Abstract: Inklusion ist eine multiprofessionelle Aufgabe, die die Herausforderung mit sich bringt, allen Dimensionen von Heterogenität gerecht zu werden. Dieser Prämisse folgend wird im Beitrag der Blick auf das Verhältnis von inklusiver (Schul-)Pädagogik und Sprachbildung gelegt. Im Fokus stehen Fragen sprachlicher Bildung im Zusammenhang mit Ansprüchen inklusiver Bildung. Im Beitrag soll nachgezeichnet werden, welche Argumentationslinien in der aktuellen Forschungsliteratur aus dem Bereich der Sprachbildung anzutreffen sind, mit denen begründet wird respektive werden könnte, warum Sprachbildung als immanenter Teil von Inklusion verstanden werden kann bzw. sollte. Weiterhin wird in ersten Zügen der Frage nach dem möglichen Charakter einer inklusionsorientierten Sprachbildung nachgegangen. In Bezug auf deren Konstitution werden offene Fragen und Forschungsperspektiven formuliert.
Stichworte: Sprachbildung, Inklusion, Bildungssprache, sprachliche Heterogenität
Inhaltsverzeichnis
Sprachbildung ist ein aus der Deutsch als Zweitsprache-Didaktik erwachsenes Konzept, das inzwischen jedoch meist zielgruppenübergreifend verstanden wird. So wie es innerhalb der Erziehungswissenschaften kein einheitliches Verständnis von Inklusion gibt (vgl. z.B. Cramer/Harant 2014), so ist aber auch der Bereich der Sprachbildung „vor dem Hintergrund einer sich schnell entwickelnden interdisziplinären Debatte“ (Lütke/Petersen/Tajmel 2017: v) von unterschiedlichen Perspektiven auf sprachliches Lernen geprägt. Becker-Mrotzek und Roth (2017) sprechen diesbezüglich von einer „sprachbezogenen Bildungsforschung“ (Becker-Mrotzek/Roth 2017: 29), die „eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Erziehungswissenschaft, Psychologie, Fachdidaktiken und Fachwissenschaften in enger Kooperation mit der Praxis [erfordert]“ (ebd.). Aus diesem Grund und da die Perspektive der Sprachbildung in inklusionspädagogischen Diskussionen bisher kaum vertreten ist (siehe aber z.B. Tschernig/Vo Thi in der Ausgabe 03/2017 dieser Zeitschrift), soll das Verständnis von Sprachbildung im Kontext von FDQI-HU hier ausführlicher erläutert werden. Das folgende Zitat des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache fasst einige grundlegende Aspekte des Konzepts Sprachbildung, wie es im vorliegenden Beitrag verstanden wird, zusammen:
„Sprachliche Bildung bezeichnet alle systematisch angeregten Sprachlernprozesse und ist allgemeine Aufgabe im Elementarbereich wie im Unterricht aller Fächer. Die Erzieherin oder Lehrperson greift geeignete Situationen auf und gestaltet sprachlich bildende Kontexte für alle Kinder und Jugendlichen.“ (Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache 2017: o.S.)
Der Hinweis darauf, dass sich Sprachbildung an alle Kinder und Jugendlichen richtet, macht deutlich, dass in Bezug auf die Sprachbildung eine Überwindung der in Folge der Schulleistungsstudien eingetretenen Verengung auf Fragen der Sprachförderung von Lernenden mit Deutsch als Zweitsprache festgestellt werden kann[3] (vgl. Lütke/Petersen/Tajmel 2017: v). Für Lütke, Petersen und Tajmel ist damit eine stärkere „ressourcenorientierte Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit“ (ebd.) verbunden. Zugleich werde „[a]us einer stärker fachunterrichtsbezogenen Perspektive [...] auch die sprachlichen Anforderungen des Fachunterrichts und seine Möglichkeiten, Sprachbildung und -förderung didaktisch und methodisch angemessen in das fachliche Lernen zu integrieren, [thematisiert]“ (ebd.). Als weitere Perspektive nennen die Autorinnen „die Orientierung am jeweiligen sprachlichen Register“ (ebd.). Den beiden letztgenannten Perspektiven der Sprachbildung wird im Projekt FDQI-HU besondere Aufmerksamkeit geschenkt, sollen in diesem doch angehende Fachlehrkräfte in ihrem jeweiligen Fach für das Unterrichten von heterogenen Lerngruppen qualifiziert werden.
Wesentlich geprägt wurde das Konzept Sprachbildung von der Forscher*innengruppe des Modellprogramms FörMig(Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund). Diese arbeitete u.a. den Aspekt der Durchgängigkeit von Sprachbildung heraus, womit zum einen auf die Bedeutung der „bildungsbiographischen Übergänge vom Elementar- in den Primarbereich, vom Primar- in den Sekundarbereich und vom Sekundarbereich in den Beruf“ als „vertikale Verbindungs- oder Schnittstellen“ (Salem 2010: 12) in der Bildungsbiographie hingewiesen wird. Sprachbildung soll „kontinuierlich durch die Bildungsbiographie hindurch“ (FörMig-Kompetenzzentrum 2015: o.S.) erfolgen und ist daher Aufgabe aller Bildungsinstitutionen. FörMig betonte zum anderen, dass sich Sprachbildung als fachübergreifende Aufgabe stellt und explizit nicht allein im Deutschunterricht bzw. im Unterricht der Sprachfächer (vgl. ebd.; Benholz/Siems 2016: 35). Damit wird „auf die Beziehungen zwischen den Sprachen unterschiedlicher Fächer und Lernbereiche in der Schule“ (ebd.: 12), sprich auf horizontale Verbindungsstellen, hingewiesen.
