Julie A. Panagiotopoulou:Inklusion und Norm – Inklusion als Norm?

Abstract: Dieser Beitrag geht auf einen Impulsvortrag mit dem Titel „Inklusion und Norm“ zurück, der im Rahmen der zweiten Arbeitstagung der „AG Inklusionsforschung“ der DGfE gehalten wurde. Er fragt nach der sprachhistorischen Herkunft und theoretischen Verfasstheit des Begriffes ‚Norm‘ sowie nach der wechselseitigen Konstituierung von ‚Normalität‘ und ‚Abweichung‘ im Kontext von Bildungseinrichtungen. Darüber hinaus macht er darauf aufmerksam, dass sich die Idee der Inklusion zu einer ‚globalen Norm‘ etabliert hat, sodass diejenigen, die den normativen Anforderungen einer inklusiven Bildung nicht entsprechen, ihre Exklusion selbst verantworten.

Stichworte: Norm, Normativität und Abweichung, Inklusion und Exklusion im Bildungskontext

Inhaltsverzeichnis

  1. Von der sprachhistorischen Herkunft der Norm …
  2. … bis zur ‚sprachlichen Herkunft‘ als Abweichung
  3. Ausblick: Inklusion als Norm?
  4. Literatur

Der vorliegende Beitrag geht auf einen Impulsvortrag mit dem Titel „Inklusion und Norm“ zurück, der im Juni 2018 an der Europa Universität Flensburg im Rahmen der zweiten Arbeitstagung der „AG Inklusionsforschung“ der DGfE gehalten wurde. Er fragt einerseits nach der sprachhistorischen Herkunft und theoretischen Verfasstheit des Begriffes ‚Norm‘ und andererseits nach der wechselseitigen Konstituierung von ‚Normalität‘ und ‚Abweichung‘, unter anderem am Beispiel des Differenzmerkmals ‚sprachliche Herkunft‘, im Kontext von deutschen Bildungseinrichtungen. Vor dem Hintergrund einer Wende zur Inklusiven Bildung als Menschenrecht und als „globale Norm“ (Powell 2018) wird darüber hinaus nach möglichen Konsequenzen dieser Entwicklung insbesondere für diejenigen, die im Bildungskontext exkludiert werden, gefragt. 

