Abstract: Die Normativität sonderpädagogischer Einsätze ist ein alter Streitpunkt zwischen verschiedenen Zugängen, wobei "normativ" zu sein gewöhnlich der kritische Vorwurf an andere Positionen ist. Der Beitrag zeigt, inwiefern alle Positionen über einen je spezifischen Typus von Normativität verfügen und inwiefern im Rahmen der Inklusionsdebatte die dekonstruktive Normativität der sozialwissenschaftlichen Position mit der Normativität der Behindertenrechtskonvention eine Allianz eingeht. Normativität ist aber nicht von Wissenschaftler*innen voluntaristisch gesetzt, sie ist eine unvermeidliche Dimension jeder gesellschaftlichen Position. Im Anschluss an gouvernementalitätsanalytische und systemtheoretische Figuren wird gezeigt, inwiefern die Problematik der Normativität der neueren Inklusionsdebatte als eine auf individuelle Verantwortung und Leistung zielende, erst angemessen sichtbar wird, wenn sie im Kontext der Transformationen anderer Bereiche des Bildungssystems betrachtet wird.
Stichworte: Normativität, Normalisierung, Behindertenrechtskonvention, Gouvernementalität, Systemtheorie
Inhaltsverzeichnis
Betrachtet man das Verständnis von Normen und Normativität im Streit um Inklusion, dann lassen sich zwei Verständnisse von Behinderung unterscheiden, die bisweilen idealtypisch vertreten, aber auch relational miteinander verbunden werden: Man kann sie als das essentialistische und das sozialwissenschaftliche Behinderungsverständnis bezeichnen.
Das essentialistische – gewissermaßen klassische – Behinderungsverständnis bezieht sich auf bestimmte Eigenschaften, die allen Menschen zukommen, geistige oder körperliche Merkmale, die zentrale Fähigkeiten des Menschen betreffen. Die Ausprägungen dieser Fähigkeiten werden als individuelle Unterschiede zwischen Menschen und dabei als von medizinisch-biologischer Natur verstanden. Sie werden als etwas Gegebenes, dem Menschen von Natur aus Anhaftendes betrachtet (Lindmeier 2013). Insofern diese Eigenschaften zugleich allgemein und unterschiedlich ausgeprägt sind, sind sie messbar, und durch die Praktiken der Messung werden die Individuen bezüglich der Eigenschaften klassifizierbar und einordbar gemacht. Die Menschen verteilen sich in Bezug auf die jeweilige Eigenschaft und zugleich werden Grenzen benennbar, die in Bezug auf diese Eigenschaft das Normale vom Anormalen unterscheiden und damit auch Menschen der einen oder anderen Gruppe zuordnen. Bei manchen Fähigkeiten gibt es fließende Übergänge, andere sind so typisiert, dass die „Behinderung“ als in sich geschlossenes Phänomen erscheint. Dies ist der erste hiermit verbundene Typus der Normativität: Die Hervorbringung einer Differenzierung von Menschen hinsichtlich eines Normalitätsfeldes. Nun geht diese Perspektive in der Pädagogik meist mit einem zweiten Typus von Normativität einher, der einem humanistischen Impetus folgt. Die behinderten Menschen werden als hilfsbedürftige Menschen begriffen, die Anrecht auf besondere Unterstützung haben. Dieses Recht wird legitimatorisch auch vom allgemeinen Recht aller Menschen abgeleitet, denn wenn alle Menschen dieselben Rechte haben, brauchen die Beeinträchtigten zur Erlangung einer Äquivalenz der Rechte besondere Unterstützung und Behandlung. Diese Position ist allerdings notwendig mit einer tendenziellen Aberkennung von Autonomie verbunden, denn die Hilfe impliziert die tendenzielle Übergabe von Verantwortung an die Helfenden. Bestimmte allgemeine Rechte sind also eingeschränkt, während durch die Kompensation dieser Einschränkung andere Rechte erlangt werden. Vielfach wurde kritisch eingewendet, dass das Argument einer Kompensation der Rechte nur vorgeschoben sei und, dass damit das asymmetrische Verhältnis von Helfer und Klient stabilisiert werde. Jedenfalls haben wir es mit einem bestimmten Typus von Normativität zu tun, mit einer ethisch-pädagogischen Haltung: Pädagog*innen sollen ihrem Klientel helfen, dort wo diese sich nicht selbst zu helfen vermögen. Dies ist ein ganz anderer Typus von Normativität als der der Messung anhand von Eigenschaftsausprägungen, aber er tritt mit diesem in eine Beziehung. Gewissermaßen wird die objektivierende – und damit dehumanisierende – Kategorisierung mit der ethischen Norm und Haltung einer humanistischen Hilfe moralisch wieder kompensiert.
Die zweite Perspektive, die gegenwärtig eingenommen wird, ist eine sozialwissenschaftliche. In ihr wird Behinderung nicht als medizinisch-biologisch gegeben betrachtet, sondern als sozial hervorgebracht. Dabei lassen sich ethnomethodologische, poststrukturalistische oder konstruktivistische Varianten unterscheiden, gemeinsam ist diesen, dass Behinderung als im Sozialen entstehend gilt, als in einem Akt der Abgrenzung und Ausgrenzung, der mit entsprechenden Selbst- und Fremdbildern einhergeht, hervorgebracht. In gewisser Hinsicht ist diese Perspektive auf die andere bezogen, sie ist negativ-reflexiv. Die von der essentialistischen Perspektive postulierte naturalistische/selbstverständliche Geltung von Normen wird hier selbst zum Gegenstand. Untersucht wird, wie Normen konstruiert werden und zwar in einer gesellschaftlichen Praxis, die die andere Position etabliert. Die sozialwissenschaftliche Position ist insofern kritisch gegen die essentialistische gerichtet, sie dekonstruiert deren selbstverständlich geltende Normativität.