In diesem Zusammenhang wird von Seiten der Sprachbildung stets die Bedeutung des Sprachregisters betont, das meist als Bildungssprache bezeichnet wird, und das im Folgenden näher erläutert werden soll. Bildungssprache kann als Register umschrieben werden, das benötigt wird, „wenn wir anderen etwas erklären, wenn wir andere mit Argumenten überzeugen wollen oder wenn wir abwesende Gegenstände beschreiben wollen (vgl. Feilke 2012)“ (Becker-Mrotzek et al. 2012: 2).[4] Es ist insofern „funktional […] für die Erfüllung der spezifischen Anforderungen wissensvermittelnder Kommunikation“ (Morek/Heller 2012: 69). Es stehen also die sprachlich-formalen Mittel und Strukturen im Fokus, die „im schulischen Unterricht Verwendung finden, um neues Wissen zu vermitteln bzw. sich Wissen anzueignen. Gleichzeitig sind es sprachliche Mittel, die dem Nachdenken über bspw. gesellschaftliche, soziale, naturwissenschaftliche oder mathematische Zusammenhänge bis zu einem gewissen Grad erst eine adäquate Form geben, denn Wissen und Denken lassen sich nicht voneinander trennen“ (Ahrenholz 2017: 6). Bildungssprache ist konzeptionell schriftlich, d.h. sie steht „zu einem gewissen Grad in einem Gegensatz zu der Sprachlichkeit von Alltagskommunikationen“ (ebd.), was sich auf Wort-, Satz- und Textebene äußert und nicht nur schriftliche Texte, sondern z.B. auch Unterrichtsgespräche betrifft. Im Sinne des Wissenstransfers erfüllt Bildungssprache kommunikative Funktion (vgl. Morek/Heller 2012: 69), als „Werkzeug des Denkens“ (ebd.) epistemische Funktion und als Ausdruck sozialer Zugehörigkeit symbolische Funktion (vgl. ebd. sowie Ahrenholz 2017: 7). Dabei lassen sich die lexikalischen und morphosyntaktischen Mittel, „die sich mit besonders hoher Frequenz in bildungssprachlichen Texten finden (z. B. Nominalisierungen, komplexe Nominalphrasen, Komposita), funktional rückbeziehen auf die spezifische kommunikative Funktion der jeweiligen Diskurse und Texte (vgl. auch Feilke 2012)“ (Morek/Heller 2012: 71; Hervorhebung d.A). Damit geht es also keinesfalls um eine bestimmte Sprachnorm bzw. eine Wertung im Sinne einer ‚guten‘ und einer ‚schlechten‘ Sprache. Vielmehr werden im Verlauf der Schulzeit aufgrund zunehmender Kontextreduzierung zur Aneignung von Wissen andere sprachliche Mittel benötigt als zu Beginn der Schulzeit oder im Kindergarten.
Im Folgenden soll mithilfe eines Beispiels aus Quehl und Trapp (2013) veranschaulicht werden, was mit einer zunehmenden Kontextreduzierung gemeint ist und inwiefern sich diese in sprachlichen Herausforderungen bemerkbar macht. Das Beispiel stammt aus einer von Quehl und Trapp im FörMig-Projekt begleiteten Sachunterrichtseinheit in einer Grundschule zum Thema Wasserkreislauf. Die Lernenden führten zunächst in Kleingruppen Experimente zur Verdunstung durch. In dieser Phase bestand für die Schüler*innen „kein Grund, kontextunabhängige Sprache zu verwenden. Die Kinder begleiten ihre Handlungen stattdessen mit einer alltäglichen, kontextgebundenen Sprache“ (Quehl/Trapp 2013: 44). Anschließend stellten sie ihren Mitschüler*innen, die an anderen Experimenten gearbeitet hatten, ihre Ergebnisse in einer ‚Forscher*innenkonferenz‘ vor: „Dabei müssen die Kinder notwendigerweise mehr Bedeutungen explizit benennen, da sie nun die Gegenstände, mit denen sie [...] ein Experiment durchführten, nicht mehr unmittelbar vor sich haben“ (ebd.: 45). In dieser zweiten Unterrichtsphase wurden von der Lehrkraft Wortmaterial und Redemittel zur Verfügung gestellt, die den Lernenden bei der Formulierung ihrer Ergebnisse helfen sollten (z.B. Wir haben beobachtet, dass…; Wir vermuten, dass…). Das berichtende Kind trug einen weißen Forscher*innenkittel, der das Vorstellungsbild der Forscher*innenkonferenz im Sinne einer realen Kommunikationssituation, das sich laut Quehl und Trapp als „produktiv und motivierend“ (ebd.) erwies, unterstützte. In dieser Phase „hat das jeweils berichtende Kind die Gelegenheit, seine Äußerungen zu verändern, sei es auf Nachfragen oder nicht zuletzt auch aufgrund des eigenen Anliegens, von den Zuhörern besser verstanden zu werden“ (ebd.: 46). Die Ergebnisse der Experimente werden anschließend schriftlich festgehalten.[5] Auf Wortebene lernen die Schüler*innen in diesem Beispiel Ausdrücke wie verdunsten oder nach oben steigen. Für manche Kinder, z.B. diejenigen mit Deutsch als Zweitsprache, können natürlich auch Wörter wie Wolke oder tropfen neu sein. Auf Satz- bzw. Textebene lernen sie, Beschreibungen präzise zu formulieren (Wir haben beobachtet, dass…) und zu argumentieren bzw. zu begründen (Wir vermuten, dass…). Das Beispiel zeigt einen Unterricht, der diese Sprachhandlungen und den damit verbundenen Registerwechsel von den Lernenden nicht einfach implizit erwartet, sondern sie gezielt darin unterstützt, diese zu erwerben. Ausgangspunkt ist dabei die den Kindern vertraute Alltagssprache. Diese wird für die erste (handlungsorientierte) Auseinandersetzung mit dem Thema gezielt genutzt. Der Registerwechsel von der Alltags- zur Bildungssprache, wird durch den Rollenwechsel von der*dem Schüler*in hin zur*zum Forscher*in unterstützt und mithilfe des Forscher*innenkittels sichtbar gemacht.
