Abstract: Studien zu Inklusion und Belastung basieren häufig auf den Erwartungen und Beliefs von Lehrer*innen zu (zukünftig zu leistendem) inklusiven Unterricht, als dass auf deren reale Erfahrungen oder auf empirische Fakten rekurriert wird. Dies mündet in einen emotional aufgeladenen und negativ geprägten Diskurs, der Inklusion generalisiert mit Mehrarbeit und Belastungserleben in Verbindung bringt. Die vorliegende Untersuchung greift diesen Diskurs zu Inklusion und Belastung forschungsgestützt auf. Den Rahmen bilden Schulen mit dem Schulprofil Inklusion (n = 49 beteiligte Schulen) und somit Lehrer*innen (n = 485), die auch tatsächlich über Arbeitserfahrung in inklusiven Klassen verfügen. Die Studie zeigt zunächst, in einem ersten Schritt, verschiedene Dimensionen zu leistender inklusiver Arbeit aus Lehrer*innensicht auf, u.a. adaptive Unterrichtsgestaltung, schulinterne und externe Teamarbeit sowie Schulkonzeptentwicklung. Für diese Dimensionen lassen sich, als zweiter Forschungsschritt, keine Zusammenhänge mit Belastungserleben feststellen. Folgend wird diskutiert, dass Maßnahmen, die generalisiert auf die Reduktion von Belastungserleben in inklusiven Settings abzielen, wenig passgenau erscheinen. Vielmehr können mikrokontextuelle Maßnahmen, auf Ebene der Einzelschule, individuelle Bedarfe von Einzelschulen und deren Kollegien adressieren.
Stichworte: Belastungserleben, inklusiver Unterricht, Lehrkräfte, mikrokontextuelle Maßnahmen, Schulen mit Schulprofil Inklusion, Schulentwicklung, schulinterne Kooperationen
Inhaltsverzeichnis
Im gesellschaftlichen Diskurs bestimmen Schlagzeilen im Feuilleton wie „Die Belastungsgrenze ist überschritten" (Deutschlandfunk Kultur 2017), „Lehrer stellen Inklusion vernichtendes Zeugnis aus" (Schmoll 2017) oder „Eine Lehrerin schlägt Alarm: Ich komme mit den Kindern nicht mehr zum Lernen" (Kaufmann 2018) die Diskussion um Belastung von Lehrkräften durch die voranschreitende Inklusion. Die Forschung zum Lehrer*innenberuf hat das Thema Belastung in den letzten Jahrzehnten zwar intensiv aufgegriffen und eine breite Befundlage zu Belastungserleben, Belastungsfaktoren etc. hervorgebracht (im Überblick Krause & Dorsemagen 2014; Rothland 2013). Mit Blick auf die Inklusion gibt es allerdings Desiderate: Diese liegen zum einen darin, dass die Belastungsforschung meist mit Regelschulen nicht-inklusive Settings, selten auch Förderschulen (z.B. Neugebauer & Wilbert 2010; Stoesz et al. 2014), untersucht (hat). Zum anderen basiert die zu Inklusion und Belastung bestehende Forschung meist auf der Befragung von Lehrenden, die über keine oder kaum Erfahrung in inklusiven Klassen bzw. mit Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf verfügen. Diese werden danach befragt, welche (möglicherweise belastenden) Anforderungen sie mit Inklusion assoziieren (Peperkorn, Horstmann, Dadaczynski & Paulus 2017) oder mit welchen Einstellungen sie der (zukünftigen) inklusiven Arbeit mit Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf entgegensehen (z.B. Avramidis & Norwich 2002; Heyl & Seifried 2014; Strauß & König 2017; auch Themenheft Einstellungsforschung zum inklusiven Unterricht, Schwab & Feyerer 2016). Lehrende mit Erfahrung in inklusiven Settings und Schüler*innen mit Förderbedarf sind hingegen seltener Gegenstand von Studien bzw. reale und konkrete Erfahrungen werden selten erfasst. Werden sie erhoben, dann basieren diese häufig auf Erfahrungen mit einzelnen Schüler*innen mit Förderbedarf, die aber keinesfalls solche mit inklusiven Klassen „ersetzen“ können. Die Diskussion von solchen Erwartungen zu Inklusion führt dazu, dass der Diskurs insgesamt eher emotional aufgeladen, polarisiert und auf Basis unreflektierter Vorannahmen geführt, denn dass auf empirische Fakten rekurriert wird.
