Erich Otto Graf:Norm, Behinderung und Gerechtigkeit
Abstract: Normen sind kulturell stabilisierte und bewertete Differenzwahrnehmungen. Behinderungen sind in Interaktionen situativ auftretenden Normverletzungen, die entsprechen der jeweiligen Machtbalance bei den an an der Differenzwahrnehmung beteiligten Akteur*innen unterschiedliche Erwartungsverletzungen hervorrufen. Die Frage nach der Gerechtigkeit von sozialen Verhältnissen hat direkt mit der Teilhabe der jeweiligen Akteur*innen an zentralen Gütern der Kultur (Reichtum, Bildung etc.) zu tun. Inklusive Praxen dienen der Veränderung von Verhaltenserwartungen, erhöhen die Teilhabechancen bisher exkludierter Gesellschaftsmitglieder und leisten einen Beitrag zu einer gerechteren Gesellschaft.
Stichworte: Norm, Behinderung, Gerechtigkeit, Inklusionsforschung
Inhaltsverzeichnis
- Norm
- Behinderung
- Gerechtigkeit
- Literatur
Der folgende Beitrag entstammt einem Vortrag, den ich am 28. Juni 2018 an der 2. Tagung der AG für Inklusionsforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft an der Europa-Universität Flensburg als Input für eine Plenumsdiskussion gehalten habe.
Zunächst danke ich für die Einladung nach Flensburg.
Vielleicht hilft es Ihnen besser zu verstehen, was ich sage, und weshalb ich das sage, was ich sage, so sage, wie ich es sage, wenn ich kurz etwas aus meiner Lebensgeschichte erzähle.
Ich bin eine Art Krüppel, ein verwachsener Mensch. Man sieht mir soweit rein äußerlich nichts an, eine Folge von Krafttraining, das ich brauche, damit ich noch gehen kann. 2001 konnte ich noch 150 Meter weit gehen. Die Schmerzen waren trotz hoher Dosen von Schmerzmitteln inklusive Opiaten unerträglich. Von Operationen rieten die konsultierten Chirurgen ab, weil der Zustand der Wirbelsäule neben dem jeweils zu operierenden Teil zu desolat war, um einen Eingriff zu wagen. Ich war zwei Jahre lang arbeitsunfähig geschrieben.
Eher zufällig fand ich, von der schweizerischen Invalidenversicherung als Arbeitsversuch betrachtet, eine 50% Anstellung – ironischerweise am damaligen Institut für Sonderpädagogik der Universität Zürich und galt damit als »rehabilitiert«, wobei eine ständige 20% Minderung meiner Arbeitsfähigkeit festgestellt wurde. Das wurde seitens der Versicherung als etwas betrachtet, das ich selbst zu tragen hätte.
Irgendwann fand ich ein Coping für meine Situation und konnte wieder arbeiten. Einige Jahre später kamen zu den bisherigen Beschwerden Atem- und Schlucklähmungen hinzu. Vor allem die Atemlähmungen machen mir, wenn sie auftreten, jeweils große Angst. Auch dafür habe ich einen mehr oder weniger günstigen Umgang gefunden.
Da ich im Bereich der Sonderpädagogik, der Behinderungsforschung arbeitete – ich war unter anderem viele Jahre lang Präsident der Kommission Studium und Behinderung an der Universität Zürich – habe ich mich ausführlich mit den Fragen von Behinderung, von Ausschluss, mit Normalitätsfantasien und der Frage von Kompetitivität in so genannten leistungsorientierten Systemen und Strukturen befasst. Ich denke, dass es günstiger ist, von so genannten leistungsorientieren Systemen zu sprechen, weil in der Selbstverständlichkeit des pädagogischen Diskurses Leistung assoziiert ist mit bestimmten kognitiven Aspekten menschlicher Performanz. Würde man Momente der affektiven Performanz, wie etwa Empathie, auch leistungsmäßig bewerten, dann wären viele so genannte »hochbegabte« Schüler*innen empathisch defizitär und müssten eine spezielle Schulung für Empathie durchlaufen, während in dieser Hinsicht viele Menschen mit Down Syndrom im Hinblick auf ihre Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen, als in dieser Hinsicht als »Höchstleistende« anzusehen wären.
In Lehre und Forschung habe ich darauf geachtet stets mit Menschen mit so genannten Behinderungen zusammen und nicht über sie zu forschen. Dies galt auch für viele meiner Lehrveranstaltungen, die ich gemeinsam mit Menschen so genannten Behinderungen durchführte.