Wie oben bereits beschrieben und im Beispiel aus dem Förmig-Projekt für den Sachunterricht deutlich wurde, handelt es sich bei Sprachbildung um eine Aufgabe, der sich alle Fachdidaktiken stellen müssen. Dabei geht es darum, dass sie die für ihr Fach spezifischen sprachlichen Anforderungen explizieren. Diese Aufgabe wird inzwischen von vielen Fachdidaktiken wahrgenommen (vgl. Lohse 2017: 185)[6]. Beispielsweise macht Tajmel (2011) für den naturwissenschaftlichen Unterricht darauf aufmerksam, dass sich „[d]ie Relevanz von Sprache und sprachlichem Handeln im Fachunterricht“ (Tajmel 2011: 1) hier in jedem Kompetenzbereich zeigt. Folglich stelle „die Vermittlung fachbezogener Sprachhandlungskompetenz […] eine wesentliche Komponente fachdidaktischen Lehrerhandelns“ (ebd.) dar. Tajmel spricht die oben genannte epistemische Funktion an, wenn sie bemerkt, dass „weder Fachkompetenz noch Erkenntnisgewinnung, weder Bewertungskompetenz noch Kommunikation ohne sprachliches Handeln denkbar“ (ebd.) seien. Sprachliches Handeln beschreibt Tajmel als „die einer Situation angemessene und einem Zweck dienliche Verwendung von Sprache“ (ebd.: 2), was „Fähigkeiten zumeist konzeptionell schriftlicher Art [erfordere], auch wenn sie in eine mündliche Kommunikation eingebunden sind“ (ebd.). Sprachhandlungen konkretisieren sich in so genannten Operatoren (z.B. beschreiben, begründen, erklären, zusammenfassen, vergleichen…), allerdings „in sehr allgemeiner Form. Konkrete Hinweise und Deskriptoren der erforderten sprachlichen Mittel bleiben unerwähnt“ (ebd.: 1). Diese Sprachhandlungen sind in allen Fächern gefordert, unterscheiden sich aber in ihrer Gewichtung sowie hinsichtlich der „Kontexte und Anwendungsbereiche“ (ebd.: 5) je nach Fach: „Die Interpretation von Messdaten unterscheidet sich von der Interpretation eines Textes. Ebenso ist die Beschreibung eines physikalischen Phänomens anders als die Beschreibung einer literarischen Figur“ (ebd.: 9). Insofern sind Sprachhandlungen als fachspezifisch zu bezeichnen und ihre Vermittlung obliegt folglich auch den Fächern (vgl. ebd.).
In Hinblick auf die inklusive Gestaltung von Unterricht „ist nun von besonderem Interesse respektive von besonderer Brisanz, dass die Beherrschung der Bildungssprache zumeist einfach vorausgesetzt (vgl. Becker-Mrotzek et al. 2013: 7) […] wird“ (Rödel 2017: o.S.). Es ist diesbezüglich von einem geheimem Curriculum zu sprechen, „an dem viele Lernende durch Unkenntnis oder durch mangelnde Unterstützung beim Erwerb […] scheitern“ (Becker-Mrotzek et al. 2013: 8). Damit besteht eine klare Benachteiligung von Lernenden, die bildungssprachliche Fähigkeiten – aus welchen Gründen auch immer – nicht einfach ‚nebenbei‘ und ohne gezielte Unterstützung erwerben. Sprachbildung zielt deshalb auf die explizite Vermittlung der für den Bildungserfolg erforderlichen Sprachkompetenzen (vgl. Quehl/Trapp 2013). Durch die systematische Anregung von Sprachlernprozessen (vgl. Mercator-Institut 2017: o.S.) helfen die Lehrkräfte den Lernenden, „die Unterschiede zwischen Alltagssprache, dem alltäglichen Kommunizieren und dem, was bildungssprachlich verlangt ist, beherrschen zu lernen“ (FörMig-Kompetenzzentrum 2015). Denn, so formuliert Tajmel eindrücklich: „Der Bildungserfolg hängt in zu hohem Maße von erfolgreichem sprachlichen Handeln ab, als dass die sprachlichen Erwartungen und sprachlichen Lernziele unbenannt und unreflektiert bleiben dürfen“ (Tajmel 2011: 1).
Kurzfristige Interventionen reichen entsprechend nicht aus (vgl. FörMig-Kompetenzzentrum 2015). Mit Blick auf die Lehrer*innenbildung fordern Benholz und Siems deshalb, dass sprachbildender Unterricht „in allen drei Phasen der Lehrerbildung als Thema verankert“ (Benholz/Siems 2016: 35) wird. Wenngleich sprachbildende Aspekte zum Teil bereits fest in den Modulplänen der Fachdidaktiken verankert sind und viele Lehramtsstudierende aller Fächer damit einen Pflichtanteil fachspezifischer Sprachbildung absolvieren müssten – so auch an der Humboldt-Universität zu Berlin – ist dies aktuell noch keineswegs Standard (vgl. ebd.).
