Mai-Anh Boger:Wen als was anerkennen? Zum Verhältnis zwischen Anerkennungstheorie und Theorie der trilemmatischen Inklusion

Abstract: In diesem Artikel wird zunächst mithilfe der Theorie der trilemmatischen Inklusion zusammengefasst, wen man aus diskriminierungstheoretischer Perspektive als was anerkennen kann. Im zweiten Schritt wird mit Bedorf (2010) vorgeschlagen, das Aporetische und Riskante der Anerkennung durch ein Anknüpfen an Theorien der Gabe zu präzisieren. Sodann wird sich verschiedenen Beispielen aus der Praxis gewidmet, um zu zeigen, wie sich dieses Riskante und Aporetische erkennen und analysieren lässt. Die dabei entfaltete Kritik an einer zweistelligen Verkürzung der Reflexionsfigur der (Ent-)Dramatisierung mündet zuletzt in eine Überlegung zu Möglichkeiten der weiteren Theorieentwicklung durch stärkeren Anschluss an die Erziehungstheorie und Ethik der Pädagogik (Prange 2010).

Stichworte: Erziehungstheorie, Anerkennung, Ethik der Pädagogik, Diskriminierungstheorie

Inhaltsverzeichnis

  1. Diskursstand: Zur Systematisierung ontologischer Basislinien der Anerkennungstheorie
  2. Gabentheorie und Anerkennung nach Bedorf (2010)
  3. Praxisbeispiele zum Aporetischen und Riskanten der Anerkennung
  4. Wohin mit der Anerkennungstheorie in der Pädagogik? Möglichkeiten der Theorieentwicklung
  5. Literatur


In diesem Artikel wird zunächst mithilfe der Theorie der trilemmatischen Inklusion zusammengefasst, wen man aus diskriminierungstheoretischer Perspektive als was anerkennen kann. Im zweiten Schritt wird mit Bedorf (2010) vorgeschlagen, das Aporetische und Riskante der Anerkennung durch ein Anknüpfen an Theorien der Gabe zu präzisieren. Sodann wird sich verschiedenen Beispielen aus der Praxis gewidmet, um zu zeigen, wie sich dieses Riskante und Aporetische erkennen und analysieren lässt. Die dabei entfaltete Kritik an einer zweistelligen Verkürzung der Reflexionsfigur der (Ent-)Dramatisierung mündet zuletzt in eine Überlegung zu Möglichkeiten der weiteren Theorieentwicklung durch stärkeren Anschluss an die Erziehungstheorie und Ethik der Pädagogik (Prange 2010).

1. Diskursstand: Zur Systematisierung ontologischer Basislinien der Anerkennungstheorie

In dem kürzlich erschienenen Buch „Differenz, Inklusion, Nicht/Behinderung“ von Lindmeier (2018) wird es schön zusammengefasst: Budde (2018) und Tenorth (2006) vergleichend führt er in seiner Einleitung des Kapitels zu „Anerkennung und Differenz“ aus, dass Erstgenannter von einem „Spannungsfeld von ‚Universalismus (als allgemeingültiger Geltungsanspruch von Bildung für alle unabhängig vom Einzelfall oder sozialen Differenzen), Individualität (als Betonung der einzelnen Person) und Differenz (als soziales Zugehörigkeits- und Ordnungsschema)‘ (Budde 2018, S.45)“ ausgeht (Lindmeier 2018, 32). Dieser Dreisteller sei erst in der „Pädagogik der Spätmoderne“ aufgetaucht. Tenorth (2006) hingegen bleibe bei einem Zweisteller, indem er Individualisierung unter die partikulare Seite des Verhältnisses von Universalem und Partikularem subsumiere (Lindmeier 2018, 32f).
Fragt man nun nach einer Systematisierung alteritäts- und differenztheoretischer Basislinien, lässt sich also unterscheiden zwischen einem Diskursstrang, der in einem Zweisteller verweilt und einem Diskursstrang, der mit einem Dreisteller arbeitet. Im Folgenden werden zwei Theorien ausgeführt, die mit einem Dreisteller arbeiten: die gabentheoretisch inspirierte Anerkennungstheorie nach Bedorf (2010) und die Theorie der trilemmatischen Inklusion (Boger 2015; 2019a-d).
In der Theoriesprache des Trilemmas, das verschiedene Inklusionsbegriffe entlang des ontologischen Status von Andersheit* sortiert, geht es darum, nach welcher Anerkennung genau sich Menschen überhaupt sehnen. Was ist es, das da begehrt wird? In der Zusammenfassung der Basissätze heißt es: „Das Begehren als Andere_r* bei den Normalen* mitspielen zu dürfen (EN), das Begehren in seiner Individualität ohne Zuschreibung von Andersheit* gesehen zu werden (ND) und das Begehren in seiner Eigenheit sein zu dürfen und sich nicht verstecken oder anpassen zu müssen (DE).“ (hier in der Zeitschrift in Ausgabe 1/2017, für die Übersichtsgraphiken einfach ein zweites Fenster öffnen, bitte).
Das erste Begehren fragt demnach nach Anerkennung einer Andersheit* im Sinne einer Differenz zum Normalen* sowie danach, in seinem Streben nach Normalisierung anerkannt und gehört zu werden, ohne dabei die Differenz zu vernichten (EN). Das zweite Begehren fragt nach Anerkennung der Individualität eines jeden Menschen – jene Individualität ist also zugleich ein universal gegebenes Datum; Sie erlaubt das sich Einschreiben eines Individuums in eine Vielfalt (ND). Das dritte Begehren fragt nach Anerkennung einer fundamentalen Andersheit, die sich entzieht, und nach Anerkennung dieser (Verstehens-)Grenze (DE). Man kann also 1) Differenz anerkennen, 2) Individualität anerkennen, 3) fundamentale Andersheit anerkennen (und damit anerkennen, dass ein Universalismus ein falscher Universalismus ist). Daher wird das Wort Andersheit* in allen meinen Publikationen mit einem Sternchen* versehen, um an diesen schwankenden ontologischen Status der Andersheit* zu erinnern. Es gibt also drei ontologische Linien, die mit jeweils verschiedenen Begriffen von Andersheit* operieren. Diese bestimmen, was genau hier überhaupt anerkannt wird (für eine kleinschrittigere Herleitung s. Boger 2017). Balzer hat dies neulich – aus der Anerkennungstheorie kommend – wie folgt zusammengefasst:
„So wie häufig nicht das Gleiche gemeint ist, wenn der Inklusionsbegriff benutzt wird, so ist nicht immer das Gleiche gemeint, wenn von ‚Anerkennung’ die Rede ist. [...] Daher werde ich das Sprechen über ‚Anerkennung’ pointiert, und daher sicherlich auch vereinfachend, hinsichtlich von drei Signaturen der ‚Anerkennung von...’ – die Anerkennung von Differenz, die Anerkennung von Vielfalt und die Anerkennung von Andersheit – systematisieren.“ (2019, 70).
Man könnte dies nun für einen witzigen Zufall halten, aber dieser ‚Zufall’ oder ‚Zusammenfall’ lässt sich systematisch herleiten. Daher gilt es, die ‚Passung’ zwischen der Theorie der trilemmatischen Inklusion und der Anerkennungstheorie zu erkunden, wie es in folgender Relektüre des Werkes von Bedorf (2010) geschieht. Die Pointe in Sachen des ontologischen Status von Andersheit* erhellt sich, wenn man von dort aus weitergehend fragt, in welchem Verhältnis diese drei Signaturen/Linien denn nun stehen: Das Trilemma ist nämlich genau deshalb ein Trilemma, weil man nur zwei der darin verhandelten Basissätze gleichzeitig affirmieren kann. Hat man zwei der Annahmen akzeptiert, ist die dritte notwendigerweise ausgeschlossen. Das von Budde und anderen benannte Spannungsverhältnis hat also eine ganz bestimmte Form, nämlich die eines Trilemmas. Genau dieser Ringschluss ist es, der auch bei Bedorf (2010) noch gefehlt hat, um das sich sowieso schon verfehlende Chaos der verkennenden Anerkennung perfekt zu machen, denn dieser Ringschluss systematisiert zugleich, welches Risiko genau man eingeht, wenn man mit Anerkennung um sich wirft.
Die drei zu bedenkenden Aporien der Anerkennung, die sich aus diesem ausgeschlossenen Dritten ergeben, lauten in der Nomenklatur der Theorie der trilemmatischen Inklusion:
1) Wer andere anerkennt, um ihre Andersheit* wertzuschätzen, wiederholt die Zuschreibung dieser Differenz und verfestigt sie (EN).
2) Wer andere als Individuum anerkennt, um ihnen keine Andersheit und keine Differenz zuzuschreiben, sondern sie in ihrer Singularität zu sehen, übersieht alsbald das historische Gewicht dieser Kategorisierungen und droht in eine Leugnung und Nivellierung von Differenz zu verfallen (ND).
3) Wer andere als radikal/fundamental Andere* anerkennt, die sich einem Universalismus, den sie als falschen Universalismus erachten, entziehen wollen und die also als widerständig Andere* zu achten sind, wiederholt deren Ausschluss aus dem Normalen* (DE).
Diese Sortierung in drei Linien kann man nun nutzen, um zu systematisieren, welche Verständnisse von ‚Anerkennung’ im Inklusionsdiskurs kursieren, wie es Balzer (2019) jüngst getan hat, oder wie ich selbst – in der Sprache der Theorie der trilemmatischen Inklusion – es hier (2017) und in meiner Buchreihe getan habe. Der Unterschied ist lediglich, dass ich mit der Frage nach dem ontologischen Status von Andersheit* beginne, der sich bei mir vom Begehren unterdrückter Menschen aus herleitet, während Balzer eben den Begriff der Anerkennung zentriert. Da aber die drei Linien dieselben sind, kommt man nach Sortierung der kanonischen Werke auch zu demselben Ergebnis (Jedenfalls meistens. Kleinere Lesartenstreite gibt es freilich auch hier).
In jedem Fall gilt es, den Dreisteller des Universalen, des Individuellen und des Differenten stabil als Dreisteller in den pädagogischen Diskurs einzuführen, ohne dass er wieder zu der zweistelligen Figur der (Ent-)Dramatisierung von Differenz zusammenfällt. Dazu betrachten wir nun zunächst die gabentheoretischen Einsatzpunkte bei Bedorf genauer und zeigen sodann an Beispielen, wie sich dieses Riskante in pädagogischen Szenen in der Theoriesprache des Trilemmas beschreiben lässt:

2. Gabentheorie und Anerkennung nach Bedorf (2010)

Bedorf (2010) leitet Anerkennung gabentheoretisch „als performative Stiftung eines sozialen Bandes“ (ebd., 188) her. Historisch betrachtet geht es dabei um die „Frage, ob sich die durch die Gabe gestiftete soziale Kohäsion ganz in die Institution des Rechts transformiert oder in besonderen sozialen Gesten weiterlebt“ (ebd., 182). Dies ist besonders für die Pädagogik relevant – und darin besonders für die Frage nach der sozialen Integration im Klassenzimmer, denn es geht hier um das „Problem eines schwindenden sozialen Bandes, das das Recht nicht hervorbringen kann“ (ebd., 186). Wie Felder (2012) erinnert, sind schließlich weder Liebe noch Freundschaft erzwingbar. Es steht gar die gesamte soziale Integration auf der Kippe, lässt man sich nicht auf die Fragilität dieser Gabe ein.
Bei Bedorf geschieht dies vorwiegend über einen Vergleich der Gabentheorien bei Derrida, Mauss und Hénaff. Zwar sei es seines Erachtens richtig, das Anökonomische der Gabe herauszustellen, doch habe Derrida mit seiner Rede von der Unmöglichkeit der Gabe selbige so sehr zum „Grenzbegriff“ (2010, 165) gemacht, dass sie in ihrer Ereignishaftigkeit als Phänomen zu verschwinden droht (ebd., 166). Daher konkludiert er, dass der Derridasche Gabebegriff nicht dazu tauge, die Struktur der Anerkennung zu erhellen (ebd.). [Aus inklusionspädagogischer Perspektive könnte es jedoch genau dann interessant sein, diesen argumentativen Weg wieder aufzunehmen, wenn man „Inklusion“ als ereignishaft im Sinne der Derridaschen unmöglichen Möglichkeit (2003) bestimmen will (so geschehen in Boger 2019c, 167ff.). So würde man m.E. zu der Lesart gelangen, dass Inklusion genauso unmöglich-möglich ist, wie Anerkennung als Gabe statthaben kann.]
Bedorf jedenfalls zieht es vor, diesen Pfad zu verlassen, und für heute folgen wir ihm als Annahme um der Argumentation willen, um sichtbar zu machen, was sodann erscheint. Er argumentiert zunächst mit Mauss, dass der Verpflichtungscharakter der Gabe weder normativ noch kontraktualistisch zu erklären sei (vgl. ebd., 170), sondern über die Motivation „dem Anderen Anerkennung zu zollen“ (Bedorf 2010, 171). Dieses geschieht jedoch nicht aus purem Altruismus oder aus Liebe zum Nächsten. Zentral ist für das Verständnis der Gabe (der Anerkennung) vielmehr, dass es sich dabei um eine „Adressierung, die aggressive Untertöne hat“, handelt (ebd., 178). Jede sozial-romantische Note gilt es zu überwinden, um zu einer hinreichend komplexen Anerkennungstheorie zu gelangen (ebd., 187).
Die Gabe ist nach Hénaff aus den drei Elementen „Herausfordern, Schenken, Binden“ (ebd., 178) komponiert. Dieser Akt ist stets agonal, riskant und zur Antwort verpflichtend (ebd., 179), wobei letzteres nicht als moralische Pflicht zu verstehen ist, sondern lediglich der Tatsache geschuldet ist, dass man zur Antwort herausgefordert wird. So wäre auch ein Verwerfen der Gabe oder ein Verlassen der Situation schließlich eine Antwort. Dass diese Verpflichtung nicht moralisch oder normativ zu verstehen ist, bedeutet auch, dass sie a.a.O. nicht über die Figur der „Würde“ hergeleitet wird, wie dies zum Beispiel Levinas tut (vgl. ebd., 186). Es sei also nicht so, dass Anerkennung schlicht jenes wäre, womit wir uns gegenseitig in unserer Würde bestätigen. Vielmehr gälte es, konsequent das Agonale und das Riskante der Anerkennung zu betonen:
„Anerkennung ist somit kein Resultat eines Aktes, sondern sie wird zunächst einseitig gegeben, nicht, weil sie im Horizont einer normativen Ordnung geschuldet ist, sondern um den Anderen zu einer Reaktion zu veranlassen, die keinen anderen Anlaß hat als den, antworten zu müssen. [...] Es handelt sich um einen Einsatz in einem Spiel, dessen Ausgang ungewiss ist.“ (ebd., 187).
Motivation dieses Geschehens ist laut Bedorf das Versprechen der Stabilisierung einer Identität, wobei „der Prozeß dieser Stabilisierung nur als eine Identifizierung verstanden werden kann, die auf eine Bestätigung durch den Anderen angewiesen ist.“ (ebd., 187). Dieses identifikatorische Risiko gilt auch für die Gebenden, da „man sich im Gabentausch selbst gibt qua Sache, nicht aber die Sache dasjenige ist, was gegeben wird“ (ebd., 185). Aus diskriminierungstheoretischer Perspektive gilt es nun, ebenjenes identitätsstiftende Moment konsequent kritisch zu hinterfragen (Boger 2019d, 296ff), da es schließlich mitunter um die Identifikation mit politisch hochbrisanten Kategorien und Differenzlinien geht, die wiederum mit Gerechtigkeits- und Verteilungskämpfen verwoben sind. Diese Tatsache lässt uns ein wenig hilflos zurück; Und ebendies gilt es auszuhalten: „Hilflos deswegen, weil die ganze Argumentation Hénaffs in bezug auf die Gabe doch darauf hinauslief, das, was die Gabe generiert, als soziale Kohäsion und gerade nicht als Gerechtigkeits- oder Verteilungsproblem zu behandeln.“ (Bedorf 2010, 186). Würde man diese Disjunktion nicht mitgehen, würde einem schließlich das Anökonomische der Gabe (der Anerkennung) in der Argumentation wieder entfleuchen.

