Robert Schneider:›Fremdheit‹ als Konstitutivum inklusiver Pädagogik Bildungstheoretische Betrachtungen einer Denkfigur zur ›Überwindung‹ von Dichotomien

Abstract: Dieser Beitrag versucht die antiquierte Denkfigur ›Fremdheit‹ für ein Überwinden von Dichotomien in der Pädagogik nutzbar zu machen und damit die Inklusionspädagogik auf Diversität zu ›polen‹. Dabei werden Fremdheit und das Fremde im Kontext von Bildungstheorie und -philosophie entwickelt und zudem auf Basis ausgewählter Klassiker (Marx und Simmel) deren Logik erörtert. Im Zuge dessen wird sich zeigen, dass die Denkfigur ›Fremdheit‹ in der pädagogischen Anthropologie/Ethik sehr aktuell ist und sich als konstitutiv für Bildungsbewegungen und Identitätsprozesse erweisen kann. Der Fortgang der Argumentation wird ergänzend auch nachweisen, dass dadurch auch Dichotomien gebannt werden können und eine offene, abschiedliche u. d. h. inklusionsförderliche Haltung unterstützt werden kann.

Stichworte: Inklusionspädagogik; Fremdheit; Bildung; pädagogische Ethik/Anthropologie

Inhaltsverzeichnis

  1. Warum die Denkfigur ›Fremdheit‹ bedienen?
  2. Das Spannungsverhältnis aushalten – oder: »im Nebel wandern«
  3. Das pädagogische Konzept ›Fremdheit‹
  4. Fremdheit, Alterität und die Konstituierung von Solidarität
  5. Resümee
  6. Literatur

1           Warum die Denkfigur ›Fremdheit‹ bedienen?

Der Inklusionsprozess, d. h. die Vorstellung als lasse sich (Sander 2002) dieser soziale Prozess und die damit zusammenhängende »gesellschaftspolitische Aufgabe« (Ellger-Rüttgardt 2016, S. 45) ›logisch‹ oder historisch von separierenden Praxen über »enthinderte[r] Integration« (Wocken 2011, S. 78) hin zu einem wertschätzenden, anerkennenden und ermöglichenden Miteinander, in welchem Selbstbestimmung und Kooperation Hand-in-Hand gehen (Feuser 1995/2005: 168; Ellger-Rüttgardt 2016, S. 67), beschreiben, scheint ihre Tücken zu haben. Diese ›Tendenz‹ dürfte auch Feuser (2017) vor Augen gehabt haben, wenn er seinem letzten Herausgeberband den Untertitel Zum Verkommen eines Gesellschaftsprojekts verleiht.

Mit Dussel (2013, S. 133-139) ließe sich dieses ›Gesellschaftsprojekt‹ weniger als Reformprozess beschreiben, denn als Transformation. Es handelte sich also nicht bloß um eine »nebensächliche Änderung« (ebd., S. 137) der bestehenden Ordnung, sondern um eine Neuordnung im Geiste der Humanität und Demokratie: »Demokratie ist ein immer neu zu erfindendes System« (ebd., S. 112) – der Konservierung und Aktuierung von Macht (nicht Herrschaft!). Diese Transformation beginne, so Dussel, mit der »Befreiung der Opfer des herrschenden Systems« (ebd., S. 114, Hervorh. d. Verf.) und dessen Strategien der ›Vernebelung‹.

Mit dieser Befreiung geht gleichsam die gelebte Brüder- und Geschwisterlichkeit einher. Dussel (ebd., S. 150) schreibt dazu: »Bildung müsste in Solidarität mit den Bedürftigsten geschehen, (…) mit den Opfern der Institutionen (.), welche transformiert werden müssen.« Einmal deshalb, weil diese ›Befreiung‹ zu unterstützen ist, zum anderen aber auch ganz grundlegend, weil die intendierte »confederal inclusive democracy« (Fotopoulos 1997, S. 227) durch die verschränkte Selbstbestimmungspraxis der ›Personen‹ (dazu auch Schneider 2018) konstituiert wird. Der Aushandlungsort dieser solidarischen Selbstbestimmungen ist die konkrete  (lokale) Gemeinschaft und deren Nachbar_innen (Fotopoulos 1997, S. 226–230).

