nur möglich, wenn sich alle Beteiligten ohne Sorge vor Bewertung und Selektion mit der Konfliktsituation befassen können.

Anerkennung und Wertschätzung in Beziehungen – der Gestaltansatz (Perls)

Der zentrale Begriff der Awareness, zumeist mit Gewahrsein übersetzt, bringt die Anerkennung und Wertschätzung für alles, was im Menschen im Hier und Jetzt der Interaktion mit dem (sozialen) Umfeld (vorhanden) ist – inklusive vorheriger psychosozialer Erfahrungen, die sich im Sosein der Person manifestiert haben – zum Ausdruck. Dabei geht der Gestaltansatz davon aus, dass an der Kontaktgrenze der Person zur Umwelt, also an der Hautoberfläche, in den Sinnesorganen und mittels der Motorik (Perls, Hefferline & Goodman 2006, 21) im Sinn der Person-Umwelt-Interaktion die menschliche Erfahrung stattfindet. Relevant ist in der Erfahrung das, was das momentane Erleben der Person bedeutet; insofern teilt der Gestaltansatz die feldtheoretischen Annahmen, dass der Lebensraum sich aus der Wechselwirkung von Person und Umfeld konstituiert, in dem sich das Verhalten des Menschen aus den jeweiligen Bedeutungen, mit denen die Person in die Interaktion tritt, ergibt (Lewin 2012). In diesem Interaktionsgefüge entsteht im Kontakt Erregung, insbesondere wenn Bedürfnisse nicht gestillt sind, worauf entsprechende Gefühle als Indikatoren hinweisen (meist unangenehme: z.B. Wut bei der Erfahrung mangelnder Wertschätzung; Schneider u.a. 2012, 502; Dreitzel 2004). Eine solche „offene Gestalt“ ist über Awareness zugänglich, die alle Dimensionen der menschlichen Seinsweise umfasst. Besonders die Leiblichkeit wird als Zugang zu den in den offenen Gestalten sich ausdrückenden Gefühlen und Bedürfnissen genutzt, da über den Körper die unwillkürlichen Reaktionen des Organismus sichtbar werden. Speziell die Vorder-Hintergrund-Thematik ist im Gestaltansatz im Blick: Im Hintergrund bündelt sich die biografische Erfahrung, die in allen aktuellen Umweltkontexten sowohl auf Basis von gelungenen Entwicklungen als auch durch offen gebliebene grundlegende Bedürfnisbefriedigungen die Wahrnehmung und Interaktion im konkreten Person-Umfeld-Kontext beeinflusst. Werden „offene Gestalten“ in der Gegenwart getriggert, drängen die ungestillten Bedürfnisse in den Vordergrund und verlangen über Erregung Kontaktaufnahme. Sowohl in der Selbst- wie Fremdwahrnehmung ist Empathie für sich bzw. den/die andere/n ein Ziel (professioneller) Entwicklung, denn das Eingeständnis dessen, was gerade ist, wird als erster Schritt der Akzeptanz gesehen. Gelingt dies (noch) nicht, werden solche hohen Erregungszustände in nicht-therapeutischen bzw. beraterischen Kontexten als „Störungen“ erlebt.
Sowohl in gestalttherapeutischen wie -pädagogischen Zusammenhängen geht es um die Förderung von Fähigkeiten des Gewahrseins, der Adressierung der ganzen Person als Leib-Seele-Geist-Wesen, der Ermöglichung neuer oder veränderter/verändernder Erfahrungen im Kontakt mit offenen Gestalten und damit der Erweiterung des individuellen Handlungsrepertoires in der Person-Umfeld-Interaktion. Der Respekt vor den generellen Bedürfnispolen von Sicherheit und Wachstum rahmt die therapeutische bzw. pädagogische Arbeit.

Anerkennung und Wertschätzung in Beziehungen – Achtsamkeit

Achtsamkeit hat neben ihrer Breitenwirkung in Selbsterfahrungsfeldern sowohl in pädagogischen Ansätzen (Kaltwasser 2008) als auch in der Wissenschaft (Neumann 2018) an Aufmerksamkeit gewonnen. Einerseits eine eigenständige Größe wurzelt sie andererseits teilweise in den bis hierher vorgestellten Ansätzen und ist anschlussfähig an die Humanistische Pädagogik, weshalb ihr ein eigener Abschnitt gewidmet wird.
Achtsamkeit ist Ausdruck einer humanen Haltung, die sich in Präsenz und Akzeptanz zeigt. Sie führt zur Anerkennung und Wertschätzung und damit zu einer Würdigung dessen, was gerade – gestaltpädagogisch ausgedrückt – im Jetzt & Hier (Perls et al. 2006) ist. Die Wurzeln der Achtsamkeit liegen in religiösen Kontexten sowohl des Buddhismus wie der christlichen Mystik und sind auch im Judentum und Islam zu finden. Von den religiösen Verankerungen aus beschritt die Beschäftigung mit Achtsamkeit – historisch gesehen – säkulare Wege. Inzwischen hat sie sowohl im pädagogischen Raum (z.B. Kaltwasser 2008) und im medizinischen Bereich (z.B. Kabat-Zinn 2015) einen großen Boom erlebt. Als Kernelemente der Achtsamkeit gelten Präsenz und Akzeptanz.