3. Praxisbeispiele zum Aporetischen und Riskanten der Anerkennung

Im Folgenden gehen wir drei Beispiele für das Aporetische und Riskante von Anerkennungsszenen durch. Sie wurden zu rein didaktischen Zwecken danach ausgewählt, dass sie zugleich drei Beispiele für die Trilemma-Achsen liefern und drei Beispiele aus den Sparten gender-race-disability stellen. Freilich kann man solche Interpretationen von Adressierungsszenen auch systematisch zu einer Methode der qualitativen Sozialforschung ausarbeiten (Rose & Ricken 2018). Hier aber genügt es, einige didaktisierte Beispiele anzuführen – mit dem Ziel, das Verkennende des Anerkennungsgeschehens (Bedorf) sowie die trilemmatische Sackgasse (Boger) im pädagogischen Tagesgeschäft einsehbar zu machen.

gender: „Das ist ein stilles Mädchen, gewissenhaft und fleißig.“

Gruppenarbeit in einer achten Klasse. Ursprünglich hatte der Lehrer geplant, dass auch alle Schüler_innen am Ende gemeinsam das Ergebnis ihrer Gruppe präsentieren. Jede_r sollte etwas dazu sagen. Nach Beobachtung der Gruppendynamik an einem der Tische kommt er jedoch zu dem Ergebnis, dass es in Ordnung sei, wenn nur jeweils eine_r präsentiert. Auf die Nachfrage der Praktikantin, warum er sich umentschieden habe, führt er aus, dies entspräche seiner Vorstellung von „individueller Förderung“: Die Jugendlichen hätten offensichtlich sehr verschiedene Stärken und es gälte, diese in ihrer Verschiedenheit wertzuschätzen. „Das ist ein stilles Mädchen, gewissenhaft und fleißig. Sie muss nicht auch noch präsentieren. Das sollen dann die anderen machen.“ Sodann fährt er fort, dieses Mädchen sowie die anderen Schüler_innen in der Gruppe zu beschreiben. Die Praktikantin (eine sehr feministische Studentin von mir) fragt nach, ob das kein Geschlechterrollenklischee sei. Dies verneint der Lehrer damit, dass andere Mädchen in der Gruppe doch offensichtlich nicht so seien: „Die sind alle verschieden. Du musst jeden Schüler und jede Schülerin in seiner Einzigartigkeit betrachten“. Zuletzt beteuert er, dass er dieselbe Modifikation der Aufgabenstellung auch für einen männlichen Schüler vollzogen hätte; Mit Geschlecht habe das nichts zu tun.
Der Pädagoge in dieser Szene hat sich also dafür entschieden, einzelne Eigenschaften eines Individuums anerkennend wertzuschätzen und daraus auch Konsequenzen für die weitere Aufgabenstellung und individuelle Förderung abzuleiten. Nun könnte man dies als gelungenes Beispiel für eine individuelle Betrachtung des Einzelnen feiern und stehen lassen, aber wir bleiben dabei, das Riskante und Aporetische sehen zu wollen.
In diesem Fall – auf der ND-Linie – besteht es darin, die historische Tatsache zu übersehen, dass das Stereotyp vom ‚stillen, fleißigen Bienchen’ der Frau zum Verhängnis werden kann. Der Pädagoge vergisst in dieser Szene das Gewicht der Geschichte und läuft Gefahr, herrschende Machtverhältnisse in ihrer Wirkmacht zu übersehen oder gar zu leugnen (ND à non-E). So würde man aus einer kritischen Perspektive vorhalten, dass im Sprechen des Pädagogen historische Spuren geschlechtsspezifischer Aufgabenteilung zu individuellen Eigenschaften werden. Statt zu hinterfragen, ob und wie geschlechtsspezifische Sozialisationsprozesse diese Eigenschaften geformt haben, werden sie hier einfach als individueller Charakter substantialisiert und ahistorisch als gegeben angenommen. Ahistorisch ist diese Vorstellung gerade deshalb, da sie auf die Binsenweisheit rekurriert, dass Menschen in allen Zeiten und Kulturen interindividuell verschieden sind. Die Gegenfrage, ob ein Empowerment von Mädchen genau darin bestünde, ihr dabei zu helfen, diese Rolle einer verschwiegenen, schweigenden Assistenz zu verlassen, gerät dabei systematisch in den Hintergrund, wenn dieser Weg jedes Mal beschritten wird. Auch hier ist die Anerkennung also eine fragile: Wird hier einem Menschen geholfen, individuelle Stärken und Schwächen zu sehen? Oder wird durch das Anerkennen der traditionell weiblich* kodierten Eigenschaften nicht viel eher suggeriert, dass diese apolitisch und ahistorisch als persönliche Dispositionen vorlägen?
Würde man diese Szene nun mit der zweistelligen Figur der (Ent-)Dramatisierung analysieren, würde man zunächst dramatisierend fragen, ob das Verhalten des Lehrers langfristig zur Reproduktion ungleicher Geschlechterverhältnisse beiträgt (wie durch die Studentin geschehen, die fleißig und gewissenhaft Faulstich-Wieland (2000) gelesen und in ihr pädagogisches Ethos integriert hat). Als entdramatisierend lässt sich vor allem der Verweis der Lehrkraft verstehen, dass ja auch laute Mädchen und stille Jungs in der Klasse seien. Diese Folie hilft uns jedoch noch nicht dabei, die gangbaren pädagogischen Wege hinreichend abzuwägen. Wechselt man zu der dreistelligen Figur, können wir fragen: Was genau wird hier dramatisiert? Wir hören sodann: Der Lehrer dramatisiert individuelle Eigenschaften (ND), während die Praktikantin darauf zielt, die Geschlechterdifferenz zu dramatisieren, wobei sie die weibliche* Eigenschaft dabei als potentiell problembehaftet oder gar defizitär versteht (EN): sie