Nur, und das hat der Autor andernorts schon zu zeigen versucht (siehe Schneider 2018), bedeuten ›verschränkte Selbstbestimmungen‹ dialektische (gedankliche) Bewegungen zwischen prinzipieller u. d. h. noumenaler Gleich(artigk)heit, der in Selbstbestimmungen entfalteten Verschiedenheit sowie hergestellten Gleichheiten in der empirischen Wirklichkeit.
Mit der Alterität als bleibender Fremdheit in der Gleichartigkeit des anderen und eigenen Selbst kann eine angemessenere Denkfigur ausgemacht werden. Nicht Verschiedenheit, noch die entsprechenden Vorgänge der Differenzierung sind problematisch (vgl. dazu Simmel 1908/2016, S. 791 f., 795 ff.): Vielmehr entstehen Konflikte dort, wo die Dialektik von Gleichheit/Gleichartigkeit und Verschieden-werden einseitig aufgelöst und gewaltsam kristallisiert wird oder beide Aspekte einer unreflektierten oder intransparenten Bewertung bzw. ›Wertschöpfung‹ in Verbindung mit Exklusions- oder Segregationsfolgen unterzogen werden. In diesem Zusammenhang spielen gesellschaftliche ›Nebelgranaten‹ eine nicht zu unterschätzende Rolle.

2           Das Spannungsverhältnis aushalten – oder: »im Nebel wandern«

Vielleicht können die nachfolgenden Überlegungen an Hesses (1905 in Hinck 2001, S. 145) Gedicht Im Nebel veranschaulicht werden, dessen vierte Strophe lautet:
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.

Diese prinzipielle ›Ordnung‹ im sozialen Bezug, aber auch im erstpersönlichen zum je eigenen Selbst – d. h. als inter- und intrapersonales Verhältnis –, lässt sich ganz angemessen als »Einsamsein« fassen, verweist dieses doch auch auf die Bedeutung als ein Einziges (d. i. Individuum) auf sich und unter anderen gestellt zu sein. Vielleicht ist diese ursprüngliche Fremdheit aber gar nicht zu lüften, sondern vielmehr als Bedingung der Möglichkeit von personalen Verhältnissen und Bildung anzuerkennen. Möglicherweise gilt, was Lewis (1943/2015, S. 82) über einen weisen Umgang mit der Wirklichkeit schreibt: »Wer alles durchschaut, sieht nichts mehr«, sodass Fremdheit uns erst ›wirklich und wahrhaftig sehen lässt, was ist‹.

Anders dürfte es um den Nebel und die sogenannten ›Vernebelungen‹ bestellt sein, die gerade eben nicht ›sehend machen‹, sondern verbergen. Schwieriger wird die Lage noch dadurch, dass nicht jeder Nebel auch als solcher erkennbar ist – ganz so, wie die Lichtanlage eines Fahrzeugs zu starken Reflexionen an einer Nebelwand führen kann – und zudem – metaphorisch gesprochen – Nebel im Unterschied zu Wolken immer ›Bodenhaftung‹ hat. Das Vernebelte steht also im Kontakt mit Wirklichem und dennoch ›filtert‹ es dieses und verstellt den Blick. Die von Hesse Im Nebel thematisierte existenzielle Vereinzelung eint alle Menschen als gleichartige Grunderfahrung – z. B. Heideggers (S. 262; vgl. ebd., § 53) »Sein zum Tode« oder Arendts (1958/2014, S. 18) »Natalität« –, ohne dabei jedoch deren diverse Aktualisierung in Lebensvollzügen zu negieren.

Eben zu diesen Überlegungen kann die frühe Erarbeitung Sens (1992, p. xi, Hervorh. d. Verf.) zum Diversitätsbegriff erhellend sein:
We are deeply diverse in our internal characteristics (such as age, gender, general abilities, particular talents, proneness to illnesses, and so on) as well as in external circumstances (such as ownership of assets, social backgrounds, environmental predicaments, and so on). It is precisely because of such diversity that the insistence on egalitarianism in one field requires the rejection of egalitarianism in another. The substantive im-portance of the question ›equality of what‹ relates, thus, to the empirical fact of pervasive human diversity.

Sens Frage nach der ›Gleichheit worin?‹ verweist auf hergestellte Gleichheiten in der empirischen Welt der (verschränkten) Selbstbestimmungen, die notwendigerweise Verschiedenheit aktualisieren und Pluralität zeitigen. Selbstbestimmungen, selbst wenn diese kooperativ verstanden werden, können nicht anders als Differenzen herzustellen. Sich als ›Wer‹ zu zeigen, heißt sich zu unterscheiden (Arendt 1958/2014, S. 214–219, 227–233).

