Ulf Vierke & Katharina Fink: Radikanten und Radikale Inklusion. Annäherungen an die aktuelle Praxis und die Ökonomie radikaler Inklusion im Iwalewahaus

Abstract: Der Artikel "Radikanten und Radikale Inklusion" entwirft, basierend auf der konkreten Arbeit im Iwalewahaus, Bayreuth, einem Raum für moderne und zeitgenössische Kunst aus Afrika und der Diaspora, eine alternative Art von Ökonomie, die sich aus der inklusiven Museumsarbeit ergibt. Diese 'andere' Ökonomie erstreckt sich auf Zeit und Raum, auf Objekt-Beziehungen und auf die Arbeitsbeziehungen zwischen Menschen. Die kuratorischen Prozesse am Iwalewahaus stehen hierbei im Vordergrund. 

Stichworte: Inklusion; Museumsarbeit; Ökonomie

Inhaltsverzeichnis

  1. Eine junge Beziehung: Museum & Inklusion
  2. Grundlegendes: Sinnliche Erfahrung als Welt-Gestaltung.
  3. Vielsinnige Zugänge als demokratischer Übungsraum
  4. Kein Inklusionsprojekt, sondern eine andere Art von Ökonomie
  5. Inklusion fördert radikal andere Ökonomien
  6. Art should disturb the comfortable & comfort the disturbed
  7. Kuration & Vielfalt
  8. Ästhetische Bande: Gemeinsame Erfahrungen schaffen
  9. Literatur



Cartoon: Amy Hwang. Copyright: Amy Hwang.
Ein im April 2019 in der New York Times erschienener Cartoon[1] von Amy Hwang zeigt zwei Menschen mit schulterlangen Haaren, die auf einer Bank vor einem abstrakten Gemälde sitzen und sich austauschen. Die Zeile unterhalb des Bildes erklärt, worüber: "I like this painting because it has a bench". Der Cartoon spiegelt die Erfahrung vieler Museumsbesucher_innen – Ausstellungen körperlich entspannt betrachten zu können ist die Ausnahme. Was für Menschen ohne Beeinträchtigung mühselig ist, wird für Menschen mit Beeinträchtigungen zum Ausschlussfaktor. Obwohl per definitionem ein der Öffentlichkeit verpflichteter Ort, folgt das Museum einer Ökonomie der Effizienz - es bevorzugt Menschen, die einem normalisierten Bild von Funktionsfähigkeit entsprechen. Die laufen, lesen, sich intellektuell beschäftigen können. Es privilegiert den abled body. Von 'dem Museum' zu sprechen scheint aber angesichts der Diversität und Fülle von unterschiedlichste Museumsformen vermessen. Die Terminologie ist aber hilfreich, um das System des Museums in seiner gängigen Regulation der sinnlichen Erfahrung zu beschreiben und zu benennen. Wir möchten vermessen darüber hinauszugehen und die Vermessung einer radikal anderen Museumsarbeit als vielsinniger Tätigkeit vorzunehmen.

Als Ort für ein "Denken ohne Geländer"[2] über einen inklusive Kunstort "mit Bank" dient das Iwalewahaus, ein in Bayreuth/Deutschland ansässiger Kunstort, der einem Museum gleichkommt, über eine weltweit beachtete Sammlung insbesondere mit Werken der afrikanischen Moderne bestückt verfügt, ein ausgeprägtes Artist in Residence-Programm sowie ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm betreibt. Es ist ein Ort der diskursiven Produktion mit den Techniken des Museums, Teil der Universität Bayreuth und damit eingebunden in spezifische administrative Arbeitsweisen, die denen der künstlerischen und kuratorischen Kreativität zum Teil diametral entgegen stehen[3]. Ausstellungsarbeit stört einen universitären Ablauf per se, im Sinne einer ver-störenden Praxis. Seit 2017 wurde es im Rahmen eines bayernweiten Projektes zu Inklusion in Hochschulen und Kultureinrichtungen möglich, mit einem grundlegenden Budget versehen und in einen Verbund aus Universitäten und Hochschulen für Angewandte Wissenschaften eingebunden, ein Labor für Inklusion in Theorie und Praxis zu entwickeln. In einer Reihe von kuratorischen Versuchsanordnungen loteten die Kolleg_innen gemeinsam mit Gast-Künstler_innen das Feld der vielsinnigen Museumsarbeit aus - von in "Heimarbeit" aus der Sammlung kuratierten Ausstellungen hin zu Kooperation mit renommierten internationalen Kurator_innen mit entsprechend limitiertem Zeitbudget. Im Folgenden erzählt dieser Artikel von den Erfahrungen hin zu einer Redefinition des Ökonomischen an Hand von Inklusion, in Diskurs und Praxis. Die Projektmöglichkeiten unterliegen der Ökonomie des Herkömmlichen an einer Universität - Drittmittel bestimmen das Ausmaß, vor allem aber die Dauer und die Nachhaltigkeit von Eruptionen hin zu Standards.