Die sozialwissenschaftliche Position versteht ihre eigene Wissenschaftlichkeit oft so, dass sie im Unterschied zu der essentialistischen Position den Anspruch auf eine neutrale Beobachterposition erhebt, sie beobachtet Hervorbringung und Vollzug von Normativität und macht diese reflexiv. Aber damit dekonstruiert sie Normen als naturalisierte gesellschaftliche Verhältnisse und dies ist selbst eine ethische Praxis, denn indem sie die Kontingenz von Verhältnissen aufzeigt, postuliert sie, dass diese auch anders sein könnten. Die implizite Normativität dieser Form sozialwissenschaftlicher Forschung besteht darin, dass sie Reflexivität als intellektuelle Durcharbeitung der Verhältnisse als ethisch geboten setzt. Die normative Haltung der Dekonstruktion steht ein für das Differente, das Ausgeschlossene, das Marginalisierte und verhilft ihm durch Artikulation zu seinem Recht. Dass das Ausgeschlossene sein Recht haben soll, ist eine klare ethische Positionierung, aber sie lässt sich nur schwer in ein Gegenprogramm ausbuchstabieren, es handelt sich eher um eine negative, d.h. Bestimmungen qua Reflexion auflösende Kritik. Der Typus dieser Reflexion ähnelt nun solchen, die auch auf andere Differenzen menschlicher Bestimmtheit angewendet werden und auch die beobachteten Prozesse der Produktion von Differenz, Heterogenität und Ausschluss ähneln sich. Kein Wunder, dass diese Thematisierung der ‚disability‘ von einem Wissenschaftszweig mit dem Beinamen ‚studies‘ bearbeitet wird und dass sie prinzipiell als eine der sich kreuzenden Differenzen der Intersektionalität erscheinen kann (Tervooren/Pfaff 2018; Budde 2018).
Nun lässt sich eine gewisse Allianz der sozialwissenschaftlichen Position mit einer anderen Position beobachten, die mit der UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 eingenommen worden ist (Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung 2006; vgl. Bielefeldt 2009). Diese bringt eine andere Interpretation des Verhältnisses von Allgemeinen Menschenrechten und den besonderen Rechten Behinderter mit sich. Die Konvention ist ein erstaunliches Papier, das in der Weise seiner ethischen Positionierung rsp. seiner ethischen Umcodierung dieses Verhältnisses ebenso wie durch seine spezifische Form innerhalb des Genres von Regierungspapieren und Konventionen besonders ist. Es hält durchaus daran fest, dass „Behinderte“ „behindert“ sind, allerdings wird diese Behinderung als Resultat eines Zusammenspiels von individuellen „Beeinträchtigungen“ und „Barrieren“ verstanden, die der gesellschaftlichen Teilhabe im Wege stehen (Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung 2006: 9). Weil Behinderung eben nicht an sich, sondern nur in diesem Verhältnis vorkommt, ist jede als „Hilfe“ installierte besondere Behandlungsform womöglich zugleich als eine solche Barriere zu betrachten, sie bringt die „Behinderung“ mit hervor. Die vollständige Teilhabe an Gesellschaft wird als neue Norm gesetzt, sie durchkreuzt die bisherigen Legitimationsformen von pädagogischer Hilfe, weil sie die Richtung des Verhältnisses umkehrt. Jede Hilfe muss eine sein, deren Ziel die Auflösung ihrer selbst ist. Zweck jeder pädagogischen Sonderbehandlung muss die Autonomie und nicht die temporäre Beeinträchtigung der Autonomie sein. Durch die supranationale Verankerung als UN-Konvention und ihre Bestätigung durch die EU und viele weitere Staaten wurde diese Position zur Basis einer neuen Behindertenpolitik, die sich in zahlreiche Reformen und Neuorientierungen in den Politikbereichen Gesundheit und Bildung einreiht.
Es verwundert nicht, dass die sozialwissenschaftliche Position eine Allianz mit der UN-Behindertenrechtskonvention eingeht. Da ja beide darin übereinstimmen, dass Behinderung sozial hervorgebracht wird, kann das sozialwissenschaftliche Wissen mit seinem dekonstruktiven Effekt operabel werden. Es kann aufzeigen, wie dies funktioniert und damit der neuen normativen Konstellation zur Realisierung verhelfen bzw. ihre Realisierung kritisch, das eigentliche Movens der Position immer wieder in Anschlag bringend, begleiten. Für die neue Politik und ihr Verständnis des Zusammenhangs von Menschenrechten und Behinderung wird das neue sozialwissenschaftliche Wissen legitimativ relevant, es ist zwar nicht unbedingt unmittelbar zur „Umsetzung“ oder für die Politik geeignet, aber es sichert den eingeschlagenen Weg ethisch ab, was für jede Art von Politik von großer Bedeutung ist.