1. Von der sprachhistorischen Herkunft der Norm …

Die Frage nach der semantischen Genese des Begriffes Norm wurde im erziehungswissenschaftlichen Diskurs der letzten Jahre mehrfach gestellt, sodass hierzu bereits unterschiedliche Interpretationen vorliegen. Eine der m.E. interessantesten Fehletymologien liefert Jörg Zirfas in seinem Beitrag „Norm und Normalität“, wenn er, bezugnehmend auf ein historisches Wörterbuch der Philosophie, davon ausgeht, dass „der Begriff der Norm […] im Kern auf eine Naturvorstellung (physis, natura) verweist, in der die Natur als eine Baumeisterin verstanden wird, an der sich auch das menschliche Sein und das menschliche Handeln orientieren soll“ (Zirfas 2014: 675). Das lateinische Wort „norma“ wird wiederum – laut Zirfas – vom griechischen Wort „kalon“ – übersetzt als: „Maßstab, Regel“ – „abgeleitet“: Im Zusammenhang mit geistigen und kulturellen Phänomenen wurde die Norm als die „geistige Regel“ definiert­, die „aus der Natur selbst“ entstand und unmittelbar verknüpft war mit dem ihr „zugrunde liegende[n] Vernunftgesetz“ (ebd.)[1]. Sowohl diese Naturvorstellung, als auch die theoretische Verknüpfung von norma und natura lassen sich m.E. nicht mit dem griechischen Wort kalon semantisch verknüpfen. Das kalon, das in der griechischen Antike das Richtige und Gerechte bezeichnete, galt weder als natürlich noch als geistig oder spirituell und es war keinesfalls gottgegeben. Anthropologisch betrachtet wurde der Mensch nicht in Differenz zu Gott, sondern bekanntlich eher anthropozentrisch bestimmt. Die Götter verhielten sich daher eher menschlich und so handelten sie (auch) gegen die eigenen bzw. gegen die Normen der Menschen. „Erst im Humanismus“ – worauf auch Jörg Zirfas verweist – orientierte sich der Normbegriff an der Idee der „Vollkommenheit“ des ethisch handelnden Menschen und „an einer Einfügung in eine zunächst noch gottgewollte, später dann vernunftkonstituierte Ordnung“ (ebd.).
Fehletymologien, wie die oben erwähnte, sind dennoch interessant, weil sie auf zeitgenössische Diskurse und Begrifflichkeiten hindeuten. Wird, wie in unserem Beispiel, aus dem Wort kalon das Wort Norm abgeleitet, ergibt sich dadurch (wenn auch implizit oder ungewollt) die Idee einer guten, richtigen und gerechten Norm bzw. einer normativen Norm. Aber kann die Norm gut und gerecht oder schlecht und ungerecht sein?
Mit Anne Waldschmidt (1998) ist unter einer „normativen Norm“ – auch im Unterschied zu einer „normalistischen Norm“ – eine „Vorschrift“ zu verstehen, die „im Laufe des Sozialisationsprozesses von den Subjekten internalisiert wird“ (Waldschmidt 1998: 10). Die gesellschaftliche Funktion solcher Normen – und überhaupt der Normativität – richte sich auf die Erzeugung von „Anpassung“ und „Konformität“ sowie auf das Verhindern von „Abweichung“ (ebd.). Jede Konstruktion einer „Normalität“[2] impliziert somit auch die Konstruktion dessen, was abweichend ist. Und wenn diese Annahme auch in umgekehrter Richtung gilt, dann impliziert jede Abweichung auch die jeweilige Normalität, auf die sie sich (punktuell) bezieht. Abweichungen bestätigen und stärken sogar die Normen. „Weicht man“ zum Beispiel von der regulatorischen „Gender-Norm“ ab, „bringt man gleichzeitig ein Beispiel für eine Abweichung hervor“, wie Judith Butler feststellt; damit wird aber nicht die Norm in Frage gestellt, weder als Ideal, noch als Standard (Butler 2009: 91). Die „Pathologisierung“ der von der Norm abweichenden Individuen und ihre, u.a. körperliche, „Korrektur“ wird stets „im Namen der Normalisierung“ durchgeführt (ebd.).
Auf der Ebene gesellschaftlicher Institutionen werden solche Korrekturen systematisch und mithilfe von Normierungs- und Disziplinierungsmaßnahmen vorgenommen, wobei „die Disziplinargeschichte des Körpers“, wie Jörg Zirfas in Anlehnung an Michel Foucault schreibt, zeigt „dass die Intention der jeweiligen gesellschaftlichen Institution, seien es Gefängnisse, Fabriken, Militär oder Schule, über den Körper hinaus auf die Seelen der Betroffenen zielen“ (Zirfas 2014: 677).
Bereits beim Übergang in die sich als ‚inklusiv‘ verstehende Grundschule, in ‚eine Schule für alle‘, wurden und werden junge Kinder mittels Erziehung zunächst körperlich diszipliniert. Sie sollen lernen ruhig und still zu sitzen. Schulanfänger*innen, denen unterstellt wird, dass sie dies nicht können oder wollen, gelten auch in inklusiven Schulen als „Abweichler/Abweichlerin“, sie werden von den weiteren Kindern der Gruppe als nur bedingt inklusionsfähig unterschieden und – z.B. als „nicht richtige ‚Schulkinder‘“ – klassifiziert (Jäger 2011; Winter & Panagiotopoulou 2017). Dadurch wird aber weder die Norm des richtigen Schulkind-Seins noch das normative Selbstverständnis der inklusiven Schule in Frage gestellt.