An diese Ausgangslage und diese Desiderate für die Forschung knüpft der vorliegende Beitrag an. Den Rahmen bilden Schulen mit dem Schulprofil Inklusion in Bayern und somit Lehrer*innen, die über konkrete Erfahrung mit inklusiven Klassen verfügen. In diesen Schulen werden Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf gemeinsam unterrichtet. Somit nimmt der Aufsatz mit dem Fokus auf sonderpädagogischen Förderbedarf einen spezifischen Ausschnitt aus dem Inklusionsdiskurs in den Blick. Die folgende Untersuchung geht in einem ersten Schritt dem nach, welche Dimensionen von Inklusion Lehrende in ihrer schulischen Arbeit identifizieren (z.B. Unterrichtsentwicklung oder Kooperation). Diese werden in einem zweiten Schritt auf Zusammenhänge mit Belastungserleben überprüft.
Die Forschung zum Themenkomplex Inklusion und Belastung ist insgesamt in allen Facetten als durchwegs divergent zu bezeichnen. Dies beginnt mit dem diffusen Begriff der Belastung. Hier gilt es zu berücksichtigen: Der Belastungsbegriff, so häufig er Forschungsgegenstand ist, ist unterschiedlich definiert und operationalisiert. Das trägt dazu bei, dass verschiedene Studien auch nur bedingt vergleichbar sind. Ein Beispiel für ein solches Operationalisierungsproblem ist, dass Belastung sowohl das Befinden als auch bestimmte Auslöser des Befindens beschreiben kann (Prilleltensky, Neff & Bessells, 2016). In der vorliegenden Studie wird Belastung über Depressivität erfasst. Den Rahmen hierfür bilden Definitionen der Arbeitspsychologie bzw. nach DIN ISO 10075, wonach Belastung als „die Gesamtheit aller erfassbarer Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken“ (Joiko, Schmauder & Wolff 2010, 9) verstanden wird. Diese Einflüsse umfassen den Arbeitsplatz mitsamt dessen Arbeitsaufgaben, -bedingungen und -organisation. Es wird davon ausgegangen, dass Stress eine Reaktion des Körpers auf (psychische) Belastung ist und Depressivität als ein Indikator für chronischen Stress gilt (Schonfeld 1992). Chronischer Stress wird daher in vielen Studien über Depressivität erfasst. Dieses Konstrukt ist international wissenschaftlich etabliert und kann durch validierte Instrumente erhoben werden.