Mit dieser neuen Allianz ist ein „Paradigmenwechsel“ (Degener 2006) vom biologisch-medizinisch zu einem menschenrechtlich orientierten Verständnis von Behinderung erreicht. Skeptiker*innen kann allerdings stutzig machen, dass die Legitimation auf einige diskursive Figuren und deren Transformationen zurückgreifen muss, die schon aus anderen Bereichen der Pädagogik bekannt sind und durchaus als ambivalent gelten können. So ist zwar die normative Achse gedreht worden: von einer am Defizit orientierten pädagogische Hilfe mit einer partiellen Deautonomisierung zu einer an den Stärken orientierten pädagogischen Hilfe mit einer temporären Deautonomisierung mit dem Ziel der Autonomisierung. Allerdings sind die Figuren so grundverschieden nicht und auch im essentialistischen Behindertenverständnis gab es durchaus das Motiv der Autonomisierung, wenn auch nicht in einer so umfassenden normativen Form. Zudem kommt auch das neue Behindertenverständnis nicht ohne Deautonomisierung aus und zwar nicht zuletzt deshalb, weil jede Pädagogisierung – also nicht nur jene im Bereich der Behinderung – notwendig eine temporäre Deautonomisierung ist. Das neue Verständnis mag sich von manchen alten Logiken verabschieden, der Problematik des Pädagogischen entkommt es jedoch kaum: Es verspricht Autonomie und entsprechende Äquivalente denjenigen, die sich produktiv auf das pädagogische Verhältnis einlassen. Auffällig ist, dass zwei Gruppen tendenziell aus dem Bereich der ‚Menschen‘ herausfallen, insofern Menschen alle sind, für die die Menschenrechte uneingeschränkt gelten: die Behinderten und die Kinder. Kinder sind eben potentielle, zukünftige Menschen und das ermöglicht eine temporäre Einschränkung der Selbstbestimmungsrechte. Die Schulpflicht ist dafür das signifikanteste Zeichen. Behinderte waren in der bisherigen Konstruktion nicht in derselben Weise ‚temporär deautonomisiert‘ wie Kinder, sondern grundsätzlicher. Sie waren nicht ‚noch nicht‘, sondern teils einfach ‚nicht‘ vollwertige Träger von Menschenrechten, also vollwertige Rechtssubjekte. Jetzt sind sie eher so etwas wie Kinder: im Prinzip Menschen, aber eben (noch) keine mit eigenständigen Rechten. Für den Bereich der schulischen Inklusion gilt allemal: Zwar kann die Konvention „behinderte Menschen als Menschenrechtssubjekte sichtbar machen“ (Degener 2006: 110), sie bleiben aber gleichzeitig Quasi-‚Kinder‘ und sind als solche in anderer Weise beschränkte Menschenrechtssubjekte. Man könnte sagen, dass im Zuge der Menschenrechtskonvention eine Modernisierung des normativen Diskurses über Behinderte stattfindet, es gibt eine Art „Entwicklungsschub“ hin zu einer einheitlicheren, universelleren Weise, in der die Gesellschaft das Problem ihrer Teilhabe rsp. der Regierung ihrer Bevölkerung formiert. Die „neue“ Pädagogik tritt dabei als eine auf, die normativ ‚gut und nur gut‘ ist, wie im Anschluss an Foucaults Analyse der Pädagogik als Pastoralmacht formuliert werden kann (Foucault 2004), das aber gehört zum Grundimpetus jeder Pädagogik, die sich damit aufs Neue in die Niederungen gesellschaftlicher Widersprüche begibt. Das muss zumindest stutzig machen. Die damit aufgeworfenen Fragen möchte ich im Folgenden in Anlehnung an Theoriefiguren aus System- und Gouvernementalitätstheorie weiterverfolgen.
Luhmanns These einer Ausdifferenzierung der Gesellschaft in verschiedene Teilsysteme, die nur durch ihre Eigenlogik zu verstehen sind und von anderen Teilsystemen her weder gesteuert werden können noch gesteuert werden sollen, ist in den 1990er Jahren schon einmal in die Krise geraten. Angesichts eines Besuchs in einer Favela Südamerikas mutmaßte Luhmann, dass die gesellschaftliche Entwicklung dazu führe, dass in mehr oder weniger naher Zukunft die Primärstrukturierung „Funktionale Differenzierung“ durch die binäre Differenz Inklusion/Exklusion abgelöst werde (Luhmann 1995: 239 f.). Nach der klassischen Luhmannschen Systemtheorie ist Inklusion eine Leistung der Teilsysteme, die diese je spezifisch zu vollbringen haben: Die Teilsysteme sorgen dafür, dass die Menschen in Bezug auf sie durch spezifische Inklusion zu bestimmten Individuen werden. Die Teilnahme am Erziehungssystem beispielsweise wird über Schule, Erwachsenenbildung und Sozialpädagogik vollzogen, sie bringt mehr oder weniger „gebildete“ bzw. „kompetente“ Individuen hervor, macht sie also in Bezug auf das Teilsystem zu spezifischen Individuen. Diese Inklusionsleistung der Teilsysteme muss jedoch am Fall und damit am Individuum eingelöst werden und das ist immer unvorhersehbar und oft widersprüchlich (ebd.: 248). In Luhmanns Deutung sind die Menschenrechte Gleichheit und Freiheit als Rechtsprinzipien seit dem 18. Jahrhundert eine Problematisierung dieser Unvorhersehbarkeit der Inklusionsleistung der funktionalen Subsysteme. Die Grundrechte halten dabei einen Anspruch aufrecht, sie konstituieren ein diskursives Selbstverständnis. Eine funktional differenzierte Gesellschaft bringe bisweilen sehr starke Ungleichheiten hervor, aber sie begreife diese in ihrer Semantik immer als temporär, dynamisch auf Teilsysteme beschränkt. Dass Individuen aus einer solchen Gesellschaft gänzlich herausfallen, sei für das Selbstbild einer modernen Gesellschaft weder akzeptabel noch vorstellbar. Die UN-Behindertenrechtskonvention mit ihrem Postulat einer Sichtbarmachung der Behinderten als Rechtssubjekte wäre in diesem Sinn als eine Korrekturleistung zu verstehen, die die Paradoxie der Nichteinlösbarkeit zum Ausdruck bringt, zugleich aber als Zeichen einer Vertiefung und Universalisierung der Inklusionsleistungen der Teilsysteme gedeutet werden kann.