1 Eine junge Beziehung: Museum & Inklusion

Die UN-Menschenrechtskonvention aus dem Jahr 2009 ist eine stete Erinnerung daran, dass es sich bei der Gestaltung von Zugänglichkeit in Museen und verwandten Institutionen nicht um zusätzliche Angebote handelt, sondern um die Umsetzung eines Menschenrechts auf kulturelle Teilhabe. Darauf zu bestehen ist gute museale Praxis. Als Grundlage für die theoretischen Überlegungen zu Inklusion und Museum soll hier die aktuelle Praxis im Iwalewahaus dargestellt werden. Aus zwei Richtungen kommend möchten wir zu einer abschließend zu einer Ökonomie radikaler Inklusion gelangen, sprich dem Fazit, dass Inklusion, und zwar nicht als nettes Add-On sondern als zentraler Leitgedanke, Sinn macht, sich rechnet und bemerkenswerte Ergebnisse zeitigt. Wo sonst als in einer der Kunst verschriebenen Institution wie dem Iwalewahaus, sollten sich Radikanten einer solchen dual hergeleiteten, also Radikalen Inklusion besser erproben und befördern lassen? Wie die aktuellen Praxen am Iwalewahaus mit Fragen nach Inklusion, nach dem Ästhetischen und der Alter-Moderne und Radikanten zusammenkommen, will ich im Folgenden erläutern.
Bis zum Umzug des Iwalewahaus in das Gebäude in der Wölfelstraße 2, hätte kaum jemand das Iwalewahaus (damals noch Iwalewa-Haus geschrieben) mit dem Thema Inklusion in Verbindung gebracht, auch wir selbst nicht. Das hat sich grundlegend geändert, so dass aktuell die Diskurse rund um das Themenfeld Inklusion in unserer Arbeit von großer Bedeutung sind. In unserer Arbeit gibt es zwei Zugänge, von denen aus wir uns dem Thema Inklusion nähern: Einmal über Forschungsobjekte und akademische Diskurse - hier beginnt dieser Zugang etwa beim Kunstwerk und der Sammlung und schlägt sich nieder in Fragen nach dem Ästhetischen, das wir im Baumgartenschen Sinn über die sinnliche Erfahrung zu fassen und zu verstehen suchen.[4]

2 Grundlegendes: Sinnliche Erfahrung als Welt-Gestaltung.

Wir knüpfen hier mit unserem Projekt an philosophische Überlegungen zur Ästhetik an, wie sie Alexander Gottlieb Baumgarten in seiner Aesthetica (1750/58) paradigmatisch formuliert hat. Baumgarten stellt die rationalistische Überzeugung, dass es kein von der Vernunft unabhängiges Erkenntnispotential gebe in Frage. Er betont vielmehr das sinnliche Wahrnehmungsvermögen des Menschen und misst diesem einen „der Vernunft analogen“ Stellenwert bei. Anders als die rationale Erkenntnis zielt die ästhetische Erkenntnis dabei nicht darauf ab, die Erscheinungen der Welt zu abstrahieren und in eine allgemeine begriffliche Form zu überführen; vielmehr bleibt sie der „materialen“ oder „objektiven“ Merkmalsfülle verhaftet, wie sie sich der sinnlichen Wahrnehmung bietet (vgl. Baumgarten 2009, §§ 440, 558-560). Kunst im Sinne Baumgartens als Form ästhetischer Erkenntnis zu verstehen, bedeutet demnach, danach zu fragen, auf welche Weise sie Welterfahrung zunächst sinnlich, dann aber auch im unendlichen Wechselspiel mit (der strukturell unzureichenden) Sprache ermöglicht (vgl. dazu Vierke 2017).[5] t
Dies allein an Baumgarten festzumachen, reicht aber nicht. Unsere Praxis ist in der Welt vernetzt, und unsere wichtigsten Impulse kommen nicht aus der europäischen Geistesgeschichte, sondern aus einer geerdeten, das heißt machtbewusst im jeweiligen Zusammenhang betrachteten Verbindung unterschiedlichster Diskurse. Ein sehr wichtiger ist dabei jenes philosophische Konzept, das dem rahmengebenden Haus seinen Namen gab: iwalewa. Iwalewa ist ein Konzept aus der Philosophie der Yoruba, das den Fokus von formalen Kriterien von Schönheit zu relationalen verschiebt. Diese dezidiert andere Ansicht auf die ästhetische Grundfrage "Was ist schön?" ist die Handlungsanleitung für Musuemsarbeit am Iwalewahaus, sie beeinflusst Ausstellungen, Vorträge, Rahmenprogramm, Interventionen, Künstler_innen-Residenzen. Der Fokus auf Vielsinnigkeit, der in westeuropäischen und amerikanischen Diskursen zu Inklusion und Diversity oft fehlt, ermöglicht eine Auseinandersetzung mit den den Diskussionen Normativen. Inklusives Handeln ist daher in unserem Ansatz immer divers, immer überraschend, da re-programmierend und immer ein Verweben von Zugängen, die konventionell als 'getrennt' gehandelt werden.

