Krassimir Stojanov:Inklusion als Imperativ von (Bildungs-)Gerechtigkeit

Abstract: In diesem Aufsatz greife ich die Frage auf, inwiefern Inklusion ein Imperativ von (Bildungs-) Gerechtigkeit ist. Dabei gehe ich auf Einwände von Inklusionsskeptikern ein, wonach Inklusion den Leitnormen von Bildungsgerechtigkeit widerspreche, die sie als Leistungs- und Begabungsgerechtigkeit verstehen. In Hinblick auf den aktuellen Diskussionsstand über den (Bildung-) Gerechtigkeitsbegriff zeigt sich dieses Verständnis als grundlegend falsch. Vielmehr ist Bildungsgerechtigkeit – so die These – als Anerkennungsgerechtigkeit zu fassen, d.h. als institutionalisierte Gewährleistung der Anerkennungsformen der Empathie, des Respekts und der sozialen Wertschätzung. Mit diesen Formen unvereinbar sind in erster Linie die kollektivierende Zuordnung von Kindern zu essentialistisch konstruierten Begabungsgruppen und die sich darauf gründende Zuweisung dieser Gruppen zu unterschiedlichen Schultypen. Insofern ist Inklusion als ein Ansatz zur Überwindung von Ungerechtigkeit im Bildungswesen zu verstehen.

Stichworte: Inklusion, Bildungsgerechtigkeit, Anerkennung, essentialistische Behinderungs- und Begabungskonstruktionen

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Zum Begriff der Inklusion
  3. ,Leistungsgerechtigkeit‘ und schulische Inklusion
  4. Inklusion und Anerkennungsgerechtigkeit
  5. Fazit
  6. Literatur

1. Einleitung

In diesem Aufsatz möchte ich die Frage aufgreifen, inwiefern Inklusion ein Imperativ von (Bildungs-)Gerechtigkeit ist. Und: Ist es umgekehrt denkbar, dass Inklusion unter bestimmten Umständen gegen Gerechtigkeitsnormen im Bildungswesen verstoßen kann?
Die Antworten dieser Fragen sind nicht selbstverständlich, wenn man zwei weit verbreitete Einwände von Inklusionsskeptiker/-innen beachtet, nämlich dass (1) Inklusion vielmals zur Verminderung der allgemeinen Leistung von Schüler/-innen an den Schulen führen würde, an denen sie eingeführt wird (vgl. Ahrbeck 2014: 38), und dass sie (2) Gefühle der Vernachlässigung, Vereinsamung und Geringschätzung bei Kindern „mit sozialen und emotionalen Problemen“ oder mit „Lernschwierigkeiten“ noch verstärken könne, da sich diese Kinder permanent in einer Außenseiterposition in inklusiven Klassen befinden würden (vgl. ebd.: 39f.). Würde der Fall (1) ein Verstoß gegen das Gebot einer fairen Zuteilung von Bildungsgütern zw. Bildungsmöglichkeiten entsprechend den Leistungspotenzialen der Schüler/-innen beinhalten, wäre der Fall (2) als Verstärkung von Missachtung gegen die betroffenen Kinder, d.h. als eine ungerechte Behandlung von ihnen im Sinne der Anerkennungsgerechtigkeit zu werten.
Ich möchte gar nicht bestreiten, dass die beiden Formen von angeblichen oder wirklichen Ungerechtigkeiten in der Tat nicht selten in der aktuellen Praxis der Inklusion generiert werden. Sind sie jedoch auch ihrer Idee inhärent? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns zunächst näher mit dem Begriff der Inklusion befassen. In einem nächsten Schritt sollen wir dann die Frage aufgreifen, wie sich dieser Begriff zu den hier angedeuteten, unterschiedlichen Formen von Verteilungsgerechtigkeit und relationaler Gerechtigkeit, bzw. von Leistungsgerechtigkeit und Anerkennungsgerechtigkeit im Bildungswesen verhält.