Seit mehr als fünf Jahre arbeite ich in einer Forschungsgruppe mit, die aus Menschen mit und ohne sogenannte Behinderungen zusammengesetzt ist.[1] Die Mehrheit der Mitglieder unserer Forschungsgruppe gelten als vollständig arbeitsunfähig und leben von einer Rente der schweizerischen Invalidenversicherung, sie gelten als so genannt geistig und/oder psychisch behindert oder eingeschränkt.[2]
An der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe bin ich Privatdozent mit einer venia legendi in Allgemeiner Bildungswissenschaft.
Soweit meine Einleitung, die meinen biographischen und beruflichen Hintergrund kurz dargestellt hat und mich im Kontext der so genannten Behinderungsforschung, der so genannten disability studies, der so genannten partizipativen Forschung oder der so genannten Inklusionsforschung situiert. Ich spreche als jemand, der seine Erfahrungen sowohl diesseits als auch jenseits von Behinderungserfahrungen gemacht hat und macht. Die rezente Forschungserfahrung ist eine, die ich nicht so ganz gut in die obgenannten Begrifflichkeiten einsortieren kann. Diese Schwierigkeit hat mit den drei Begriffen zu tun, auf die ich im Folgenden eingehen will.
1. Norm
Normen sind kulturell stabilisierte und bewertete Differenzwahrnehmungen.
Innerhalb eines bestimmten kulturellen Systems haben Normen stets eine differenzielle Reichweite und eine unterschiedliche Geltungstiefe. Kulturen lassen sich als ineinander verschachtelte und gegenseitig sich beeinflussende und stabilisierende, institutionalisierte, normativ strukturierte Organisationen und Praxen verstehen.
Menschliches Denken findet seinen Nullpunkt in der nichtmehr weiter auflösbaren Praxis des legein/teukein, wenn wir hier Cornelius Castoriadis folgen wollen (Castoriadis, 1984: 372 ff.).
Wir unterscheiden und wir treffen Zuordnungen. Die Kombination dieser beiden Momente des Denkprozesses lässt das Denken in Kategorien entstehen.
Unterscheidungen brauchen Kalibrierungen oder eine bestimmte Unterscheidungssensibilität.
Wir können auch sagen, dass sie innerhalb einer bestimmten Varianz kalibriert sind. Nehmen Sie als Beispiel für Kalibrierung eine Uhr. Eine Uhr, die nur Stunden angibt, vermag keine Angaben zu machen über Minuten und eine Uhr, die nur die Minuten zählt, vermag uns nichts über verstreichende Sekunden anzugeben.
Kalibrierung des Unterscheidens und Granularität von Konzepten hängen eng zusammen. Atmansbacher et al. haben 2014 in ihrem Aufsatz „Relevance relations for the concept of reproducibility” (Atmanspacher, Bezzola Lambert, Folker, Schubiger 2014) darauf hingewiesen.
Normative Setzungen entstehen aus Abfolgen von Performanzen. Das Handeln, das praktische Tun, entscheidet letztlich darüber, was zum Selbstverständlichen eines Wertesystems gehört. Das, was aber zum Selbstverständlichen gehört, neigt dazu der Unbewusstheit zu verfallen. Die relevanten Aspekte dieser Implikation hat Mario Erdheim ausführlich in seinem Buch »Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit« dargestellt (Erdheim 1982). Wir können solche kulturellen Praxen auch als Strategien der Wahrnehmungsdesensibilisierung sehen, denn das uns jeweils an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten Selbstverständliche ist das, was uns nicht auffällt. Es ist jeweils der Affekt – das Erfreuliche, die Überraschung, das Unerfreuliche, der Ärger – der uns auf die Verstörung der Selbstverständlichkeit aufmerksam macht.
Normative Ordnungen leben davon, dass sie von den Mitgliedern eines kulturellen Systems mehr oder weniger respektiert werden, während andererseits in diesem System urteilende und strafende Instanzen etabliert sind, die mehr oder weniger anerkannt sind. Bei der Diskussion um Normen geht es letztlich immer darum, wer überhaupt Normen setzen darf.