Nun meint Luhmann aber gerade in jüngeren Entwicklungen erblicken zu können, dass sich die Inklusionsleistung der Teilsysteme tendenziell aufzulösen beginnt und Exklusion zu einem ebenso realen wie als unausweichlich und zugleich akzeptabel betrachteten Prinzip wird: Es scheint „eine kaum noch überbrückbare Kluft zwischen Inklusionsbereich und Exklusionsbereich“ aufzureißen (Luhmann 1995: 250), mit „Stabilisierungstendenzen auf beiden Seiten“, was zur Folge hat, dass größere Teile der Gesellschaft von jeder möglichen Inklusion dauerhaft ausgeschlossen sind. Wenn diese Beobachtung zutrifft, dann kann man nicht mehr von einer funktionalen Differenzierung als Primärstruktur sprechen, vielmehr unterscheide eine Gesellschaft grundlegender jedes Mitglied zunächst nach Zugehörig/Nicht-Zugehörig, wobei der Anspruch, dass alle prinzipiell inkludiert sind, über Bord geworfen wird. Diese These hätte eine Totalrevision der Systemtheorie erfordert, sie hat auch bei den Luhmannianer*innen für einige Aufregung gesorgt hat (z.B. Nassehi 1997; Stichweh 1997). Gefolgt sind die Systemtheoretiker*innen dieser Revisionsaufforderung zwar nicht, aber festzuhalten bleibt, dass die Selbstgewissheit der Semantik moderner Gesellschaften, Vollinklusion zu realisieren, zumindest in eine Krise geraten ist bzw. eine Grenze erreicht hat. Wie wären dann Phänomene und Entwicklungen wie die Behindertenrechtskonvention zu deuten?
Wenn man das pädagogische Programm der Inklusion radikal genug versteht, sie also nicht auf eine Fortführung eines Integrationskonzepts oder auf eine didaktische oder organisatorische Aufgabe reduziert, dann kann die Radikalität von Luhmanns Infragestellung der Stellung und Funktion von Inklusion zum Nachdenken darüber anregen, welche Rolle „Inklusion“ als politisches Programm im Horizont der gegenwärtigen Transformationen gesellschaftlicher Verhältnisse spielt. Die pädagogische Inklusion könnte als Einsatz gelesen werden, mit dem das Konzept der Vollinklusion radikalisiert wird, mit Referenz auf die Menschenrechte in der UN-Behindertenkonvention, die nun wirklich auf alle ausgeweitet werden sollen. Allerdings kann diese Referenz auf Grundrechte nach Luhmann ja nur paradox, also eben gerade nicht gänzlich eingelöst werden. Schaut man weiter, kann zu denken geben, warum eigentlich der Bereich der sogenannten „Behinderung“ in den Zeiten vor der pädagogischen „Inklusion“ gerade nicht, oder eben anders, von der Vollinklusion der Teilsysteme erfasst war. Ist dies systemtheoretisch als ein Beispiel für eine „besondere Inklusionsform“, für eine „Noch-Nicht-Inklusion“ oder gar für eine „Exklusion“ zu lesen? Schließlich wäre zu fragen, ob die pädagogische Inklusion vielleicht als ein Phänomen im Bereich jener Grenze zu verstehen ist, an der die klassische Inklusionsleistung der Teilsysteme neuerlich in die Krise gerät?
Die pädagogische Inklusionsdebatte geht von einem Problembereich aus, der im Bildungssystem am Rande liegt: der Frage der Teilhabe der sogenannten „Behinderten“ am Bildungssystem. Allerdings ist schon die Zuschreibung „Behinderte“ ebenso wie die Randständigkeit des Problems von den Verhältnissen hervorgebracht, die den „Normalbereich“ der Schule konstituierten. Am Übergang zum 19. Jahrhundert begann sich mit der Institution der Schule die Erziehung als ein gesellschaftliches Teilsystem zu etablieren. Von Anfang an war deren Systementwicklung immanent, dass mit der sogenannten „Schulpflicht“ alle Kinder und Jugendliche einer Gesellschaft von „der Schule“ als Institution erfasst werden, aber es dauerte einige Jahrzehnte, bis dieses Prinzip flächendeckend durchgesetzt werden konnte. Dabei gingen Differenzen wie Stadt/Land, soziale Ungleichheiten, Geschlecht usw. zwar in die soziale Realität der Schule ebenso ein wie sie frühe Systembildungen prägten und immer noch die Schule mitbestimmen. Aber die Schule als idealtypische Realisierung des gesellschaftlichen Subsystems Erziehung tendierte immer zur Universalität: Die universelle Erfolgsmarkierung der Noten sollte alle Schüler*innen ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer außerschulischen Erfahrungen nur nach ihren Leistungen bewerten. Die Debatten um Chancengleichheit seit den 1970er Jahren sind weniger von einer radikalen Kritik der Rolle von Schule in der Gesellschaft als von diesem Widerspruch einer noch nicht eingelösten Universalität geprägt. Als Wissensordnung der Schule konstituierte sich nicht nur ein Kanon der zu vermittelnden Inhalte und Stoffe in den Lehrplänen, die als Form selbst eine erstaunliche Konstruktionsleistung sind (Criblez/Giudici/Hofstetter/Manz/Schneuwly 2019), es konstituierten sich auch Ordnungsprinzipien wie die Klassenverbände, die Übergangslogiken zum nächsten Schuljahr und nicht zuletzt das Leistungsmodell eines bezogen auf eine Klassenstufe und ein Fachwissen „mittleren“ rsp. „normalen“ Schülers, auf den hin die gesamte Organisation schulischen Wissens hin ausgerichtet war. Bezogen auf den „Normalschüler“ wurden alle realen Schüler*innen in einer relationalen Position vermessbar (vgl. Schröder/Wrana 2015).