3 Vielsinnige Zugänge als demokratischer Übungsraum

Sebastian Olmas Buch "In Defense of Serendipity"[6] hat ein Kapitel der Universität als "Übungsraum" gewidmet. Hier wird das Dehnen, Strecken, das Ausprobieren und Erproben als grundlegende Züge universitärer Arbeit gesehen. Die Einforderung des "Übungsraumes" gilt auch für das Museum. Mit BayFinK widmeten wir uns dezidiert beiden Bereichen - Institutionen der Bildung durch Forschung und Diskurs sowie der durch Kunst und ästhetische Begegnungen. Ein inklusiver Ansatz, der das gemeinsame, vielsinnige Erleben in den Mittelpunkt stellt, ist ein Weg zum Museum als "radikaldemokratischem" Ort, wie Nora Sternfeld[7] dies formuliert. Tastkopien, Stimmen der Künstler_innen im Audio-Guide, und spielerische Zugänge, die Ausstellung durch Aktivierungen für alle Sinne erlebbar machen, tragen dazu bei, einer hierarchischen "Aufteilung der Sinne" (Rancière) entgegen zu wirken. Dies hat Effekte: Zum einen stellt es normalisiertes Westliches Handeln im Museum – nicht setzen, nichts anfassen, nicht spielen - in Frage. Es bedingt ein Umdenken in
Und es schafft eine Gleichheit von 'museum-abilities', die von Katharina Fink in ihrem Forschungsprojekt als potentielle "ästhetische Solidarität" untersucht und diskutiert wird. Unser Projekt am Iwalewahaus zeigte, dass die engste Verzahnung von Theorie und Praxis, von Denken und Tun unabdingbar ist, möchte man nicht nur temporäre Veränderungen schaffen, sondern diese festhalten, verstetigen, zum Standard machen. All dies klingt so, als hätten wir dies bereits erreicht - dies ist keineswegs der Fall. Wir scheitern regelmäßig, und vergessen, sind unachtsam, nachlässig. Aber die utopische Forderung ist da, als Orientierung und als Aufforderung. Museumsarbeit kann nicht mehr ohne sie gedacht werden.