Normsetzungen sind implizite Machtstrukturierungen. Wer hätte vor 70 Jahre gedacht, dass um den Kopf geschlungene Tücher eine politische Bedeutung hatten? Jedes Bild einer ländlichen Gegend in der Schweiz aus der Zeit rund um den 2. Weltkrieg, zeigt uns Frauen in Kopftüchern. In den Berggebieten der Schweiz sind sie gegen Ende der fünfziger Jahre aus dem Alltag verschwunden. Wenn sie heute als Symbole der Unterdrückung von Frauen gebrandmarkt werden, dann dient diese Empörung auch dazu, unbewusst machen zu lassen, wie stark Frauen in der Schweiz politisch und kulturell unterdrückt gewesen sind. Eine verheiratete Frau durfte in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in der Schweiz nur mit der Zustimmung des Ehemanns für Lohn arbeiten gehen. Die Schweiz führte auf Bundesebene das Frauenstimmrecht 1971 ein, der letzte schweizerische Kanton tat dies auf Zwang der Bundesbehörden 1991.
Es geht hier um jene Machtverhältnisse, die nicht nur politisch eingerichtet sind, sondern sich auch in der Frage der jeweiligen Hegemonie ausdrücken, also in der Frage, was jeweils legitimerweise wie ausgesagt werden kann. Sie sind auf diese Weise Teile der Kultur und werden häufig als selbstverständlich angesehen.
Die Sanktionierung einer Normüberschreitung zeigt ziemlich präzise die jeweils gerade geltende Grenze der Norm an. Wenn ich an Stelle des Beispiels der Frauenunterdrückung in der Schweiz, die Frage stellen würde, weshalb so genannten Fremden in der Schweiz das politische Selbstbestimmungsrecht vorbehalten wird, dann würde das wohl Kopfschütteln zur Folge haben, aber wenn ich diese Frage als Schweizer, dessen Land nicht zum politischen Europa gehört, auch für die Bundesrepublik Deutschland stellen würde, dann würde das im für mich günstigen Falle als Frechheit eines Ausländers kodiert.
Normen entstehen im Prozess der Institutionalisierung solcher Unterscheidungen. In dem Maße wie die Unterscheidungen institutionalisiert sind, werden sie unbewusst gemacht und ins Selbstverständliche gerückt.[3]
Über diesen Weg lässt sich die Konstruktion einer normativen Ordnung gut erklären. So gesehen sollte jetzt klar geworden sein, dass die Behauptung irgendeines Universalismus nur eine lokotemporale Angelegenheit sein kann. Damit steht auch die Begründung der Menschenrechte auf einem epistemologisch gesehen ziemlich schwachen Boden und ist zunächst nichts anderes als die Durchsetzung der Hegemonie des so genannten abendländischen Denkens im Weltmaßstab.
Eine ganz andere Frage ist es allerdings, ob wir uns dieser hegemonialen Ideologie nicht einfach unterwerfen sollten?
2. Behinderung
Wenn Sie den eben geäußerten Gedanken nicht zu folgen vermochten, sei es aus emotionalen oder kognitiven oder anderen noch nicht geklärten Gründen, dann sind Sie halt verstehensbehindert und weisen deshalb einen ziemlichen sonderpädagogischen Förderbedarf aus.
Mit Hilfe eines standardisierten Abklärungsverfahrens wird es mir nicht schwer fallen, für Sie Erkenntnisziele zu bestimmen und damit auch das Niveau, das zu erreichen Sie mutmaßlich fähig sind, einigermaßen einzuschätzen und Ihnen ein entsprechendes Förderprogramm zusammenzustellen, das Sie sowohl fördert als auch fordert. Es ginge bei dieser Förderung darum, Ihre Verstehenskompetenzen zu entwickeln.
Wir würden Sie vorerst niederschwellig fördern.
Glauben Sie mir am Ende dieses Programms, vielleicht gar erst am Ende Ihrer Tage, würden Sie mir dankbar sein, dass ich mich so um Ihr geistig-seelisches Fortkommen gekümmert habe, während es mir selbst immer wieder eine große Freude bereitet, verstehensmäßig etwas zurückgebliebenen Menschen Hilfe angedeihen zu lassen.
Wir kehren nochmals zur Frage der Normalität zurück.
Dass Menschen gehen können, scheint klar und evident zu sein, ohne dass wir deshalb weiter darüber nachdenken müssen; deshalb werden Treppen gebaut. Und deshalb wird diejenige Person, die einen Rollstuhl benützt, zugangsbehindert, wenn der Fahrstuhl vergessen ging.