Weiter unterliegt auch der Forschungsstand zu den Einstellungen bezüglich Inklusion einer beachtenswerten Divergenz. Grundsätzlich äußern Lehrende gegenüber Inklusion und Schüler*innen mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf eine neutrale bis positive Haltung (z.B. Avramidis & Norwich 2002; Heyl & Seifried 2014; Strauß & König 2017). Damit scheint eigentlich der Grundstein für eine gelingende Umsetzung gelegt, gelten Einstellungen doch als Filter der Wahrnehmung (Pajares 1992) und als entscheidende Einflussgröße für gelingende Inklusion (Acedo, Ferrer & Pàmies 2009; de Boer, Pijl & Minnaert 2010). Dazu steht im Kontrast: Sollen Lehrer*innen konkret, an der eigenen Schule, Inklusion umsetzen, fallen die Einschätzung deutlich negativer und die Bereitschaft geringer aus (Abegglen, Stresse, Feyerer & Schwab 2017; Dlugosch, 2014; Gebhardt, Schwab, Nusser & Hessels 2015). Offenbar werden durch bestehende Messinstrumente nicht alle nötigen Facetten von Einstellungen erfasst, sondern nur kognitive, nicht aber motivational-affektive (Syring, Tillmann, Weiß & Kiel 2018; vgl. auch Eagly & Chaiken 1993). Die konkrete Realisierung von Inklusion an der Schule ist häufig mit Ängsten und Abwehr assoziiert: Es zeigen sich Ängste vor einer heterogenen Schülerschaft, insbesondere vor Schüler*innen, denen „schwieriges“ oder „auffälliges“ Verhalten zugeschrieben wird (z.B. MacFarlane & Woolfson 2013; Savolainen, Engelbrecht, Nel & Malinen 2012; Schwab & Seifert 2014). Lehrkräfte äußern, dem als problematisch empfundenen Verhalten der Schüler*innen mit Förderbedarf im emotionalen und sozialen Bereich hilflos gegenüberzustehen und verorten die Bewältigung dieser Probleme außerhalb des eigenen Handlungsspielraums (Lauth & Lauth 2017). Als Folge ist emotionale Erschöpfung dokumentiert (siehe die Metaanalyse von Aloe, Shisler, Norris, Nickerson & Rinker 2014). Unsicherheiten bestehen auch im Umgang mit Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (Bundschuh, Klehmet & Reichardt 2006; Gebhardt et al. 2011). Mit der inklusiven Bildung dieser Kinder und Jugendlichen werden Forderungen nach übermäßigem Engagement, Mehrarbeit und Belastungserleben verbunden. Unterricht an die Bedürfnisse einer diversen Schülerschaft zu adaptieren und dazu möglicherweise mehr und andere Unterrichtsmethoden einzusetzen, wird als arbeitsintensiv und mitunter belastend erlebt (Forlin & Chambers 2011; Hedderich & Hecker 2009; Keller-Schneider 2017). Des Weiteren werden vor allem Aspekte wie eine auf individuelle Bedürfnisse zugeschnittene Lern- und Klassenkultur als Beanspruchung wahrgenommen (Erbring 2012; Keller-Schneider 2017). Eine weitere Herausforderung stellt die verstärkte Kooperation innerhalb eines (multiprofessionellen) Teams und die Orientierung auf ein gemeinsames Ziel dar (Lütje-Klose & Urban 2014). Die daraus resultierenden Konflikte sind ebenfalls als belastend dokumentiert (Arndt & Werning 2013; Hedderich & Hecker 2009; Scruggs, Mastropieri & McDuffie 2007).
Wie zu Beginn angeführt, ist die Befundlage darüber hinaus dadurch charakterisiert, dass erfasste Einstellungen, Anforderungen und Belastungen nicht unbedingt immer von Lehrer*innen geäußert werden, die auch tatsächlich über berufliche Erfahrung in inklusiven Settings verfügen. Viele Befunde stellen eher Erwartungen oder Beliefs dar (vgl. Strauß & König 2017), die Lehrende hinsichtlich einer – zukünftigen und/oder zunehmenden – inklusiven Beschulung haben, oder basieren auf Erfahrungen mit wenigen einzelnen Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die zwar an der Regelschule unterrichtet werden, dies allerdings in einem Setting, das nur bedingt als inklusiv zu bezeichnen ist. Erwartungen und Beliefs wirken sich ohne Zweifel auf die Handlungspraxis aus (Pajares 1992), bilden das reale Handeln aber nicht (vollständig) ab. Diese Betrachtungsweise ist vor dem Hintergrund relevant, dass konkreten Erfahrungen mit Inklusion Bedeutung zukommt: Haben Lehrende bereits in inklusiven Klassen gearbeitet und/oder Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet, verändern sich die Haltungen hinsichtlich Inklusion und deren Umsetzung (Avramidis & Kalyva 2007; Bosse et al. 2016; Hellmich & Görel 2014).
