Abstract: Die Sonderpädagogik erfährt im Rahmen der schulischen Inklusion einen Wandel ihres Professionsverständnisses. In der Diskussion stehen Rollen und Aufgaben von Sonderpädagog_innen in inklusiven Settings, welche in der schulischen Praxis bereits eingehend erforscht wurden. Dahingegen stellt die Studierendenperspektive auf dieses Thema bisher noch ein Forschungsdesiderat dar. Vor diesem Hintergrund wurde im Rahmen einer Masterarbeit in einer qualitativ-empirischen Studie der Frage nachgegangen, welches Verständnis Studierende des Studiengangs „Integrierte Sonderpädagogik“ an der Universität Bielefeld von der Rolle sowie den Aufgaben der Sonderpädagogik in inklusiven Settings haben. Die Ergebnisse der Befragung von fünf Studierenden werden in diesem Beitrag vorgestellt sowie im Hinblick auf die Professionalisierung in der universitären Lehrer_innenausbildung diskutiert.
Stichworte: Rollen und Aufgaben von Sonderpädagog_innen, inklusive Settings, sonderpädagogisches Professionsverständnis, Studierendensicht, universitäre Lehrer_innenausbildung
Inhaltsverzeichnis
Schulische Inklusion ist für die Sonderpädagogik mit Anforderungen hinsichtlich der Veränderung ihres professionellen Selbstverständnisses verbunden (vgl. Hinz 2009). Während Sonderpädagog_innen zuvor schwerpunktmäßig an Förderschulen tätig waren, stellt seit den letzten dreißig Jahren mit der Integrationsbewegung in Deutschland – nun zudem verstärkt durch die Umsetzung der schulischen Inklusion mit Inkraftsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in 2009 – die Arbeit an allgemeinen Schulen in Kooperation mit allgemeinen Lehrkräften vermehrt auch ein Arbeitsfeld dar (vgl. Reiser 2001, S. 471). In den Vordergrund rückt die Diskussion um „das Aufgaben- und Rollenverständnis der sonderpädagogischen Lehrkraft in inklusiven Settings [...], zumal es auch um die Zukunft der sonderpädagogischen Profession im schulischen Kontext geht“ (Lütje-Klose & Miller 2017, S. 105). In der schulischen Praxis zeigt sich diesbezüglich, dass es eine Vielzahl verschiedener Unterstützungsformen gibt, in denen Sonderpädagog_innen unterschiedliche Rollen ein- und Aufgaben übernehmen (vgl. Lütje-Klose & Neumann 2015, S. 111). In der Inklusionsdiskussion wird darüber hinaus der Blick verstärkt auf die Professionalisierung in der universitären Lehrer_innenausbildung gerichtet, in welcher, neben der Entwicklung kooperativer Kompetenzen, das sonderpädagogische Professionsverständnis in inklusiven Settings als zentrales Thema verhandelt wird (z. B. Lütje-Klose & Miller 2017). Während die Rolle und die Aufgaben der Sonderpädagogik in der schulischen Praxis bereits eingehend erforscht wurden (z. B. Literaturreview von Melzer & Hillenbrand 2013), stellt die Studierendenperspektive auf dieses Thema ein Forschungsdesiderat dar. Mit Blick auf die Rollenvielfalt von Sonderpädagog_innen in inklusiven Settings stellt sich jedoch die Frage, ob Studierende des sonderpädagogischen Lehramtes auf die vielfältigen Anforderungen in der Praxis vorbereitet werden und ob sich die in der Praxis zu verzeichnenden Rollenkonflikte (z. B. Lütje-Klose & Miller 2017) bereits in der Ausbildung anbahnen. Die Einsicht in die Studierendenperspektive stellt somit eine wichtige Grundlage dar, um Implikationen für die Ausgestaltung einer inklusiven universitären Lehrer_innenausbildung ableiten zu können. Im Rahmen der Masterarbeit wurde daher rekonstruiert, welches Verständnis Studierende des Studiengangs „Integrierte Sonderpädagogik“ an der Universität Bielefeld hinsichtlich der Rolle der Sonderpädagogik in inklusiven Settings haben.