2. Zum Begriff der Inklusion

Der Begriff der Inklusion bekam eine große öffentliche Prominenz in Deutschland in Zusammenhang mit der UN-Behindertenkonvention aus dem Jahre 2006. Dabei wird unter ,Inklusion‘ an Schulen vor allem (wenn auch nicht ausschließlich) die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderungen verstanden. Allerdings hat ‚Inklusion‘ eine grundsätzlichere und allgemeinere Bedeutung als die simple Forderung, dass behinderte Kinder Regelschulen besuchen sollen. Diesbezüglich greifen Christian Hofmann und Asya Markova in einem programmatischen Aufsatz, der ,Inklusion’ in ihrer kategorialen Leitdifferenz zur ,Integration‘ herausarbeitet, Überlegungen von Heiner Bielefeldt aus dem Jahre 2009 auf, wonach der Begriff der Inklusion nicht nur eine Abkehr von einer Behindertenpolitik bedeute, die auf Fürsorge und Ausgleich vermeintlicher Defizite ausgerichtet ist, sondern auch einen Impuls für die Humanisierung der Gesellschaft als Ganzes ausstrahle (vgl. Hofmann/Markova 2018: 69 f.). Hofmann und Markova konkretisieren diesen Impuls in ihrer These, dass Inklusion nicht auf Anpassung von bestimmten Gesellschaftsmitgliedern an die bestehenden Strukturen abziele, sondern auf eine solche Veränderung dieser Strukturen, die gruppenbezogene Ausgrenzungen und Stigmatisierung von diesen Gesellschaftsmitgliedern überwinde. Bezugsgrößen von Inklusion sind also keine als homogen angesehenen und konstruierten Gruppen (seien sie ‚Menschen mit Behinderung‘, ,Menschen mit Migrationshintergrund‘ oder andere Minderheiten), sondern Individuen in der Vielfalt ihrer Persönlichkeiten, Lebensläufe und Lebensprojekte und in der Unhintergehbarkeit ihrer jeweiligen Einzigartigkeit. Inklusion zielt nicht auf ein nivellierendes Einschließen der Individuen in die bestehenden Gesellschaftsstrukturen ab, sondern auf die Öffnung dieser Strukturen zu Diversität und Heterogenität; eine Öffnung, die die Teilhabe und die Mitbestimmung von allen Menschen ermöglicht, die in ihrer Lebensführung von diesen Strukturen abhängig sind. Bezogen etwa auf Schule bedeutet dies, dass Inklusion hier nicht bedeuten kann, dass einfach eine bestimmte Anzahl von ,Kindern mit Behinderungen‘ (die möglicherweise noch zu verschiedenen Kategorien wie ,Lernbehinderung‘, ,Verhaltensstörung‘, ,Sprachbehinderung‘ usw. aufgeteilt werden), und/ oder von ,Kindern mit Migrationshintergrund‘ in die Regelklassen integriert werden, ohne dass sich dabei Unterrichtsweisen, Lehr- und Lernmaterialen oder Klassenräume prinzipiell ändern. Vielmehr bedeutet es eine tiefgreifende Umorientierung des Unterrichts von homogenen hin zu heterogenen Gruppen von Schüler/-innen und eine damit einhergehende Umgestaltung von Lehr- und Lernmaterialien und Klassenräumen.
Nun, es gibt in den letzten Jahren viele, hinreichend bekannte didaktische Ansätze, die das produktive Potenzial von Heterogenität für erfolgreiche Lehr-/Lernprozessen betonen und auf dieses Potenzial setzen. Hans Wockens Ansatzes eines „indirekten Unterrichts“ in heterogenen Lerngruppen (vgl. Wocken 2012: 140-198) und Heinz Klipperts Modells des „kooperativen Lernens“ (vgl. Klippert 2010: 14-21) sind nur zwei prominente Beispiele dazu. Es stellt sich jedoch die darüber hinausgehende Frage, ob Heterogenisierung und Individualisierung von schulischer Bildung, welche einen konsequenten Verzicht auf feste Gruppenzuordnungen von Schüler/-innen voraussetzt, auch ein moralisches Gebot im Schulwesen bzw. ein Imperativ von Bildungsgerechtigkeit ist. 
Die Beantwortung dieser Frage hängt offensichtlich ganz entscheidend davon ab, was wir unter ,Bildungsgerechtigkeit‘ verstehen, bzw. welche Bedeutungsdimensionen wir dieser Kategorie zuschreiben. Diesbezüglich ist im Wesentlichen zwischen zwei Modellen von Bildungsgerechtigkeit zu unterscheiden, die eine zentrale Rolle in den einschlägigen wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursen spielen: Verteilungsgerechtigkeit, die meistens qua Leistungsgerechtigkeit ihren konzentrierten Ausdruck in der Vorstellung findet, dass Bildungsgüter in der Form von Ressourcen und Abschlüssen gemäß den Leistungen bzw. den Leistungspotenzialen der Schüler/-innen verteilt werden sollen; und relationale Gerechtigkeit, die meistens als Anerkennungsgerechtigkeit ausgedeutet wird, die sich am besten negativ als Überwindung von Missachtung gegen jedes einzelnes Kind auf dem Punkt bringen lässt. Im Folgenden sollen die beiden Gerechtigkeitsmodelle in ihrer Bedeutung für die moralische Bewertung von schulischer Inklusion erörtert werden.