suggeriert, man müsse das Mädchen fördern (der Empowerment-Aspekt), um auch ihr die volle Teilhabe am öffentlichen Sprechen und Präsentieren zu ermöglichen (der Normalisierungsaspekt). Darüber geht die dritte Option verloren, die in diesem Fall auf der DE-Linie liegt: Entgegen der Behauptung des Lehrers, der nur Individuen sieht und befindet, dies habe mit Geschlecht nichts zu tun, und zugleich entgegen der Behauptung der Praktikantin, es habe etwas mit Geschlecht zu tun und sei zugleich ein Fall für die Mädchenförderung, um sozialisationsbedingte Defizite zu kompensieren, könnte man auch den Weg beschreiten, es mit geschlechtsspezifischer Sozialisation in Verbindung zu bringen, dies aber ohne die Unterstellung eines Defizits. Sodann würde man ein historisch weibliches* Verhalten als solches (statt als individuelle Eigenschaft) anerkennen, indem man hervorhebt, dass es doch ganz angenehm ist, dass wir nicht alle dazu erzogen wurden, ständig in erster Reihe dem Präsentations- und Selbstdarstellungsmodus zu frönen. Dieser Pfad würde zudem die inverse Frage eröffnen, ob es nicht auch auf der anderen Seite etwas zu fördern und ein Defizit zu beheben gäbe: Wäre es nicht ebenso einen Versuch wert, Menschen beizubringen, dass es eine noble Eigenschaft sein kann, gute Arbeit zu leisten, ohne dies stets öffentlich zur Schau stellen zu müssen? Nur wenn man dies nicht auf die Ebene individueller Eigenschaften reduziert, gelangt man zu einer patriarchatskritischen Betrachtung von geschlechtsspezifischen Sozialisationsprozessen und deren Niederschlag im öffentlichen Sprechen. Zwar käme man auch auf der ND-Linie auf die Idee, dass es vielleicht bei allen Schüler_innen etwas zu fördern geben könnte, doch hält der Individualismus davon ab zu sehen, welche Machtverhältnisse verschleiert werden, wenn dies nicht an die Geschichte des männlichen* Redevorrechts zurückgebunden wird. Die dreistellige Reflexion eröffnet also nicht nur mehr pädagogische Handlungsoptionen, sie vermag es auch durch die Fokussierung, was genau hier dramatisiert wird (die Individualität oder die Differenz oder die herrschende Normalität* und die Abweichung von diesem (falschen) Universalismus), die gabentheoretischen Bezüge nach Bedorf klarer zu sehen: Welches fragwürdige ‚Geschenk’ wird in dieser Szene verkennender Anerkennung gemacht?
Der Lehrer ersucht, die Individualität des ‚stillen Mädchens’ würdigend anzuerkennen, indem er sie entlastet. Verkannt wird dadurch, dass es vielleicht keine individuelle Eigenschaft ist, sondern Ausdruck einer patriarchale Verhältnisse reproduzierenden Erziehung und Sozialisation (ND à non-E). Die Praktikantin ersucht, ebenjene Konsequenzen einer geschlechtsspezifischen Sozialisation und die damit einhergehenden Exklusionsrisiken anzuerkennen. Sie ist bemüht, das antizipierte oder bereits real vorhandene Leiden zu sehen, das mit diesem Nicht-Sprechen und stummen Abarbeiten ohne Sichtbarmachung der eigenen Leistung für die Gruppe einhergeht. Dabei läuft sie Gefahr zu verkennen, dass das Mädchen vielleicht gar nicht gefördert werden will, sondern gerne introvertiert bleiben möchte und – so gesehen – ganz froh darüber sein könnte, wenn der Lehrer sie einfach lässt. Stärker noch: Sie könnte die defizitorientierte Unterstellung sogar als Affront erleben, als grobe Verkennung, gar als Herabsetzung ihres individuellen Charakters (EN à non-D).
Doch auch wenn man den dritten möglichen Weg beschritten hätte, der im zweistelligen Streit übergangen wurde, käme man nicht auf eine perfekte Lösung. Hätte man anerkennend gelobt, dass hier jemand – ein Jemand des Anderen* Geschlechts – die Zwangsnormalisierung in das dummerweise universalisierte Ausstellungs- und Präsentationswesen unserer Gesellschaft verweigert, könnte sich diese Unterstellung leicht ebenso schräg anfühlen. Man liefe Gefahr zu verkennen, dass sie vielleicht doch auch etwas Leidvolles darin sieht, nicht an der normalisierten Showbühne teilhaben zu können, und sich der Gegennarration, dass sie jene mit der noblen Eigenschaft nicht-narzisstischer, vornehmer Zurückhaltung ist, nicht anschließen will (DE à non-N).
Wie man es auch dreht und wendet: Auf jeder der trilemmatischen Linien führt die Anerkennung durch den ausgeschlossenen Dritten in eine Verkennung und erhält von dort her ihren riskanten Charakter. Die dreistellige Reflexion liefert also auch keine Antwort, geschweige denn eine perfekte Antwort, doch hilft sie zunächst zu sehen, dass es tatsächlich drei Sackgassen sind – und nicht nur zwei. Man kann nicht nur den Fehler der falschen Dramatisierung und der falschen Entdramatisierung machen; man kann auch das Falsche dramatisieren. Man kann nicht nur den Fehler der Zuschreibung von Differenz und den Fehler der Entwahrnehmung von Differenz machen; man kann auch das Individuelle mit dem Differenten, das Differente mit dem Individuellen, das Individuelle mit dem Universalen, das Universale mit dem Individuellen, das Universale mit dem Differenten, das Differente mit dem Universalen verwechseln. Es erhellt sich erneut, warum Pädagogik ein unmöglicher Beruf ist…