Für Fachlehrkräfte ohne entsprechende Ausbildung lohnt ein Blick in die bereits existierenden Beschreibungen von Möglichkeiten der Verbindung von fachlichem und sprachlichem Lernen. Tajmel plädiert aus den oben beschriebenen Gründen für eine Explikation nicht nur der fachlichen, sondern auch der sprachlichen Lernziele des Fachunterrichts. Diese sorge zum einen für Transparenz für die Lernenden und gebe zum anderen den Lehrkräften „Hinweise, welche sprachlichen Mittel im Unterricht besonders hervorgehoben und gefördert werden sollen“ (Tajmel 2011: 1). Bisher beurteilen Lehrkräfte die sprachlichen Schüler*innenleistungen mitunter
„nach mehr oder minder explizierten Beurteilungskriterien, befinden Schülerantworten als ‚zu knapp‘ oder ‚nicht in die richtigen Worte gefasst‘, sind sich aber häufig selbst nicht der Kriterien bewusst, auf die sich ihre Beurteilung stützt (Tajmel 2009). Der sprachliche Erwartungshorizont liegt also nur unbewusst und unkonkret vor.“ (Tajmel 2011: 5)
Tajmel schlägt fünf Leitfragen vor, die der Konkretisierung von sprachlichen Lernzielen am konkreten Unterrichtsbeispiel helfen sollen:
„1. Welcher Standard / welches Lernziel wird angestrebt? (siehe Rahmenlehrplan)
2. Welche Sprachhandlung ist damit verbunden? (Beschreiben, Erklären, etc.)
3. Welches ist der sprachlich ausformulierte Erwartungshorizont? (Altersangemessenheit! Geschrieben oder gesprochen?)
4. Welche sprachlichen Mittel beinhaltet dieser Erwartungshorizont? (so detailliert wie möglich; auf Wort-, Satz-, Textebene)
5. Wie lautet der um das sprachliche Lernziel erweiterte Standard? (Wiederholung des angestrebten Standards und Deskription des sprachlichen Leistung; Nennung der wichtigsten Begriffe und der sprachlichen Schlüsselmerkmale)“ (ebd.: 8)
Eine sprachbildende Gestaltung von Fachunterricht setzt eine entsprechende professionelle Entwicklung seitens der Lehrenden voraus. In der universitären Lehrkräftebildung in Berlin wird sowohl im Bachelor- als auch im Masterstudium je ein Sprachbildungsmodul angeboten, das von allen Studierenden zu absolvieren ist. Darüber hinaus ist festgelegt, dass die Fachdidaktiken in ihren Lehrveranstaltungen zwei Leistungspunkte für fachspezifische Aspekte der Sprachbildung vergeben sollen. Dies stellt zurzeit aber für einige Fächer noch eine große Herausforderung dar, sodass die Implementierung und inhaltliche Füllung dieses Bereichs in ihrer Realisierung unterschiedlich weit ist. Aus diesem Grund arbeiten im Projekt FDQI-HU die vertretenen Fachdidaktiker*innen aus Geschichte, Englisch, Latein, Informatik und Arbeitslehre eng mit den Vertreter*innen der Sprachbildung zusammen. Damit soll erreicht werden, dass sprachbildende Aspekte bezogen auf das Fach und seine spezifischen Anforderungen gemeinsam herausgearbeitet und im Rahmen der Hochschullehre thematisiert werden können. Die Fachdidaktik Latein ist hier insofern hervorzuheben, als dass diese schon länger intensive Auseinandersetzungen mit ihrer Rolle in Hinblick auf Sprachbildungsprozesse betreibt (vgl. z.B. Kipf 2017).
Es lässt sich zusammenfassen, dass es bei sprachbildendem Unterricht um die explizite Vermittlung der für den Bildungserfolg erforderlichen Sprachkompetenzen geht (vgl. Quehl/Trapp 2013). Damit wird dem schon „[s]eit den 1970er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts und lange vor PISA“ (Benholz/Siems 2016: 36) bekannten „Zusammenhang von sprachlicher Bildung und Schulerfolg“ (ebd.) Rechnung getragen. Wie oben mit Verweis auf die Notwendigkeit einer Überwindung der Verengung auf den Bereich Deutsch als Zweitsprache deutlich wurde, geht es dabei nicht nur um ausreichende Sprachkenntnisse, sondern um den Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen von allen Schüler*innen (vgl. Becker-Mrotzek et al. 2012: 2; Lange 2012: 140). Der Fokus auf alle Schüler*innen kann als erste Gemeinsamkeit zwischen dem Sprachbildungs- und dem Inklusionsdiskurs ausgewiesen werden. Zudem wird sowohl die Sprachbildung als auch die Inklusion seit längerem als Querschnittsaufgabe diskutiert, die sich nicht darin erschöpft als Parallelaufgabe zusätzlich zum Gewohnten thematisiert zu werden, sondern die durchgängig, vertieft und nachhaltig umzusetzen ist (vgl. Demmer-Dieckmann 2014: 11; FörMig-Kompetenzzentrum 2015; Amrhein 2015: 148f.; Lindmeier/Lütje-Klose 2015; Becker-Mrotzek/Roth 2017). Nicht zuletzt geht mit der Forderung nach einem prinzipiell sprachbildenden Unterricht eine Neustrukturierung allen Unterrichts einher, wie sie auch von Seiten der Inklusionspädagogik gefordert wird.
Wenngleich Sprachbildung und Inklusion zunehmend aufeinander bezogen werden, bleiben Begründungen, inwiefern Sprachbildung als Teil der Inklusion zu verstehen ist, zurzeit teilweise noch implizit. In den Diskursen um Sprachbildung sind – so haben erste Auseinandersetzungen mit einschlägiger Forschungsliteratur gezeigt – detaillierte Argumentationen für die Verwobenheit von Sprachbildung und Inklusion (bisher) eher selten. Gleichwohl wird ein Zusammenhang zwischen Inklusion und Sprachbildung angezeigt, womit zumindest die grundsätzliche Orientierung auf Inklusion innerhalb der Sprachbildungsdiskurse deutlich wird. Allerdings muss betont werden, dass das Verständnis von Sprachbildung dabei variiert. Bezüglich des Verweises auf den Zusammenhang von Sprachbildung und Inklusion seitens der Sprachbildungsdiskurse werden nachfolgend zunächst erkennbare Argumentationslinien nachgezeichnet. Anschließend werden weitere Begründungen für einen Zusammenhang von Sprachbildung und Inklusion angeführt, die sich ebenfalls aus den Sprachbildungsdiskursen heraus rekonstruieren lassen, die u.E. jedoch bisher nicht ausreichend expliziert worden sind.