Falls Sie nun noch immer nicht in der Lage sein sollten, diesem Gedankengang zu folgen, dann würde dies nicht bedeuten, dass meine Ausführungen zu dieser Thematik unklar sind, sondern dass Sie ganz einfach ziemlich stark des Verstehens behindert sind.
Möglicherweise müsste für Sie in diesem schwierigeren Fall ein hochschwelliges Hilfeangebot im außeruniversitären Raum in Betracht gezogen worden. Wir würden für Sie eine Verstehensbehinderten-Sonderuniversität in Flensburg gründen, und dann würden wir bald darauf ebenso selbstverständlich eine Kommission eventuell eine Sektion für Verstehensbehindertenpädagogik in der DGfE[4] gründen wollen. Hier würden wir darüber forschen und uns austauschen, wie denn die Verstehensbehinderung frühzeitig erkannt, bekämpft und ausgemerzt werden könnte. Einige von uns würden sich allerdings gegen die Ausmerzung – allein schon des belasteten Begriffs wegen – von Verstehensbehinderung zur Wehr setzen und auf den kulturellen Nutzen von Menschen mit diesem besonderen Bündel menschlicher Eigenschaften hinweisen, usw.
Aus meiner Sicht ist Behinderung immer politische Unterdrückung. Behinderung besteht im Vorenthalt demokratischer Rechte für Menschen aufgrund von Kriterien, zu denen diese Menschen nicht gefragt worden sind, ob sie möchten, dass diese Kriterien auf sie anzuwenden sind. Die entsprechenden Überlegungen zu dieser Theorie finden Sie beispielsweise in der Arbeiten von Jan Weisser (vgl. etwa Weisser 2007).[5]
Nun könnten wir aber ganz vieles streiten, und Sie würden ohne Zweifel anführen wollen, dass es doch auch so etwas geben müsste wie ein »allgemeines Verständnis« für irgendetwas.
Wenn Sie so argumentierten, dann hätten sie tatsächlich Behinderung in einem essentialistischen Sinne eingeführt, in dem Sie sich auf irgendwelche irgendwie gearteten Universalien abstützten.[6] Und Sie wären aus meiner Sicht noch immer als verstehensbehindert einzustufen.
3. Gerechtigkeit
Von und über Gerechtigkeit sprechen wir immer dann, wenn wir Situationen als sogenannt ungerecht empfinden. So mag es den einen etwa ungerecht erscheinen, dass Menschen, die über keinen Pass dieses Landes verfügen, Unterstützung von der Sozialhilfe erhalten. Andere wiederum werden anders argumentieren wollen. Dahinter steht die Wahrnehmung von sogenannten sozialen Problemen. Soziale Probleme sind Diskrepanzen zwischen der Wahrnehmung einer Situation und Erwartung, wie die Situation sein sollte. Die Einschätzung dessen, wie groß und wie wichtig eine solche Diskrepanz zwischen der Erwartung und der wahrgenommenen Situation ist, schwankt zwingend aufgrund der sehr verschiedenen Präferenzen und Orientierungen der Beobachter*innen. Nehmen wir ein Konzept von Behinderung und ein Konzept von Barrierefreiheit. Für Rollstuhlfahrer*innen sind andere Aspekte zentral als für Sehbehinderte. Führt man ein Argument der knappen finanziellen Ressourcen ein, dann kann man die beiden Formen von Einschränkung gut gegeneinander ausspielen.
In diesem Zusammenhang wird klar, dass eine an einer anti-essentialistischen Konzeption orientierte Konzeption von Behinderung Behinderung als ein soziales Problem formuliert. Soziale Probleme stellen stets Formen ungleicher Teilhabe an Werten dar, die für zentral erachtet werden.
Ohne der Europa Universität Flensburg zu nahe treten zu wollen:
Am 12. Juni 2018 um 15.11 führte ich einen Test zur Barrierefreiheit der Uni-Webseite durch:
Das Programm, das ich verwendet habe, heisst WAVE (web accessibility evalution test):
Es zeigt auf der obersten Fläche der Uni-Webseite 38 Fehler, 36 Warnungen.