4 Kein Inklusionsprojekt, sondern eine andere Art von Ökonomie

Unser Ansatz zu Inklusion ergibt sich über die Menschen und die Gemeinschaften, das heißt über das Team und das Erweiterte Netzwerk in unserer alltäglichen Arbeit. Das Iwalewahaus, an dem BayFinK als Labor angesiedelt ist, zeigt sich als vielschichtige Gemeinschaft, zu der das Arbeitsteam, Gastkünstler_innen, Gastwissenschaftler_innen, Besucher_innen, Studierende und andere mehr gehören – und dies sowohl im physischen wie im virtuellen Raum. Wir sind kein dezidiertes Inklusionsprojekt. Wir haben also weder den Auftrag, noch haben wir uns irgendwann explizit das Ziel gesetzt, eben diese Gemeinschaft(en) im weiteren Sinn und das Iwalewahausteam im engeren Sinn, inklusiv zu gestalten. Es gibt also keine explizite Programmatik, es hat sich in der Praxis so ergeben. Und die Frage ist berechtigt, wie sich so etwas ergibt: Verschiedene Förderprogramme für die Beschäftigung von Menschen mit Beeinträchtigungen spielten eine Rolle, ebenso wie eine besondere Sensibilität bei einzelnen Akteur_innen am Haus. Das Resultat erstaunt uns selbst: Fast ein Drittel des Teams sind amtlich anerkannt als schwerbehindert, zusammen mit den chronisch erkrankten Mitarbeiter_innen, sind es sogar die Hälfte. Acht Schwerbehinderte arbeiten im Team, als Vergleichsgröße mag die Zahl der an der gesamten Universität beschäftigten Schwerbehinderten dienen: Da sind gerade mal 86. In der Praxis sind wir also schon längst ein Inklusionsprojekt; und wir leiten aus der bestehenden Praxis zwei Erkenntnisse ab: Erstens gilt es bei einer solchen Inklusionspraxis, die besonderen Bedarfe aller Mitarbeiter_innen auch strukturell zu berücksichtigen. Das lässt sich nicht mehr so einfach nebenher bewerkstelligen, sondern muss durch besondere Maßnahmen aufgefangen werden – wir planen derzeit die Arbeitszeit einer Mitarbeiter_in als Vertrauensperson gezielt für diese Aufgabe aufzustocken. Die zweite Erkenntnis ist die, dass sich durch eine solche „radikal-inklusive“ Teamfiguration auch besondere Qualitäten auf der Seite dessen zeigen, was wir als Arbeitsergebnisse hervorbringen. Wie das genau zu bestimmen ist, das müssen wir noch genauer ergründen, erfassen, erforschen. Der empirische Befund ist für mich aber jetzt schon faszinierend, in dem Sinne, dass es eben nicht nur „nett“ ist, ein solches Team zu haben, sondern das, was es zu schaffen vermag, ist stark, ist bemerkenswert.

5 Inklusion fördert radikal andere Ökonomien

Man kann den Ansatz von Inklusion daher so beschreiben, dass es uns um einen gesamtgesellschaftlichen Bezug geht, der sich unterscheidet von älteren heilpädagogisch 'helfenden' Ansätzen aber auch von anglo-amerikanischen Ansätzen der Disability und Diversity; es geht also nicht nur um Menschen mit Beeinträchtigungen, aber eben auch und in Projekten wie BayFink sogar ganz besonders um diese. Neben diesem ersten Bereich, in dem Inklusion über die Menschen im Team hergeleitet wird, gibt es besagten zweiten Bereich, in dem wir Inklusion in einem ästhetischen Sinn als Teil unserer kunstwissenschaftlichen und kuratorischen Praxis und Theorie herleiten. Versteht man unter Ästhetik die sinnliche Wahrnehmung und teilt man unsere Sicht, das ein besonderes Merkmal des Menschen seine Qualität als ästhetisches Wesen ist, dann erfordert eine Auseinandersetzung eben mit diesem Ästhetischen als sinnlicher Wahrnehmung ein besonders aufmerksames Verstehen und kuratorisches Rahmen des sinnlichen Zugangs zu materieller Kultur und ganz besonders zu Objekten der Kunst. Aktuell befassen wir uns mit Begeisterung damit, das Interface (die Verbindung/Schnittstelle) zwischen (Kunst-)Werk und Mensch kuratorisch zu erproben, zu erweitern, zu verstehen und letztlich kunstwissenschaftlich, also auch theoriebezogen zu fassen. Dabei ergeben sich z.B. vielfältige Fragen der Übersetzung: etwa ganz konkret der Übersetzung von Ausstellungstexten in leichte und in einfache Sprache oder in Gebärdensprache. Oder es geht um Fragen der Vermittlung von Bildinhalten über Sprache oder über den Tastsinn.

Inklusion findet sich also als teamgestaltende Praxis und damit als Gesellschaft in Mikroerprobung im Iwalewahaus und Inklusion findet sich als ästhetisch/kuratorisches Arbeitsfeld. Beide zusammen können dann vielleicht etwas unbescheiden als Radikal Inklusiver Ansatz des Iwalewahaus beschrieben werden.