In ihrem Beitrag „Normierung und Normalisierung der Kindheit“ verweist Helga Kelle auf Bühler-Niederbergers (2011) Konzept des universell durchgesetzten „normativen Musters“ einer langen und behüteten Kindheit, dessen „normative Kraft“, auch trotz der empirischen „Evidenz real vielfältiger Kindheiten“ nicht relativiert wird (Kelle 2013: 22). Über nicht-privilegierte Kindheiten, lern- und verhaltensauffällige, traumatisierte und (noch) nicht schulfähige Kinder wird in den letzten Jahren oft im Zusammenhang mit (Flucht-) Migration und den damit verbundenen realen Lebensbedingungen und biographischen Besonderheiten ihrer Familien in den Medien und in erziehungswissenschaftlichen Debatten berichtet. Durch eine vorrangig als abweichend konstruierte Kindheit wird die universelle Norm einer guten, langen, einheimischen und beschützten Kindheit nicht aufgegeben, sondern eher bestätigt. 
Mit Judith Butler (2009: 73) ist schließlich darauf zu verweisen, dass Normen weder gut noch schlecht, weder gerecht noch ungerecht sein können, da diese nicht mit den Handlungen, deren soziale Intelligibilität sie regieren, gleichzusetzen sind. Die jeweilige Norm legt lediglich „dem Sozialen“, und zwar sozusagen in Konkurrenz zu anderen Normen, „ein Gitter der Lesbarkeit auf“, so dass erst das Vorhandensein einer Norm „ermöglicht, dass bestimmte Praktiken und Handlungen als solche erkannt werden können“ (Butler 2009: 73): Aus diesem Grund ist bereits in der Frage, was außerhalb der Norm liegt, ein gedankliches Paradoxon zu sehen, da die Norm die Interpretation des Sozialen überhaupt erst ermöglicht.
Die sprachgeschichtliche Herkunft des Begriffes Norm scheint tatsächlich mit der Idee der Norm als Interpretationsstütze zusammenzuhängen. Etymologisch leitet sich das lateinische Wort norma aus dem griechischen Wort gnomona, der Akkusativform des Wortes gnomon, ab. Der Gnomon wurde bereits im 5. Jahrhundert vor Christus als astronomisches Messinstrument zur Bestimmung der Nordrichtung eingesetzt. Die Idee der Norm ist also nicht aus der Natur entstanden, sondern andersherum: Normen wurden zur Interpretation der Natur genutzt. Damit wurden einerseits Naturphänomene empirisch, d.h. basierend auf Erfahrung, erfasst und interpretiert. Andererseits wurden Normen zur Interpretation der Natur des Menschen eingesetzt, was sowohl mit der Entstehung der Idee der Erziehung (als „Pädagogik“), als auch mit der Personifizierung der Norm verbunden ist: Als Gnomon wurde bereits in der Antike nicht nur das Instrument, sondern – metaphorisch – auch diejenige Person bezeichnet, die mithilfe von Instrumenten, also von Normen (als Maßstäben), menschliches Verhalten interpretieren und beurteilen, genauer gesagt: diagnostizieren durfte. Deswegen sind auch die Wörter Gnomon, Gnosis (Erkenntnis) und Diagnosis theoretisch bzw. etymologisch verknüpft. Bis heute beteiligen wir uns als pädagogisch Tätige mithilfe von Normen zunächst an einer normgestützten Interpretation des menschlichen (Lern-)Verhaltens und anschließend, mittels legitimer, der Norm dienender Erziehungsmaßnahmen, an Regulierungs- und Normierungsprozessen. Die dabei verwendeten, ineinander verflochtenen Maßstäbe und je nach Situation als absolut oder als nur bedingt verbindlich geltenden, Muss-, Soll- oder Kann-Normen, wirken für die Betroffenen nicht immer transparent. Und obwohl die theoretische oder moralische Verfasstheit von Normen unter den realen Bedingungen pädagogischer Interaktion kaum geprüft werden kann, werden damit die Praktiken von Individuen interpretiert und u.a. als normabweichend befunden. Die Konsequenzen, und somit die Verantwortung für solche Klassifizierungen, werden allerdings seitens der Bildungsinstitutionen, die die Normen festsetzen, nicht ohne Weiteres übernommen. So gelten in pädagogischen Feldern nicht nur angeblich gute Normen, sondern auch „vermeintlich neutrale Normen“, wie Mechthild Gomolla (2016: 78) kritisch anmerkt, mit denen alle Schülerinnen und Schüler konfrontiert werden. Diejenigen von ihnen, die nicht den angeblich neutralen Anforderungen einer meritokratischen Schule, als deren normative Selbstdefinition, entsprechen, sollen ihr abweichendes (Lern-)Verhalten selbst verantworten[3].