Eine genaue Betrachtung unterbleibt allerdings häufig, da, wie skizziert, der Diskurs um die Tätigkeit der Lehrkräfte in inklusiven Schulen häufig emotional aufgeladen ist und wenig evidenzbasiert erfolgt. Es bleibt häufig bei der übergreifenden Einschätzung, Inklusion und deren Anforderungen mit Forderungen nach mehr Engagement, Mehrarbeit und Belastung gleichzusetzen (Erbring 2012).
Um diese übergreifende und oftmals wenig forschungsgeleitete Einschätzung, dass die Arbeit von Lehrkräften in einem inklusiven Setting per se mit Belastungserleben verbunden ist, zu validieren oder dieser Auffassung entgegenzuwirken, identifiziert die vorliegende Studie verschiedene Dimensionen inklusiver schulischer Arbeit und setzt diese mit Belastungserleben in Beziehung. Im Fokus steht die Einschätzung von Lehrkräften, die über konkrete Erfahrungen mit inklusiven Klassen verfügen, im Rahmen des zuvor skizzierten Schulprofils Inklusion. Folgende zwei Forschungsfragen sind leitend:
Die vorliegende Untersuchung ist Teil des Projekts „Professionalisierung in inklusiven Schulen (PROF!L)“, das von den Lehrstühlen für Schulpädagogik und für Lernbehindertenpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München durchgeführt wird. Zielsetzung dieses Projekts ist eine Analyse der Umsetzung von Inklusion bzw. verschiedener Dimensionen im Kontext von Rahmenbedingungen, Ressourcen, Merkmalen von Lehrpersonen etc. Längerfristig sollen Maßnahmen für eine Professionalisierung von Lehrkräften in inklusiven Settings konzipiert werden, beispielsweise indem Bereiche und Anforderungen identifiziert werden, deren Umsetzung noch nicht (weit) fortgeschritten ist. In das Projekt sind ausschließlich Schulen mit dem Schulprofil Inklusion eingebunden, die durch den gemeinsamen Unterricht von Schüler*innen mit und ohne Förderbedarf den inklusiven Gedanken umsetzen. So ist auch für diesen Forschungskontext sichergestellt, dass nur Lehrende befragt werden, die konkrete Erfahrungen mit Inklusion haben.
Zum Erhebungszeitpunkt im Herbst 2017 konnten von insgesamt 61 Grund- und Mittelschulen mit dem Schulprofil Inklusion 49 Schulen für eine Teilnahme an der hier präsentierten Studie gewonnen werden. Diese setzen sich aus 35 Grundschulen, 11 Mittelschulen sowie drei Schulen zusammen, unter deren „Dach“ es sowohl eine Grund- als auch eine Mittelschule mit einem solchen Profil gibt. Die Bitte um Teilnahme an der Paper-Pencil-Befragung wurde in einem ersten Schritt den Schulleiter*innen aller Schulen durch ein Anschreiben der Projektdurchführenden vorgebracht. In einem zweiten Schritt erhielten die Schulen die Fragebögen für die Lehrenden zugestellt. Gemäß dem Genehmigungsbescheid des zuständigen Staatsministeriums war die Teilnahme für die Schulen bzw. einzelnen Lehrkräfte freiwillig. Darüber wurden die Lehrkräfte in einem Anschreiben informiert. Sie erhielten einen verschließbaren Rückumschlag für eine anonymisierte Rücksendung des Fragebogens. 485 Lehrkräfte, die den Fragebogen bearbeitet und zurückgeschickt haben, tragen zu einer guten Rücklaufquote von 40 % bei (siehe die Metaanalyse von Shih & Fan 2008). Nach einem ersten Analyse- und Bereinigungsprozess des Datensatzes wurden 14 Lehrkräfte (< 5 % der Stichprobe; siehe dazu Lüdtke, Robitzsch, Trautwein & Köller 2007), bei denen mindestens 5 % der Werte auf sehr vielen Skalen fehlten, ausgeschlossen. Die auf diese Weise reduzierte finale Stichprobe setzt sich aus N = 471 Lehrer*innen zusammen. Die Verteilung nach sozidemografischen Daten ist Tabelle 1 zu entnehmen.