Während wir uns hier über Inklusion unterhalten, hält die Universität, die uns freundlicherweise für unsere Tagung das Gastrecht gibt, einige Normen nicht ein und behindert Menschen, die die Webseite lesen möchten. Immerhin kann man sich viele Webseiten der Universität Flensburg vorlesen lassen, was schon mal wichtig ist, wenn man nicht sehen kann. Im Hinblick auf die Barrierefreiheit der Europa Universität Flensburg war es mir jedenfalls nicht möglich in kurzer Zeit einen klaren Überblick über die Barrierefreiheit der Europa Universität Flensburg zu erhalten.
Die Europa Universität Flensburg verhält sich Menschen gegenüber, welche bestimmten Erwartungen an das, was „so allgemein“ von Menschen im Hinblick auf ihre Sinnesvermögen im Hinblick auf das Absolvieren eines Studiums erwartet wird, ungerecht, und es wird Sie hier kaum trösten, dass die Europa Universität Flensburg sich hier in bester Gesellschaft mit fast allen Universitäten in Europa befindet.
Wir sprechen zwar ziemlich viel von und über Inklusion, aber wir vermögen wenig, sie im Alltag auch umzusetzen.
Wenn wir diese Momente des Diskurses auf Schule als Organisation der Bildungsinstitutionen übertragen, dann wird sofort sehr klar, dass Schule in einem strukturellen Dilemma steckt. Wenn ich von einem strukturellen Dilemma spreche, dann meine ich, dass dieses Dilemma eben nicht aufgelöst werden kann. Schule muss einerseits den Anforderungen der Kinder gerecht werden, die nach ihren Möglichkeiten lernen sollen, und sie muss andererseits die schulischen Abschlüsse nach willkürlichen Vorgaben verteilen.
Die Erkenntnis, dass Schule Willkür ist, ist nicht wirklich neu. Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron haben schon vor mehr als einem halben Jahrhundert für die erziehungswissenschaftliche Diskussion dazu empirische Belege vorgelegt (Bourdieu, Passeron, Picht, Picht 1971).
Die erziehungswissenschaftliche Diskussion foutiert[7] sich um dieses strukturelle Dilemma der schulischen Organisation und hat vielfältige Strategien entwickelt, das Problem zu umgehen.
Eine dieser Strategien sind die ideologischen Argumentationen der Chancengleichheit. Es ist zwar offensichtlich, dass unter den Voraussetzungen einer starren und klaren Vorgabe, die Chancen einzelner Menschen, diese Vorgaben zu erfüllen notwendigerweise ungleich verteilt sind, weil Menschen eben verschieden sind. Diese Situation führt dann beispielsweise dazu, dass die so genannte frühkindliche Förderung verstärkt werden soll. Der Hintergrund dafür ist die Vorstellung, dass so genannte frühe Korrekturen für mehr Gerechtigkeit im Wettbewerb sorgen werden. Eine Menge erziehungswissenschaftlicher Forschungsergebnisse, die ich hier nicht erwähnen will, kann dies selbstverständlich eindrücklich belegen und kann manchmal auch entsprechende finanzielle Ressourcen mobilisieren.
Um solches zu rechtfertigen, werden ideologische Begriffe verwendet, wie etwa der berüchtigte Migrationshintergrund, der eine rassistische Konstruktion von Grund auf ist, weil irgendwer hier immer irgendwem immer sagen kann, er oder sie sei nicht von hier.[8] Oder eine andere Argumentation, die genauso doof ist, wie die eben genannte, nämlich jene die mit der sogenannten Bildungsferne von Familien argumentiert. Familien sind niemals bildungsfern, vielmehr scheinen jene Menschen, die sich dieses Konstruktes bedienen, nicht mehr zu wissen, was der Begriff der Bildung zumal im Diskurs der deutschen Pädagogischen Tradition meint. Und Heinz-Joachim Heydorn ist ja auch schon lange tot (Heydorn 1980).[9] Was allerdings ein schlechtes Argument dafür wäre, ihn deswegen nicht mehr zu lesen.
Während im ersten Fall, jenem des Migrationshintergrundes, Rassismus und Nationalismus als soziale Konflikte aus der Debatte ausgeschlossen werden, wird im zweiten Fall der Klassenkonflikt aus der Debatte ausgeschlossen. Das hat Folgen für die Positionierung der Erziehungswissenschaft im staatlichen Dispositiv.