3. ,Leistungsgerechtigkeit‘ und schulische Inklusion

In der aktuellen bildungspolitischen Diskussion wird die Kategorie der Bildungsgerechtigkeit meistens als ,Leistungsgerechtigkeit‘ oder ,Begabungsgerechtigkeit‘ ausgedeutet, wobei zwischen den beiden kaum unterschieden wird. In einer nahezu beispiellosen Offenheit wird dieses Verständnis von Bildungsgerechtigkeit von der bekannten Lernpsychologin Elsbeth Stern in einem Zeitungsinterview zum Ausdruck gebracht, bei dem sie mit ihrer Behauptung konfrontiert wird, wonach mit Zunahme der Chancengleichheit im Schulbildungssystem die Gene der Schüler/-innen stärker durchschlagen würden (vgl. Geyer und Stern 2010). Daraufhin erklärt sie, dass eine gute Schule dafür sorge, dass sich jede/r entsprechend seinen und ihren genetischen Voraussetzungen zu seinem Optimum entwickeln könne: „Im Prinzip gilt: Je größer die Leistungsgerechtigkeit einer Gesellschaft ist, umso größer ist die Chance, dass Menschen mit guten genetischen Voraussetzungen ihr in den Genen angelegtes Potential für die Intelligenzentwicklung nutzen und beruflichen und schulischen Erfolg haben. In ungerechten Gesellschaften sind sozialer Hintergrund und Beziehungen wichtiger als Begabung.“ (ebd.)
In dieselbe Richtung weist auch die These des ,Aktionsrats Bildung‘ in seinem Jahresgutachten 2007 zur ,Bildungsgerechtigkeit‘ hin, dass nicht die hohe Selektivität des Bildungssystems in Deutschland an sich ein Ausdruck von Bildungsungerechtigkeit sei, sondern die Tatsache, dass sich Selektion nicht allein anhand der „kognitiven Ausgangsvoraussetzungen“ der Kinder und Jugendlichen vollziehen würde (vgl. Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2007: 12).
Die Denkfigur, die in dieser These zum Ausdruck kommt, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Ein gerechtes Bildungswesen wäre dann erreicht, wenn die Verteilung von Bildungsgütern in Form von Ressourcen und Zeugnissen anstatt nach Herkunft, nach ,Begabungen‘ bzw. nach kognitiven Ausgangsvoraussetzungen und letztlich nach erbrachten Leistungen vollzogen wird. So soll nach Helmut Fend die Schule ihre „Allokationsfunktion“ lediglich nach Leistung – und nicht etwa nach Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Aussehen oder anderen bei der Geburt mitgegebenen Merkmalen – ausführen, und diese Ausführungsweise als gerecht im Bewusstsein der Beteiligten verankern (vgl. Fend 2006: 46). Auch nach Peter J. Brenner sei schulische Selektion dann gerecht, wenn sie nach dem Prinzip einer „durch Leistung begründeten Zuweisung“ vollzogen werde (vgl. Brenner 2010: 34f.; auch: 103-112).
In Hinblick auf die Inklusionsthematik ist anzumerken, dass nach diesem Verständnis von Bildungsgerechtigkeit eine ,leistungs- und begabungsbasierte‘ Selektion von Schüler/-innen auf unterschiedlichen Schulformen nicht nur zulässig, sondern geradezu moralisch geboten erscheint. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses wird auch der anfangs erwähnte inklusionskritische Einwand nachvollziehbar, dass schulische Inklusion das allgemeine Leistungsniveau an den betroffenen Schulen senken würde, und dieser Einwand lässt sich nun so interpretieren, dass die Schüler/-innen mit höheren Begabungen und Leistungspotenzialen ein Anrecht auf eine positive Selektion in auf sie zugeschnittene Schulformen hätten, wohingegen ,Kinder mit Behinderungen‘ ebenfalls ,begabungs- bzw. leistungsgerecht‘ an Förderschulen zugewiesen werden sollen.     