Die Schule betrachtet sich selbst nicht nur als diejenige Institution, die die Leistungen der Menschen in ihrer Rolle als „Schüler*innen“ relational zum Normalfeld festlegen kann, sondern auch als jene, die die gesellschaftlichen Plätze und Chancen verteilt. Staatsexamenskandidat*innen bringen diese Überzeugung oft mit Nachdruck vor. Diese Relationierung betrifft alle Schüler*innen. Außer jene, die auf das Leistungsideal des ‚Normalschülers‘ hin gar nicht angemessen relational abgebildet werden können, die also unterhalb einer Schwelle der Akzeptabilität verbleiben. Die sogenannte „Gaußsche Normalverteilung“ mit ihrer Glockenkurve scheint auf gänzlich natürliche Weise die schulischen Leistungsdifferenzen abzubilden. Natürlich erscheint diese, weil sich die Schüler*innen einer Klasse wie von Geisterhand immer genau so verteilen: Die Meisten in der Mitte, die gleichzeitig hoch und breit gezeichnet ist, die Wenigen am Rand, schmal, niedrig, auslaufend. Die Kurve suggeriert schon visuell, dass das, was da rechts und links abgeschnitten wird, das am Rand befindliche ist, das Marginale im wahrsten Sinne des Wortes. ‚Natürlich‘ ist an der Gaußschen Kurve bezogen auf die Schulleistungen aber nur, dass sie ‚natürlich‘ von der Wissensordnung der Schule und ihrer Organisation der Schüler*innen in Jahrgänge, Klassen sowie den angewendeten Prüfungspraktiken hervorgebracht wird.
Das Problem der ‚Behinderten‘ trat als Problem aber erst auf, als die Durchsetzung der Schulpflicht die Schüler*innen in Gänze in die Schulen trieb. Wer zuvor dem Unterricht nicht folgen konnte, blieb zu Hause oder wurde gar nicht erst hingeschickt. So lange das System nicht auf Totalinklusion ausgerichtet war, gab es kein Problem mit partiell nicht inkludierten Schüler*innen. Die Schulpflicht konstituierte jetzt aber eine neue Gruppe jener, die inkludiert werden mussten, ohne inkludierbar zu sein. Das Schulsystem reagierte mit der Konstitution eines zweiten Schulsystems, der Hilfs- und später Sonderschule, die den somit inkludierten eine Sonderbehandlung zukommen ließ. Die am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Medikalisierung (Bühler 2015; Hofmann 2012) der Schule erlaubte nicht nur, die krankmachenden Faktoren dieser neuen Institution, etwa ihrer Schulbänke, zu bearbeiten. Sie ermöglichte auch, jene Gruppe, die am „linken Rand“ der Gaußschen Kurve erschien, jene die nicht inkludierbar war, als Konsequenz einer Reihe von medizinischen Problemen zu betrachten. In dem Maße wie die normale Schule – mit Foucault gesprochen – ein Disziplinarregime etablierte, das die Körper und Seelen für eine neue Gesellschaft formte, erlaubte die Sonderschule mit ihren medizinischen Diagnosen und Kategorisierungen eine ganze Reihe von problematischen, aber gleichwohl bearbeitbaren „Fällen“ hervorzubringen und diese in mehrfacher Hinsicht „einzuordnen“. Dies findet ihre Parallele zu den historischen Prozessen, die Foucault in der Institution der Psychiatrie rekonstruiert hat. Zunächst wurden am Ende des 18. Jahrhunderts alle gesellschaftlichen Problemfälle mit mangelnder Normalität aus Gründen der Moralität aussortiert und „weggesperrt“ (Foucault 2003), erst dann begann man die noch amorphe Masse der Anormalen als Individuen zu unterscheiden, die nach Fällen und Mustern, Mängeln und Defiziten sortiert worden sind. Ihre gesellschaftliche Stellung und die Deutung ihrer Handlungen z.B. als „(nicht-)delinquente“ und ihr Subjektstatus als „(nicht-)zurechnungsfähige“ wurde in Gerichtsverfahren und in Institutionen bearbeitet, wobei sich die Kategorien dieser Zurechnung erst über Jahrzehnten hinweg entwickelt haben (ebd.). Im Groben lässt sich eine Verschiebung von einer religiös-moralischen Problematisierung von Verhalten/Subjektstatus hin zu einem psychiatrischen Wissen beobachten, das diese Fälle und Muster als behandelbare Krankheiten begreifbar machte. Aus dieser machttheoretischen Perspektive erscheint die Entwicklung pädagogisch-psychiatrischen Wissens und Institutionen verbunden mit der „Behandlung“ von Individuen, die isoliert, diagnostiziert und als „bestimmte“ identifiziert wurden, die sich Therapeutisierungen und Medikalisierungen zu unterwerfen hatten usw.. Die Entstehung des heil- und sonderpädagogischen Wissens rsp. der Kategorie Behinderung gehört ebenfalls in diesen Kontext. Sie geht auf ein komplexes Zusammenspiel von Erziehungs-, Rechts- und Gesundheitssystem zurück (Moser 2003: 26), auch hier lässt sich bei der Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte der Sonderpädagogik eine Verschiebung von der moralischen Problematisierung der „Verwahrlosten“ (ebd.: 33) zu Medikalisierung und einem pädagogischen „Verstehen“ ihrer Probleme durch die neu entstehende Profession verzeichnen.