Präsenz
In den Ursprungskontexten (Buddhismus) dient Achtsamkeit der Selbsttransformation und damit der Persönlichkeitsentwicklung (Schmidt 2015, 21f.), denn Achtsamkeit beschränkt sich nicht auf kognitive Konzepte, sondern ist immer mit der Praxis einer Achtsamkeit, also mit Übung(en) verbunden (Schmidt 2015, 25). Diese laden auf einen Weg der Selbsterkundung ein, etwa wenn die Aufmerksamkeit „einfach“ für eine Weile auf den Atem gelenkt wird. Nicht von ungefähr widmet sich die Achtsamkeitspraxis zunächst den basalen Prozessen. Atmen gehört zum Leben, wer nicht mehr atmet, ist tot. Atmen ist ein vegetativer Prozess, der unwillkürlich abläuft und dem Erhalt unserer Lebensfunktionen dient. Bei dem Stichwort „Funktion“ sind wir bei einem zweiten Anliegen der Achtsamkeitspraxis: der De-Funktionalisierung. Wer zum Beispiel seine Aufmerksamkeit auf den Atem lenkt, braucht ihn zwar immer noch für den Erhalt seiner Lebensfunktionen in dieser Situation; auch aufmerksam sein kann man nur mit Sauerstoff im Blut. Gleichzeitig wird das „Funktionieren nebenbei“, wenn jemand z.B. von A nach B geht, hin zu einer Aufmerksamkeit auf den Prozess des Atmens gelenkt. Menschen machen dabei die Erfahrung von Zeitdehnung, von Präsenz und zur Ruhe kommen; wobei letzteres kein schneller Automatismus ist und vor allem auch die Möglichkeit besteht, innerer Unruhen gewahr zu werden. Genau darum geht es: dass eine Person ihre Aufmerksamkeit dort halten kann, wohin sie diese richtet, und dabei gleichzeitig wahrzunehmen vermag, was in ihr geschieht. Ebenso eignen sich die Sinneskanäle, um Achtsamkeit zu üben. Sich einmal auf einen Sinneskanal zu konzentrieren und z.B. akustisch wahrzunehmen, was alles außerhalb von mir oder in mir im Moment zu hören ist, konzentriert den Menschen, führt ihn in die Gegenwart, macht ihn präsenter und erweitert damit seinen Raum. In diesem Sinn wird Achtsamkeit auch mit einer „Weite des Bewusstseinszustandes“ (Schmidt 2015, 23) verbunden.

Akzeptanz
Die Akzeptanz, die als zweites Kernelement zur Achtsamkeit gehört, entsteht durch die wertungsfreie Wahrnehmung dessen, was ist. Schmidt (2015) beschreibt diese Art der Wahrnehmung auch als Nicht-Interagieren (23f.) mit dem, was ich wahrnehme. Darin liegt die Ruhe, die Menschen dabei finden, und auch eine Ehrlichkeit gegenüber dem, was ist; das muss nicht immer angenehm sein, kann aber weiterführen. Achtsamkeit ist also eine betrachtende Beziehungsqualität zu einem wahrgenommenen Objekt, die auf Wertung, Begierde oder andere Reaktionen verzichten kann (Salzberg 2008 in Schmidt 24).
Kaltwasser weist auf die pädagogischen Implikationen hin, wenn sie den sozialen Impetus der Achtsamkeit beschreibt: „Bei der Einsicht in die Relativität der eigenen Weltsicht wird der Weg zur Akzeptanz anderer Sichtweisen sichtbar. Differenzierte Selbstwahrnehmung ist die Voraussetzung für differenzierte Fremdwahrnehmung“ (Kaltwasser 2008, 46).Achtsamkeit ist mit der Bedürfnisidentifikation eng verbunden. Sie bedeutet bei guter Übung, sich auch in den funktionalen Abläufen immer schneller auf die Wahrnehmung dessen, was gerade ist, zu besinnen. Damit kann der „Autopilot“, wie Kaltwasser das unwillkürliche bzw. eingeübte Verhalten nennt, außer Kraft gesetzt und ein „Handlungsaufschub“ (Kaltwasser 2008, 51) bewirkt werden – Zeit für Impulskontrolle und für eine bewusstere Entscheidung der eigenen Reaktion.
Die Anerkennung von Wirklichkeit, die im Achtsam-Sein liegt, ist im Gestaltansatz als „Paradox der Veränderung“ (Beisser 2002) bekannt: Wenn etwas, vor allem auch bei unangenehmen Einsichten in die eigene innere Welt, in seiner Wirklichkeit gesehen wird, vermag sich darin ein Potenzial der Veränderungsbereitschaft zu entfalten.
Auch kann die Defunktionalisierung von Prozessen den „Nährwert“ des Selbstverständlichen erhöhen, wie z.B. die Konzentration auf den Atem oder „säkulare Tischgebete“ im Sinn eines Innehaltens vor dem Essen, das die Speisen würdigt – auch die Menschen und Naturkräfte, die dazu beigetragen haben, dass sie jetzt auf dem Teller liegen.
Kritisch ist zu fragen, welche Implikationen eine ausgedehnte Achtsamkeitspraxis in gesellschaftspolitischer und auch pädagogischer Hinsicht haben kann. Zwei Richtungen sind erkennbar (Schmidt 2015, 39): Würde Achtsamkeit nur einer Individualisierung von Wirklichkeitsphänomenen wie gestiegenen Ansprüchen und Stresserhöhung dienen, wäre sie ihrerseits unbotmäßig funktionalisiert. Denn beschleunigte Entwicklungen und eine immer komplexer werdende Welt müssen auch Teil politischer Veränderungsbestrebungen sein. Achtsamkeitsbestrebungen können auch als Zeichen eines veränderten Bedarfs einer Bewusstseinskultur gelesen werden. Diese deutet in Richtung Genuss (ohne hedonistisch verkürzt zu sein), plädiert für Anerkennung sowie Würdigung und ermöglicht dem Menschen ein Gefühl für das Hier und Jetzt, welches die einzige Zeit ist, in der wir existieren.