Nun fußt jedoch dieses Verständnis von Bildungsgerechtigkeit als Leistungs- und Begabungsgerechtigkeit auf vollkommen falschen Prämissen. Bei diesem Verständnis wird nämlich zum einen die Leistungsfähigkeit der Schüler/-innen als etwas vorausgesetzt, was einfach bei ihnen als eine quasi-natürliche Eigenschaft vorhanden ist (1). Zum anderen werden die Leistungen von Kindern in der Schule als ihre eigenverantwortlichen Verdienste postuliert (2).
Sowohl (1) wie auch (2) sind nicht haltbar. In Bezug auf (1) ist zu erwidern, dass Schulen gerade dazu da sind die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der Heranwachsenden erst einmal zu kultivieren; daher können sie diese Leistungsfähigkeit und -bereitschaft nicht einfach voraussetzen. Würden sie dies tun, wären sie keine Schulen, die auch einen Erziehungsauftrag haben, sondern lediglich Lernfabriken, in denen Lernende bestimmte Sollnormen erfüllen müssen, um entsprechende Belohnungen zu bekommen. Die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft des einzelnen Kindes ist nicht mit seiner Geburt gegeben, sondern hängt entscheidend von seinen sozialen Beziehungen ab – einschließlich und vor allem von der Art und Weise, wie es in der Schule betrachtet und behandelt, wie es pädagogisch gefördert oder vernachlässigt wird.
In Hinblick auf (2) ist auf ein Schlüsselargument im Paradigma der Verteilungsgerechtigkeit zu verweisen (den Proponenten der ,Leistungsgerechtigkeit‘ im Bildungswesen geht es eben um eine gerechte Verteilung von Bildungsressourcen und -zertifikaten), das den Grundsatz des so genannten ,luck egalitarianism‘ zum Ausdruck bringt. Nach diesem Grundsatz, der von solchen zentralen Figuren der gegenwärtigen Gerechtigkeitstheorie wie John Rawls und Ronald Dworkin wesentlich geprägt wird, sollen die Zugänge des Einzelnen zu verschiedenen gesellschaftlichen und ökonomischen Positionen von denjenigen seiner Leistungen und ihnen zugrundeliegenden  Handlungen abhängen, für die er vernünftigerweise für eigenverantwortlich gehalten werden kann. Die ungleiche Verteilung dieser Positionen ist dann gerechtfertigt, wenn die Individuen, die um sie konkurrieren, unterschiedliche, niedrigere und höhere Positionen verdienen, und zwar durch ihre frei gewählten Handlungen, die zu Beiträgen führen, welche die Individuen eigen verantworten können. Allerdings sind die Individuen nicht verantwortlich für ihre angeborenen Schwächen und Stärken, die etwa ihre Gesundheit beeinflussen, sowie für ihre Herkunft, ihre familiäre Sozialisation, sogar für ihre Begabungspotenziale – selbst wenn man diese nicht für angeboren hält, sondern als entscheidend geformt durch frühkindliche Erziehung und Sozialisation betrachtet. Daher setzt Verteilungerechtigkeit die Neutralisierung von herkunfts- und naturbedingten Ungleichheiten des brute bad luck voraus, die nicht von den betroffenen Individuen zu verantworten sind (vgl. Dworkin 2000: 285-87; Calvert 2014: 74-76).