„Das verdankt sich zweier einfacher Zusammenhänge: Wer die Sprache des Landes, in dem sie oder er lebt, nicht verwenden kann, kann in Gesellschaft und Politik nicht oder nur sehr eingeschränkt partizipieren. Und wer in einer hoch literalisierten Gesellschaft nicht lesen und schreiben kann, wer also nicht über die geschriebene Sprache verfügt, dem bleiben viele gesellschaftliche wie persönliche Möglichkeiten, insbesondere Bildung und beruflicher Erfolgt, verschlossen“ (Becker-Mrotzek/Roth 2017: 11).
Mit Blick auf die Tatsache, dass „14,5 Prozent oder 7,5 Mio. Erwachsene in Deutschland zu den sog. funktionalen Analphabeten [gehören], die aufgrund unzureichender Lese- oder Schreibfähigkeit von den zahlreichen schriftbasierten Aktivitäten in ihren Gemeinden und Bezugsgruppen […] ausgeschlossen sind“ (ebd.: 12), verwundere es nicht, „dass sprachliche Bildung und Förderung bei Fragen der Integration, der Inklusion, der Anerkennung von Vielfalt, der Schaffung von Chancengleichheit u.ä. immer zu den zentralen Forderungen und Maßnahmen gehören.“ (ebd.)
Wenn Sprachbildung u.a. auf den bestmöglichen Erwerb von Bildungssprache zielt, ist dies dann nicht als Spielart eines ‚Kulturimperialismus‘ (Hiller 1997) bzw. Erstarkens der Mittelschichtorientierung in Schule zu verstehen? Steckt hinter dem Ziel des Erwerbs von Bildungssprache nicht schlichtweg ein Normierungsinteresse (i.S. von alle Kinder müssen bildungssprachliche Kompetenzen erwerben), das z.B. einer Sensibilität für und Anerkennung von milieubedingter Sprachvielfalt widerspricht? Muss Sprachbildung nicht kritisch als Machtinstrument reflektiert werden?
Von Seiten der Sprachbildung kann diesen Fragen Folgendes entgegnet werden: Wie oben erläutert wurde, sind die lexikalischen und morphosyntaktischen Mittel in bildungssprachlichen Texten funktional zu begründen, hängen sie doch mit der spezifischen kommunikativen Funktion eines Diskurses oder Textes zusammen (vgl. Morek/Heller 2012: 71). Bildungssprache ist insofern kein normatives Konstrukt, es geht nicht um ‚bessere‘ oder ‚schlechtere‘ Sprachverwendung, sondern um eine Sprachverwendung, die für eine kontextreduzierte Kommunikation, wie sie im Laufe der Schulzeit zunimmt, gebraucht wird. Morek und Heller verweisen darauf, dass es insofern ein Missverständnis wäre, Bildungssprache als „Herrschaftsinstrument“ (ebd.: 70) zu betrachten (vgl. ebd.). Tschernig und Vo Thi bemerken folgerichtig, dass es im inklusiven Unterricht aufgrund der Funktionalität von Bildungssprache nicht darum gehen kann, „auf die Verwendung von Bildungs- und Fachsprache zu verzichten“ (Tschernig/Vo Thi 2017: o.S.), um sprachliche Benachteiligungen zu verhindern. Allerdings wird die „ungleichheitsreproduzierende Funktion“ (Morek/Heller 2012: 77) von Bildungssprache von Vertreter*innen der Sprachbildung keinesfalls verkannt. Im Gegenteil fordern sie aus genau diesem Grund vehement die Explikation der sprachlichen Anforderungen des Unterrichts bzw. der sprachlichen Lernziele. Denn nicht „die heterogenen, durch die außerschulische Sozialisation vor allem in der Familie erworbenen sprachlichen Voraussetzungen der Schüler/innen [führen] zu Bildungsungleichheit“ (ebd.), so Morek und Heller,
„sondern erst und vor allem die Tatsache, dass die Schule ihre sprachlichen Anforderungen und Bewertungsmaßstäbe nicht offenlegt bzw. zum expliziten Vermittlungs- und Lerngegenstand macht. Erst dadurch kann das Verfügen über bildungssprachliche Kompetenzen als Eintrittskarte zu Lerngelegenheiten und Bildungsabschlüssen innerhalb der Schule als gate-keeping-Institution (Erickson/Shultz 1982) fungieren.“ (Morek/Heller 2012: 77)
Durch die Forderung nach der Explikation des Lerngegenstands Sprache und dem stetigen Aufzeigen von Möglichkeiten, wie dies Lehrer*innen gelingen kann, kommt die Sprachbildung also der „Aufgabe eines inklusiven Schulsystems, diesen Schlüssel für alle Lernenden gleichermaßen bereitzustellen und damit den Zugang zu den Lerninhalten zu gewährleisten“ (Tschernig/Vo Thi 2017: o.S.) nach. Diese Argumentation ist letztlich anschlussfähig an die Vorstellung, dass inklusiver Unterricht für alle Schüler*innen herausfordernd gestaltet (Achievement) und durch hohe Ansprüche an das Lernen der*des einzelnen gekennzeichnet sein sollte (vgl. Seitz/Scheidt 2012). Das Ziel des Erwerbs des für Bildungserfolg bedeutsamen, situativ einzusetzenden Registers der Bildungssprache ist entsprechend nicht mit dem Ziel einer dauerhaften Übernahme dieses Registers bzw. des Ersetzens des alltagssprachlichen Registers zu verwechseln. Vielmehr wird hier ein relevantes Bildungsziel formuliert, das von allen Schüler*innen erreicht werden dürfen sollte (Bildungschance) – nicht aber muss (i.S. eines Standards). Selbstverständlich können auch Prozesse sprachbildenden Lehrens und Lernens diskriminierende und normierende Wirkungen entfalten – v.a. wenn diese in Settings mit diskriminierenden, selektiven o.ä. Strukturen, Kulturen und Praktiken stattfinden. Dies verweist allerdings weniger auf eine Grenze der Konzeptes der Sprachbildung, als vielmehr darauf, dass sich die konkrete Umsetzung pädagogischer Konzepte etc. „nicht von existenten Strukturen, vom professionellen Selbstverständnis und entsprechenden Einstellungen und Beliefs etc. lösen lässt“ (Simon/Geiling 2016: 206).