2. … bis zur ‚sprachlichen Herkunft‘ als Abweichung

Ein charakteristisches Beispiel einer angeblich neutralen schulischen Norm ist die als Messlatte dienende Schulsprache, die neuerdings im deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Diskurs mit einem normativen Begriff als ‚Bildungssprache Deutsch‘ bezeichnet wird: „Das bildungssprachliche Deutsch ist der Maßstab, an dem der Wert anderer Sprachformen bemessen wird“ (Dirim/Khakpour 2018: 217).
Die gesellschaftliche Macht einer monolingualen Norm ist natürlich kein neues Phänomen: So galt bereits in der Antike der attische Dialekt als Machtinstrument, das sogar in Kolonien des Stadtstaats Athen durchgesetzt wurde und als die einzige legitime Sprache (sensu Bourdieu) galt, an der alle ‚anderen‘ Sprachen und Sprecher*innen gemessen wurden[4]. Dabei wurden bereits in der Antike diejenigen, denen eine fremdsprachige bzw. nicht-griechischsprachige Herkunft zugeschrieben wurde, als Barbaren[5] stigmatisiert.
Während erst im 19. Jahrhundert die Genese der Nationen durch die Bildung von (normierten) Nationalsprachen in Europa realisiert wurde, wird bis heute die legitime Sprache der herrschenden und bildungsprivilegierten Schichten, die Sprachnorm, durch die Schule hervorgebracht (Bourdieu 2017). Mit einem empirischen bzw. ethnographisch-vergleichenden Blick auf Deutschland und Spanien machte bereits im 18. Jahrhundert Wilhelm von Humboldt darauf aufmerksam, dass gerade die „spezifische Verwendung von Sprache durch die Gebildeten“ zu einer gesellschaftlichen Spaltung führt, was „ein neues Kastenwesen, eine Differenz zwischen dem deutschen Volk und einer ‚intellectuelle[n] Aristokratie‘ hervorbringt“ (Mattig 2018: 159).
In gegenwärtigen europäischen Migrationsgesellschaften werden soziale Differenzen in der Schule unter anderem durch die jeweils machtvolle Schulsprache hervorgebracht oder (re-)produziert: Neuzugewanderte Kinder und Jugendliche werden – in Form einer exkludierenden Inklusion (sensu Foucault) – in besonderen ‚Vorbereitungsklassen‘ eingeschult, wo sie durch Separation zunächst mit den geltenden (Leistungs-)Normen der (inklusiven) Schule vertraut gemacht werden sollen. In Deutschland werden sie u.a. mit der Norm einer „monolingualen Deutschsprachigkeit“ (Dirim/Khakpour 2018: 215) und mit entsprechenden (impliziten) Sprachverboten sowie (expliziten) Sprachgeboten, z.B. mit der bekannten Aufforderung ‚bei uns wird Deutsch gesprochen‘, konfrontiert. Unabhängig davon, ob sie bereits vor der (Flucht-)Migration mehrsprachig sozialisiert und alphabetisiert wurden oder ob sie mittlerweile mehrsprachig leben, werden sie in diesen besonderen Vorbereitungsklassen verbesondert: als ‚nicht-(deutsch-)sprachig‘ adressiert bzw. als „Nullsprachler“[6] stigmatisiert (vgl. Panagiotopoulou et al. 2018; 2019 und Panagiotopoulou & Rosen 2019). Beim Übergang in die sich als inklusiv verstehende deutsche Schule lässt sich rekonstruieren, mit welchen Mechanismen und Praktiken die regulatorische Norm der ‚Bildungssprache‘ das mehrsprachige Handeln der potentiellen (Regel-)Schüler*innen korrigiert bzw. monolingualisiert und somit normalisiert werden soll. Dabei bleibt die (Sprach-)Norm implizit oder unausgesprochen, während sprachliche Abweichungen durch personifizierte Gegenbeispiele explizit zum Gegenstand der Betrachtung gemacht und objektiviert werden. So wird das vieldiskutierte „Konstrukt“ ‚Bildungssprache Deutsch‘ paradoxerweise bis heute nicht operationalisiert (Berendes et al. 2013: 37)[7], es handelt sich also um ein normativ definiertes Register, das auch „im Unterricht nur selten explizit vermittelt [wird]“ (Becker-Mrotzek & Roth 2017: 22). Eine Leistungsabweichung hinsichtlich sogenannter bildungssprachlicher Fähigkeiten bei besonderen Gruppen von Schüler*innen, die eben dieses sprachliche Register nicht in ihren Familien erwerben, wird trotzdem systematisch diagnostiziert. Das Scheitern der Schüler*innen wird nicht in der monolingualen Sprachenpolitik der Schule, auch nicht in der erwähnten deutschdidaktischen Problematik einer nicht expliziten Vermittlung der Schulsprache, sondern in der sozialen und insbesondere sprachlichen Herkunft der Heranwachsenden und ihrer Eltern gesehen. So wird in den letzten Jahren die Sprachnorm der Schule bereits vor der Schule bestätigt, indem drei- und vierjährigen, mehrsprachig lebenden Kindern Förderbedürftigkeit im Bereich der ‚Bildungssprache Deutsch‘ bescheinigt wird (vgl. Panagiotopoulou 2019). Über ihre zu erwartenden Sprach- und Lernschwierigkeiten im Kontext der Schule wird in den letzten Jahren nicht nur im früh- und schulpädagogischen Fachdiskurs berichtet, sondern auch in den Medien spekuliert. Denn erst durch das (indirekte) Thematisieren der ‚Auffälligkeiten‘ werden auch die Normen für alle erkennbar. Gesellschaftliche Normen werden sogar über die Massenmedien systematisch gestärkt, indem diese über die entsprechenden Abweichungen – und in der Regel nur über diese – regelmäßig berichten (vgl. Luhmann 1996). Dass Normverstöße auch innerhalb von Erziehungs- und Bildungseinrichtungen notwendig sind, damit Normen nicht nur bestätigt, sondern überhaupt kommuniziert werden, lässt sich ebenfalls in Anlehnung an Niklas Luhmann (ebd.) feststellen: Der Organisation Schule fallen die eigenen Normen nicht (immer) auf, insbesondere dann nicht, wenn diese unsichtbar und unaussprechbar bzw. tabuisiert sind.