Daraus folgt, dass ein gerechtes Schulbildungswesen gerade nicht dasjenige ist, das nach dem Prinzip der Meritokratie Zugänge zu höheren Bildungslaufbahnen und -abschlüssen und daher zu sozial und wirtschaftlich gehobenen Berufen lediglich nach den Leistungen der Schüler/-innen und/oder nach ihren unterstellten Begabungen verteilt, sondern dasjenige, das Benachteiligungen durch Herkunft, Gesundheit und begabungsbehindernde Sozialisation ausgleicht. So stellt Rawls die in der breiten Rezeption seiner als ‚klassisch‘ geltenden Theorie der Gerechtigkeit wenig beachtete These auf, dass eine gerechte Gesellschaft überdurchschnittliche Bemühungen und Ressourcen in die Schulbildung (und insbesondere in die frühe Bildung) von Kindern investieren soll, die durch ihre familiäre Herkunft, Gesundheit, aber auch Talente benachteiligt sind, damit ihre Chancen an die Chancen der nicht-benachteiligten Kinder angeglichen werden, ihre eigene Lebensentwürfe zu bestimmen und zu verwirklichen und erfolgreich um Güter und Positionen zu konkurrieren (vgl. Rawls 1999: 86f.). Demnach ist schulische Bildung nicht nach dem Vorbild eines Leichtathletik-Wettkampfs zu denken, bei dem es darum geht, eine bessere Zeit als die anderen zu erreichen, und bei dem die Sportler/-innen verschiedenen Leistungsgruppen fest zugeteilt werden, die getrennt auftreten. Vielmehr soll es nach dem Ansatz der Verteilungsgerechtigkeit darum gehen, dass man Sportler/-innen bzw. Schüler/-innen mit schlechteren physischen und psychischen Voraussetzungen besondere Zuwendung und mehr Ressourcen schenkt, damit sich ihre Chancen im Wettbewerb den Chancen der Sportler/-innen bzw. Schüler/-innen mit besseren physischen und psychischen Voraussetzungen angleichen.  
Allerdings wird auch nach diesem Ansatz schulische Bildung als ein Wettbewerb zwischen Individuen vorgestellt, die danach streben, bessere gesellschaftliche Positionen im Erwachsenenleben durch bessere Schulabschlüsse zu erreichen. Konsequent gedacht legt Inklusion jedoch eine andere Sportmetapher von Schulbildung nahe. Demnach sollte man sich diese als ein Mannschaftsspiel vorstellen, an dem sich Spieler/-innen mit unterschiedlichen physischen und psychischen Voraussetzungen gemeinsam beteiligen. Das ist ein Spiel des Erwerbs und der Kommunikation von Wissen und von Selbstvertrauen, das von erwachsenen Expert/-innen angeleitet wird, und bei dem es darum geht, dass alle Beteiligten in Interaktion zueinander ihre welt- und selbstbezogene Fähigkeiten und Kompetenzen entwickeln. Aus diesem Spiel als Kind ausgeschlossen zu werden, ist ungerecht – selbst wenn man stattdessen an einen abgesonderten Spielplatz verwiesen wird, der schöner und mit zusätzlichen Trainingsmöglichkeiten ausgestattet ist. Denn soziale Separierung wird normalerweise als Missachtung empfunden. Gerade diese Empfindung wird durch das Paradigma der Anerkennungsgerechtigkeit konzeptualisiert, in dessen Fokus nicht primär der Schlüssel zu gerechter Verteilung von Gütern steht, sondern die moralische Qualität von sozialen (einschließlich pädagogischen) Beziehungen.