Inklusive Settings werden dabei als Schulen oder Schulklassen definiert, in welchen alle Kinder gemeinsam unterrichtet und gefördert werden. Es wird somit ein weiter Inklusionsbegriff verfolgt, der neben Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf alle Heterogenitätsdimensionen in den Blick nimmt (vgl. Hinz 2009, S. 171).
In der aktuellen Diskussion um das sonderpädagogische Professionsverständnis in inklusiven Settings treten vor allem zwei unterschiedliche Modelle in den Vordergrund: Die Konzipierung der „Sonderpädagogik als Service-Leistung“ (Reiser 1998) sowie das sogenannte „Zwei-Säulen-Modell“ (vgl. Lütje-Klose & Miller 2017, S. 105f.).
Im Zwei-Säulen-Modell steht die Frage im Fokus, ob Sonderpädagog_innen in inklusiven Settings in der Rolle von „Spezialist_innen“ zuständig für Schüler_innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind, oder in der Rolle von „Generalist_innen“ gemeinsam mit der allgemeinen Lehrkraft die Verantwortung für alle Schüler_innen übernehmen (vgl. ebd.; Kretschmann 1993). In Reisers Modell hingegen werden vier sonderpädagogische Rollenausformungen als „Service-Leistungen“ beschrieben (vgl. Abbildung 1). Die „organisatorische separierende Service-Leistung der Sonderpädagogik“ (Reiser 1998, S. 48) wird an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt, da sie die Beschulung von Schüler_innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in Förderschulen bezeichnet und somit nicht als inklusiv zu verstehen ist.
Abbildung 1: Sonderpädagogik als Service-Leistung in Anlehnung an Reiser 1998 (verändert nach Lütje-Klose 2011, S. 17)
In der qualitativ-empirischen Studie wurden fünf leitfadengestützte Interviews mit Studierenden des Studiengangs „Integrierten Sonderpädagogik" an der Universität Bielefeld geführt und inhaltsanalytisch nach Kuckartz (2016) ausgewertet. In dem Studiengang erwerben die Studierenden nach Abschluss des Studiums eines allgemeinen Lehramtes im Rahmen eines zweiten Masters, in welchem sich die Befragten zum Zeitpunkt der Erhebung befanden, das sonderpädagogische Lehramt für die Förderschwerpunkte Lernen sowie emotionale und soziale Entwicklung (vgl. Lütje-Klose & Miller 2017, S. 235ff.). Die Interviews entstammen aus der Begleitforschung eines Seminars zur multiprofessionellen Kooperation in inklusiven Ganztagsschulen im Rahmen eines Lehr-Forschungsprojekts an der Universität Bielefeld[1], welches Teil des Projekts „BiProfessional – Bielefelder Lehrerbildung: praxisorientiert-forschungsbasiert-inklusionssensibel“[2] ist und im Wintersemester 2016/2017 sowie im Sommersemester 2017 durchgeführt wurde.