Tabelle 1: Soziodemografische Daten der Stichprobe
|
Min |
Max |
M |
SD |
||
Alter |
23 |
66 |
43,6 |
11,3 |
||
Anzahl Jahre Berufserfahrung |
1 |
45 |
17,8 |
11,6 |
||
|
Anzahl (N) |
Prozent (%) |
||||
Verteilung nach Schulart |
Grundschule |
367 |
77,9 % |
|||
Mittelschule |
104 |
22,1 % |
||||
Geschlecht |
weiblich |
372 |
86,0 % |
|||
männlich |
99 |
12,4 % |
Belastung: Die Operationalisierung erfolgt mit der Allgemeinen Depressionsskala kurz (ADS-k) von Hautzinger und Bailer (1993). Diese ist die deutsche Adaptation der Center for Epidemiologic Studies-Depression Scale (CES-D; Radloff 1977) und gilt als ökonomisches und valides Screeninginstrument in nicht vorselektierten Stichproben (Lehr, Hillert, Schmitz & Sosnowsky 2008). Im Fragebogen wird diese Skala unter dem Titel „Befinden“ eingeleitet. Sie besteht aus 15 Items, die auf einer vierstufigen Likert-Skala beantwortet werden: Es erfolgt eine Einschätzung, wie häufig die Aussagen auf das Befinden während der vergangenen Woche zutreffen. Antwortmöglichkeiten sind: „selten (maximal 1 Tag)“, „manchmal (1-2 Tage)“, „öfters (3-4 Tage)“ und „meistens (mindestens 5 Tage)“. Die anhand der internen Konsistenz bestimmte Reliabilität der Skala liegt bei Cronbachs α = .86.
Dimensionen von Inklusion: In der vorliegenden Studie wird mit der „Qualitätsskala zur inklusiven Schulentwicklung“ ein Instrument genutzt, dass auf einem Mehrebenen-Konzept basiert und daher verschiedene Ebenen bzw. Dimensionen von Schule und Inklusion abbildet (Heimlich et al., im Druck). Diese wurde im Rahmen des „Begleitforschungsprojekts inklusive Schulentwicklung (B!S)“ entwickelt, vorgetestet und eingesetzt (siehe Heimlich et al. 2016). Das ursprünglich in diesem Projekt entwickelte Messinstrument ist sehr umfangreich und geht für Lehrende mit einer sehr langen Bearbeitungszeit sowie hohen Bearbeitungsanforderungen einher, was mit negativen Auswirkungen hinsichtlich einer Teilnahme assoziiert ist. Daher wurde das Instrument für die vorliegende Untersuchung im Umfang reduziert. Mittels 25 Items konnten Lehrkräfte für unterschiedliche Dimensionen von Inklusion eine Einschätzung treffen, wie weit sie diese realisieren. Diese sind mit einem vierstufigen Antwortformat von „0 = stimmt nicht“ bis „3 = stimmt genau“ zu beantworten. Im Rahmen der Projektdurchführung wurde die Qualitätsskala zur inklusiven Schulentwicklung mittels explorativer Faktorenanalyse (Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation und Kaiser-Normalisierung) ausgewertet. Grundlage für die Skalenbildung war das Eigenwertkriterium > 1. Items mit einer Ladung < .4 und Doppelladungen wurden ausgeschlossen. Von den ursprünglich 25 Items konnten insgesamt 23 Items fünf Faktoren abbilden. Die fünf Faktoren zeigen zufriedenstellende bis gute Reliabilitätswerte (Cronbachs α ≥ .70). Die Tabelle mit der Beschreibung der einzelnen Faktoren ist im folgenden Ergebnisteil abgebildet, in dem die Skalen auch beschrieben sind.