3. Ausblick: Inklusion als Norm?

Wie wird die unausgesprochene Norm der ‚Schul- und Inklusionsfähigkeit‘ der Schulanfänger*innen beim Übergang in die inklusive Schule in der pädagogischen Praxis verhandelt und umgesetzt? Wie sind in Zeiten globaler (Flucht-)Migration die strukturellen Exklusionsbedingungen der Einschulung Neuzugewanderter mit der globalen Norm der Inklusion zu vereinbaren? Wie kann sich die Schule als inklusiv und meritokratisch verstehen, während gleichzeitig die Schüler*innen selbst die Verantwortung dafür übernehmen sollen, dass sie die schulisch legitimierte Sprachnorm nicht beherrschen? Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive und insbesondere im Zusammenhang mit einem breiten, intersektionalen Verständnis von Inklusion werden in den letzten Jahren die Normen und Anforderungen der Bildungsinstitutionen, die Herstellung von (auch neuen) Differenzen sowie die strukturellen Unzulänglichkeiten des Bildungssystems und die institutionalisierten Barrieren kritisch betrachtet (vgl. z.B. Budde/Hummrich 2015; Budde et al. 2019). Das besondere Problem liegt also m.E. nicht darin, dass im Bildungssystem und im pädagogischen Alltag normative und angeblich neutrale Normen, über die auch nicht systematisch reflektiert wird, vorherrschen. Das (selbst produzierte) Problem sehe ich hauptsächlich darin, dass auch im erziehungswissenschaftlichen Diskurs der Begriff Inklusion normativ aufgeladen ist, da Inklusion allgemein „als ein hegemoniales Leitkonzept der Gegenwart“ angesehen werden kann, dass ausschließlich positiv konnotiert ist (Peter/Waldschmidt 2017: 32). Die vorherrschende „normative Inklusionssemantik“ sowie „die Verfügbarkeit (vermeintlich) universeller Inklusionschancen“ blenden systematisch die strukturellen Exklusionsgründe aus und können somit „zur Individualisierung des Scheiterns führen“ (ebd.: 35). Daran anschließend sowie zurückgreifend auf meine Anfangsfragen – wie viel Natur und wie viel Gutes in der Norm steckt und warum es keine guten versus schlechten oder neutralen Normen gibt – möchte ich folgende Fragen stellen:
Wie viel Exklusion steckt eigentlich in der globalen Norm der Inklusion? Inwieweit braucht Inklusion (als Norm) die Exklusion (als Abweichung), um kommuniziert und bestätigt zu werden? Wie und vor allem entlang welcher Normen werden die Inklusions- und Exklusionsregeln in unterschiedlichen Bildungsinstitutionen definiert?
Und schließlich: Was passiert unter den realen Bedingungen der gegenwärtigen Zunahme von sozialen Ungleichheiten mit den Individuen, die als personifizierte Beispiele von Abweichung dienen? Inwieweit wird von ihnen erwartet, dass sie selbst die Verantwortung für das Scheitern ihrer Inklusion und für ihre soziale Ausgrenzung übernehmen?