Die Sache ist tatsächlich noch etwas verzwickter. Sie betrifft die Ideologie des gerechten Wettbewerbs. Wettbewerbe sind, wie wir aus dem Sport und den dafür berühmten olympischen Spielen wissen, niemals gerecht, auch dann nicht, wenn versucht wird, über umfangreiche Regelwerke, solche Gerechtigkeit herzustellen. Das tragische Beispiel dafür ist die südafrikanischen 800m-Läuferin Caster Semenya.[10] Ihr Beispiel ist kontingent. Mit ebenso viel Recht könnte man argumentieren, dass die Beinlängen von Hürdenläufer*innen reglementiert werden müssten oder die Armlänge beim Auslegerarm der Boxer*innen. Wo Wettbewerbsbedingungen herrschen, werden bestimmte Randbedingungen als selbstverständlich gesetzt, andere nicht. Was ich an den Beispielen aus dem Sport gezeigt habe gilt mutatis mutandis[11] auch für die Erziehungswissenschaft.
Indem die Erziehungswissenschaft sich darauf konzentriert in ihrer Theorie und manchmal auch in ihrer Praxis durch die Förderung von sogenannter Chancengleichheit und Inklusion einen Beitrag zu einem gerechteren Schulsystem zu leisten, vermag sie sich gleichzeitig aus der Dynamik von sozialen Konflikten, die hinter der Wahrnehmung von sozialen Probleme bestehen, weitgehend herauszuhalten. Dies ist für eine wissenschaftliche Disziplin keine ungeschickte Strategie. Es hilft ihr sich in für sie schwierig werdenden Situationen zu triangulieren.
Auf diese Weise kann die Erziehungswissenschaft sich gewissermaßen als neutraler Schiedsrichter über diese Konflikte hinwegsetzen und Selektionsentscheidungen in der Bildungsinstitution im Rahmen ihrer eigenen Diskurslogik begründen, indem sie sie etwa auf die Individualität der Kinder reduziert.
Die Chancengleichheit der Schule und der Kampf um sie bildet so gesehen eine Basis dafür, die Willkür der herrschenden Klassen im Bildungssystem aufrechtzuerhalten. Auf diese Art und Weise kann wunderbar die Vielfalt in der Schule nachgedacht und gesprochen werden, während die Einfalt der individualisierten Bewertung praktiziert wird. Diese individualisierende Betrachtungsweise bildet sich in der Vergabe der Diplome ab.
Die Feststellung, dass Kinder mit den eben genannten sozialen Verortungen und Hintergründen im System der staatlichen Schule häufiger scheiterten als Kinder anderer sozialer Verortung kann nun zum Vorwand genommen werden, dass der Staat sich über weitere Dispositive noch früher in das Leben der Kinder einmischt.
Wir sind nun bei der sogenannten frühkindlichen Förderung angelangt, die im Rahmen so genannter Chancengleichheit vorangetrieben wird, während Henri noch immer das Gymnasium nicht besuchen darf.[12]
Für Ihre Geduld als Leser*innen dieses Beitrags bin ich Ihnen zu Dank verpflichtet.
4. Literatur
Atmanspacher Harald, Bezzola Lambert Ladina, Folkers Gerd and Schubiger, P. August (2014): Relevance relations for the concept of reproducibility. J. R. Soc. Interface 11(20131030.).
Bourdieu, Pierre, Passeron, Jean-Claude (1971): Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart, Ernst Klett Verlag.
Castoriadis, Cornelius (1984): Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag.
Douglas, Mary (1991 (1986)): Wie Institutionen denken. Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag.
Erdheim, Mario (1982): Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozess. Frankfurt am Main, Suhrkamp.
Heydorn, HeinzJoachim (1980): Ungleichheit für alle: Zur Neufassung des Bildungsbegriffs, Bildungstheoretische Schriften 3. Frankfurt am Main, Syndikat Autoren- und Verlagsgesellschaften.
Weisser, Jan (2007): Für eine antiessentialistische Theorie der Behinderung. Behindertenpädagogik 46(3/4), S. 237-249.
Zahnd, Raphael (2017): Behinderung und sozialer Wandel. Eine Fallstudie am Beispiel der Weltbank. Bad Heilbrunn, Verlag Julius Klinkhardt.