4. Inklusion und Anerkennungsgerechtigkeit

Der Ansatz der Verteilungsgerechtigkeit – sei es in der Form von meritokratischer Leistungsgerechtigkeit, sei es in der Form einer kompensatorischen Zuteilung von mehr Bildungsressourcen wie Geld, Stellen, Unterrichtszeit oder Räumlichkeiten für biologisch oder sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche – adressiert kaum die Frage, wie ein gerechter pädagogischer Umgang mit diesen Kindern und Jugendlichen aussehen soll. Erscheint eine leistungsbasierte Separierung von verschiedenen Gruppen von Schüler/-innen ,mit‘ und ,ohne‘ Beeinträchtigungen aus meritokratischer Perspektive nahezu geboten, ist aus kompensatorischer Sicht eine inklusive Beschulung nicht moralisch zwingend, solange gewährleistet ist, dass Förderschulen besser ausgestattet als Regelschulen sind. Aus beiden Perspektiven ist nicht einzusehen, warum die Außenseiterposition von Kindern mit Beeinträchtigungen an bestimmten nominal ,inklusiven‘ Schulen Ausdruck von Ungerechtigkeit sein sollte – auch wenn sicherlich viele Proponent/-innen der Verteilungsgerechtigkeit im Schulbildungswesen die Einschätzung teilen würden, dass diese Außenseiterposition kein wünschenswerter Zustand ist.
Anders ist es bei dem relationalen Paradigma der Anerkennungsgerechtigkeit bestellt. Nach diesem Paradigma sind formelle und informelle Segregation und Exklusion von Schüler/-innen deshalb zutiefst ungerecht, weil sie den Normen von Anerkennung widersprechen, die jedes Individuum braucht, um sich als ein entwicklungsfähiges, autonomes menschliches Wesen zu entfalten, das mit Würde ausgestattet ist und eigene Lebensideale verfolgt. Es handelt sich hierbei nach Axel Honneth um die Anerkennungsformen der Empathie, des Respekts und der sozialen Wertschätzung, die zugleich als Normen gerechter sozialen Beziehungen gelten (vgl. Honneth 1992: 148-211). Die genannten Anerkennungsformen umfassen sowohl die emotionalen wie auch die kognitiven Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung, wobei sie diese Aspekte je unterschiedlich betonen. Empathie ist eine vorwiegend emotional ausgerichtete Praxis des Sich-Hineinversetzens in die Wahrnehmungs- und Gefühlswelt des/r Anderen und des Nachvollziehens seiner bzw. ihrer Bedürfnisse und Wünsche. Ihre Spiegelung durch die Bezugspersonen ist die Voraussetzung dafür, dass das Individuum überhaupt einen Zugang zu diesen Bedürfnissen und Wünschen als Grundzügen seiner bzw. ihrer Persönlichkeit findet.
Hingegen bezieht sich die überwiegend kognitive Anerkennungsform des Respekts nicht auf besondere, personalisierende Eigenschaften des/der Einzelnen, sondern auf seinen bzw. ihren abstrakten Status, allen anderen Menschen formell gleichgestellt zu sein und über die gleichen Grundrechte zu verfügen. Die Anerkennungsform des Respekts besteht darin, jeden Menschen als ausgestattet mit Würde, d.h. mit dem Willen und dem Vermögen, sich selbst und die Welt zu interpretieren, und sich zu sich selbst und zur Welt auf je eigene Weise zu beziehen. Nach einer treffenden Formulierung des britischen Bildungsphilosophen R. S. Peters meine eine Person zu respektieren, sie als einen „distinctive centre of consciousness“ anzuerkennen, das sich in Weltansichten und Bestrebungen äußere, die die Eigenart dieser Person ausmachen (vgl. Peters 1966, S. 59). Nur unter der Voraussetzung dieser Anerkennung kann der/die Einzelne sich in der Tat als jemand begreifen und betätigen, der/die eigenständig handeln und eigene Ideale und Lebensziele entwickeln und verfolgen kann.
Schließlich stellt die soziale Wertschätzung eine Art Synthese dar zwischen dem Partikularismus der Empathie und dem formellen Universalismus des Respekts: Von sozialer Wertschätzung kann nämlich dann die Rede sein, wenn spezifische Fähigkeiten oder Fähigkeitspotentiale des/der Einzelnen anerkannt werden, die von einer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung sind bzw. sein können. Nur unter der Voraussetzung dieser Anerkennung kann der/die Einzelne diese Fähigkeiten und Fähigkeitspotentiale auch tatsächlich entwickeln und verwirklichen (vgl. Honneth 1992: 148-211; Stojanov 2006: 123-140).