Die leitfadengestützten Interviews wurden in der Annahme, dass die Studierenden unbeeinflusst und offener reden, von einer außenstehenden wissenschaftlichen Hilfskraft durchgeführt. Für die Auswertung der Interviewtranskripte wurde das Verfahren der inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2016) ausgewählt (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2: Ablaufschema einer inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse (nach Kuckartz 2016, S. 100)
Diese Form der Datenauswertung ermöglicht es, die vorliegenden Interviewtrankskripte zunächst anhand von vorab hergeleiteten Hauptkategorien thematisch zu strukturieren und anschließend durch die induktive Bildung von Subkategorien inhaltlich auszudifferenzieren. Der Fokus wird somit direkt auf das Material und demnach auf die Aussagen der Interviewten gelegt. Die Wahl dieser Methode ist damit durch das Ziel dieser Studie, die Perspektive von Studierenden zu erfassen, begründet. Um die Rolle der Sonderpädagogik in inklusiven Settings zu untersuchen, wurden anhand des Leitfadens folgende thematische Hauptkategorien entwickelt:
Die Beschreibungen der Rolle der Sonderpädagogik in inklusiven Settings reichen zusammenfassend von der exklusiven Zuständigkeit für Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, über das gemeinsame Unterrichten, bis hin zu einer Fokussierung auf die Beratung, decken also alle von Reiser (1998) beschriebenen „Service-Leistungen“ in inklusiven Settings ab. Eine genauere Betrachtung offenbart jedoch, dass fast alle Befragten jeweils nur eine spezifische Rolle thematisieren, sodass im Einzelfall von eher undifferenzierten Verständnissen der sonderpädagogischen Rolle ausgegangen werden kann. So wird beispielsweise von einer Befragten ausschließlich die Zuständigkeit „speziell für die Kinder mit Förderbedarf“ benannt. Kontrastierend beschreiben zwei weitere Befragte die eigene Rolle als Sonderpädagogen im gemeinsamen Unterricht schwerpunktmäßig als gleichberechtig mit der allgemeinen Lehrkraft und betonen eine gemeinsame Verantwortungsübernahme für alle Kinder. Demgegenüber kennzeichnet für sie aber auch der individuelle Blick auf sowie die individuelle Arbeit mit dem Kind, die Diagnostik und die Förderplanung die sonderpädagogische Profession. Somit tritt, trotz der Betonung einer gemeinsamen Verantwortung, eine implizite Verantwortungsübernahme für die Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, oder zumindest für eine bestimmte Schüler_innengruppe, hervor. Exemplarisch kann folgendes Zitat von einem der zwei Studierenden stehen:
„[I]ch würde mich da auch so sehen, dass ich dann für die Förderpläne und sowas eher zuständig wäre, aber im Unterrichtsgeschehen, was jetzt fachlicher Unterricht oder sowas angeht, gleichwertig mit der Lehrerin das oder der Lehrkraft das machen würde und die Kinder auch nicht separieren würde für den Förderunterricht, also eventuell [...] könnte man so separate Förderstunden einrichten, aber generell sehe ich mich als Lehrkraft in der Klasse gleichberechtig mit der anderen Lehrkraft und mit einem besonderen Blick vielleicht auf die Kinder, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben [...], nur so ein bisschen verstärkt darauf achtet“.
Dieseimplizite Verantwortungsübernahme bei vordergründiger gemeinsamer Verantwortung zeigt sich auch in Studien mit Lehrkräften und Sonderpädagog_innen, welche bereits in inklusiven Settings arbeiten (vgl. z. B. Arndt & Werning 2013). In Rückbezug auf Reiser (1998) wird von den beiden Befragten der Fokus insgesamt auf die sonderpädagogische Rollenausformung der institutionalisierten systembezogenen Service-Leistung als Doppelbesetzung im gemeinsamen Unterricht gesetzt. Dahingegen beschreibt nur ein Befragter die Rolle der Sonderpädagogik als sonderpädagogische Ambulanz und Beratung und weist zudem als einziger ein differenziertes Verständnis der sonderpädagogischen Profession auf. Er beschreibt sowohl das gemeinsame Unterrichten als auch die Beratung als Aufgaben. In seiner eigenen Rollenbeschreibung beschreibt er Sonderpädagog_innen als Ansprechpartner_innen:
„Ganz klar Sonderpädagogik. Das liegt daran, dass ich im Referendariat in diese Rolle schon gekommen bin […], das war gar nicht stark gewollt, sondern ich wurde zum Ansprechpartner in dieser Schule für die Schüler und Schülerinnen, das heißt teilweise […] kamen Lehrer von der Nachbarklasse: ‚Ich komme mit diesem Schüler nicht zurecht‘, ich, wussten aber, dass ich mit dem zurechtkomme und haben nur gebeten: ‚Kannst du nicht mal kurz gucken was los ist?‘ oder ‚Kannst du ihn in deine Klasse nehmen?‘, ähnliches [...] und so kam ich in die Rolle des Sonderpädagogen rein, also eigentlich ein-ein Lehrer für die besonderen Bedürfnisse von Kindern“.