4. Literatur

Becker-Mrotzek, Michael/Roth, Hans-Joachim (2017): Sprachliche Bildung – Grundlegende Begriffe und Konzepte. In: Becker-Mrotzek, Michael/Roth, Hans-Joachim (Hrsg.): Sprachliche Bildung – Grundlagen und Handlungsfelder. Weinheim und Basel: Beltz, S. 11-38.
Berendes, Karin/Dragon, Nina/Weinert, Sabine/Heppt, Birgit/Stanat, Petra (2013): Hürde Bildungssprache? Eine Annäherung an das Konzept „Bildungssprache“ unter Einbezug aktueller empirischer Forschungsergebnisse. In: Redder, Angelika/Weinert, Sabine (Hrsg.): Sprachförderung und Sprachdiagnostik. Interdisziplinäre Perspektiven. Münster: Waxmann, S. 17-41.
Bonfiglio, Thomas Paul (2013): The Invention of the Native Speaker. Critical Multilingualism Studies 1, 2, S. 29-58.
Budde, Jürgen/Hummrich, Melere (2015): Inklusion aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive. In: Erziehungswissenschaft, 26, 51, S. 33-41.
Budde, Jürgen/Panagiotopoulou, Agyro/Sturm, Tanja (2019): Bildungspolitische Steuerung des Erziehungswissenschaftlichen Diskurses zu schulischer Inklusion. In: Budde, Jürgen/Dlugosch, Andreas/Herzmann, Petra/Panagiotopoulou, Agyro/Rosen, Lisa/ Sturm, Tanja/Wagner-Willi, Monika (Hrsg.): Inklusionsforschung im Spannungsfeld von Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik. Schriftenreihe der AG Inklusionsforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE). Opladen: Verlag Barbara Budrich (i.E.).
Bourdieu, Pierre (2017): Sprache. Schriften zur Kultursoziologie. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main.
Butler, Judith (2009): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main.
Bühler-Niederberger, Doris (2011): Lebensphase Kindheit. Theoretische Ansätze, Akteure und Handlungsräume. Weinheim: Juventa.
Dirim, Inci/Khakpour, Natascha (2018): Migrationsgesellschaftliche Mehrsprachigkeit in der Schule. In: Dirim, Inci/Mecheril, Paul u.a.: Heterogenität, Sprache(n), Bildung. Die Schule der Migrationsgesellschaft. Stuttgart: utb Verlag, S. 201-225.
Fornol, Sarah L. (2017): Bildungssprache – mehr als konzeptionelle Schriftlichkeit? In: Heinzel, Friederike/Koch, Katja (Hrsg.): Individualisierung im Grundschulunterricht, Jahrbuch Grundschulforschung. Wiesbaden: Springer, S. 178-182.
Gomolla, Mechtild (2016): Diskriminierung. In: Mecheril, Paul (Hrsg.): Handbuch Migrationspädagogik. Weinheim und Basel: Beltz, S. 73-89.
Jäger, Marianna (2011): ,Doing difference‘ in einer Schweizer Primarschulklasse. Das Fremdbild des Erstklässlers Amir aus ethnografischer Perspektive. In: Diehm, Isabelle/Panagiotopoulou, Argyro (Hrsg.): Bildungsbedingungen in europäischen Migrationsgesellschaften. Wiesbaden, S. 25-44.
Kelle, Helga (2013): Normierung und Normalisierung der Kindheit. Zur (Un)Unterscheidbarkeit und Bestimmung der Begriffe. In: Kelle, Helga/Mierendorff, Johanna (Hrsg.): Normierung und Normalisierung der Kindheit. Weinheim Basel: Beltz Juventa Verlag, S. 15-37.
Luhmann, Niklas (1996): Die Realität der Massenmedien. 2., erweiterte Auflage Opladen: Westdeutscher Verlag.