Ist Leichte Sprache mit Blick auf das Anliegen von Sprachbildung, ein bestimmtes sprachliches Register zu erwerben, als Hilfe oder als eine ‚Barriere‘ zu verstehen?
Das Konzept der Leichten Sprache wird innerhalb inklusionspädagogischer Diskurse als wichtiger Beitrag zur Sicherung von Barrierefreiheit und damit als Möglichkeit zur Steigerung von Chancengleichheit respektive -gerechtigkeit diskutiert (vgl. exempl. Feuser 2017: 35; Prammer 2017: 26). Auch von Seiten der Deutschdidaktik und Linguistik wird das Konzept der Leichten Sprache seit einiger Zeit in den Blick genommen und zum Teil kontrovers diskutiert (vgl. Bock 2016). Die oben formulierte Frage wird dabei durchaus unterschiedlich beantwortet. So ist beispielsweise Oomen-Welke (2015) der Meinung, dass Deutsch als Zweitsprache-Sprecher*innen „davon profitieren [können], dass in kurzen und einfachen Sätzen Sachverhalte erklärt werden. Leichte Sprache kann ihnen helfen, die Werte und Regeln des Zusammenlebens besser zu verstehen, sich selbstständiger zurecht zu finden und dadurch eigene Standpunkte zu vertreten“ (Oomen-Welke 2015: 25). Dabei bemerkt sie, dass
„[d]er Gebrauch Leichter Sprache […] für sie allerdings nicht als defizitärer Endzustand, sondern vielmehr als eine Übergangsvarietät oder ein Durchgangsstadium zu verstehen [sei] (Maaß et al. 2014: 58) […]. Leichte Sprache als defizitär anzusehen wäre problematisch, zumindest in den Fällen, in denen mit Hilfe ihrer Regeln ohne Verlust von Bedeutung komplexe und registerspezifische Ausdrucksweisen umformuliert werden können“ (ebd.).
Beim Versuch einer Einordnung der Leichten Sprache in die Stufen des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER) sieht Oomen-Welke Leichte Sprache deutlich über dem ersten GER-Niveau A1. Es handele sich um „eine fortgeschrittene Ausbaustufe zwischen informell-öffentlichem und formellem Register“ (ebd.: 28). Eine „Gefährdung von Bildungssprachen, Wissenschaftssprachen und Schriftkultur des Deutschen durch Leichte Sprache [brauche] keinesfalls befürchtet zu werden, diese folgen eigenen Regeln“ (ebd.: 30). Allerdings geht Oomen-Welke nicht darauf ein, wie mit den von den üblichen grammatikalischen Regeln abweichenden Schreibweisen der Leichten Sprache didaktisch konkret umgegangen werden könnte. Die Argumentation bezieht sich hier also auf den Nutzen der Leichten Sprache für die Bewältigung von Alltagsaufgaben und nicht auf ihren Platz bzw. ihre Funktion innerhalb des Spracherwerbsprozesses. Wenngleich das Konzept der Leichten Sprache „nicht vorrangig auf didaktische Kontexte“ (Bock 2016: 83) entwickelt wurde, stellt sich doch die Frage, ob diese in Hinblick auf den Sprachlernprozess nicht eher irritierend wirken. Berkemeier und Wilmes (2016), die sich bezogen auf einen inklusiven Deutschunterricht mit Möglichkeiten grammatisch unterschiedlich komplexer Realisierungen von Sprachhandlungen beschäftigen, machen darauf aufmerksam, dass die empirische Überprüfung der Kriterien der Leichten Sprache noch aussteht (vgl. auch Bock 2016).
Nach Bock (2016) kann Leichte Sprache aus sprachwissenschaftlicher Sicht „als laienlinguistisches Phänomen charakterisiert werden (Bock und Antos i.D.), das vorrangig intuitiv in der Praxis entwickelt wurde und als dessen Hauptzielgruppe Menschen mit geistiger Behinderung gelten“ (ebd.: 80). Leichte Sprache, die laut Bock durchaus nicht immer mit einheitlichen Regeln umgesetzt werde, könne als „Varietät des Deutschen beschrieben werden, die durch die Funktion gekennzeichnet ist, zwischen Adressaten und ‚schweren‘, für die Adressaten sonst nicht zugänglichen Texten zu vermitteln (Bock 2016)“ (ebd.: 82). Die Frage danach, ob Leichte Sprache alsHilfe oder ‚Barriere‘ zu deuten ist, lässt sich unabhängig vom konkreten Kontext ihres Einsatzes und der mit ihr verbundenen Ziele nicht beantworten. Eine vergleichbare Diskussion gibt es im Bereich der Mathematik in Bezug auf die Funktionalität des Fingerzählens (vgl. Moeller/Nuerk 2012). Ähnlich wie im Fall mathematischer bzw. mathematikdidaktischer Debatten über Vor- und Nachteile des Fingerzählens kann auch für die Leichte Sprache und ihr Verhältnis zur Sprachbildung das Fazit gezogen werden, dass Leichte Sprache ein begrüßenswerter Versuch ist, Menschen einen Zugang zu Informationen zu verschaffen, der diesen zuvor nicht oder nur begrenzt möglich war (vgl. z.B. Maaß 2015: 7). Nach Bock gehört es „[z]um Wesen von Lehr- und Lernmaterialien […], dass sie sprachlich und inhaltlich an ihre jeweiligen Adressaten angepasst sind“ (Bock 2016: 103). Aus didaktischer Perspektive stellt Leichte Sprache demnach eine Differenzierungsform dar, um auch Fachunterricht inklusionsorientiert zu gestalten (vgl. Riegert/Musenberg 2017). Im Sinne des oben benannten Achievement gilt es, dabei den pädagogisch-didaktischen Blick auf die Zone der nächsten Entwicklung (Wygotski 1964) sprachlicher Kompetenzentwicklung nicht zu verlieren und die „Brückenfunktion“ der Leichten Sprache (Maaß 2016: 6f.) zu beachten, da sonst auch Leichte Sprache mit der Gefahr einer benachteiligenden Reduktion verbunden sein kann. Unabhängig davon gilt es zudem auch, die Grenzen Leichter Sprache auszuloten und ihre Wirksamkeit etc. empirisch zu bearbeiten – und zwar sowohl aus inklusionspädagogischer Sicht (vgl. Riegert/Musenberg 2017: 396f.) als auch aus sprachdidaktischer Sicht (vgl. Berkemeier und Wilmes 2016; Bock 2016).
