Abstract: Beobachtungen bezüglich der Bedeutsamkeit des Normbegriffes im Kontext von Inklusion werfen die Frage nach den Normen und Normierungen auf, die die so genannte "Inklusionsforschung" ihrerseits (re)produziert und richten sich damit auch auf das Selbstverständnis von Forschung.
Stichworte: Inklusionsforschung, Inklusionsverständnis, Kritik, Norm
Norm ist ein gewaltiger Begriff. Das wird deutlich in seinen unzählbaren Fortsetzungen, Varianten, Spiel- und Lesarten, so z.B. Normalitätsstrategien, Normalisierungskonzepte. Das wird auch deutlich in der machtvollen Wirkung der mit Norm benannten Begriffe, wenn sie sich einmal etabliert haben, wie z.B. Entwicklungsnorm oder Normalverhalten.
Vier Beobachtungen sollen im Folgenden ein Bild der Verwendung des Normbegriffes im Kontext von inklusiver Pädagogik und „Inklusionsforschung“ zeichnen. Ausgangspunkt dafür sind zwei einschlägige Tagungen im Jahr 2018, Beobachtungsstandpunkt ist eine dritte Tagung, auf der die hier verschriftlichten Beiträge präsentiert wurden. Der Beitrag – auf der Tagung ein Impulsreferat – wirft daran anknüpfend Fragen an die Scientific Community der „Inklusionsforschung“ auf.
Im Programm zum DGfE-Kongress 2018 „Bewegungen“ befinden sich unter 275 Beiträgen 29 Beiträge zum Thema Inklusion. Zum Vergleich: Das Programmheft des Kongresses 2014 „Traditionen und Zukünfte“ zeigt mit nur neun Beiträgen, die im Titel auf „Inklusion“ hinweisen, dass vier Jahre zuvor das Interesse an diesem Begriff in der deutschsprachigen Forscher*innen-Gemeinschaft noch erheblich geringer war. Aus den 275 Beiträgen führen 16 den Begriff Norm (in unterschiedlichster Verwendung und Kombination) im Titel.
Ein weiterer Vergleich: In knapp über 100 Beiträgen zur 31. Tagung der Inklusionsforscher*innen im deutschsprachigen Raum im Februar 2018 (Gießen) – alle zum Thema Inklusion – taucht 24 Mal der Begriff Norm auf.
Wenn die häufige Verwendung des Normbegriffes für seine Bedeutung im Kontext erziehungswissenschaftlicher Forschung steht, so deutet seine noch höhere Repräsentanz im Kontext inklusionspädagogischer Forschung auf eine spezifische Bedeutsamkeit für diese hin – und damit auch für die Tagung, die Ausgangspunkt der hier versammelten Beiträge war.
In der Verbindung von Inklusiver Bildung und Norm geht es zunächst häufig um Fragen von Normalität, deren Begrenzungen und Flexibilisierungen, z.B. im Blick auf Normalismusstrategien nach Link (1997). Als selbstverständliches „Geschäft“ inklusiver Pädagogik kann dabei gelten, dass Entwicklungsnormen und Normalitätserwartungen z.B. für die kindliche Entwicklung an Kinder infrage gestellt werden. Es geht dann z.B. um die Anerkennung von Individualität und Diversität, die nicht als Abweichung markiert wird, sondern innerhalb eines Spektrums von Normalität ihre Berechtigung hat. Dabei besteht keine Einigkeit dahingehend, ob es um die Anerkennung variabler Normalitäten geht oder um (kontrafaktische) Anerkennung von Besonderheiten als Normalität. Dies war in der langen Beschäftigung und Erfahrung mit Separierung auf der Seite der „Ausgesonderten“ und mit dem Ringen um Anerkennung von Behinderung innerhalb eines Normalitätsspektrums, das damit als breiteres beansprucht wird, ein Anliegen der Inklusionsforschung auch vor 2009 (Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention als Beginn einer breiten Reputation des Inklusionsbegriffes). Ein Beispiel mag illustrieren, wie grundlegend Normierungen Differenzwahrnehmungen bestimmen:
Obwohl unstrittig ist, dass „die meisten Menschen mit Autismus […] genetisch ziemlich einmalig“ sind und „bei hundert Kindern mit Autismus […] hundert verschiedene Ursachen vorliegen“ können (Silberman 2016: 25), ist die Diagnose „Autismus-Spektrum-Störung“ üblich und ihre Vergabe steigend. Marina Melles (2018) fragt in ihrer Arbeit unter dem Titel „Diagnose ‚Autismus‘ – Plädoyer für eine ‚Aufgabe‘“ nach der Sinnhaftigkeit dieser Diagnose, wenn „even at the dawn of the twenty-first century, we do not know what autism is“ (Nadesan 2005: 9). Die Arbeit zeigt, dass „trotz diverser Unstimmigkeiten“ (Behrens 2018: 5) beharrlich an der Idee von Autismus festgehalten wird und deckt die vermeintliche Entwicklungsstörung auf als „ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich die Resonanzen auf Menschen, die nicht den Erwartungen entsprechen, zu Deutungsmustern verdichten, die dann als angeblich sicheres Wissen fortbestehen und durch gesellschaftliche Institutionen und entsprechende Praktiken tradiert werden“ (a.a.O.: 30). Sie schlussfolgert, „inklusiv wäre es erst, statt von einem ‚autistische[n] Spektrum [als] Teil der menschlichen Vielfalt‘ (Schmitt 2016: o.S.) von einem […] ‚Spektrum Mensch‘ zu sprechen, wo das individuelle Sosein eines/einer Jeden vorbehaltlos akzeptiert und ein Bedeuten zugelassen wird, das nicht vorgegeben ist“ (Behrens 2018: 30). Hier geht es um einen Vorschlag für die Erweiterung von Normalität, die im Sinne des Menschenbildes einer inklusiven Pädagogik sein müsste – und die dennoch die Widersprüche, die mit Anerkennung verbunden sind, nicht aufzulösen vermag.