Sowohl die Aussonderung von Schüler/-innen, die sich vom ,Normalfall‘ unterscheiden, in spezielle Schulen, als auch ihre bloße ,Integration‘ an Schulen, die sich ansonsten in ihrem Unterricht und in ihrer gesamten Schulkultur nach wie vor vornehmlich auf diesen ,Normalfall‘ ausrichten, widersprechen den skizierten Normen der Anerkennungsgerechtigkeit. Dies ist vor allem deshalb der Fall, weil die Aussonderung und die ,Integration‘ eine defizitorientierte Kollektivierung der betroffenen Kinder und Jugendlichen, deren essentialistische und etikettierende Zuordnung zu verschiedenen gruppenbezogenen Behinderungen bzw. Leistungs- und Begabungsniveaus voraussetzt. Diese Zuordnung widerspricht dem Prinzip der Empathie in zweifacherweise: Erstens fehlt bei ihr strukturell ein Mitfühlen des Leidens, das jeder Mensch erspürt, wenn sein Bedürfnis nach Anerkennung seiner unverwechselbaren Individualität dadurch missachtet wird, dass er oder sie zum/zur Vertreter/in einer (defizitären) Kollektivmasse reduziert wird. Zweitens werden bei dieser Zuordnung die jeweils individuellen Bedürfnisse und (bildungs-)biographischen Erfahrungen der betroffenen Kinder und Jugendlichen nivelliert und tendenziell missachtet. So werden dem Label ,Lernbehinderung‘ bzw. ,Lernbeeinträchtigung‘ Kinder zugeordnet, die sehr unterschiedliche, vielmals kaum vom allgemeinen Durchschnitt abweichende, gemessene Intelligenzniveaus aufweisen. Bei diesen Kindern lässt sich eine Beschädigung von einem biologischen oder psychischen Vermögen oder ein anderes spezifisches Merkmal in der Regel nicht identifizieren (vgl. Weiß 2016).  Letztlich ist nach Hans Weiß „Lernbehinderung“ „[a]ls eine mangelnde Passung zwischen den Handlungs- und Lernmöglichkeiten eines jeweils konkreten Kindes und den aus Lehr- bzw. Bildungsplänen abgeleiteten Lernanforderungen sowie den entsprechenden Unterrichtsmethoden und -ritualen einer jeweils konkreten Allgemeinen Schule, die dieses Kind besuchen muss“ (vgl. ebd.) zu verstehen. Diese mangelnde Passung ist nach Weiß vor allem durch soziale Benachteiligung bedingt, die dann durch die Schule sozusagen zementiert wird, wenn sie die Lebenslagen und die Erfahrungsprofile der einzelnen Schüler/-innen nicht berücksichtigt bzw. wenn sie keinen individualisierten Unterricht anbietet, der ihre jeweiligen Lebenswelten einbezieht (vgl. ebd.): mit anderen Worten – wenn die Schule strukturell unempathisch agiert.
Schulische Exklusion und Segregation widersprechen auch der Gerechtigkeitsnorm des Respekts: Dies vor allem deshalb, weil sie die betroffenen Individuen als dauerhaft determiniert in ihrem Denken und Handeln durch angebliche oder tatsächliche biologische, psychische oder soziale Einschränkungen behandeln und somit ihnen das Potenzial zur Überwindung dieser Einschränkungen, generell: zur Entwicklung von Selbstbestimmungsfähigkeit und freiem Willen absprechen. Besonders instruktiv in dieser Hinsicht ist der prominent gewordene Fall von Nenad M., bei dem in der Grundschule eine ,geistige Behinderung‘ diagnostiziert wurde. Nenad M. musste bis zu seinem 18. Lebensjahr Förderschulen für geistig Behinderten besuchen, wo er vollkommen unterfordert war. Dennoch wurde seinem Wunsch nach einem Wechsel in die Regelschule nicht entsprochen. Erst später holte er seinen Hauptschulabschluss als einer der Klassenbesten an einem Berufskolleg nach; und erst durch die Anerkennung des Gerichts, dass er nicht geistig behindert ist, sieht er sich von einem erniedrigenden Stigma befreit, gegen das er zuvor viele Jahre erfolglos gekämpft hatte (vgl. WAZ 2018).     
Der Fall von Nenad M. ist sehr relevant auch für die dritte Norm von Anerkennungsgerechtigkeit, soziale Wertschätzung. Dieser Fall legt nahe, dass, wenn gesellschaftlich wertvolle Fähigkeitspotenziale nicht wertgeschätzt werden, diese dann verkümmern – oder sich nur verspätet verwirklichen. Durch die dauerhafte Beschulung an Förderschulen konnte Nenad M. erst mit Verspätung einen Hauptschulabschluss erreichen, was ihn daran hinderte, mit seiner Wunsch-Berufsausbildung rechtzeitig anzufangen. Man kann nur vermuten, dass sehr viele, vielleicht unzählige Jugendlichen, die dauerhaft als ,geistig behindert‘ oder ,lernbehindert‘ oder einen ungünstigen ,Migrationshintergrund‘ besitzend etikettiert und deshalb an Förder- oder an Hauptschulen segregiert wurden und die nicht so widerstandsfähig wie Nenad M. sind, durch diese Etikettierung das notwendige Selbstbewusstsein nicht haben entwickeln können, um ihre kognitive und sonstige Fähigkeitspotenziale zu verwirklichen, welche dann zum Erliegen gebracht wurden.