Neben den oben stehenden, von uns exemplarisch aufgeworfenen Fragen wird es sicherlich eine Reihe anderer Fragen geben, die bei der weiterführenden Beschäftigungen mit Sprachbildung im Kontext inklusiver Bildung aus Sicht der ein oder anderen Disziplin, die sich mit Sprachbildung bzw. Sprache und/oder sprachlichem Lernen im Kontext von Bildungsinstitutionen beschäftigt, ins Blickfeld rücken. Wünschenswert wäre u.E., dass das Identifizieren von weiteren Fragen zur Sprachbildung auf ihrem Weg zur Inklusion und die Suche nach Antworten in einem transdisziplinären, dialogischen Austausch stattfinden. Dabei werden auch Fragen aus Sicht der Sprachbildung an andere Disziplinen bzw. Diskurse zu stellen sein.
Abbildung 1: Die inklusionsorientierte Sprachbildung als transdisziplinäre Aufgabe im Schnittfeld verschiedener (Sub-)Disziplinen und Fachgebiete
Weiterhin muss zur grafischen Darstellung der Überlegungen zur transdisziplinären Verortung einer inklusionsorientierten Sprachbildung angemerkt werden, dass sich überschneidende Bereiche nicht suggerieren sollen, dass sich alle Disziplinen tatsächlich oder im selben Maße überschneiden (sollen bzw. müssen) – ganz im Gegenteil. Inwiefern sich die dargestellten (und weitere) Disziplinen überhaupt überschneiden, wo sich Synergien aber auch Widersprüche ausmachen lassen, dies sollte – ebenso wie die Suche nach weiteren relevanten (Sub-)Disziplinen bzw. Fachgebieten – Gegenstand einer transdisziplinären Annäherung sein, die bisher noch nicht ausreichend stattfindet.[7] Eine Erweiterung bzw. Konkretisierung des hier angebrachten Vorschlages ist daher denkbar und wünschenswert und unser Vorschlag als Anregung zum Weiterdenken und zum Dialog zu verstehen. Auf den von uns dargestellten Vorschlag bezogen, ergeben sich für die Sprachbildung sowie für die anderen Bereiche bzw. (Sub-)Disziplinen bestimmte Konsequenzen, die –im Folgenden beispielhaft nur auf die Sprachbildung bezogen – kurz benannt werden sollen. So müssten Vertreter*innen der Sprachbildung, wenn sie sich auf den Weg zur Inklusion machen möchten, ihr bisheriges Selbstverständnis hinterfragen und sich z.B. damit auseinandersetzen, inwiefern Aspekte der anderen oben genannten Bereiche bzw. (Sub-)Disziplinen bisher (nicht) berücksichtigt wurden bzw. inwiefern sich aus einer Verbindung mit diesen produktive Momente für die Realisierung inklusiver Bildung ergeben (können). Dies impliziert auch ein Ausloten spezifischer sich aus dem eigenen Arbeitsbereich ergebender Potenziale sowie Barrieren für inklusionsorientierte Prozesse, was eine kritische Auseinandersetzung mit tradierten Strukturen, Kulturen und Praktiken, blinden Flecken etc. impliziert.
Inwiefern eine Synergie zwischen der Sprachbildung und z.B. der inklusiven Pädagogik denkbar ist, soll mithilfe eines konkreten Beispiels skizziert werden: Die Qualität von (sprachlichen) Beziehungen zwischen Personen ist ein aus inklusionspädagogischer Sicht wichtiger Aspekt, der im Rahmen der bisherigen Sprachbildung nicht im Fokus stand. Aus inklusionspädagogischer Sicht wird in Bezug auf das Miteinander in Schule u.a. ein wertschätzender, beschämungs- und gewaltfreier bzw. nicht-diskriminierender Umgang miteinander eingefordert (vgl. exemplarisch Prengel 2013; Hafeneger 2014; Boban/Hinz 2017). An diese Forderung anknüpfend sind Synergien zwischen der Sprachbildung und der innerhalb er inklusiven Pädagogik rezipierten Gewaltfreien Kommunikation (vgl. Rosenberg 2003, 2007; vgl. auch Boban/Hinz 2008) denkbar. Anhand des Grundmodells der gewaltfreien Kommunikation[8] lässt sich erahnen, dass die Gewaltfreie Kommunikation, obwohl sie primär auf eine bestimmte Beziehungsqualität zielt, u.a. auch dazu beiträgt, dass die Subjektivität einer Wahrnehmung ausgedrückt wird und die Interaktant*innen damit dazu angehalten werden, ihr sprachliches Handeln zu reflektieren sowie sprachlich präzise und am Konkreten orientiert[9] zu kommunizieren, sodass es zu einer stärkeren Reflexion von Gesagtem und zu Sagendem kommt. In Bezug auf die Reflexion von Sprache und sprachlichem Handeln zeigt sich zwischen der Gewaltfreien Kommunikation und der Sprachbildung demnach ein Überschneidungsbereich. Die Gewaltfreie Kommunikation ihrerseits stärkt den Aspekt möglichst nicht bewertender, bedürfnisorientierter und nicht-verletzender Kommunikation verbunden mit Ansprüchen an eine präzise, auf Nachvollziehbarkeit und Verstehen ausgerichtete Ausdrucksweise. Die Sprachbildung stärkt wiederum den situativ adäquaten Einsatz von Sprache. Beide Ziele lassen sich weitgehend widerspruchsfrei ergänzen, sodass hier exemplarisch eine besondere Passung von Gewaltfreier Kommunikation und Sprachbildung ausgemacht werden kann.