6 Art should disturb the comfortable & comfort the disturbed

Aus der Herleitung über den sozialtheoretischen und über den ästhetischen Erfahrungstheoretischen Zugang ergibt sich eine Situation der Resonanz oder auch der Potenzierung, den wir zunächst durch das Adjektiv des „radikalen“ fassen wollen. Radikal in dem Sinne, dass wir aus unserer Praxis heraus auch Fragen nach den Ursprüngen und Verwurzelungen eben dieser Praxen stellen. „Radikal“ also hier in beiderlei Wortsinn, als vom Grund aus erfolgend, und (mit der Milde einer kleinen Institution in der Provinz) durchaus auch als rücksichtslos in Frage stellen. Wir möchten dies mit einem utopischen Anspruch tun, also einem solchen, der es wagt, Gesellschaft neu und als eine bessere zu denken. Ohne jetzt bereits benennen zu können, wie diese tatsächlich sein wird, so glauben wir doch kleinere Elemente ihrer Gestalt nach bestimmen zu können. An ihnen wollen wir weiter arbeiten und als Radikanten im Bourriaudschen Sinne aus der gegenwärtigen Praxis in die Zukunft einer Radikal Inklusiven Gesellschaft wurzeln zu lassen.
Bourriaud entlehnt seinen Begriff des Radikant der Biologie. Das allgemein bekannteste Beispiel für einen Radikanten ist hier das Efeu. Wo immer es sich niederlässt, schlägt es neue Wurzeln und, und seine Identität als Pflanzensubjekt gerät nicht gleich außer Lot, wenn es seine alten Wurzeln verliert. Bourriaud fordert eine neue Lektüre der Moderne und propagiert eine von allen Identitätszwängen befreite Kultur der Differenz. Diese „Altermoderne“ wie Bourriaud es nennt, sieht er vor allem im Feld der Kunst verwirklicht, und das ist der Punkt, warum wir seine Theorie zum Lesen unserer Praxis am Iwalewahaus heranziehen. Wo sonst geht es so zentral um die Frage der Übersetzung und der Produktion heterogener Visionen von Gesellschaft wie hier?[8]
Unser Ansatz geht daher auch nicht vom einzelnen Menschen, seinen Defiziten und deren Überwindung aus, sondern exakt anders herum: Wir zielen auf eine andere, eine inklusivere Gesellschaft. Wir wollen nicht in dem Sinne bei den Menschen ansetzen, dass es gilt diese zu „heilen“, zu „bessern“, zu „ertüchtigen“ oder sonst wie umzugestalten. Dem Cultural Turn in den Disability Studies folgend sehen wir Behinderung nicht als Eigenschaft eines Individuums, das geheilt werden muss oder dem zu helfen ist, sondern wir sehen Behinderung als soziales Phänomen – der Slogan wäre hier „Niemand ist behindert, Menschen werden behindert“. Selbstredend setzten auch wir in den Praxen unseres Handelns bei den Menschen an, bei den Betroffenen, mit denen wir zusammenarbeiten, und zu denen wir oft genug auch selbst zählen. Diese Individuen sind Teil des Teams oder seine Partner; sie arbeiten mit, sie denken mit, sie sind Wir, und wir schaffen uns unsere Bedingungen zum Arbeiten, denken, leben, und dass nennen wir „inklusiv“. Im Nachdenken über diese Praxen aber geht es uns um die Umsetzung in oder die Erzeugung von Radikanten des Inklusionshandelns.