An dieser Stelle wird erkennbar, dass er seine Rolle zwar als ‚Ansprechpartner‘ bezeichnet, seine Identifikation als Sonderpädagoge jedoch mit der Delegation von Kindern an ihn legitimiert. Auch in der schulischen Praxis ist eine solche Delegation an die Sonderpädagog_innen erkennbar (vgl. z. B. Lütje-Klose et al. 2005). Zudem lassen sich die Aussagen des Studierenden vor dem Hintergrund des von Lütje-Klose & Miller (2017) beschriebenen Dilemmas deuten, dass Sonderpädagog_innen in ein gleichberechtigtes kooperatives Verhältnis treten wollen, während sie tatsächlich in eine der allgemeinen Lehrkraft übergeordnete Position treten (vgl. ebd., S. 108f.):
„[A]ber in meinem Fall war es wirklich so, dass ich mit die Unterrichtsreihen ge/, mit den Lehrkräften absprechen konnte und wo ich zum Beispiel dann Ziele gesehen habe: ‚Hier könnten wir wirklich das noch inklusiver gestalten‘ oder ‚Hier, da müssen wir sensibler mit umgehen, dass wir auch die Kinder mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung stärker einbinden‘ [...], d-die Klassenlehrer waren immer sehr, sehr erfreut, wenn man wirklich Ratschläge gegeben hatte, Input, in der man selbst aber nicht nur irgendwie die Expertenrolle hatte, sondern man war ja insofern auch Ansprechpartner, um gemeinsam zu diskutieren“.
So deutet die Aussage, dass man die Unterrichtsplanung gemeinsam diskutieren könne, zunächst auf eine gleichberechtige kooperative Beziehung hin. Im Anschluss daran wird jedoch eine Hierarchisierungstendenz deutlich: Er selbst beschreibt sich als Ansprechpartner und Ratschlaggebenden, die Lehrkräfte hingegen als die Dankbaren, die sich über die Ratschläge gefreut haben. Eine Hierarchisierungsgefahr zeigt sich auch bei zwei weiteren Studierenden, die sich selbst die Verantwortung zuschreiben, als „neue Lehrerinnengeneration“ auf die Lehrkräfte zuzugehen, oder aber ihre eigene Rolle im Gemeinsamen Unterricht „auf jeden Fall durchzusetzen“.
In der Gesamtschau der Befunde zeigt sich, dass – obwohl sich vielfältige sonderpädagogische Rollen und Aufgaben in inklusiven Schulen differenzieren lassen – bei den Studierenden vorranging jeweils ein spezifisches Rollenverständnis vorzuherrschen scheint. Vor dem Hintergrund der Forschungsmethode des leitfadengestützten Interviews, welches den Interviewten eine Offenheit und somit eine eigene Schwerpunktsetzung in ihren Antworten ermöglicht (vgl. Helfferich 2014: 562), deutet dies auf eine sonderpädagogische Rollenpräferenz der Studierenden hin. Deutlich hervor tritt diese, wenn die eigene Rolle in der zukünftigen Praxis ‚durchgesetzt‘ werden soll. Die zuvor referierten Beschreibungen des Studierenden, welcher zum Sonderpädagoge ‚wurde‘, deuten allerdings auch auf einen Einfluss des konkreten Arbeitsumfeldes auf die Rollen- und Aufgabengestaltung hin. Fraglich ist somit, inwiefern die Studierenden ihre eigene Rolle in der Praxis hinsichtlich ihrer Präferenzen gestalten können, oder ob sie bereits vorgegebene Rollen und Aufgaben erfüllen müssen und somit in Konflikt mit ihren Präferenzen geraten. Die Ergebnisse einer Befragung von Absolvent_innen des Studiengangs „Integrierte Sonderpädagogik“, die bereits in der Praxis tätig sind, deuten auf letzteres hin: „Gleichwohl sind sie durch die Stellen- und Schulpraxis, die in der Regel eine eindeutige Zuständigkeit bzw. Rolle vorsehen, häufig gezwungen, die konkrete Stelle entsprechend der Erwartungen auszufüllen“ (Kottmann 2017, S. 229f.). Weitergehend stellt Moser (2016) heraus, dass die Aufgabenwahrnehmung von bereits berufstätigen Sonderpädagog_innen „keineswegs entlang der Ausbildung der Beteiligten organisiert ist“ (ebd., S. 161). Neben den „institutionellen Mandaten“ (ebd., S. 167), werden dabei auch konkrete Aushandlungsprozesse als Einflussfaktor auf die Aufgabenwahrnehmung genannt. Ausschlaggebend für diese ist die vorzufindende Gestaltungsfreiheit im Rahmen der Teambildung als inklusiver Schulentwicklungsprozess (vgl. ebd., S. 160ff.). Die Rollen und Aufgaben von Sonderpädagog_innen, so belegen auch Studien zu Modellen der sonderpädagogischen Förderung (z. B. Werning & Urban 2001, S. 185), sind nicht eindeutig festgelegt und müssen daher in der Praxis zwischen den Akteur_innen zunächst ausgehandelt werden.