Die Denkfigur, die hier entwickelt und sowohl anhand von (auto-)biografischen Texten als auch von Fachliteratur (sofern man an dieser Stelle der Unterscheidung folgen möchte) belegt und kontrastiert wird, gründet auf einem Verständnis von (inklusiver) Pädagogik, das die „unendliche Eigenkomplexität, Eigenart, Nicht-Feststellbarkeit und Intransparenz“ (Krönig 2017: 60) des Menschen anerkennt und das „Aushalten von Ungewissheit“ als eine Bedingung versteht, die Pädagogik sich zumuten muss (vgl. Platte/Amirpur 2017). Und sie baut auf der grundlegenden Norm auf, die Gemeinsamkeit und Verbindendes anstatt Differenz und Trennendes sucht: „sie denkt aus mir soll ewig deutlich ein autist sprechen ich aber will ein mensch sein“ (Sellin 1995: 201).
Ich werde darüber hinaus den Begriff „Norm“ als Forschungsgegenstand vernachlässigen gegenüber den Beobachtungen bezüglich Normen und Normierungen innerhalb der Inklusionsforschung, denn hier ist zu beobachten, dass sich der Begriff der Norm „vervieldeutigt“ hat, was ich als Normerweiterung oder als Normverschiebung bezeichnen möchte.
Die zunehmende Relevanz und Beachtung von Inklusion kann als eine Folge von Normverschiebungen gedeutet werden: Während das Paradigma von Selektion und Leistungshomogenität durch ein Integrationsparadigma und durch Konzepte von Heterogenität und Diversität infrage gestellt wird, wird an anderer Stelle das Integrationsparadigma durch das Inklusionsparadigma kontrastiert – eine Normverschiebung. Verschiebungen der Norm sind aber auch da zu beobachten, wo pädagogische Settings und Projekte inflationär als „inklusive“ bezeichnet werden: War der Auslöser für die „Inklusionspädagogik und -forschung“ die Kritik am selektiven Bildungssystem und verstand sie sich als kritisch-normativ, indem sie Alternativen zu diesem suchte, so haben Übernahmen und Vereinnahmungen des Inklusionsbegriffs in bestehende (exklusive) Strukturen zu einer affirmativ-normativen Interpretation geführt, also geradezu ins Gegenteil. Das kann als Normverschiebung in Richtung affirmativ-ergänzender Deutung des Inklusionsbegriffes in Anpassung an bestehende Strukturen beschrieben werden – und führt zur vierten Beobachtung:
Begriffsvarianten, wie sie oben für den Normbegriff gezeigt wurden, begleiten zunehmend auch den Inklusionsbegriff: Inklusionsdebatte, Inklusionslüge, Inklusionsfalle, Inklusionsverlierer, Inklusionsideologie, Inklusionsklage, „Inklusion tut weh“, Inklusionismus und Inklusionskind. Hier werden unter dem Begriff der Inklusion einander widersprechende Positionen subsummiert, denen unterschiedliche Normen zugrunde liegen, die zu interpretieren wiederum interessant wäre, denn verschiedene Deutungsweisen von Inklusion und auch (will man es konkreter fassen) von inklusiver Bildung sind mit verschiedenen „Normen“ verbunden:
Versteht man (wie Otto Speck 2018) Inklusionspädagogik als neu benannte Fortsetzung von Sonder- und Behindertenpädagogik und Förderschulen als Bestandteil inklusiver Strukturen, so steckt dahinter eine andere „Norm“ als in der Vision einer „Schule für alle“ mit Auflösung der Förderschulen, vertreten z.B. durch das Deutsche Institut für Menschenrechte (vgl. Kroworsch 2019).