Luhmann, Niklas (2008): Normen in soziologischer Perspektive. In: Ders.: Die Moral der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 25-55.
Mattig, Ruprecht (2018): Wilhelm von Humboldt als Ethnograph der Sprachen. Seine (tragische) Einsicht in die Dialektik der Bildung in Deutschland. In: Mattig, Ruprecht/Mathias, Miriam/Zehbe, Klaus (Hrsg.): Bildung in fremden Sprachen? Pädagogische Perspektiven auf globalisierte Mehrsprachigkeit. Bielefeld: transcript Verlag, S. 139-169.
Panagiotopoulou, Argyro (2019): Inklusion und Migration: Zur Konstruktion von und zum Umgang mit ‚migrationsbedingter Heterogenität‘ in Kindertageseinrichtungen und Schulen. In: König, Anke/Heimlich, Ulrich (Hrsg.): Inklusion in Kindertageseinrichtungen. Band 13; Kohlhammer Verlag (i.E.).
Panagiotopoulou, Argyro/Rosen, Lisa/Karduck, Stefan (2018): Exklusion durch institutionalisierte Barrieren - Einblicke in die pädagogische Praxis einer sogenannten ‚Seiteneinsteiger*innen-Klasse‘ für geflüchtete Kinder und Jugendliche in einem marginalisierten Quartier von Köln. In: Ceylan, Rauf/Ottersbach, Markus/Wiedemann, Petra (Hrsg.): Neue Mobilitäts- und Migrationsprozesse und sozialräumliche Segregation. Wiesbaden: Springer VS, S. 115-131.
Panagiotopoulou, Argyro/Rosen, Lisa/Strzykala, J. (2018): Inklusion von neuzugewanderten Schüler*innen durch mehrsprachige Lehrkräfte aus zugewanderten Familien? Deutschförderung unter den Bedingungen von (Flucht-)Migration. In: Dirim, Inci/Wegner, Anke (Hrsg.): Normative Grundlagen und reflexive Verortungen im Feld DaF_DaZ*. Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 210-227.
Peter, Tobias/Waldschmidt, Anne (2017): Inklusion. Genealogie und Dispositivanalyse eines Leitbegriffs der Gegenwart. In: Sport und Gesellschaft 14, 1, S. 29-52.
Powell, Justin W. (2018): Inclusive Education: Entwicklungen im internationalen Vergleich. In: Sturm, T./Wagner-Willi, M. (Hrsg.): Handbuch schulische Inklusion. Opladen & Toronto: Barbara Budrich, S. 127-141.
Thoma, Nadja (2015): Ein „neutrales Vergleichsmedium, das niemandes Muttersprache ist“? Zur Bedeutung der (‚Bildungs‘)Sprachen Latein und Griechisch in fachdidaktischen Diskursen der amtlich deutschsprachigen Migrationsgesellschaft. In: Thoma, Nadja/Knappik, Magdalena (Hrsg.): Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften. Machtkritische Perspektiven auf ein prekarisiertes Verhältnis. Bielefeld: transcript (Kultur und soziale Praxis), S.179-203.
Waldschmidt, Anne (1998): Flexible Normalisierung oder stabile Ausgrenzung: Veränderungen im Verhältnis Behinderung und Normalität. In: Soziale Probleme, 1998, 1, S. 3-25.
Winter, Julia/Panagiotopoulou, Argyro (2017): Wenn auch Kinder dabei sind, „die noch nicht schulreif waren, als sie eingeschult wurden" - Der Übergang in die inklusive Grundschule. Zeitschrift für Grundschulforschung (ZfG), 10. Jg. 2017, 1, S. 25-37.
Zirfas, Jörg (2014): Norm und Normalität. In: Wulf, Christoph /Zirfas, Jörg (Hrsg.): Handbuch Pädagogische Anthropologie. Wiesbaden: Springer VS, S. 674-685.