Folglich scheint es von immenser Bedeutung zu sein, (1.) diese Aushandlungsprozesse in der Praxis zu erforschen, da „für deren Typologie in inklusiven Schulen bislang […] noch keine hinreichenden Erkenntnisse vorliegen“ (Moser 2016, S. 160), und (2.) die „zukünftigen Sonderpädagoginnen und -pädagogen auf unterschiedliche Rollenprofile vorzubereiten“ (Lütje-Klose & Neumann 2015, S. 115), auch um eine Passung der beruflichen Professionalisierungsprozesse und der Tätigkeiten in der Praxis erzielen zu können. Die Fragen, wie flexibel die befragten Studierenden hinsichtlich ihrer eigenen Rollengestaltung sind und ob sie sich der Vielfalt bewusst sind, die ihre Profession kennzeichnet, gilt es weiter zu untersuchen.
Eine „[k]ritische Analyse der Ansprüche der inklusiven Sonderpädagogik aus allgemeinpädagogischer und professionstheoretischer Perspektive“ (Hänsel & Miller 2014, S. 91) führt jedoch aufgrund einer festzustellenden Hierarchisierung der Sonderpädagogik zu Kritik an der Diskussion um die Rolle der Sonderpädagogik in inklusiven Settings (vgl. ebd.). In dem sonderpädagogischen Professionsverständnis der Ambulanz und Beratung offenbart sich diese Hierarchisierung eindrücklich, wenn die Sonderpädagog_innen „die Berater und die Grundschullehrer stets die zu beratenden Lehrkräfte sind, die zu etwas befähigt werden sollen“ (Lütje-Klose & Miller 2017, S. 109). Darüber hinaus belegen Studien, dass sich Sonderpädagog_innen zum Teil nicht nur für Kooperation, sondern auch für eine inklusive Schulentwicklung verantwortlich sehen (z. B. Werning & Urban 2001, S. 183). Insgesamt treten die Sonderpädagog_innen somit in eine den Regelschullehrkräften übergeordnete Rolle der Spezialist_innen (vgl. Hänsel & Miller 201, S. 99f.).Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass sich die in der Praxis vorzufindende Hierarchisierung der Sonderpädagog_innen gegenüber allgemeinen Lehrkräften bereits in der universitären Lehrer_innenausbildung anbahnt. So konnten neben einer Fokussierung eines Studierenden auf die sonderpädagogische Beratung, in welcher die Hierarchisierung implizit deutlich wurde, zum Teil auch Tendenzen eines „Avantgardebewusstseins“ (Werning & Urban 2001, S. 183) festgestellt werden. Dabei ist jedoch kritisch zu hinterfragen, welchen Einfluss die Praxiserfahrungen der Studierenden haben, da die Hierarchisierungstendenzen schwerpunktmäßig in erlebter oder antizipierter schulischer Praxis thematisiert werden. Vor dem Hintergrund divergierender Ausbildungsinhalte könnten diese dahingehend reflektiert werden, dass sie bereits in der Ausbildung angebahnt werden. Exemplarisch zeigt sich dies in den Ausbildungsinhalten der Universität Bielefeld: Ein Seminar zur Beratung ist nicht in der allgemeinen Lehrer_innenausbildung für das Grundschullehramt, sondern nur in dem sonderpädagogischem Aufbaustudium explizit vorgesehen[3] (vgl. Universität Bielefeld 2014; 2015; 2016). Es gilt daher der Frage nachzugehen, wie sowohl in der Praxis als auch in der ersten