3.2. race: „Sie sprechen ja sehr schönes Deutsch!“

Die zweite Beispielszene ist schnell erzählt. Sie ist (ähnlich wie die Diskussion der ‚Woher kommst du?’-Frage) fast schon ein Klassiker migrationspädagogischer/rassismuskritischer Betrachtungen (vgl. Rose 2015):
Eine Studentin, der ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, leitet im Praktikum zum ersten Mal eine kleine Unterrichtssequenz. Die Mentorin sagt danach zu ihr: „Sie sprechen ja sehr schönes Deutsch!“
Beim ersten Überhören der Aussage vernimmt man ein Lob. Die genauere Analyse macht jedoch deutlich, dass sich dieses jederzeit auch als vergiftetes Kompliment herausstellen kann. So kann diese Aussage gegenüber jemandem, dessen Erstsprache Deutsch ist, eine Andersheit* unterstellen, wo gar keine ist. Das Kompliment entfaltet sich vor einer mitgedachten Negativfolie einer defizitorientierten Generalunterstellung, die besagt, dass man Menschen mit Migrationshintergrund so lange ein schlechtes Deutsch unterstellt, bis das Gegenteil bewiesen ist. Andererseits würde dieselbe Aussage gegenüber jemandem, der tatsächlich migriert ist und sich mühsam Deutsch als Zweitsprache erarbeitet hat, vielleicht die (vermutlich ja intendierte) Wirkung eines positiven Feedbacks entfalten. Dass es sich als ein solcher entgleister Anerkennungsversuch herausstellen kann, aber nicht muss, erinnert wiederum an das Riskante dieser Gabe.
Wie ist nun dieses Risiko komponiert? Die Aussage schreibt sich in die Spur einer Migrationsgeschichte ein und versucht diese mit ihren Windungen und Schwierigkeiten, aber auch ihren gelungenen Bewältigungen anzuerkennen (der Empowerment-Aspekt) und zugleich wird darin eine Migrationsandere (Mecheril 2004; 2010) für eine Integrationsleistung gelobt (der Normalisierungs-Aspekt). Das ist als würde man sagen: ‚Herzlichen Glückwunsch. Sie sind jetzt normal!’. Wir bewegen uns also auf der EN-Linie. Hier wird ‚integriert’. Selbst wenn die so adressierte Person positiv darauf reagiert, bleibt die riskante Praxis bestehen, dass darin ein Migrationshintergrund salient gemacht, zum Migrationsvordergrund gemacht, oder eben ‚dramatisiert’ wird, was auf das Aporetische dieser Linie verweist: Die Lobende bringt sich in diesem Sprechen als eine Mehrheitsdeutsche hervor, die Andere* für ihre Integrationsleistungen wertend anerkennt, und läuft so auch Gefahr, die etablierten Trennlinien der Zugehörigkeit (‚Wir Deutsche – Ihr Migrant_innen’) nachzuzeichnen statt sie zu entdramatisieren und dekonstruktiv aufzulösen (EN à non-D). Besonders leicht wird das Brisante daran sichtbar, wenn man sich vorstellt, jemand hört fünf Generationen nach Migration immer noch diesen Satz – aus dem schlichten Grund, dass er Schwarz ist; und genau dies passiert zum Beispiel vielen Schwarzen Menschen in Deutschland (Ogette 2017). Das Lob löst sodann mehr Entfremdungsgefühle aus als dass es eine integrierende Verbindung stiftete.
Auch hier muss man also fragen, wer sich nach welcher Form von Anerkennung sehnt. Macht jemand häufig die Erfahrung, einer Integrationsnötigung zu unterliegen, die seine Migrationsgeschichte in den Hintergrund drängen und unsichtbar machen soll, wird er den Begriff ‚Migrationsvordergrund’ als widerständigen Begriff verstehen und hören können (Punkt E; optional verbunden zu Linie EN oder Linie DE). Macht jemand jedoch die gegenteilige Erfahrung, also die Erfahrung, dass seine Migrationsgeschichte ständig dramatisiert und in den Vordergrund gezogen wird, obwohl seines Erachtens die Spur dieser Geschichte längst verblasst ist, wird ihm der Begriff ‚Migrationsvordergrund’ eher als Problembeschreibung erscheinen, denn als widerständiger Empowerment-Begriff (ND). Bis hierhin kommt man auch mit der zweistelligen Reflexion der (Ent-)Dramatisierung. Darin werden jedoch zwei Optionen oder Begehrensrichtungen des so adressierten Subjekts zu einer vermengt.
Das Spektrum an Handlungsmöglichkeiten erscheint klarer, wenn man dreistellig bleibt: Die Mentorin in obiger Szene meint (und das laut Erzählung der Studentin guten Herzens und ganz aufrichtig liebevoll-ermunternd), die Studentin habe ein Interesse daran, dass bestätigt werde, wie gut sie integriert ist. Das heißt, sie unterstellt ein Begehren, das auf der EN-Linie verortet ist: ein Integrationsattest in Anerkennung der Schwierigkeiten, die mit einer Migration einhergehen, ein herzliches ‚Willkommen’. Spürbar wird hier auch, dass gerade die Naivität, mit der die Mentorin an geglückte Anerkennungsszenen glaubt, ein Türöffner dafür sein könnte, recht friedlich ins Stolpern zu kommen. Was hier weh tut, ist nicht einfach ein ‚Alltagsrassismus’, der auf etablierte Blickordnungen verweist; was hier weh tut, ist die Tatsache, dass derlei Reproduktionen diskursiver Ordnungen auch in liebevoller Anerkennung und tatsächlich besten Willens und wohlgesonnen – ohne jeden Hass, ohne jede Verachtung, ohne auch nur eine Spur der Ablehnung gegenüber Migration oder Migrant_innen – geschehen können. Das gilt es auszuhalten, ohne in ein Täter-Opfer-Denken zu verfallen. Und dabei hilft die Figur der verkennenden Anerkennung nach Bedorf: Was geschieht hier? Was geschieht hier unter Menschen? Unter Menschen, die sich nach Anerkennung sehnen und welche zu geben haben.
Die Unterstellung eines auf der EN-Linie verorteten Begehrens nach Anerkennung als ‚erfolgreich integrierte Migrantin’ verkennt das von der Studentin artikulierte Begehren, hier einfach in Ruhe und unkommentiert als Deutsche leben zu können. Sie will einfach als Individuum betrachtet werden (ND) und ein zugleich ganz normales* und individuelles Feedback zu ihrer Unterrichtseinheit bekommen. Ist der Reflexionsraum offen, sodass dieses gegenläufige Begehren sagbar ist und gehört wird, bleibt die ganze Szene undramatisch und kann schnell vergessen werden. Mit einem ‚Du... wir leben hier seit drei Generationen... also keine Sorge’, ist es sodann vom Tisch. Problematisch wird es erst, wenn sich ein Mensch diese verkennende Seite seiner Anerkennungsversuche nicht zeigen lassen will; sodann kommt es zu dramatischen Entgleisungen, in denen sich ein Mensch in der Machtposition verweigert zu hören, dass das Begehren eines von Rassismus betroffenen Subjektes nicht identisch mit dem unterstellten Begehren ist.
Was erlaubt nun die dreistellige Reflexion? In diesem Fall das Verstehen folgender ironischen Pointe: Die Studentin bekundet also, sie wäre gerne ein Individuum. Sie sagt dies mir, einer anderen Frau mit Migrationsvordergrund (Fluchtvordergrund um genau zu sein – und das muss man in den Vordergrund stellen, weil die Leute in letzter Zeit gerne so tun als wären zum ersten Mal Kriegsgeflüchtete in diesem Land; Geschichtsvergessenheit und so...). Ich frage sie also, warum sie das mir erzählt und warum sie es in der Sprechstunde erzählt (eine billige didaktische Provokation; funktioniert aber fast immer). Sie antwortet, dass sie das kurz „unter uns“ besprechen wollte. Ich sag’: „unter Individuen meinst du?“. Sie lacht. Geht nicht auf, ne? Wir sprechen sodann darüber, dass es tatsächlich verwunderlich sei, wie gut ihr Deutsch ist, gemessen an der Tatsache, dass sie manchmal das Gefühl hat, ihr Hirn kracht unter dem russischsprachigen Familienalltag und den englischen Netflix-Serien zusammen (während sie sich durch die heilige Trias der toten Sprachen ackert). Ich lache mit und erzähle, dass ich seit ungefähr zehn Jahren steif und fest behaupte, ich würde mich irgendwann um mein Vietnamesisch kümmern.
Was ist das für eine Anerkennungsszene? Auf der DE-Linie ermunterten wir uns als (Post-) Migrantinnen dazu, etwas, das für gewöhnlich nur als Defizit gerahmt wird, als eine Stärke zu rahmen, unsere sprachliche Kompetenz zu feiern. Jetzt noch Suaheli – nur so, um die Sprachenhierarchie zu zerstören – und wir sind glücklich und im besten Sinne des Wortes erfolgreich „desintegriert“ (Czollek 2018). In dieser Anerkennungsszene wird also ein Desintegrationsattest ausgestellt: ‚Herzlichen Glückwunsch! Du hast dich nicht völlig assimilieren lassen’. Dazu mussten wir aber den Raum des Individuellen verlassen (ND) und vor allem das gegenstrebige Begehren, sich nicht dermaßen normalisieren zu lassen (Anti-N), umarmen. Auch das war riskant. Man kann dabei auch eins auf den Deckel kriegen und muss sich dann fragen lassen, warum man ausgerechnet als (post-)migrantische Dozentin die Ethnisierungsbewegungen wiederholt. Auch hier verlässt uns das Risiko niemals. Es führt auch zu nichts, wenn ich jetzt betone, dass mir eine Erziehung zur Solidarisierungsfähigkeit wichtiger ist. Kein normativer Grund kann vor dem Risiko schützen. Wenn es schief geht, geht es schief.