Tabelle 2 zeigt die Subskalen zu den Dimensionen von Inklusion mit Itemzahl, Beispielitem und Reliabilität. Danach sind die Dimensionen näher beschrieben. In die Beschreibung sind, zur besseren Einschätzbarkeit der Skalen, auch die Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) aufgelistet.
Tabelle 2: Faktoren der Qualitätsskala zur inklusiven Schulentwicklung mit Itemzahl, Beispiel und Reliabilität
Skala |
Items |
Beispielitem |
α |
Adaptive Unterrichtsgestaltung |
7 |
Alle Schüler*innen können im Bedarfsfall individuelle Förderung in Anspruch nehmen. |
.85 |
Förderplanung |
3 |
Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben einen Förderplan. |
.70 |
Schulkonzept-entwicklung |
5 |
Das Schulkonzept eröffnet Möglichkeiten, über die Chancen einer inklusiven Schule zu reflektieren |
.77 |
Schulinterne Teamarbeit |
4 |
Der Unterricht wird gemeinsam geplant und in Absprache durchgeführt. |
.80 |
Kooperation mit externen Partner*innen |
4 |
Die Schule strebt die Entwicklung eines Netzwerkes an, damit allen Schüler*innen bestmögliche Lebens- und Entwicklungsbedingungen in der Gesellschaft eröffnet werden. |
.77 |
Die fünf ermittelten Faktoren lassen sich wie folgt charakterisieren:
Es zeigt sich, dass bei der Schulinternen Teamarbeit der niedrigste Mittelwert und die größte Streuung vorliegen. Das bedeutet, die Schulinterne Teamarbeit stellt die am geringsten ausgeprägte Dimension inklusiver Arbeit an der Schule aus Sicht der Lehrer*innen dar. Zugleich verweist die große Streuung allerdings auf eine sehr divergente Einschätzung dieses Bereichs durch die Lehrenden: Während einige Lehrer*innen durchaus kooperieren, gibt es andere, die diese Anforderung der Inklusion nicht bzw. nur in sehr geringem Maße umsetzen.
Die Subskalen der Qualitätsskala zur inklusiven Schulentwicklung werden auf Zusammenhänge mit Belastungserleben überprüft. Dies geschieht durch Korrelationskoeffizienten nach Bravais-Pearson (einseitige Testung) (siehe Tabelle 3).
Tabelle 3: Korrelationen zwischen den Skalen der Qualitätsskala zur inklusiven Schulentwicklung und Belastungserleben
|
Skalen zur Qualitätsskala zur inklusiven Schulentwicklung |
||||
Förder-planung |
Adaptive Unterrichts-gestaltung |
Schulkonzept-entwicklung |
Schulinterne Teamarbeit |
Kooperation mit externen Partner*innen |
|
Belastungserleben |
-.05 |
-.14 |
-.07 |
-.12 |
-.08 |
Wie die Tabelle zeigt, liegen keine Zusammenhänge zwischen den Dimensionen von Inklusion und Belastungserleben vor. Zwar erreichen einige der Skalen Signifikanz, allerdings sind die Korrelationskoeffizienten so niedrig, dass diese nicht berichtenswert sind.
Die berichteten Ergebnisse tragen dazu bei, die bisherige diverse Studienlage zum Thema Inklusion und Belastung durch die Einschätzung derjenigen Lehrkräfte zu bereichern, die tatsächlich auch inklusive Klassen unterrichten. Während viele bestehende Befunde zu dieser Thematik häufig aus Studien resultieren, die Lehrende ohne oder mit geringen Erfahrungen im inklusiven Unterricht an Regelschulen zum Gegenstand haben und daher Erwartungen und Beliefs abfragen (z.B. Avramidis & Norwich 2002; Heyl & Seifried 2014; Strauß & König 2017), sind die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung deutlich näher an der „inklusiven Realität“. Ein solches Vorgehen und die Betrachtung solcher Lehrerstichproben sind nötig, um abschätzen zu können, ob bzw. welche Maßnahmen mit Blick auf in der Inklusion tätige Lehrkräfte auch tatsächlich nötig und hilfreich sind.