Ausbildungsphase solchen Tendenzen entgegengewirkt werden kann. In der Beratung scheint sich eine solche bearbeiten zu lassen, wenn diese, statt dem Ziel andere zu etwas zu befähigen, den Fokus auf die Beratung mit einer gleichberechtigen Beziehung setzt. So folgern auch Lütje-Klose & Neumann (2015): „Als inklusiv sind solche Modelle einzuschätzen, wenn sie im Sinne einer kooperativen Beratung (Mutzeck 2008) eine Wechselseitigkeit auch in der Beratungsbeziehung implizieren“ (ebd., S. 113). In Bezug auf die universitäre Ausbildungsphase schlussfolgert Kottmann (2018), dass eine inklusive Lehrer_innenausbildung durch „die Entwicklung einer […] produktiven und pädagogischen Haltung, für alle Kinder zuständig und verantwortlich zu sein“ (ebd., 143), gekennzeichnet sei. Das Bielefelder Studienmodell der Integrierten Sonderpädagogik scheint diesbezüglich einen guten Ansatzpunkt darzustellen (vgl. Kottmann & Hofauer 2015, S. 329). Da der Studiengang eine fachdidaktische sowie sonderpädagogische Qualifizierung ermöglicht, ist zu vermuten, dass diese Doppelqualifizierung eine gleichberechtige kooperative Beziehung im gemeinsamen Unterricht zulässt bzw. fördert. Dies zeichnet sich in dieser Studie daran ab, dass die im Unterricht häufig vorfindbare sonderpädagogische Rolle als Assistenz und Unterstützer_in (vgl. Lütje-Klose & Urban 2014, S. 288) nicht beschrieben wird. Ein möglicher Grund könnte eben in dieser Doppelqualifizierung der Studierenden gesehen werden. Während in der Studie von Arndt & Werning (2013) ein Teil der allgemeinen Lehrkräfte die Verantwortung für den Unterricht auf Grund ihrer fachlichen Qualifizierung nicht abgeben wollen und die Sonderpädagog_innen sich zudem selbst fachlich unsicher fühlen (vgl. ebd., S. 25), werden die Studierenden sowohl für das sonderpädagogische Lehramt als auch das allgemeine Lehramt und somit für den Fachunterricht qualifiziert.
Exemplarisch steht für diese „wünschenswerte und zukunftsweisende Haltung von Lehrkräften an inklusiven Schulen“ (Kottmann 2018, S. 142) sowohl die Aussage einer Absolventin in der Absolventenstudie von Kottmann (2018): „Ich sehe mich eher als Lehrerin für alle“ (Absolventin in Kottmann 2018, S. 142) als auch die Aussage von einer in dieser Studie befragten Studierenden: „[I]ch sehe mich oder möchte mich später ganz klar als Lehrerin für alle Kinder sehen“.
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[2] Das Projekt „BiProfessional“ wird im Rahmen der gemeinsamen „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert (Förderkennzeichen: 01JA1608).
Nähere Informationen zu der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ finden sich auf der Homepage des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (vgl. BMBF-Qualitätsoffensive Lehrerbildung, o. J.) und auf der Projekthomepage „BiProfessional“ der Universität Bielefeld (vgl. BiProfessional, o. J.).
[3] Inwiefern dieses in anderen Modulen oder Seminaren thematisiert wird, kann nicht aus den reinen Modulhandbüchern gefolgert werden.