[1] Etymologische Erklärungen, die den Begriff Norm mit dem Begriff Naturrecht und einer damit verbundenen machtvollen Naturvorstellung verbinden, provozieren, in Anlehnung an Luhmann (2008), auch die zentrale Frage, wie viel Natur tatsächlich im Naturrecht steckt.

[2] Normalität beeinflusst zwar „die Subjekte in der Ausrichtung ihres Verhaltens“, aber sie wird gleichzeitig von ihnen konstituiert, ebenso wird „Abweichung“ als der Gegenpol von Normalität hervorgebracht (Waldschmidt 1998: 11). Im Unterschied zur normativen Norm und zur Normativität ist eine „normalistische Norm“ und überhaupt „Normalität“ zunächst deskriptiv. Außerdem ist eine normalistische Norm, im Unterschied zur normativen Norm, die als „Punktnorm“ zu verstehen ist, eine „Streckennorm“, das bedeutet: „eine mehr oder weniger große Bandbreite, gruppiert um einen Durchschnitt“ (ebd.).

[3] Die Illusion der Chancengleichheit und der angeblichen Meritokratie der Schule besteht aber genau darin, dass „die Chancen, vermeintlich neutrale Normen erfüllen zu können, bei Angehörigen verschiedener sozialer Gruppen ungleich verteilt sind.“ (ebd.).

[4] In fachdidaktischen Diskursen deutschsprachiger Migrationsgesellschaften wird heute noch ein Gegensatz zwischen den „‚Bildungssprachen‘ (Latein und Griechisch)“ und modernen „‚Kommunikationssprachen‘ (Englisch, Französisch und andere) konstruiert“ (Thoma 2015: 186). Gleichzeitig wird eine Hierarchie zwischen prestigereichen (Bildungs-)Sprachen (Deutsch, Englisch etc.) und ‚Migrations- oder Herkunftssprachen‘ prozessiert.

[5] In der griechischen Lexikographie wird das Wort „Barbar“ etymologisch mit der Lautmalerei „bar-bar…“ in Verbindung gebracht, damit sollte die unverständliche Sprache der ‚nicht Griechen‘ und folglich die Sprachpraxis der ‚nicht Gebildeten‘ karikiert werden. Definitionsgemäß verweist nämlich das ‚Griechisch-Sein‘ in der Antike auf sprachlich-kulturelle Kriterien und nicht etwa auf ethno-nationale Eigenschaften (vgl. Bonfiglio 2013).

[6] Wie auch anhand ethnographischer Feldstudien in Vorbereitungsklassen in NRW festgestellt werden konnte, gilt der Neologismus „Nullsprachler*in“ als inoffizielle Bezeichnung für Neuzugewanderte, die die Unterrichtssprache Deutsch (noch) nicht beherrschen.  

[7] Laut Berendes et al. (2013: 37) seien „weitere Studien notwendig […], die es ermöglichen, das Konstrukt ‚Bildungssprache‘, seine Operationalisierung und die Entwicklung bildungssprachlicher Fähigkeiten genauer zu umreißen.“ Auf der Grundlage empirischer Daten plädiert auch Fornol (2017: 181) für „eine Loslösung der z.T. normativen Zuschreibungen von Bildungssprache“, um schulische Leistungen differenziert bewerten zu können.