In der Literatur sind viele der Aspekte inklusiver Arbeit, die durch die Skalen der Qualitätsskala zur inklusiven Schulentwicklung ermittelt wurden, als Belastungsquellen beschrieben. Inklusives, adaptives Unterrichten in einer heterogenen Klasse mit möglicherweise mehreren verschiedenen Förderbedarfen sowie Förderplanung sind von Seiten der Lehrenden, meist in entsprechenden unselektierten Stichproben, mit Belastung assoziiert (Forlin & Chambers 2011; Hedderich & Hecker 2009; Keller-Schneider 2017). Gleiches gilt für die innerschulische Kooperation (Arndt & Werning 2013; Scruggs et al. 2007). Allerdings zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung: Die Dimensionen von Inklusion sind nicht per se mit Belastungserleben verbunden. Dass sich Haltungen von Lehrkräften hinsichtlich Inklusion durch Erfahrungen mit inklusiven Klassen und mit Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ändern, ist keine neue Erkenntnis (z.B. Avramidis & Kalyva 2007; Bosse et al. 2016; Hellmich & Görel 2014). Die Ergebnisse werfen aber ein neues Licht auf den Belastungskontext: Der emotional aufgeheizte Diskurs dazu, dass Inklusion und deren (neue) Aufgaben mit mehr Engagement, Mehrarbeit und Belastung gleichzusetzen sind (Erbring 2012), ist sehr viel differenzierter zu führen. Zudem muss Aspekten wie der Stichprobenzusammensetzung/-generierung und dem organisatorischen Kontext, in dem Inklusion stattfindet, mehr Bedeutung zukommen. Daraus lassen sich einige Schlussfolgerungen zu Maßnahmen und deren Passung ziehen.
Neben einem Umdenken im Diskurs um Inklusion und Belastung ist auf Seite der Implikationen für die Praxis das Schlagwort „Mikrokontextualisierung“ anzuführen. Nicht alle Lehrkräfte fühlen sich per se von Inklusion bzw. den zu leistenden Aufgaben auf verschiedenen Ebenen belastet. Das bedeutet, Maßnahmen zu konzipieren, die Belastungserleben generell in inklusiven Settings reduzieren sollen, erscheinen wenig passgenau hinsichtlich des Befindens und der Bedürfnisse der Lehrer*innen. Es bietet sich daher an, auf Mikroebene zu arbeiten – auf Ebene der einzelnen Schule. Eine Möglichkeit, individuelle Schulentwicklungsprozesse bzw. den Stand und Erfolg eines solchen Prozesses messbar zu machen, bieten Konzepte und Messinstrumente, die verschiedene schulische Ebenen von Inklusion adressieren. Ein solches Instrument ist auch in der vorliegenden Studie zum Einsatz gekommen. Im Sinne einer Messbarmachung ermöglicht das Instrument an Schulen Tätigen, für die genannten Bereiche von Inklusion eine Einschätzung zu treffen, inwieweit sie diese (bereits) realisieren. Die Ergebnisse einer schulinternen Evaluation mit einem solchen Messinstrument können Aufschluss geben über Bereiche von Schulentwicklung, Inklusion und Belastung, die auf Ebene der einzelnen Schule noch nicht so weit „gereift“ sind oder Bedarfe aufzeigen, für die Unterstützungsangebote und/oder Ressourcen benötigt werden. Schulen mit dem Schulprofil Inklusion haben bereits einen Schulentwicklungsprozess durchlaufen und ein gemeinsames Profil erarbeitet. Dieser Prozess lässt sich allerdings wieder aufnehmen, werden Bedarfe an einzelnen Schulen deutlich. Sollten Bedarfe Belastungserleben auf Seiten der Lehrer*innen an einzelnen Schulen widerspiegeln, dann ließen sich Maßnahmen andenken, Lehrkräfte im Umgang mit beruflichem Stress zu unterstützen (Lehr 2014). Es sind aber dann Mikrokontexte, einzelne Schulen bzw. Lehrer*innen, die solche Unterstützung benötigen – und eben nicht alle Lehrkräfte, die irgendwie mit Inklusion zu tun haben, wie es die öffentliche Diskussion immer wieder vorspiegelt.