Gemeinsame Kerne der Ansätze

Im Folgenden werden die gemeinsamen Kerne der referierten Ansätze dargestellt, welche die Grundlage der Humanistischen Pädagogik bilden und für Inklusion fundamental sind (die Reihenfolge bedeutet keine Rangfolge):

Im Folgenden greifen wir mit Migration und Digitalisierung zwei aktuelle Entwicklungen auf, um an diesen im übernächsten Kapitel zu diskutieren, was die Humanistische Pädagogik mit ihren Prinzipien zu ihrer Gestaltung beizutragen vermag. Migrationsbewegungen, wie sie in jüngster Zeit erfahrbar wurden, bewirken eine unmittelbar zunehmende Heterogenität in den verschiedensten gesellschaftlichen Räumen und erfordern eine wachsende Sensibilisierung für Inklusionsbedarfe.
Digitalisierung verstärkt diesen Bedarf durch die Entstehung vielfältiger Begegnungsformen in wiederum erweiterten gesellschaftlichen Räumen bei gleichzeitiger Abnahme von Beziehungsdichte und Kontakt.

3. Aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen und Entwicklungsfelder

Wir haben aus den gesellschaftlich aktuell relevanten Themen mit der Migration und Digitalisierung zwei Phänomene ausgewählt, bei denen Anerkennung und Wertschätzung schon in Bezug auf die grundsätzliche Frage der Anerkennungsbereitschaft der Phänomene selbst eine Rolle zu spielen scheint und Begegnung (digital) immense Veränderungen erfährt, gleichzeitig aber auch eine zentrale Größe gesellschaftlicher Integration sein könnte.

Migration

Migration ist ein uns in allen historischen Epochen ebenso wie in der Gegenwart immerwährend begleitendes gesellschaftliches Phänomen. Die Begegnung mit Menschen in Bewegung, mit Geflohenen, mit Reisenden und mit Menschen, die ihre kulturellen Bezüge verschiedentlich wechseln (aktuell als „hybride Identitäten“ bezeichnet), findet heute wie zu allen Zeiten statt. Zu fragen ist, warum sie wie auf Basis welcher Annahmen thematisiert bzw. problematisiert wird und welche Möglichkeiten es gibt, den Problematisierungsprozessen mit Grundannahmen der Humanistischen Pädagogik zu begegnen.
Die wieder sehr stark in den Fokus geratene Thematisierung von Migration kann zurückdatiert werden auf das Jahr 2015, in dem die Flucht- und Migrationsbewegungen einen neuen Höhepunkt gefunden haben. In diesem Zusammenhang wurden auch verschiedene Ansätze von Heterogenität und Inklusion erneut virulent und weiterentwickelt. Einer in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts dominierenden Ausländerpädagogik, die sehr stark auf Integration in die Gesellschaft des Gastlandes ausgerichtet war, wurden Konzepte von Integration und Inklusion gegenübergestellt, welche eine Einordnung in bestehende gesellschaftliche Strukturen und Wertorientierungen durch eine Inklusion aller in neue Gemeinsamkeiten ablösten. Die Konzeption einer statischen bestehenden Ethnie-Kultur-Nation (sensu Mecheril et al. 2010), die zur aufnehmenden Gesellschaft wird, in die sich Zuwandernde zu integrieren haben, wird aktuell abgelöst von dem Gedanken der dynamischen Inklusion, die sich gegen eine Unterscheidung von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit verwehrt und anstelle derer die Gemeinschaftlichkeit aller Mitglieder der neu entstehenden Gesellschaften anstrebt (Honneth 1994; Auernheimer 2013; Georgi 2015; Nohl 2014). Dabei wird Interkulturalität im Sinne eines Modells dynamischer Interkulturalität im Gegensatz zu einer statischen Kulturalität angestrebt (Leenen et al. 2002), welches die Begegnung, die gegenseitige Zur-Kenntnisnahme und Anerkennung fokussiert:

Dieses dynamische Modell führt konzise auf die z.B. von Mecheril entwickelte Migrationspädagogik zu, welche Anerkennung zum Kern der zwischenmenschlichen Begegnung werden lässt:
„Es geht nicht um eine Anerkennung, die ‚Kulturen‘ um ihrer selbst willen respektiert und zu erhalten trachtet. Vielmehr ist kulturelle Anerkennung deshalb sinnvoll und nur deshalb begründbar, da und insofern die Anerkennung von kulturellen Gemeinschaften und Gruppen den Rahmen ermöglicht, in dem sich die Gruppenmitglieder als je charakteristische soziale Wesen verstehen und kultivieren können. Der rechtfertigbare Sinn der Anerkennung natio-ethno-kultureller Lebensformen findet sich somit darin, dass sie den Handlungs-, Erfahrungs- und Selbstgestaltungskontext ausbilden, in dem Individuen sich selbst als die, die sie zu sein meinen, darstellen können“ (Mecheril et al. 2010, 184).
Diese Annahmen zielen ausgehend von der hier als Bedingung einer gemeinschaftlichen Inklusion formulierten Anerkennung unmittelbar zur Frage der Wertschätzung, welche zur Grundlage von Anerkennungsprozessen wird. Die Kultur (bzw. Ethnie oder Nation) wird als rahmender Entwicklungskontext, als Sozialisationsraum des Einzelnen aufgefasst, innerhalb dessen sich Individualität entfaltet. Wertschätzung richtet sich dementsprechend auf den Respekt und die Anerkennung von individuellen Entwicklungsausprägungen unter kulturellen Entwicklungsbedingungen.

Digitalisierung

Die Digitalisierung bewegt Grundrechtsdiskussionen (Charta 2018), sogar Grundgesetzänderungen (Digitalpakt), sie wird zwischen Kulturpessimismus und Zukunftschancen diskutiert. Dabei ist die World-Wide-Web-Realität de facto weder wegzudenken, noch ist ihre marktbezogene Eigendynamik so einfach auszuhebeln, sie fordert die Autonomie des Menschen heraus, ja wird die „fünfte Gewalt der vernetzten vielen“ (Pörksen 2015) genannt, die beobachtend und kritisierend oberhalb der Medien agiert.
Digitalisierung führt „zur Veränderung der Grundlagen unserer Existenz“ (Charta 2018, Präambel), so konstatieren es die 27 Initiatoren der Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union aus Wissenschaft, Politik und Kultur. Auf Basis der Anerkennung der Grundrechte fordern sie deren Aktualisierung, da „neue Formen der Automatisierung, Vernetzung, künstliche(n) Intelligenz, Vorhersage und Steuerung menschlichen Verhaltens, Massenüberwachung, Robotik und Mensch-Maschine-Interaktion sowie Machtkonzentration bei staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren“ (Charta 2018, Vorwort) die Anerkenntnis von Würde, Gleichheit, Freiheit, Privatsphäre, Bildung, Partizipation und Arbeit betreffen (2018).
Nicht nur die Dynamik innerhalb der virtuellen Welt mit den ihr eigenen Kommunikationsframes, der Möglichkeit von Identitätsvervielfältigung und der „unerträglichen Gleichzeitigkeit des Seins“ (Pörksen 2018) als einer Begegnung in Echtzeit, in der die „unmittelbare Sichtbarkeit und Sofortvergleichbarkeit von sozialen Unterschieden und die Transparenz der Differenz [...] verstören“ (Pörksen 2018) und unsere Empathiefähigkeit wahrscheinlich überfordern (Willemsen 2016, 42), ist zu konstatieren, sondern auch die veränderte analoge Wirklichkeit mit ihrer Online-Omnipräsenz, die zu einer „Multiplikation der Aufmerksamkeitsherde“ (Willemsen 2016, 34) führt.
Fragen, was Begegnung ist und wie sie gestaltet werden kann, stellen sich angesichts der „Begegnung“ auch in der analogen Welt, die ohne fast ständige Online-Gerätepräsenz kaum noch anzutreffen ist. Wir organisieren ständig unsere Abwesenheit (Willemsen 2016, 32); die „Logik“ von Senden und Empfangen erfährt durch Online-Suchfunktionen eine Gewichtsverlagerung: Was aktiv aufgesucht wird, folgt Selbstbestätigungstendenzen und vermeidet die Konfrontation (Pörksen 2018). Und: Die Relevanz der gesuchten Information ist markt-demokratisch, denn zuoberst wird angezeigt, was am meisten gefragt ist. Die „Like-Kultur“ folgt einer bedingungslosen Anerkennung eigener Öffentlichkeitsrelevanz. Wenn T. S. Eliot bereits 1934 beklagt, dass die Weisheit im Wissen und dieses in der Information verloren gegangen sei, wird die Herausforderung einer kontextbefreiten „Rekombinierbarkeit“ von Daten, eines „Remixing und Resampling“ (Pörksen & Detel 2012, 25; 174) heute umso deutlicher. Dabei haben wir es angesichts der Informationsflut mit der Unmöglichkeit„nicht [zu] registrieren“ (Pörksen 2018) zu tun, weshalb es, so Pörksen, keine Begegnungsflucht in Filterblasen gibt, sondern einen „Filterclash“, ein ständiges Aufeinanderprallen von „Parallelöffentlichkeiten und Selbstbestätigungsmilieus“ (Pörksen 2018).
Dass der aktuelle Digitalpakt, welcher der Regierung eine Grundgesetzänderung in Fragen der Kulturhoheit wert war, mit fünf Milliarden Euro Hardwareinvestitionen von enorm beschleunigter Halbwertzeit finanziert, macht die Dimension von Ressourcenfragen deutlich und lässt die Notwendigkeit einer ebenso umfänglichen Förderung der Bildungsbegleitung noch offen. Denn zur „Humanisierung“ der (digitalen) Verhältnisse bedarf es der Humanisierung der „eigenen Theorien und Modelle“, was bedeuten würde, „vom Menschen und von seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu sprechen, also von uns selbst“ (Pörksen 2018).
Hier ist zu fragen, welche Perspektiven die Humanistische Pädagogik in ihrer Wertorientierung auf Anerkenntnis von Realitäten, verbunden mit dem Anspruch, diese unter humanen Gesichtspunkten zu gestalten, einbringen kann.