[1] Vgl. dazu:
www.forschungsgruppe-kreativwerkstatt.ch Zur Geschichte der Forschungsgruppe, vgl. den vorstehenden Link. Die Gruppe ist seit 2017 von institutionellen Anbindungen frei. Sie hat sich als Verein konstituiert. Der Verein nimmt Anfragen und Aufträge entgegen, so etwa das Durchführen von Lehrveranstaltungen an Hochschulen.Die Forschungsgruppe finanziert sich aus den Einkünften der von ihr realisierten Lehraufträge und einem Sponsoring von 100000 SFR einer Stiftung einer großen schweizerischen Versicherung. Dies ermöglicht das Weiterführen der Forschungsarbeiten bis in den Sommer 2020-
[2] Wir treffen uns jede Woche zu einer Forschungssitzung von rund 90 Minuten Dauer und untersuchen verschiedene Phänomene rund um »Behinderung«, die uns interessieren, daneben schreiben wir, Artikel, Bücher und unterrichteten bisher an zwei Pädagogischen Hochschulen. Finanziert wird die Gruppe durch die Einkünfte aus ihren Tätigkeiten und durch einen Beitrag einer großen schweizerischen Versicherung, die uns 100000 Franken zur Verfügung stellt, damit wir die nächsten anderthalb Jahre weiter forschen können.
[3] Mario Erdheim hat dazu das schon erwähnte Buch » Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit geschrieben (vgl .dazu Erdheim 1982). Mary Douglas hat darunter unter Bezugnahme auf die Denkstilsoziologie von Ludwik Fleck in ihrem Buch „Wie Institutionen denken“ geschrieben (vgl. dazu Douglas 1991). Sobald eine Institutionalisierung stattgefunden hat, entsteht der Machtkampf um ihre Deutung.
[5] Das Konzept seiner anti-essentialistischen Theorie der Behinderung entlehnt Jan Weisser den Arbeiten von Robert Nisbet und Robert Kind Merton und deren Formulierung eines sozialen Problems als Diskrepanz zwischen Erwartung und Beobachtung (Merton and Nisbet 1976). Jan Weisser fasst Behindert als Konflikt zwischen Erwartung und Vermögen. Anders gesagt: Behinderung wird in einer solchen Konzeption zu einem Verhältnis zwischen Menschen, das lokotemporal situiert ist und sich diskursanalytisch untersuchen lässt. Raphael Zahnd hat dies in seinem Buch »Behinderung und sozialer Wandel« (Zahnd 2017) eindrücklich gezeigt.
[6] Eines der Probleme im Zusammenhang mit einem solchen Streit besteht darin, ob es jemand, eine Instanz, eine Autorität, wen oder was auch immer geben kann, die nicht von vorbestehender Herrschaft abhängt und durch diese kontaminiert ist.
[8] Migration ist eine Frage der Kalibrierung der Wahrnehmung. Wer mehr als 1000 Kilometer zügelt oder vom ersten in den dritten Stock eines Hauses: beide Menschen haben einen Migrationshintergrund. Im ersten Fall sind wir eher geneigt, anzunehmen., dieser Mensch komme aus einem fremden Land. In der Schweiz kommt ein solcher Mensch ganz sicher aus dem Ausland, weil das Land nur 200 auf 400 km misst. In Deutschland ist das schon etwas schwieriger, ganz zu schweigen von Italien. :) In der Schweiz kann es einem allerdings auch passieren, »fremd, zu sein, wenn man nur 20 km weit migriert. Man spricht dann die falsche Sprache, aber man hat auch die falsche Schule besucht und hat größere Probleme mit dem neuen Curriculum in der Schule zurecht zu kommen. Für nichtschweizerische Leser*innen: die Schweiz verfügt über 26 ziemlich stark unterschiedlich ausgestaltete Schulsysteme.
[9] Dass an dieser Stelle der Lektor meines Aufsatzes in einer Anmerkung gefragt hat, auf was der Verweis auf Heydorn hinziele, belegt gerade, wie tot der Bildungsbegriff mit dem Heydorn sich in seinem Werk auseinandersetzt in der neueren erziehungswissenschaftlichen Diskussion zur Zeit ist. Vielleicht verhilft diese Fußnote zur einer Wiedererweckung der Debatte und des Streitens darum, was Bildung denn ist, sein soll, sein könnte, sein müsste, jenseits formaler Abschlüsse in bestimmten Organisationen der Bildungsinstitution.
[10] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Caster_Semenya / Abfrage 10. Juni 2019.
[11] Der lateinische Text wird absichtlich nicht übersetzt, wer eine Übersetzung braucht findet sie hier, entsprechend den Gepflogenheiten der heutigen Wissenschaft in englischer Sprache: https://en.wikipedia.org/wiki/Mutatis_mutandis n/ Abfrage 15. 1. 2019.