Möchte man „eine Ebene höher“ gehen und einen Bedarf herausarbeiten, den alle beteiligten Schulen teilen und aus dem mögliche bzw. nötige Maßnahmen erwachsen, ließe sich am ehesten die schulinterne Teamarbeit herausgreifen. Diese zeigt einen vergleichsweise niedrigen Mittelwert und eine große Streuung. Lehrerkooperation ist ein Aspekt, der noch Potenzial in der Umsetzung hat, gleichzeitig aber eine diverse Einschätzung erfährt, was die Umsetzung betrifft. Es sind ebenso Maßnahmen einer Förderung von Kooperation genau zu überdenken: Auch hier sind mikrokontextuell orientierte Maßnahmen und Angebote zu planen, damit solche Maßnahmen nicht in der ewig währenden Diskussion um die Divergenz der Notwenigkeit von Kooperation und der gleichzeitig eher geringen Bereitschaft zur Umsetzung auf Lehrer*innenseite zerrieben werden (vgl. Vangrieken, Dochy, Raes & Kyndt 2015). Die breite Streuung der Mittelwerte verweist darauf, dass es auch in der vorliegenden Studie Lehrkräfte gibt, die, trotz der Tätigkeit an einer inklusiven Schule, (intensivere) Kooperationsformen eher nicht oder weniger realisieren – im Einklang mit wiederholt replizierten Befunden, wonach die Bereitschaft zur Zusammenarbeit einiger Lehrender vor allem durch ein Minimum an Austausch von Informationen und Materialien erfolgt (Gräsel, Fussangel & Pröbstel 2006; Vangrieken et al. 2015). Diese sind an kooperatives Arbeiten heranzuführen.
Forschungsdesiderate bestehen mit Blick auf die Stichprobe bzw. die erfassten Schulen und Lehrer*innen sowie hinsichtlich einer (methodischen) Ausdifferenzierung des Forschungskontexts. Die vorliegende Studie basiert auf inklusiven Grund- und Mittelschulen, da in Bayern bisher nur diese Schularten das Schulprofil Inklusion entwickelt haben. Es gibt allerdings erste Pilotschulen an Realschulen und Gymnasien, die ihre Arbeit mit einem solchen Profil gegenwärtig aufnehmen. Längerfristig lohnt daher ein Vergleich mit diesen Schularten, um der Frage nachzugehen, ob Belastungserleben im Kontext von Inklusion mit der Schulart assoziiert ist. Darüber hinaus ließe sich das Forschungsfeld weiter spezifizieren. In der hier präsentierten Untersuchung sind korrelative Berechnungen dargestellt. Diese ließen sich weiterführend durch spezifischere quantitative Methoden ergänzen, beispielsweise durch Clusteranalysen, um Typen von Lehrkräften in der Umsetzung von Inklusion herauszuarbeiten. Ebenso wäre auch ein ergänzendes qualitatives Vorgehen möglich. Belastungserleben, Belastungsfaktoren, aber auch die salutogene Perspektive (vgl. Erbring 2015) mit Blick auf Ressourcen, Potenziale und einen Mehrwert der Inklusion auch für Lehrende ließen sich in Interviews oder Gruppendiskussionen thematisieren und vertiefen.
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