5. Fazit

Inklusionsgegner/-innen und -skeptiker/innen berufen sich oft auf das Leistungsprinzip in der Schulbildung. Dabei argumentieren sie im Einklang mit den Proponent/-innen eines Verständnisses von Bildungsgerechtigkeit als Leistungsgerechtigkeit. Demnach ist es legitim, ja sogar moralisch geboten, Kinder je nach Leistung bzw. Begabung unterschiedlichen Schulformen zuzuweisen.
Dieses Verständnis ist grundlegend falsch, weil Kinder nicht als eigenverantwortlich für ihre Leistungen angesehen werden können, und weil die Schulbildung ihre Leistungsfähigkeit erst einmal kultivieren soll; deshalb kann sie diese nicht einfach voraussetzen.
Die Kultivierung der Leistungs- und Autonomiefähigkeiten der Schüler/-innen setzt die institutionalisierte Gewährleistung der Anerkennungsformen der Empathie, des Respekts und der sozialen Wertschätzung voraus – etwa durch individualisierten Unterricht in heterogenen Gruppen, der die Lebenswelten der Schüler/-innen einbezieht. Diese Anerkennungsformen sind zugleich als die Hauptnormen von Bildungsgerechtigkeit zu verstehen, wobei ihre Verwirklichung nur im Rahmen von inklusiver Schulbildung möglich erscheint. Gegen diese Normen verstoßen in erster Linie die kollektivierende Zuordnung von Kindern zu essentialistisch konstruierten Begabungsgruppen und die sich darauf gründende Zuweisung dieser Gruppen zu unterschiedlichen Schultypen. Diese Zuordnung ist das Gegenteil nicht nur von Bildungsgerechtigkeit, sondern auch von Inklusion – zumindest ihrer Idee nach. Insofern ist eine konsequent gedachte Inklusion nicht nur mit der Aussonderung von bestimmten Kindern in Förderschulen nicht vereinbar, sondern auch mit dem segregierenden zwei- oder dreigegliederten Schulsystem, so wie es in allen Bundesländern immer noch existent ist.    

6. Literatur

Ahrbeck, Bernd (2014): „Am Rand zu stehen ist schrecklich“. In: „Der Spiegel“ 34/2014, S. 38-40.
Brenner, Peter J. (2010): Bildungsgerechtigkeit. Stuttgart: Kohlhammer.
Calvert, John (2014): “Educational Equality: Luck Egalitarian, Pluralist and Complex” In: Journal of Philosophy of Education 2014, 48, 1, S. 69-85.
Dworkin, Ronald (2010): Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality. Cambridge, MA: Harvard University Press 2010.
Fend, Helmut (2006): Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden: VS-Verlag.
Geyer, Christian/Stern, Elsbeth (2010): Jeder kann das große Los ziehen. Die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern im Interview. In: http://www.faz.net/s/Rub546D91F15D9A404286667CCD54ACA9BA/Doc~E86A2682DEBF0437EB34B01F2EA21EB55~ATpl~Ecommon~Scontent.html (Zugriff: 18.12.2018).
Hofmann, Christian/Markova, Asya (2018): Paradigmen der Integration und der Inklusion. In: Migration und Integration. Materialien und Impulse zum 4. Tutzinger Diskurs. Tutzing.
Honneth, Axel (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Klippert, Heinz (2010): Heterogenität im Klassenzimmer. Wie Lehrkräfte effektiv und zeitsparend damit umgehen können. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.
Peters, Richard S. (1966): Ethics and Education. London: Allen & Unwin.
Rawls, John (1999): A Theory of Justice. Revised Edition. Cambridge, MA: The Belknap Press of Harvard University Press.
Stojanov, Krassimir (2006): Bildung und Anerkennung. Soziale Voraussetzungen von Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung. Wiesbaden: VS-Verlag.
Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (Hrsg.) [Wiss. Koordination D. Lenzen] (2007): Bildungsgerechtigkeit. Jahresgutachten 2007. Wiesbaden: VS Verlag.
Weiß, Hans (2016): Lernbehinderung (Lernbeeinträchtigung) bei Kindern – Ursachen und Chancen. In: https://www.familienhandbuch.de/babys-kinder/behinderung/arten/Lernbehinderung.php (Zugriff 28.03.19).
Wocken, Hans (2012): Das Haus der inklusiven Schule: Baustellen – Baupläne – Bausteine (3. Auflage). Hamburg: Feldhaus Verlag.
Zu Unrecht auf Förderschule: Ex-Schüler erhält Entschädigung, in: WAZ von 17.07.2018. https://www.waz.de/region/rhein-und-ruhr/zu-unrecht-auf-foerderschule-ex-schueler-erhaelt-entschaedigung-id214866635.html (Zugriff 28.03.2018).