4. Beitrag der Humanistischen Pädagogik für die Gestaltung von Anerkennung, Wertschätzung und Begegnung angesichts von Entwicklungen in Migration und Digitalisierung

Grundsätzlich sei vorangestellt: Beide Entwicklungen, die der zunehmenden Digitalisierung ebenso wie die der zunehmend dynamischen Migration, sind real und „gehen vor sich“, es gilt, Herausforderungen zu benennen, was bedeutet: Kritik sowie Gefährdungen auszuloten und (!) Zukunftschancen zu erkennen sowie zu gestalten – in einer demokratisch-deliberativ basierten Form von Begegnung mit den Menschen, die den Gegebenheiten von Digitalisierung und Migration und den damit verbundenen Entwicklungsherausforderungen gegenüber zwischen Selbstverständlichkeit und der Anerkennung von Fremdheit jeweils verschieden positioniert sind. Dabei ist die Autonomie der Person, die sich zu anderen und anderem verhält, zu betonen und ist der Mensch als Gestalter stark zu machen und transparent zu halten: Denn es sind Menschen, die migrieren und sich zu Migration verhalten, und es sind Menschen, die in digitalen Kommunikationsprozessen agieren und sich zu Digitalisierung verhalten, und als Menschen können sie ihre Verhaltensdispositionen und -annahmen auf das aufrecht zu erhaltende Humane hin reflektieren.

Bezogen auf die Wertschätzung, die jeder Person in ihrem aktuellen So-Sein und ihren immanenten Aktualisierungstendenzen, also der Entwicklungsbereitschaft und den Entwicklungsmöglichkeiten im Sinn von Ressourcenorientierung gilt, können zunächst intergenerationale Differenzlinien in den Bereichen Migration und Digitalisierung beschrieben werden:
Wachsen Jüngere, wie jede Generation vor ihr in Bezug auf aktuelle Entwicklungen, heute mit der Selbstverständlichkeit der Digitalisierung auf, sind Ältere biografisch eher an die „analoge“ Welt gewöhnt. Gleichzeitig erweist sich die digitale Kommunikation in der größer gewordenen internationalen Reichweite von Familien als ein Medium der Kontaktpflege (Enkel in Übersee; Geflüchtete im Kontakt zu entfernten Familien) und ermöglicht die digitale Kommunikation Teilhabe bei zunehmender altersbedingter Mobilitätseinschränkung (natürlich auch im inklusiven Sinn diesseits der gerontologischen Frage).
Geteilte Migrationserfahrungen in der eigenen oder der familiären Vorgängergeneration scheinen zu Empathie und proaktiven Gestaltungsimpulsen zu führen. Denn Menschen mit eigener Fluchterfahrung im Rahmen des II. Weltkrieges – oder davon betroffenen Eltern bzw. Großeltern – engagieren sich zu einem höheren Prozentsatz in der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe, als ihr Anteil in der Gesamtbevölkerung ausmacht (Flucht und Zuwanderung 2016).
Die genannten Beispiele zeigen, wie Migration und Integration Entwicklungsmöglichkeiten auf allen Seiten aktivieren, sprich: bei allen Beteiligten – bei den selbstverständlich damit Aufgewachsenen und den möglicherweise Beharrungsfreudigeren, bei den Kommenden und den schon Ansässigen. Jeweils „beiden“ sind im Sinn der Ressourcenorientierung Entwicklungen zuzumuten und damit zuzutrauen.
Zugleich zeigen die Konzepte von Inklusion, Interkulturalität und auch interkultureller Sensibilisierung mit ihren dazugehörigen pädagogischen Konzeptionen die Bedeutung von Wertschätzung auf, wenn sie Anerkennung unmittelbar einfordern (Auernheimer 2013). Anerkennung ist die wesentliche Variable einer gemeinschaftlich zu verstehenden Migrationsentwicklung, welche dynamische Gesellschaften erfordert, um die Vielfältigkeit unseres Zusammenseins und Zusammen-Gestaltens zu ermöglichen. Erst die Anerkennung des Fremden als gleichwertiges Anderes und erst die Anerkennung meines eigenen Nicht-Verstehens ermöglicht die Öffnung für dieses Andere, das sich ihm aufmerksam und offen fragende Zuwenden, welches sich von Aspekten des Ausschlusses und der Bewertung von Zugehörigkeiten befreit (Honneth 1994; Mecheril et al. 2010).
Dabei ist in konkreten Begegnungen und im (günstigerweise diese miteinbeziehenden) Diskurs Hierarchiefreiheit auf der Basis des Humanen zu realisieren. Die Prinzipien der Humanistischen Pädagogik bieten hier einen Zugang an, indem durch Migration und Integration Entwicklungsmöglichkeiten auf allen Seiten gefordert und auch aktualisiert werden. Dabei wird die Person als selbstaktualisierend wahrgenommen und als ausgestattet mit Ressourcen, die Entwicklung ermöglichen. Sofern der Weg zur Wahrnehmung und Aktivierung dieser selbstimmanenten Ressourcen aufgrund von Erfahrungen oder Antizipation versperrt ist, bietet die Humanistische Pädagogik Möglichkeiten, diese Ressourcen wieder zu entdecken.