Versteht man Förderung, z.B. in Form von RTI (Response To Intervention), Sprachstandserhebungen und der Ausweitung von Diagnostik, als Strategie der Pädagogik, so schließt man sich einer anderen „Norm“ an, als wenn man in inklusiver Herangehensweise „Normalisierungsstrategien“ und Förderlogiken hinterfragt oder gar verweigert. Versteht man inklusive Bildung als Gegenkonzept zum mehrgliedrigen und allokativen Schulsystem, so gilt schulische Inklusion von z.B. Kindern mit Trisomie 21 am Gymnasium lediglich als Platzierungswechsel. Diese Beobachtungen zeigen, dass der Inklusionsbegriff verschwommen ist; somit verschwimmen auch die ihn umgebenden Normen, Normierungen und Begriffsverwendungen. Das Zusammenspiel dieser Entwicklungen im Spiegel zunehmender Popularität, andernorts als Ankunft im „Mainstream“ benannt (Dannenbeck/Platte 2016), erscheint als regelrechter Gegenspieler von Bildung, die sich als inklusive gestalten will und verändert die normativen Bezüge ebenso wie den Kern und die Essenz „inklusiver Bildung“.
Diesen Beobachtungen schließen sich Fragen an. Unter den äußerst verschiedenen Narrativen von „Inklusion“ können zwei übergreifende benannt werden, weil sie die Inklusionsforschung im Besonderen berühren: Auf der einen Seite das bildungspolitische Verständnis von Inklusion und „inklusiver Beschulung“, welches bestrebt ist, zeitnah die UN-BRK „umzusetzen“, und zunehmend in die Kritik gerät. Auf der anderen Seite ein erziehungswissenschaftlich fundiertes Verständnis von Inklusionspädagogik und inklusiver Bildung, das demokratische, solidarische und diskriminierungsfreie Alternativen zum Bildungssystem sucht. Auf beiden Seiten stehen wesentlich voneinander verschiedene, wenn nicht einander widersprechende Werte und damit auch Normen. Somit lässt sich fragen:
Ebenso wie der inklusiven Pädagogik und Bildung schlage ich der „Inklusionsforschung“ abschließend Wachsamkeit und Reflexionsoffenheit gegenüber Normen und Normierungen vor, um Setzungen, Verschiebungen und Erweiterungen kritisch wahrzunehmen, um Normen immer wieder aktuell zu vergegenwärtigen und (auch und vor allem situativ) auszuhandeln, sowie genügend Renitenz, um diese nicht fremd bestimmen oder im doppelten Sinne des Wortes verwenden zu lassen, sondern sie erziehungswissenschaftlich und pädagogisch zu vertreten.
Dannenbeck, Clemens/Platte, Andrea (2016): Inklusion im Spannungsfeld von Vision und Mainstream – ein Gespräch zwischen Wissenschaftler*innen. In: Hinz, Andreas/ Kinne, Tanja/ Kruschel, Robert/ Winter, Stephanie. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 64-69.
Krönig, Franz Kasper (2017): Inklusion, Prävention und Diagnostik. Ein Rekonstruktionsversuch verdeckter Widersprüche. In: Amirpur, Donja/Platte, Andrea (Hrsg.): Handbuch Inklusive Kindheiten. Opladen, Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 51-63.
Kroworsch, Susanne (2019): Menschen mit Behinderungen in Nordrhein-Westfalen. Zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in den Bereichen Wohnen, Mobilität, Bildung und Arbeit. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte.
Link, Jürgen (1997): Wie Normalität produziert wird. Versuch über den Normalismus. Opladen: Verlag Barbara Budrich.
Melles Marina (2018): Diagnose „Autismus“ – Plädoyer für eine ‚Aufgabe‘. TH Köln: Unveröffentlichte BA-Thesis.
Nadesan, Majia Holmer (2005): Constructing Autism. Unravelling the ‘truth’ and understanding the social. London, New York: Routledge.
Platte, Andrea/Amirpur, Donja (2017): Inklusive Kindheiten als pädagogische Orientierung. In: Amirpur, Donja/Platte, Andrea (Hrsg.): Handbuch Inklusive Kindheiten. Opladen, Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 9-37.
Schmitt, Stefan (2016): „Geniale Störung“. Wir alle sind so anders. In: Die Zeit, 01.12.2016. http://www.zeit.de/2016/43/geniale-stoerung-steve-silberman-autismus [Zugriff: 11.03.2018].
Sellin, Birger (1995): ich deserteur einer artigen autistenrasse. neue botschaften an das volk der oberwelt. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Silberman, Steve (2016): Geniale Störung. Die geheime Geschichte des Autismus und warum wir Menschen brauchen, die anders denken. Köln: DuMont.
Speck, Otto (2018): Das inklusive Schulsystem – ein „Twin-Track“ (UN). In: Zeitschrift für Heilpädagogik 69, S. 167-174.