Deutet man dieses Phänomen aus der Systemtheorie, dann inkludieren die Teilsysteme in der klassischen Moderne zwar die ganze Gesellschaft, aber das Gros der meisten Gesellschaftsmitglieder wird anders inkludiert als die wenigen Nicht-Normal-Inkludierbaren an ihrem Rand. Während die Allokationsfunktion der Schule die meisten Schüler*innen auf verschiedene Plätze in der Gesellschaft vorbereitet, gilt für diejenigen jenseits der Grenze, dass sie oft ihr ganzes Leben in einem gesellschaftlichen Bereich verbringen, der sie zwar ausschließt, aber (mehr oder weniger liebevoll) umsorgt. Sie sind also in die Subsysteme inkludiert, aber eben mit in einer Art inneren Ausschlusslogik. Das ist das Aufgabengebiet einer Pädagogik der Behinderten. Aus der Perspektive der Normalisierungstheorie (Link 2006; Schröder/Wrana 2015) lässt sich dies so beschreiben: Im klassischen Normalismus vollzieht sich die Normalisierung im „Normalfeld“, also dort, wo sich die meisten Individuen in der Mitte der Normalverteilung befinden, durch eine Dynamik von Rängen und Platzierungen. Jede Leistung – im Fall der Schule – erscheint erst in Relation mit allen anderen Leistungen als solche. Die im Normalfeld befindlichen Schüler*innen sind ‚normal‘, dies bedeutet nicht, dass sie alle gleich seien, ‚normal‘ ist etwas anderes als ‚normiert‘. ‚Normal‘ ist vielmehr eine Spanne von Ausprägungen, die zu dem gesellschaftlich Akzeptierten gehört. Diese Werte im Normalfeld und ihre Dynamik der Positionierungen generieren nun erst das, was an seinen Rändern erscheint und zwar als Randständiges. Dort erscheint eine Grenze zum Anormalen. Jenseits dieser Grenze ist das freie Spiel der Ränge und Platzierungen aufgehoben, nicht mehr das Individuum wird als Akteur und damit Verantwortlicher seiner eigenen Platzierung verstanden. Jenseits der Grenze wird die ‚Leistung‘ des Individuums nicht mehr als Ausdruck einer freien und autonomen Subjektivität und Individualität verstanden, sondern als Produkt von medizinisch bzw. psychopathologisch erfassbaren Eigenschaften, die das Individuum an sich trägt, für die es aber nicht verantwortlich ist. Seine Behandlung zielt zwar auf Heilung, aber selbst wenn diese gelingt, ist das so behandelte Individuum bestenfalls beiläufig Akteur dieses Heilungsprozesses. Falls Heilung tatsächlich gelingen sollte, tritt das Individuum nach dem Übertritt über die Normalgrenze wieder in den Bereich ein, wo es seine Leistung zu erbringen hat und für die Folgen (z.B. sozialen Aufstieg oder Abstieg) als selbst verantwortlich gilt. Dass jemand „verantwortlich ist“ bedeutet konkret, dass ihm*ihr das Handeln und damit auch seine Folgen gesellschaftlich zugerechnet werden.
Diese Differenz artikuliert sich an der Unterscheidung von Normalschule und Sonderschule. Schüler*innen einer „Sonderschule“ haben nicht nur einen anderen Unterricht, der didaktisch auf ihre besonderen „Bedürfnisse“ zugeschnitten ist, sie werden vielmehr „behandelt“ im Unterschied zu Schüler*innen der Normalschule, die selber handeln müssen. Machttheoretisch gesehen haben wir es also mit Subjektivierungsprozessen zu tun, die sich anhand der Differenz von Behinderung/Nicht-Behinderung unterscheiden. Während die einen sich als „kranke“ Subjekte zu konstituieren haben, müssen sich die anderen als produktive, lernfähige und lernende, kurz: für ihren Lernerfolg sich accountable zeichnende Subjekte konstituieren. Schon in diesem Wortgebrauch zeigt sich eine doppelte Bedeutung von „Subjekt“: Die Subjekte sind einerseits unterworfen und zwar unter die Konstitutionslogik einer Norm rsp. Kategorie wie „krank“ oder „lernfähig“. In diesem Sinn sind beide Gruppen Subjekte bzw. machen sich zu den Subjekten, die sie werden sollen – so eigensinnig sie das auch tun mögen. Zugleich ist Subjekt aber eine Bezeichnung für einen Status, der mit Accountability und Verantwortung einhergeht. In diesem Sinn wird den „Behinderten“ der Subjektstatus üblicherweise abgesprochen, den „Lernfähigen“ hingegen zugesprochen. Das ist genau der Punkt, an dem die Behindertenrechtskonvention ansetzt und auffordert, auch den Behinderten den Subjektstatus zuzuerkennen. Nun ist Subjekt sein aber immer weit mehr als ein „Recht“, es ist auch eine Zumutung, denn wer „Subjekt“ sein will und kann, muss sich eben selbst auf der Seite der „Lernfähigkeit“ positionieren und diese angemessen im Sinne der Norm auch ausfüllen. Ohne Unterwerfung ist der Subjektstatus nicht zu haben.