3.3. (dis-)ability: „Es ist ok. Du kannst das auch anders machen.“

Eine Unterrichtsstunde zu Tango; Schwerpunkt Haltung der Arme und Führung des Torsos. Ein Mensch hadert sichtlich mit der Aufgabe. Er sagt, er könne die Arme nicht so führen wie vorgetanzt; das entziehe sich seinen körperlichen Möglichkeiten. Die Lehrerin fragt, warum. Er erzählt von einem Unfall, einem Bruch und einem daraus folgenden Schulterschiefstand. Er wirkt dabei (auf mich und anscheinend auch auf die Lehrerin) sichtlich unglücklich mit sich selbst. Sie schaut sich die Schulterlinie an, überlegt und sagt: „Es ist ok. Du kannst das auch anders machen“. Sie zeigt ihm sodann die technische Lösung für das Führen dieser Figur in betont asymmetrischer Armhaltung.
Tatsächlich kann man Tango auch ganz ohne Arme tanzen; Es gibt für alles eine tanztechnische Lösung. Wenn man keine Angst – und vor allem keine Berührungsangst – vor Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen/Einschränkungen hat, findet sich ein Weg. In obiger Szene wählt die Lehrerin den Weg, eine technische Variation vorzuschlagen, die sie (durch die Äußerung, er könne dies auch anders* machen) als Abweichung von der normalen* Tango-Haltung markiert. Gleichzeitig basiert diese Abweichung jedoch nicht auf einer ‚defizitären’ oder ‚geringerwertigen’ Alternative, sondern stammt aus dem Blues: dort wird der rechte Arm der führenden Person (bzw. der linke Arm der folgenden Person) locker nach unten fallen gelassen. Dadurch entsteht ein entspannter, lockerer Stil; Es wirkt weniger streng als die klassische Tanzhaltung, auf die nordamerikanische Weise ‚cool’. Meinem Empfinden nach fühlt sich mein Klassenkamerad mit diesem neuen Stil wohl; jedenfalls beginnt er alsbald zu scherzeln: „Nächste Woche komme ich im Dandy-Look“.
Warum gilt auch hier, dass – selbst bei positiver, emotionaler Reaktion des Adressierten – die Anerkennungsszene eine fragile und riskante bleibt? Das erste Risiko besteht in der Anerkennung der körperlichen Imperfektion selbst: Wird hier ein beeinträchtigter Körper als solcher – mit seinen Möglichkeiten und Grenzen, Fähigkeiten und Einschränkungen – anerkannt? Oder wird hier vielmehr reaffirmiert, dass der gänzlich nicht-beeinträchtigte, nicht-behinderte Norm-Körper nach wie vor das Maß der Dinge ist und alles davon abweichende nur als eine solche Abweichung gesehen werden kann? Beides zugleich.
Die Lehrerin wählt eine Lösung, bei der sie eine Andersheit als solche anerkennt, nach der Geschichte dieses Anderswerdens fragt (die Erzählung des Unfalls, etc.) und diese ernstnimmt (der Empowerment-Aspekt). Zugleich ermöglicht sie es ihm, diese üblicherweise nur negativ als Defizit oder Mangel erachtete körperliche Eigenheit unter einer neuen Rahmung als etwas Positives zu betrachten (das dekonstruktive Moment). So zeigt sie ihm einen Weg, es einfach auf seine Weise zu tun, ohne dass diese andere Weise etwas Schlechtes oder Geringerwertiges wäre. Wir befinden uns also auf der Verbindungslinie DE. Wieso wirkt diese Szene denormalisierend (DE à non-N)? Wenn sich die so adressierte Person langfristig an die dargebotene Alternative hält und gewöhnt, wird er die normale* Tanzhaltung verlernen, sich nicht mehr daran abarbeiten, diese für sich zu erkunden und einzuüben. Er wird darüber Exklusionen beobachten: Menschen, die nicht mehr mit ihm tanzen möchten, da sie die alternative Armhaltung irritiert, Dogmatiker_innen, die jede Abweichung vom klassischen Tango und jeden Genre- und Stilmix ablehnen, werden sich von ihm fernhalten. Andere wiederum werden es jedoch im positiven Sinne als angenehme Abwechslung erleben. Das Kompliment, dass man ‚erfrischend anders*‘ sei, reaffirmiert die Andersheit* als Nicht-Normales* jedoch genauso.
Fragen wir zur genaueren Erläuterung eine andere Tänzerin: Simone Danz (2019). In obiger Szene haben wir es mit einem erwachsenen Mann zu tun: er wird schon wissen, ob er den Preis für seinen eigenen nicht-normalen* Stil bezahlen will, und zudem ist es nur ein Hobby. Das Risiko ist also in diesem Fall sehr überschaubar (Dass die Anerkennungsszene ‚riskant’ ist, heißt schließlich nicht, dass sie stets in einem dramatischen Sinne ‚gefährlich’ ist). Stellt man sich aber vor, es geht um ein Kind und nicht nur um eine kleine Alltagsszene, sondern um eine generalisierte Haltung, wird die Brisanz leicht erkennbar. Emblematisch für diese Aporie steht in dem Interview mit Danz die Äußerung: „Als Kind durfte ich nur Plastikzeug abtrocknen, nie das Geschirr“. Freilich ist Plastikgeschirr oft eine sinnige, pragmatische Alternative zu Porzellan. Dass es immer eine nicht-normale* Lösung gibt, mit der man sich schonen kann, heißt aber eben nicht, dass man diese stets wählen sollte. Verschont man sich vor jedem Risiko, beim Versuch an einer Normalität* teilzuhaben wie ein Elefant im Porzellanladen auszusehen, wird man damit nämlich das Risiko der zunehmenden Selbstexklusion eingehen. Dieses Risiko nehmen wir jedes Mal auf uns, wenn wir stellvertretend für Schüler_innen, Kinder, Jugendliche, Klient_innen entscheiden, was hier anzuerkennen und durch die Anerkennung fortzuschreiben sei. Das Umarmen der anderen* Umarmungsweise in obiger Szene bleibt daher ein aporetisches Geschäft. Es unterlässt – in Anerkennung einer Andersheit* – den Normalisierungszwang, läuft aber auch Gefahr, in einer Verstetigung der Nicht-Normalisierung langfristig zu Exklusion zu führen.
Mit der zweistelligen Figur der (Ent-)Dramatisierung lässt sich dieses Exklusionsrisiko bereits abwägen. Man kommt damit aber eben nur so weit, sich zwischen einem Mehr oder einem Weniger an Normalisierung des anderen* Körpers zu entscheiden. Mit der dreistelligen Reflexionsfigur wird es hingegen möglich, zwei unterschiedliche Wege der Normalisierung in den Blick zu nehmen (die EN-Linie sowie die ND-Linie), die einer ungünstigen Verhärtung auf der DE-Linie entgegenwirken können (ausgeführt am Beispiel Geschlecht in Boger 2019c, 18ff.). Auch hier sieht man also, dass sich die dreistellige Differenzierung lohnt.
Zudem wurde in allen drei Beispielen deutlich, dass hier in grundständig pädagogischen Begriffen gesprochen Bildungs- und Erziehungsziele verhandelt werden. Es gilt zu fragen, wie es legitimierbar ist, einen Zögling auf diese oder jene Linie zu ziehen, ihn oder sie dazu zu bewegen, eine andere Linie als die gewohnte stärker auszubilden, um den eigenen Raum an Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. So sind die drei trilemmatischen Linien zwar auf einer abstrakten Ebene als gleichrangige und gleich gültige erkennbar, in konkreten Situationen aber gilt es, sich zu entscheiden. Hinter dem Adressierungs- und Anerkennungstrilemma steckt nichts anderes als die altehrwürdige Frage, wie sich diese Bildungs- und Erziehungsziele legitimieren lassen, und ob ein normatives Fundament es vermag, uns über das Aporetische und Riskante hinwegzutrösten. Fraglos legitim und unriskant wird es niemals; aber es geht hier um den Kampf um pädagogische Handlungsfähigkeit – es geht um unser Berufsethos. Verketten wir das Gesagte daher zuletzt noch einmal mit allgemeinpädagogischen Überlegungen zu einer Ethik der Pädagogik (Prange 2010).