Personorientierung und Leiblichkeit sind vor dem Hintergrund der Leib-Seele-Geist-Einheit des Menschen die beiden Grundlinien der Kontaktbildung. Durch Digitalisierung und Migration kommen Menschen mit Menschen in einer sehr umfänglichen Vielfalt von Leib-Seele-Geist-Erfahrungen und -prägungen in Kontakt – die Bezugssysteme der Einzelnen, mit denen sie sich im Hier und Jetzt begegnen, werden potenziell fremder und bedürfen des Vertrautmachens und -werdens. Mit ihrem Prinzip der Wertschätzung bringt die Humanistische Pädagogik eine stetige Betonung der Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen in Erinnerung. Dabei ist es mit Zeit verbunden, den Prozesscharakter sowie die eigenen Aktualisierungen und die des Gegenübers zu realisieren: Nicht alle Dimensionen des Menschseins sind der Person in jedem Augenblick sofort verfügbar. Sie wahrzunehmen, kann mit Eingeständnissen und unangenehmen Gefühlen einhergehen. Dieser Prozess benötigt Zeit.
Der digitale Bereich bietet größere Möglichkeiten der Präsentationsauswahl bzw. -beschneidung, wohingegen der Mensch im leiblichen Gegenüber seinen unwillkürlich ganzheitlichen Ausdrücken nicht entkommt und die Reaktionen darauf nicht filtern und abschalten kann. Ein virtueller bzw. schon ein fernmündlicher Begegnungsraum ist auch kein räumlich geteilter mehr, er ist entleiblicht auch im situationalen Erleben, das geringer wird: Wer viele Telefonate an einem Tag in immer gleichen Situationskontexten führt, dessen Gedächtnis fehlen Anker. Denn nur die Haltung des Gerätes am Ohr bleibt noch als leibliche Konstante. Gleiches gilt umso mehr für sehr verkürzte und immer zahlreicher werdende Kommunikationsprozesse textlicher Art.
Jede Person hat nur eine Gegenwart. Virtuell können Menschen mit mehreren Sinnen zeitgleich räumlich getrennte Gegenwarten teilen, etwa beim Skypen oder Videotelefonat. Die Reichweite geteilter Gegenwarten wächst. Inwieweit diese aber als ganzheitlich geteilt erlebt werden, ist fraglich.
Das „Hier und Jetzt der gesamten Person“ ist eine Größe, die angesichts der gewachsenen Begegnungsräume neu befragt und „eingeholt“ werden kann und muss. Was bedeutet es für den Menschen, bspw. in reiner Bildschirmpräsenz zu kommunizieren, dabei geteilte örtliche Kontexte aufzugeben, andere Sinne nicht nutzen zu können, dafür aber in ihr das emotionale Bedürfnis nach Kontakthäufigkeit mit weit entfernten, bedeutsamen Menschen bedienen zu können – bis hin zu der Tatsache, dass z.B. Enkelkinder ihre in einem anderen Land lebenden Großeltern zwei Jahre lang vom Bildschirm kennen, bevor sie diese leiblich erfahren können?
Im Kontext von Migrationsbewegungen werden diese kommunikativen Prozesse zweifach virulent: Einerseits entwickeln sich dynamische Kulturen und mit ihr dynamische bis hin zu hybriden Identitäten (Klein 2006; Schachtner 2009) mittels digitaler Medien oftmals vor dem Hintergrund der Überbrückung von Distanzen zum Vergangenen wie auch in das Neue hinein, indem Beziehungen aufrecht erhalten und neue soziale Interaktionen vollzogen werden (dies durchaus auch schon ante actu). Andererseits wird die Auseinandersetzung mit dem Anderen, welches Dynamisierung erst ermöglicht, durch Digitalisierungsprozesse oftmals verstellt. Ein direkter Kontakt in einer gemeinsamen Zeit-Raum-Dimension kann umgangen werden, das Andere wird kein Prozess der gegenseitigen und gemeinsamen Aushandlung mehr, sondern bleibt virtuell. Hier kann durch die Anforderung der Ganzheitlichkeit aus der Humanistischen Pädagogik hervorgehoben werden, dass Dynamisierung unmittelbaren Kontakt benötigt, um Begegnung, Auseinandersetzung und Zusammenfindung zu ermöglichen.
Um die Leiblichkeit noch einmal herauszugreifen: Migration und Digitalisierung scheinen –innerhalb ihrer selbst bzw. untereinander – geradezu von „Gegenbewegungen“ geprägt zu sein. Während die Digitalisierung einerseits „entleiblichte“ Begegnungen befördert, vergrößert sie die Kontaktreichweite mit mehreren, wenn auch nicht mit allen Sinnen, und stellt zudem einen Raum immenser Vervielfältigung „digitaler Leiblichkeitspräsentation/-inszenierungen“ durch Foto-/Videografie, sogar im Livestream, bereit.
Die digital ermöglichte „Gleichzeitigkeit“ globaler Vernetzung und damit auch die Präsenz von Gerechtigkeitsproblematiken wird durch Migration zur Gleich„örtlichkeit“, indem auf den Wegen in andere Länder die Personen einander mit ihrer Geschichte und Gegenwart real vor Ort begegnen. Interessant ist, dass sich gerade in geografischen Räumen mit äußerst geringem Migrationsanteil hohe Fremdenfeindlichkeitswerte zeigen (Wagner 2001). Ebenso werden Diskussionen über real geteilte Lebensräume u.a. mit Furcht vor „überfremdeten Räumen“ geführt, was ein Hinweis darauf sein könnte, wie die digital vermittelte globale Gleichzeitigkeit vor Ort befremdet und vom Interesse an der „vom Leib gehaltenen Information“ zum Gegenstand gefühlter Überforderung mutiert.
Städtebaulich wäre beispielsweise zu fragen, wie „leibhaftige“ Begegnungen zwischen Menschen in einem möglichst großen Vielfaltsspektrum ermöglicht werden können, da gerade Großstädte mit Abschottungstendenzen einhergehende segmentalisierende Besiedelungstendenzen aufweisen. Aus der Forschung wissen wir, dass Begegnung mit „Fremden“ der beste Weg für Verständigung ist.
Die Humanistische Pädagogik hält mit ihren Prinzipien Zugänge bereit, die Sensibilität für die eigene Wahrnehmung innerhalb der gesellschaftlichen Diskussion wachzuhalten und zu schärfen. Möglicherweise erfährt gerade der Begriff der Leiblichkeit auf der Basis neuer Erfahrungen eine Erweiterung.