7 Kuration & Vielfalt

Die Praxis im Haus ist deshalb heute eine andere als vor zehn, zwanzig Jahren, weil das Team ein anderes ist, während doch das diskursorientierte Element auch bereits unter der Leitung von Ulli Beier mit der Metapher des Radikanten gut zu fassen ist. Das Team ist ganz erheblich gewachsen im neuen Haus. Als Ulf Vierte 2009 Leiter des Hauses wurde, waren drei oder vier Personen im Team (inklusive der studentischen Hilfskraft), heute zählen stark oszillierend, zwanzig und manchmal auch knapp dreißig Personen mit Behinderung, denen es „der Kunst gilt“. Darunter fünf, sechs, sieben amtlich zertifizierte Schwerbehinderte und sieben, acht und mehr chronisch Kranke. Gleichwohl – das Iwalewahaus ist kein Inklusionsprojekt im sozial- und heilpädagogischen Sinne. Gleichwohl müssen wir klären, wie wir praktisch mit Inklusion im Alltag umgehen und auch wie wir dies programmatisch fassen können. Theoriebezogen gewendet ließe sich hier fragen, inwieweit sich die Metapher des Radikanten auch auf die menschlichen Akteure selbst beziehen lässt.
Die zweite Herleitung von Radikaler Inklusion am Iwalewahaus ergibt sich über die kuratorische Arbeit. Das Iwalewahaus ist ein Raum, in dem die Kunst im Mittelpunkt steht. Hier wird Kunstwissenschaft unterrichtet, hier wird zur Kunst geforscht und es wird Kunst gesammelt, zugänglich gemacht und vermittelt. Das Fach, das hier gelehrt wird, heißt Kunstwissenschaft mit Afrikabezug, es geht also um Kunst in Afrika. Aus Afrika stammen auch 90% unserer Sammlungsobjekte, zumeist Malerei und Grafik, die kunstgeschichtlich in der Moderne der 1950er bis in die späten 1980er Jahre zu verorten ist. Seit Ende der 1990er Jahre fokussieren wir uns auf Afrika, zuvor war dies auch Schwerpunkt, der Anspruch des Gründungsdirektors Ulli Beier ging aber darüber hinaus, er sah die Outsider Art als Arbeitsschwerpunkt. Am Anfang seiner kuratorischen Arbeit steht die Ausstellung „Glücklose Köpfe“ mit Grafiken aus einer kolonialen "Irrenanstalt" in Nigeria.

Führen wir uns die Diskurse der Kunstwelt der 1950er und 1960er Jahre mit Bewegungen wie der Art Brut und den der ethnographischen Kunst vor Augen, dann ist es durchaus naheliegend, das Besondere der Kunst, dort zu suchen, wo besondere künstlerische Begabungen bei besonderen Menschen am Rande der Gesellschaft zu finden sind. Ulli Beiers Ansatz ist insofern ein zutiefst den Modernen unterschiedlichster Prägung verbundener. Seine Arbeit ist zunächst der Kunst im Sinne der westlichen Moderne verpflichtet. Seine besondere Leistung ist es, zu zeigen, dass eben dieses Projekt der Moderne mindestens im Feld des Ästhetischen schon längst ganz wesentliche Impulse, und vielleicht hätte er in den 1960er Jahren sogar DIE wesentlichen Impulse gesagt, dass es eben diese Impulse außerhalb des Westens (globalen Nordens) erfährt – Ulli Beier sprach von „Kunst der Dritten Welt“ oder eben von Outsider Art. Das Iwalewahaus kann in dieser Sicht vielleicht sogar schon in seinen frühen Jahren als Praxis einer Altermoderne beschrieben werden. Seine Radikanten jedenfalls sind mannigfach.

Seit seiner Gründung Anfang der 1980er Jahre hat das Iwalewahaus vielfältige Ausprägungen seiner Arbeit durchschritten. Bemerkenswert erscheint mir hier in Bezug auf das Thema der Radikalen Inklusion, dass eben diese Radikalität im Iwalewahaus der frühen Jahre zu finden ist. Elli und Georgina Beier schufen 1981 ein prototypisches „Museum as Contact Zone“ in der bayerischen Provinz und dies zwei Jahrzehnte bevor der gleiche Gedanke von James Clifford in seinem gleichnamigen Essay formuliert wurde.[9] Die Gründer_innen aber gelangten über die Künstler_innen und ein auratisches Werkverständnis dahin. Schien dieses Werkverständnis um die Millenniumswende überholt, so finden wir in der Gegenwart erstaunliche Anknüpfungen im Werkverständnis oder besser vielleicht in der besonderen Wertschätzung der ästhetischen Potenziale unsere Sammlungsobjekte. Auch wenn wir uns heute diesem besonderen Potenzial des Ästhetischen von der Rezeptionsseite nähern, so ist gleichwohl statthaft hier auch Beiersche Radikanten zu vermuten.