Nun muss man den Blick von den „Behinderten“ und die Durchsetzung ihrer Rechte lösen, um die Veränderungen in einem weiteren Kontext zu sehen. Auf der anderen Seite der Unterscheidung, auf der Seite der Normalität, hat sich nämlich in den letzten Dekaden ein weitreichender Wandel vollzogen. Alle inkludierten Mitglieder der Gesellschaft – das haben zahlreiche Studien der Gouvernementalitätsanalytik gezeigt (z.B. Dzierzbicka 2006; Kessl 2005; Forneck/Wrana 2005; Pongratz 2009; Ott 2011) – sind immer mehr in ihrem Status als aktive, für den eigenen Erfolg verantwortlich zeichnende Subjekte angerufen worden. Die Verschiebung ist relativ und doch schlagen diese quantitativen Verschiebungen regelmäßig in qualitative um. Der „Bürger“ war im Kapitalismus von Anfang an als aktive, verantwortliche Figur gezeichnet worden. Nur sein individuelles Engagement in seine „Unternehmungen“ konnte den Kapitalismus in Gang bringen. Aber nicht nur die Form dieser Subjektivierung ändert sich vom Anfang des 19. bis ins gegenwärtige 21. Jahrhundert, sondern auch die Reichweite des Anspruchs dieser Figur. Die sozialen Bewegungen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft haben an das Recht des Bürgers angeknüpft, wenn sie für die gleichen Rechte für Frauen und Arbeiter*innen gekämpft haben. Nach dem zweiten Weltkrieg galt der Ehren- und Rechtstitel der Bürger*in für alle erwachsenen, zurechnungsfähigen Gesellschaftsmitglieder (also nicht für die „Behinderten“ und auch nicht die „Kinder“), auch wenn noch gegenwärtig die Emanzipations- ebenso wie die Gerechtigkeitsansprüche keineswegs als eingelöst gelten können. Mit der Ausweitung der bürgerlichen Rechte durch die sozialen Bewegungen ging aber auch der Einbezug in die kapitalistische Verwertungslogik einher. In dem Maß wie Frauen die gleichen Rechte haben wie Bürger, haben sie sich auch in den Produktionsprozess einzugliedern. In dem Maß wie Arbeiter*innen die gleichen politischen Rechte erlangen wie Bürger*innen, haben sie sich auch als aktive Arbeitssubjekte eigenständig um die Steigerung ihre Produktivität zu kümmern. Und in dem Maß wie die Rechte von Kindern als Menschen innerhalb der Autoritätsverhältnisse gestärkt wurden, stieg auch die Verantwortungszuschreibung an ihr eigenes Lernen. In diesem Sinn ist die mit der Errungenschaft der Behindertenrechtskonvention eingetretene Situation zu lesen: Die Ausweitung der Rechte Behinderter, ihre Anerkennung als Subjekte, geht auch mit ihrem Einbezug in die kapitalistische Verwertungslogik und mit einer Verantwortungszuschreibung für das eigene Wohl einher. Nun ist das kein Grund, gegen diese Ausweitung der Rechte die Stimme zu erheben. Im Gegenteil. Wie andernorts auch steht der Kampf gegen die kapitalistische Verwertungslogik in der Versuchung, eine bewahrend konservative Position einzunehmen, und wie andernorts verschließen sich damit Potentiale und werden autoritäre Strukturen zementiert. Es geht nicht um ein romantisches ‚Zurück‘, aber es gilt, diese Zusammenhänge in den Blick zu nehmen, um ihre Tragweite zu erfassen und eine andere Perspektive zu entwickeln.
Die neuen politischen Programme zur Inklusion lassen sich im Zusammenhang mit zahlreichen weiteren gesellschaftlichen Transformationen als Ausweitung und Universalisierung der Inklusionsleistung lesen, die mit einer Verschiebung der Verantwortung für diese Inklusionsleistung zu den Individuen einhergeht. Das zeigt sich besonders deutlich auch an den neuen schulischen Unterrichtsformen, in denen sich Inklusion realisieren soll. Wenn Menschen mit Behinderung teilhaben sollen und ihnen dabei immer weniger Barrieren im Weg stehen sollen, dann ist bezogen auf schulische Inklusion von einem individualisierten Unterricht, von Basisstufen mit jahrgangsübergreifendem Unterricht, von Lernberatung und -begleitung und individueller Lerndiagnostik die Rede. Diese Reform-Momente von Unterricht sind nicht neu, sie sind vielmehr älter als der in der schulischen Wissensordnung als Normalität etablierte „Frontalunterricht“ selbst (Göhlich 1993). Stand das individuell verantwortete Lernen bisher immer am Rande des Systems als moralisch besserer Spiegel der fordistisch „normalen“ Lernverhältnisse, kommt es erst in den letzten Jahren unter der Bedingung zunehmender Steigerung der Leistungsfähigkeit der Wirtschaftssysteme und damit auch der Bildungssysteme zur Hegemonie und steht in einer neuen „merkwürdigen“ (Bellmann/Waldow 2007) Allianz mit technokratischen Schulreformen. Seit den 2000er Jahren beobachten wir die Durchsetzung einer universalistischen Leistungslogik im deutschen Schulsystem, das bis dahin zerklüftet und von alten Standeslogiken ebenso wie von kreativen Freiräumen durchsetzt war. Diese Durchsetzung ist auf der Ebene der institutionellen Strukturen ebenso wie auf der der Mentalitäten der Menschen vor allem von den performativen Effekten der PISA-Studien vollzogen worden (vgl. Wrana 2017).