Die Achtsamkeit allem Lebendigen gegenüber findet sich durch Migration und Digitalisierung zunächst neu gerahmt: in umfänglicher Globalität vor Ort und in der Nutzung digital gelebter Präsenzformen. Speziell bezogen auf die Digitalisierung ist zu fragen, was „lebendig“ bedeutet. Benötigt Lebendigkeit in der Begegnung die Fülle aktualisierter leiblicher Dimensionen? Immerhin hat eine Person, die digital kommuniziert und damit diesseits des Gerätes in einer analogen Welt bleibt, sich selbst als Bezugspunkt der Wahrnehmung ihrer eigenen Lebendigkeit. Die kaum noch kontrollierbare Verselbstständigung von digitalen Spuren allerdings „entmenschlicht“ nicht nur die Präsenz an sich, sondern die ihr eigene Möglichkeit der Autonomie im sozialen Miteinander.
Im Sinn von Entwicklungspotenzial und Ressourcenorientierung fragt die Humanistische Pädagogik wider alle voreiligen Bewahrungstendenzen, die Lebendigkeit verengen, welches Wachstum als ein Kennzeichen von Lebendigkeit durch Migration und Digitalisierung möglich ist. Dabei sind Potenzialanalysen wie Bedenken gleichermaßen achtsam zu führen.
Kontakt im Sinn einer authentischen Begegnung aufrechtzuerhalten, wird durch die Aktivierung von Rollen und Klischees in einer größeren, noch als fremd erlebten (migrationsbedingten) Heterogenität herausgefordert, da Rollen und Klischees zugrunde liegende Stereotype im Dienst der Strukturierung von Welt aktiviert werden und dabei Gefahr laufen, in (immer wertende) Vorurteile abzugleiten. Echter Kontakt in unvertrauten Zusammenhängen bedarf einer erhöhten Achtsamkeit sowohl sich selbst und den eigenen Kognitionen und Emotionen gegenüber wie der Wertschätzung von Unbekanntem in den noch Unbekannten – jeweils bei den Ansässigen wie Migrierenden.
Authentizität im Erleben und Leben hybrider Identitäten verweist im Sinn der Humanistischen Pädagogik radikal auf das Hier und Jetzt, weil die hybride Identität gerade die je kontextbezogene Selbstaktivierung betont und kongruente Kommunikation zur Herausforderung werden kann. Es ist zu fragen, ob bzw. inwiefern Authentizität einen Anspruch der „Ganzheit“ der Person aufrechterhält/aufrechterhalten muss.
Der authentische Kontakt scheint angesichts der digital möglichen „Versteckspiele“ eigener Präsentationsformen besonders herausgefordert. Andererseits fragt sich, inwiefern sich im Netz die Bezugssysteme ausgewählter Selbstpräsentationen nicht einfach vermehrt haben – und natürlich weniger kontrollierbar sind.