Wenden wir uns also erneut dem Radikanten des werkorientierten kuratorischen Arbeitens zu. Es ist vielleicht sogar das entscheidende Charakteristikum unserer gegenwärtigen Arbeit. Es ist eine Perspektive und die jeweilige Ausprägung in unserer Arbeit mag variieren. Vieles ist vom Glauben an das Auratische der Kunst geprägt. Gewiss, dies gilt es als „Glauben“ einzuordnen, auf den niemand verpflichtet werden soll – es ist kein Imperativ aber eine Sicht- und Herangehensweise, die uns am Iwalewahaus verbindet. Denn anders herum wollen wir durchaus der Maxime folgen, dass wir kuratorisch unserer Sammlung verbunden sind, in dem Sinne, dass wir respektvoll, pflegend und vielleicht sogar heilend mit ihr umgehen – das ist dann gegenwärtig schon ein Imperativ. Die Kunst unserer Sammlung zu sehen, zu begreifen, zu respektieren, zu verstehen, das ist zunächst durch das kuratierenden Team zu leisten. Erst, wenn uns dies gelingt, dann können wir den nächsten Schritt hin zur Vermittlung machen. Vermittlung inklusiv zu gestalten heißt, aus einem vertieften Verständnis von Werk und Diskurs ein vielfältiges Angebot an Zugängen zu schaffen. Dabei zielen wir nicht darauf, dass jeder der vielfältigen Zugänge alles in der Breite erschließt, sondern vielmehr Ausgewähltes in möglichst großer Tiefe. Versuchen wir also z.B. in einer Ausstellung ein Thema in seiner ganzen Breite zu fassen, so setzten wir spezifische Angebote wie etwa die Erschließung von Kunstwerken über Tastkopien, Gebärdenvideos, Audioguides etc. nur punktuell ein. Das reflektiert weniger einen ökonomischen Umgang mit den Ressourcen zum Erstellen der Ausstellung als vielmehr einen ökonomischen Umgang mit den Ressourcen der Nutzer (an Zeit, an Aufmerksamkeit etc.). Werkzentriert bedeutet also, die Auseinandersetzung mit den ästhetischen Potenzialen des Werkes, radikal hier im Sinne des grundlegenden Herangehens, radikal aber auch in der Auffächerung auf ein Maximum an sinnlich Erfahrbarem – dem Geschmack, dem Fühlen, dem Lauschen, dem Erschütterndem im Ästhetischen Raum geben – auch hier sicher von zahlreichen Radikanten unserer Geschichte durchdrungen.

8 Ästhetische Bande: Gemeinsame Erfahrungen schaffen

Radikale Inklusion bildet sich also als Summe einer teamgestaltenden Praxis und einer Demokratisierung des Ausstellungserlebnisses; damit als Gesellschaft in Mikroerprobung im Iwalewahaus und als kuratorische Praxen des Ästhetischen. Beide zusammen können dann vielleicht ganz und gar unbescheiden als Radikal Inklusiver Ansatz des Iwalewahaus beschrieben werden. All dies ist Arbeit, die mit der Ferne und der Nähe dieser angewandten Utopie spielt. Institutionen als Teil von Gesellschaft brauchen diese Verbindung von großen Forderungen und Träumen und simplen, aber in ihrer Einfachheit so radikal verändernden Handlungen. Wie diese, einfach ein paar Bänke als Radikalen einer inklusiven Gesellschaft aufzustellen.

9 Literatur

Hannah Arendt (2018): Die Freiheit, frei zu sein. München.
Baumgarten, A.G.; D. Mirbach (2009) Ästhetik. Hamburg: Meiner (Philosophische Bibliothek, 572a/b).
Bourriaud, Nicolas (2009): Radikant. Merve Verlag, Berlin.
Clifford, James (1997): Routes: travel and translation in the late twentieth century, Harvard University Press, Cambridge.
Olma, Sebastian (2017): In Defense of Serendipity. For a Radical Politics of Innovation. Repeater Books, London.
Sternfeld, Nora: (2018): Das radikaldemokratische Museum. De Gruyter.
Vierke, Clarissa (2017): Poetic Links across the Ocean: On Poetic ‘Translation’ as Mimetic Practice at the Swahili Coast. In: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East vol. 37 (2017) issue 2. - pp. 321-335


[1] Amy Hwang, It Has A Bench, New York Times, April 2019.

[2]Hannah Arendt (2018): Die Freiheit, frei zu sein. München.

[3]  Zu nennen sind hier beispielsweise die mangelnden Zahlungsmodalitäten für Freiberufler_innen aus dem Bereich der bildenden Kunst.

[4] Baumgarten, (2009).

[5] Vierke (2017)

[6] Sebastian Olma (2017).

[7] Nora Sternfeld (2018).

[8] Nicolas Bourriaud (2009): Radikant. Merve Verlag, Berlin.

[9] “When museums are seen as contact zones, their organizing structure as a collection becomes an ongoing historical, political, moral relationship––a power-charged set of exchanges, of push and pull.” (Clifford 1997, 192-3).