4. Wohin mit der Anerkennungstheorie in der Pädagogik? Möglichkeiten der Theorieentwicklung

Die Ausführungen haben gezeigt, dass die zweistellige Figur – egal wie sie benannt wird, ob als Universales-Partikulares oder als Allgemeines-Besonderes – nicht reicht, um das Soziale adäquat zu beschreiben. Auch die daraus abgeleitete pädagogische zweistellige Figur genügt nicht zu einer Reflexion pädagogischer Praxis, ob man diesen Zweisteller nun mit dem Begriff der (Ent-)Dramatisierung oder mit dem Begriff der (Ent-)Wahrnehmung von Differenz beschreibt. So fällt leider auch Lindmeier (2018, 113) in seinem Ausblick wieder auf den Zweisteller der (Ent-)Dramatisierung zurück, obwohl er (wie oben dargelegt) zuvor im anerkennungstheoretischen Kapitel richtigerweise ausführt, dass es um den Dreisteller ‚universal – different – individuell‘ gehen muss (ebd., 32). Diese Komplexitätsreduktion lässt sich jedoch nicht überzeugend durchhalten. Vielmehr gilt es, die Komplexitätssteigerung anzunehmen, die sich sowohl in der gabentheoretisch gewendeten Anerkennungstheorie Bedorfs zeigt, wenn er das Riskante und Brüchige betont und vom einem sozialen Band spricht, das sich just durch diese Reste und Bruchsachen knüpft, als auch in der trilemmatischen Theorie, die sich ebenso konsequent verweigert, bloß ein Dilemma im Singular zu sehen. Das Risiko der Verkennung rührt nicht bloß von der uniaxialen Ungewissheit darüber, ob man eine Differenz zu sehr oder zu wenig (ent-)dramatisiert hat. Stattdessen muss man – wie in den Fallbeispielen ausgeführt – fragen, was man dramatisiert hat.
Des Weiteren zeigt sich in den Ausführungen, dass man die Anerkennungstheorie nicht überstrapazieren darf, da sie für Reflexionen von einem bestimmten Standpunkt aus geschrieben wurde, dem sich wiederum anderes entzieht. In der ausführlichen Buchversion (Boger 2019d, 311ff.) habe ich das Verhältnis zwischen Anerkennungstheorie und Trilemma kleinschrittiger hergeleitet – mit der Pointe, dass die Anerkennungstheorie im Diskurs bis dato konsequent aus der Perspektive der Nicht-Betroffenen ausgeführt wurde, also mit der Schreibrichtung: Die jeweiligen Normalen* bemühen sich um Anerkennung der Anderen*.
Beginnt man jedoch – wie das Trilemma es tut – mit dem Begehren unterdrückter Subjekte, merkt man alsbald, dass man dieses dissonante und plurale Hoffen und Wünschen, Hadern und Fordern nicht auf das Begehren nach Anerkennung reduzieren sollte. Es ist grob verkennend, jedes Bedürfnis und jedes Begehren unterdrückter/diskriminierter Menschen als Suche nach Anerkennung zu hören. In der Praxis kann man den Anerkennungsbegriff freilich weiterhin so weit verwenden, dass er die drei oben ausgeführten Linien umfasst. In der Theoriebildung aber sollten wir uns fragen, ab wann der Anerkennungsbegriff in der Pädagogik dermaßen überstrapaziert wird, dass begriffliche Unklarheit eintritt. Hypostasiert man die Anerkennungstheorie zu einer ‚Metatheorie für alle pädagogischen Inklusions- und Differenzprobleme’, kracht sie an diesem Anspruch zusammen. Wozu genau braucht es also die Anerkennungstheorie? Was kann sie leisten und wo liegt ihre Grenze?
Der alltagssprachliche Begriff der ‚Anerkennung‘ vermag zunächst jenes zu benennen, auf das die Pädagog_innen in den obigen drei Beispielen zielen. Die genauere Analyse zeigte jedoch, dass von einer naiven Erfüllung dieses Ziels nicht auszugehen ist. Jede teleologische Phantasie gilt es abzuschütteln. Zudem benennt ‚Anerkennung‘ lediglich einen von vielen ethischen Einsatzpunkten, die für die pädagogische Haltung relevant sind. In ihren avancierteren Formen – wie bei Bedorf, Balzer, Dederich – vermag sie es zudem, auf das Andere der Anerkennung zu verweisen, auf die jeweiligen Aporien, Begleitverkennungen und Risiken eben. Sodann bezeichnet ‚Anerkennung‘ nicht nur kein Ziel, sondern eher einen unvermeidlichen, alltäglichen Seiltanz. Insbesondere erhellt sich, warum das Riskante daran sich nicht technologisch bewältigen oder eindämmen lässt. Um dieses Technologiedefizit der Pädagogik wussten wir jedoch schon vorher. Das kann also nicht die anerkennungswürdige Denkleistung dieses Zugangs sein, denn dies würde das Spezifische der Anerkennungstheorie verfehlen. Vielmehr muss man es in ebenjener Situiertheit suchen: Alle Beispiele handeln von Szenen, in denen innerhalb einer Asymmetrie, eines Machtgefälles Anerkennung gegeben wird. Zur Reflexion dieser Situationen eignet sich dieser Einsatzpunkt bestens: Er adressiert uns als jene, die Anerkennung zu geben haben. Daher bin ich gespannt, ob sich in Zukunft stärker gabentheoretisch ausgearbeitete Entwürfe in der Pädagogik durchsetzen werden. Ich sehe in dieser Abzweigung jedenfalls großes Potential – und hoffe auch, dass dies die beständige Erinnerung wachhält, dass man manche Gaben einfach nicht haben möchte, dass es ‚Geschenke’ gibt, die belasten, aber eben auch solche, über die man sich riesig freut.
So lässt sich die mit Bedorf (2010, 170) via Mauss und Hénaff hergeleitete Dreierkette des Gebens, Empfangens und Wiedergebens niemals einfordern oder erzwingen. Man lese dazu vielleicht Udo Siercks und Nati Radtkes (2015) Ausarbeitung darüber, warum grober Undank in der Behindertenbewegung eine der widerständigsten Gesten gegen die „Wohltätermafia“, wie sie es andernorts (2013) nennen, ist. Die Nichtung von Anerkennungsgaben wäre sodann intim mit dem Widerstand unterdrückter Menschen verwoben.
In jedem Fall – das lässt sich nicht mehr leugnen – gibt es auf Seiten diskriminierter/unterdrückter Menschen nicht nur ein Begehren nach Anerkennung, sondern auch eines danach, die Anerkennungslyrik zu zerstören, Anerkennungsgaben zu vernichten und mit grobem Undank zurück an Absender zu schleudern. Solange dies nicht gehört wird, wird auch die Grenze der pädagogischen Anerkennungstheorie regelhaft übergangen.
Die nächste Abzweigung fragt daher nach einer Rückbesinnung (statt eines Rückfalls): Das strukturelle Verfehlen von Anerkennungstheorie und dem Trilemma des Begehrens bedeutet für das Pädagogische, auf das Verfehlen von Erziehung und Lernen des Zöglings zurückzukommen, wie es zum Beispiel auch im Begriff des „pädagogischen Unverhältnis“ von Sternfeld (2009) ausgeführt wurde. Daher kann selbst eine noch so elaborierte Anerkennungstheorie die Erziehungstheorie nicht ersetzen. Nicht einmal kann sie die Ethik der Pädagogik ersetzen, die sich, wie Prange (2010) unter diesem Titel ausführt, aus einer Ethik der Fürsorge, einer Ethik der Führung und einer Ethik der Eigenverantwortung komponiert (ebd). So kann die Anerkennungstheorie zwar die Ethik der Fürsorge sowie die Ethik der Führung inspirieren, die Frage nach der Eigenverantwortung, in der sich der Mensch zuletzt der Selbsterziehung widmet, bleibt dadurch aber noch unbeantwortet. In meiner Sprache hieße das zu fragen, was es bedeutet, sich das Richtige zu wünschen und wie wir lernen, ein skeptisches Verhältnis gegenüber dem eigenen Begehren zu entwickeln.