Hier und Jetzt als Orientierung: Sehr eng mit der Achtsamkeit im Zusammenhang steht die Begegnung im Hier und Jetzt, d. h. die Orientierung an dem jeweils in einer Situation Gegebenen viel mehr als die Orientierung an Rollen und Klischees, welche die Wahrnehmung von der Situation und ihren Gegebenheiten abziehen und vorgefertigte Systematisierungen des Wahrnehmungsfeldes bewirken.
„Echte Begegnung“ steht angesichts digitaler Informationsflutung allerdings vor der Herausforderung, wie viel „globale Gegenwart in Echtzeit“ der Mensch angesichts der Tatsache verträgt, dass ihm ein solches Hier und Jetzt nicht mehr zum Ausgangspunkt für Gestaltung werden kann und alle Informationen auf der Ebene der Information bleiben müssen, weil der Mensch überfordert ist, sich im Aufnehmen und Schlüsse ziehen dazu zu verhalten. Wie also gelingt ein Hier und Jetzt, wenn ich Teile dessen, was mir zugänglich ist, nicht wahrnehmen kann und teilweise gleichzeitig abschalten muss? Oder so: Hat ein Hier und Jetzt eine Reichweitenbegrenzung?
Das Hier und Jetzt gilt als Orientierung von Wahrnehmung und Interaktion anstelle einer Orientierung an Vergangenem (eigenen die Aktualität verstellenden Erfahrungen) und Zukünftigem (eigenen die Aktualität verstellenden Wünschen). Die Gegenwart wird zum Ausgangspunkt und Fokus von Wahrnehmung und Gestaltung.
Diese Orientierung fordert von migrierten Menschen eine hohe Bereitschaft zur Öffnung, insbesondere wenn sie aus kulturellen Kontexten in neue Gesellschaften hinein migrieren, die den ihrigen relativ fremd sind. Diese Leistung kann sich jeder Mensch leicht vorstellen, der sich schon einmal (in anderer Form als im touristischen Besichtigungsdesign) in Gegenden aufgehalten hat, die äußerlich mit den vertrauten eher wenig vergleichbar sind. Die Präsenz des Vergangenen kann hier unter Umständen sehr hoch sein, bis dass sich Sehnsüchte aus dem Fremden heraus entwickeln (Heimweh). Ebenso kann die Orientierung am Hier und Jetzt dann herausfordernd werden, wenn sich dieses Hier und Jetzt relativ häufig ändert und wechselnde Lebensumgebungen virulent werden. Dies trifft gegebenenfalls vorzugsweise auf hybride Identitäten und ihre wechselnden Feldbezüge zu.
Hier kann die Humanistische Pädagogik mit ihrer Ausrichtung auf das Hier und Jetzt ebenso wie mit ausgewählten Praktiken, sich diesem Hier und Jetzt immer wieder aufmerksam situativ zu nähern, eine Öffnung zum Feld hin erwirken.

5. Fazit und Ausblick

Die Humanistische Pädagogik trat in den 1990er Jahren mit einem Verständnis von „Bildung als Beziehungsgeschehen zwischen Menschen, in dem der Austausch von Erfahrungen, Gefühlen und Wissen im Vordergrund von Arbeits- und Lernprozessen“ steht (Bürmann et al. 1997, 8), an. Auch heute, über 20 Jahre später, bringt sie mit ihrer humanistisch-pädagogischen Anthropologie Anerkennung und Wertschätzung des Menschen als Person mit einer mehrdimensionalen Ganzheit gegen Verkürzungen von Technizismus, Funktionalität und Segmentierung, vielleicht auch anhaltenden gesellschaftlichen Distinktionstendenzen ungebrochen ins Gespräch und in den Diskurs ein. Die Wertschätzung beinhaltet, das Personsein ethnien- und kulturübergreifend als humanen Wert und damit unhintergehbaren Referenzpunkt in Praxis und Forschung anzuerkennen.
Insofern hält das Anliegen aus der Gründungszeit der Humanistischen Pädagogik, die ein Interesse an der „Bildung des ganzen möglichen Menschen“ (Bürmann et al. 1997, 7) repräsentiert, auch auf dem Hintergrund aktueller globaler und gesellschaftlicher Herausforderungen an. Es wird sogar vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen erneut virulent. Dabei geht es um Anerkennung ebenso wie um Verantwortung für das eigene Handeln im Lichte gesellschaftlicher Dynamiken.
Das Interesse der Humanistischen Pädagogik ist auf einen den anthropologischen Konstanten kongruente professionelle Praxis (Bürmann et al. 1997, 7f.) sowohl in pädagogischen Kontexten wie auch im Feld erziehungswissenschaftlicher Themensetzung und Forschung gerichtet. Auf diese Weise beteiligt sie sich an der Entwicklung von Vorstellungen einer Humanisierung von Institutionen und gesellschaftlichen Strukturen. Dabei bringt sie die Bereitschaft ein, Wert- und Sinnfragen zu keiner Zeit aus der Selbst- und Fremdwahrnehmung zu entlassen, und in den aktuellen Herausforderungen und Entwicklungsfeldern neue Begegnungsgelegenheiten und -formen zu schaffen.

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