Sich auf die Suche nach ebensolchen Überschneidungen und möglichen Synergien, aber auch Widersprüchen und Unvereinbarkeiten zu machen und sich reflexiv dem Umgang mit ihnen anzunähern, kann u.E. als bedeutsamer Schritt für die Konstitution einer inklusionsorientierten Sprachbildung bezeichnet werden. Deshalb fand im Rahmen des Projekts FDQI-HU am ersten und zweiten März 2018 ein Arbeitssymposium unter dem Titel „Zum Verhältnis von Inklusion und Sprachbildung“ statt, an dem Vertreter*innen der genannten (Sub-)Disziplinen und Arbeitsbereiche zusammenkamen, um auf Basis ihrer jeweiligen Perspektiven auf Sprache miteinander in den Dialog zu treten. Ziel des Symposiums war es, gegenseitige Einblicke zu ermöglichen und darauf aufbauend gemeinsam die Idee einer inklusionsorientierten Sprachbildung grundlegend zu diskutieren. Dabei zeigte sich u.a. die Produktivität und die Notwendigkeit eines inter- bzw. transdisziplinären Dialogs zwischen Vertreter*innen von z.T. noch unverbundenen Diskursen verschiedener (Sub-)Disziplinen und Arbeitsbereiche[10].
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[2] Weitere Informationen zum Projekt sind unter https://hu.berlin/FDQI zu finden.
[3] Hier zeigt sich eine Parallele zu den Diskussionen um Inklusion: Sowohl Inklusion als auch Sprachbildung wird in einigen Diskurssträngen als klientelspezifisches Konzept gedeutet und damit auf eine bestimmte Perspektive verengt.
[4] Der linguistische Begriff des Registers geht auf verschiedene Linguisten der Mitte des 20. Jahrhunderts zurück, die auf die Situations- und Kontextabhängigkeit sprachlicher Zeichen verwiesen (vgl. Dittmar 2008: 216), also auf „die unauflösliche Verbindung von Kontext und sprachlich-kommunikativen Mustern“ (ebd.). Der Soziolinguist Halliday sprach von Register als eine Varietät des Sprachgebrauchs. Er definierte Register als „semantisch und grammatisch definierte Varietäten differenziert nach situativen Kontexten“ (ebd.).
[5] Dieses Vorgehen, das hier nur kurz skizziert wurde, folgt dem so genannten Scaffolding-Konzept (Näheres hierzu siehe Gibbons 2003; Kniffka 2010; Quehl/Trapp 2013; Quehl/Trapp 2013b).
[6] Insbesondere aus den naturwissenschaftlichen Fächern liegen viele Publikationen vor (z.B. von Prediger/Götze 2017; Tajmel 2011; Weis o.J.). Hingegen sind die Fremdsprachdidaktiken „bisher lediglich Zaungäste in diesem Diskurs“ (Lohse 2017: 185) (siehe aber z.B. für die Lateindidaktik Kipf 2016; 2017).
[7] Kritisch eingewandt werden könnte auch der Aspekt, dass die inklusive Pädagogik letztlich eine Subsumierung anderen in der Abbildung dargestellten Disziplinen einfordert resp. nötig macht, sodass die inklusive Pädagogik ggf. grafisch einige der anderen Disziplinen umfassen müsste. Auf der Zielebene kann dem durchaus zugestimmt werden. Gleichwohl zielt die Grafik darauf zu verdeutlichen, welche z.T. weitgehend unverbunden nebeneinanderstehenden und eigenständigen wissenschaftlichen Disziplinen sich mit Blick auf das Ziel einer inklusionsorientierten Sprachbildung annähern sollten. Mit der Grafik soll dabei nicht suggeriert werden, dass derartige Annäherungen (stets) harmonisch und wohlproportioniert stattfinden.
[8] 1. Beobachtung und Beschreibung einer konkreten Handlung, ohne diese zu bewerten; 2. Identifikation des Gefühls, das die Handlung auslöst; 3. ein daraus resultierendes Bedürfnis artikulieren; 4. aus dem Bedürfnis eine konkrete Bitte ableiten (vgl. Rosenberg 2003, 2007)
[9] Als Beispiel zur Verdeutlichung sei nochmals auf die oben erwähnte Forscher*innen-Konferenz Bezug genommen: Im Rahmen der Präsentation der Forscher*innen könnte es zu einer Rückmeldung kommen, bei der die*der Schüler*in äußert „Ich habe euer Experiment nicht verstanden!“. Diese Äußerung wäre gemäß der GFK nicht differenziert genug, da keine konkrete Handlung (z.B. die Beschreibung des Aufbaus, der Durchführung des Experimentes oder die Ergebnisdarstellung) benannt und kein Gefühl expliziert wird, was durch die beobachtete Handlung ausgelöst wurde. Auch wird kein aus diesem Gefühl hervorgehendes Bedürfnis formuliert und keine Bitte für eine Handlungsänderung (z.B. einer erneuten Erläuterung des Versuchsaufbaus) abgleitet.
[10] Eine Dokumentation des Symposiums in Form eines Sammelbandes ist geplant.
[11] Dies zeigte sich auch im Rahmen des oben erwähnten Symposiums „Zum Verhältnis von Inklusion und Sprachbildung“.