Nicht ohne Grund geht die Etablierung von Inklusion als Querschnittsthema Hand in Hand mit Programmen zum „Selbstgesteuerten Lernen“, zum „Individualisierten Unterricht“, zu einer „Ausweitung der Diagnostik“ und nicht zuletzt von autonomen Schulen und einer neuen Steuerung der Schulentwicklung. Luhmanns Intuition, dass scheinbar von Vollinklusion auf Inklusion/Exklusion als Basisunterscheidung umgestellt werde, lässt sich schärfer als ein etwas anders gelagerter Prozess deuten: Das Gesamtsystem stellt auf zunehmende Accountability und Verantwortung des Einzelnen für seine eigene Inklusion um, dabei entwickeln sich zwar auch positive Anreize, sich um sich selbst zu kümmern, aber auch Drohungen und zwar mit Exklusion. Das damit verbundene Maß an Exklusion wäre im alten System der Vollinklusion nicht akzeptabel gewesen. Im Klima der Abstiegsangst bekommt dem unteren Rand aber eine andere Bedeutung zu: Es handelt sich nicht mehr um die Schmuddelstube der Gesellschaft, aber auch nicht um den ausgeschlossenen Rest wie die amorphe Masse der Anormalen am Übergang zur Moderne, ‚die Exkludierten‘ bilden vielmehr die ausgesprochen sichtbare und präsente Grenze, die das Gros der Gesellschaftsmitglieder dazu anhält, eine Normalität der gesellschaftlichen Leistungssteigerung zu etablieren. Der Staat zieht sich aus der Verantwortung gesellschaftlicher Inklusion zurück und gibt diese an die Menschen ab, nicht zuletzt an die sogenannten ‚Behinderten‘. Die gegenwärtige Lage der Gesellschaft zeichnet sich aber auch dadurch aus, dass diese Aktivierungsstrategie des Neoliberalismus mit Nebenfolgen und unintendierten Konsequenzen einhergeht, die politisch kaum mehr einzufangen sind. Sie könnte am Ende größere Kosten verursachen als die Leistungssteigerung zu mobilisieren vermag.
Vielleicht ist es zugespitzt, aber pointiert im besten Sinn: Inklusion bedeutet auch, dass „Behinderte“ einbezogen werden in eine neue Lernwelt, in der alle sich als lernfähig und lernwillig zu zeigen haben. Auch sie müssen nun deutlich mehr Verantwortung übernehmen für ihr Lernen. Umgekehrt werden alle Lernenden in eine Logik der Diagnostik, also der Vermessung und Zuschreibung von Problemlagen als individuelle Defizite einbezogen, deren Instrumente im Bereich der alten Behindertenpädagogik geschärft worden sind. In der Didaktik entwickelt sich der – von altem, pädagogischem Optimismus getragene – Glaube, dass es einem individualisierten Unterricht mit entsprechender Lernberatung gelingen könnte aus der pädagogischen Logik von Defizitzuschreibung und neuen Behandlungsweisen auszusteigen. Die neue sozialwissenschaftliche Unterrichtsforschung beginnt, diese Zusammenhänge zu beschreiben. Dieser Schritt erscheint mir produktiv und wäre durch einen Blick auf die Gesamtlogik der gegenwärtigen Entwicklung der Bildungsverhältnisse auszuweiten. Die neue Logik des Zusammenspiels von Individualisierung, Inklusion und schulischen Praktiken der Leistungsmessung und Prüfung wäre erst noch empirisch und theoretisch zu begreifen.
In diesem Sinn argumentiert auch Gomolla und macht noch eine weitere normative Differenz auf, die ich an den Schluss meines Beitrags stellen möchte: Die von der Behindertenrechtskonvention normativ ins Werk gesetzte Reform lässt sich technologisch weiterführen, sie kann aber auch Anlass für ein kritisch-transformatives Projekt geben (Gomolla 2018: 170). Ein solches kritisch-transformatives Projekt kann kein im engeren Sinn „pädagogisches“ Projekt sein, es müsste ein gesellschaftliches Projekt sein, das die Rolle von Bildung in modernen Gesellschaften als Ganze in Frage stellt, diskutiert und auf eine andere Grundlage stellt, als dies mit Leistungssteigerung und Aktivierung gefordert wird. Ob dies der Zukunft der Menschen eher zuträglich oder abträglich wäre, müsste sich noch herausstellen. Die Debatte um Inklusion kann dabei zentrale Aspekte gegenwärtiger Entwicklungen sichtbar machen, aber eigentlich erst, wenn sie mit Debatten über aktuelle Transformationen in anderen Bereichen des Bildungssystems in Beziehung gesetzt wird. Luhmann ist zuzustimmen, dass der Rekurs auf die Menschenrechte nur paradox möglich ist. Er ist nicht einzulösen wie ein politisches Ziel, er macht vielmehr die Widersprüche sichtbar und damit bearbeitbar. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob Luhmann den produktiven Wert dieses Rekurses wirklich zu schätzen wusste.
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