Versteht man wiederum in der Sprache Pranges „Selbsterziehung als Selbstfindung“ (ebd., 87), geht es also darum, wie der Mensch mit diesen anerkennend-verkennenden Anrufungen am Ende des Tages umgeht, was er aus ihnen macht. Die Reste, die Scherbenhaufen des Anerkennungsgeschehens sortieren sich nicht von alleine. „Vielmehr zeigt sich, dass das Positionieren selber zu einer Aufgabe, gewissermaßen zu einer Pflicht, die jeder sich selbst gegenüber hat, geworden ist. Damit stellt sich die Frage nach dem Selbst als Fokus aller erzieherischen Bemühungen und ist in der Tat zum Mittelpunkt der ethischen Reflexion geworden.“ (ebd., 87). Daher kann es nicht darum gehen, von einer perfekten Anerkennungsszene zu träumen oder zu wagen, nun auch noch die Trümmer dieser Anerkennungsszenen stellvertretend für den Zögling sortieren zu wollen. In einen Satz gebündelt geht es hier um folgende Komposition des Gegenläufigen: Sich selbst zu finden kann keine Aufgabe sein, zu der Pädagog_innen ‚anleiten’ (ebd., 98) und ist doch Ziel der Erziehung (ebd., 96). Selbsterziehung als Selbstfindung kann nicht von außen gestiftet werden; Sie entzieht sich dem Zugriff; und doch zielt alles pädagogische Handeln auf die Hoffnung, dass der Mensch aus diesem Scherbenhaufen etwas Schönes, Wahres und Gutes bastelt. Diese Selbstfindung ist jedoch scharf abzugrenzen von jedwedem Konzept der Selbsterkenntnis, das von einer klaren Erkennbarkeit des Selbst oder einer transzendenten Konstitutionsmöglichkeit ausgeht. Der Scherbenhaufen ist stets mitten unter uns, vor uns, zu unseren Füßen, über uns ausgekübelt. Er findet seinen Sinn nicht in einem transzendenten Anderswo. Bei Prange wird dies mit Herbart hergeleitet:
„Was Herbart von Kant und von allen anderen unterscheidet, die die Eigenart des Subjekts gegen die Zumutungen des Erziehens ausspielen, ist die Einsicht in die evolutive Struktur des Mündigwerdens und des Selbst. Sie bildet sich im Verlauf von unabschließbaren Lernprozessen, ist weder von vorneherein gegeben, noch gemacht, sondern wird sukzessive erworben. Die Form dieses Erwerbs wird als Sich-Finden, oder wie wir hier sagen: als Selbstfindung bestimmt. Darin liegt eine wesentliche, von Herbart hier nicht ausdrücklich ausgesprochene und hervorgehobene, aber gleichwohl wichtige Voraussetzung: Wir kennen uns nicht. Warum sollten wir auch sonst in diesen Prozess der Selbstfindung eintreten?“ (ebd., 99)
Liest man es auf diese Weise aus der Erziehungstheorie heraus, ist es wunderschön, dass das soziale Band, das in den Anerkennungsszenen geknüpft wird, so brüchig ist. „Gerade das Ausstehende, das Nicht-Aufgehende, der Rest ist es, der zusammenhält.“ (Bedorf 2010, 189). Daher gilt es nicht nur, die Sehnsucht nach einem bruchlosen Anerkennungsparadies aufzugeben, es gilt sogar in diesen Scherben Frieden zu finden, denn ihre Ränder glänzen: In diesen Rissen liegt unsere Freiheit, die Möglichkeitsbedingung der Selbsterziehung als Rekomposition dieses Zerbrochenen ist. Sich selbst finden, das heißt meiner (eher deleuzianisch-rhizomatischen) Lesart nach: sich sammeln, sich rekomponieren, sich wieder und wieder zusammenflicken, aus diesen Rissen und Brüchen heraus. Das kann man nur selbst. Man muss es sogar für sich selbst tun. Dies ist die ethische Pflicht der Selbstsorge.
Dieses Finden ist zudem ein Tun (was es abermals vom Erkennen abgrenzt): „Wir finden uns nicht unmittelbar, sondern durch Erleben und erfolgreiches wie scheiterndes Handeln vermittelt“ (Prange 2010, 100), wie es dort mit Goethes Farbenlehre hergeleitet wird. Man kann im Scherbenhaufen nichts erkennen, bis man etwas aus ihm gemacht hat, das sodann wiederum für Andere erkennbar und anerkennbar geworden sein wird (Futur II – Die Zeit des Ereignisses nach Badiou). „Für die Frage nach dem Selbst bedeutet dies: Es steht wie die Sachverhalte der sozialen Umstände unter Kontingenzbedingungen, sozusagen als Identität auf Widerruf und unter Vorbehalt. Anders gewendet: Wir können ausdrücklich zwischen Lernen und Nicht-Lernen, zwischen Beharren und Experiment wählen.“ (Prange 2010, 101). Wir können, wann immer uns eine schräg sitzende anerkennend-verkennende Geste trifft, wählen, ob wir sie annehmen, mit uns spielen, mit neuen Adressierungen experimentieren – oder eben nicht.
So etwas wie „Mündigkeit“ wäre dazu wohl praktisch. Man achte hier auf die Bildsprache, um diesem Zugang nachzuspüren: „Es versteht sich, dass die Mündigkeit nicht ausbricht wie eine Krankheit oder, um es etwas freundlicher zu sagen, aufgeht wie die Morgensonne im Frühling.“ (ebd., 92). In dieser Phrasierung könnte Mündigkeit eine ansteckende Krankheit sein, wie wenn einer am Ende allzu sicher glaubt, sich gefunden zu haben und sich von keiner schrägen Adressierung mehr erschüttern zu lassen. Sie könnte aber auch ein weiches Licht auf das Porzellan werfen, mit dem wir im Anerkennungsgeschehen um uns werfen. Ja, die Pädagogin ist immer ein Elefant im Porzellanladen; und dass das Riskante, der Charakter der Wette, dem Erziehungsgeschehen immanent ist, lässt sich auch ganz ohne anerkennungstheoretische Bezüge aus der Erziehungstheorie ableiten: „Die Theorie kann nicht von vorneherein sagen, was in der jeweiligen Situation das Richtige ist. [...] Auch der vielgerühmte pädagogische Takt, verstanden als eine Art divinatorischer Gewissheit, die weiß, was für ‚mein’ Kind das Richtige ist, hilft da nicht viel. Er ist genauso irrtumsanfällig“ (ebd., 94).
Frieden mit der Anerkennungstheorie lässt sich also über die Erziehungstheorie stiften. Es ist ja nicht so, als wäre kein Porzellan mehr für eine gemütliche Tasse Tee übrig. Vertrauen, dass sich aus Scherben etwas entwickelt, ist der Sammlung und Rekomposition des Zöglings dienlich, wenn auch sich diese nicht anschubsen lässt.
Kurz: Drei Dinge werden uns vielleicht weiter tragen. Erstens müssen wir dreistellig bleiben. Zweistellige Reflexionsfiguren münden in eine unterkomplexe Reflexionsfolie. Zweitens gilt es zu sehen, dass die Anerkennungstheorie das Begehren unterdrückter Subjekte verfehlt, wenn es alle Formen des Begehrens als Begehren nach Anerkennung hört. Drittens gilt es daher, sich wieder verstärkt mit einer Ethik der Pädagogik zu befassen, deren Skopus weit umfassender ist als die Frage nach Anerkennung allein, wie es zum Beispiel auch in den neueren Arbeiten Prengels zu den Reckahner Reflexionen geschieht (vgl. Prengel in diesem Heft) und die Anerkennungstheorie deutlich stärker mit der Erziehungstheorie zu verketten (wie es zum Beispiel Redecker 2016 tut) – wobei, wie gezeigt, die Erziehungstheorie oben liegen sollte – aus schierer Hoffnung, aus Vertrauen in die Sammlungskräfte unserer Kinder.

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