Sämtliche Formen der hergestellten Gleichheit (Geschlecht/Gender, Alter, Interessen, formaler Bildungsabschluss, soziale Herkunft usw.) sind eben keine ›Artefakte‹ von Praxis, sondern der Produktion und sie lichten den Nebel nicht, sondern erwecken bloß diesen Anschein, indem sie jedoch neue Nebelwände aufziehen. [M. E. liegt mit Plessners (1928/1975) Exzentrizität der Person eine Möglichkeit von erfahrener (nicht hergestellter) Gleichheit durch Praxis vor. Sein Konzept des »Blickpunkt[s]« (ebd., S. 293) als Möglichkeit sich als Person von Leib und Seele zu distanzieren, stellt gewissermaßen die Basis für ein »einheitliche[s] Umgriffensein und Umgreifen der eigenen Lebensexistenz nach dem Modus der Exzentrizität« (ebd., S. 303) So lassen sich Gleichheit und Unterscheiden von Personen mit der Idee der Alterität verbinden.]

Worin sich Menschen jedoch prinzipiell gleichen, ist ihre Personalität und die damit zusammenhängende Würde, wie dies auch die Menschenrechte artikulieren. Und sie gleichen sich auch (prinzipiell) in einer »ursprüngliche[n] Fremdheit« (ebd., S. 220), die mit eben dieser Personalität zu tun hat: Als ›Person‹ sich zu bilden, zu entfalten und Identität zu gewinnen bedeutet, mit Arendt (ebd.), initiativ zu sein und zu versuchen, diese Fremdheit hinter sich zu lassen. Bloß bleibt selbst diese (ursprüngliche) Fremdheit bestehen, weil verschränkte Selbstbestimmungen eben nicht bloß ein ›Wer‹ artikulieren, sondern Verhältnisse des Für- und Gegeneinander bedeuten (ebd.).

Hesses Nebel kann sich demnach in Person-Mit/Umweltverhältnissen (siehe dazu Plessner 1928/1975, S. 293–303) gar nicht vollständig lichten und selbst das (wiederholte) Überwinden von Fremdheit führt nicht dazu, dass diese sich in all ihren Nuancen vollständig auflöst.

3           Das pädagogische Konzept ›Fremdheit‹

Dieser Abschnitt soll zunächst ›Fremdheit‹ in ihrem immanenten pädagogischen Wert verdeutlichen, anschließend die Denkfigur anhand zweier ausgewählter ›Klassiker‹ spezifizieren und endlich den konstitutiven Charakter des Fremden für Bildungsprozesse ausweisen.

3.1          Zum pädagogischen Gehalt von Fremdheit – eine erste Skizze

Vielleicht gilt für das Nachdenken über Fremdheit in inklusiver Pädagogik, was Böhm (1996) Über das Zeitgemäße einer unzeitgemäßen Pädagogik schreibt, wonach diese »umso ›zeitgemäßer‹ [sei], je ›unzeitgemäßer‹ sie dem breiten Publikum erscheint« (ebd. 31).
Worin jedenfalls die Nützlichkeit der Denkfigur ›Fremdheit‹ bestehen kann, darauf sollen die nachfolgenden Ausführungen hinweisen. Wobei: Nützlichkeit soll hier im Sinne Whiteheads (1967/2015, S. 41) als »Nutzbarmachen einer Idee« verstanden werden, was bedeutet, dass eine Idee zu weiteren Ideen und Einsichten führt (ebd., S. 40 f.), insofern diese sich zu anderen in Beziehung setzen lässt.

Gerade im Kontext von Inklusion und inklusiver Bildung muten die Worte Bieris (2017) zum ›Wesen‹ von Bildung als Lebensform treffend an: In seinem Plädoyer für diese »bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein« (ebd., S. 8), führt er zur Bedeutung des Kontingenzbewusstseins und der moralischen Sensibilität an: »Auch hier heißt gebildet sein: Wissen um die Vielfalt, Respekt vor dem Fremden, Zurücknahme von anfänglicher Überheblichkeit.« (ebd., S. 23)

Diese Selbstbeschränkung führt zu Demut (auch als Abschiedlichkeit), die mit Weischedel (1976, S. 210) »die rechte Selbsteinschätzung« ebenso befördert, wie auch die »Fraglichkeit der eigenen Person« befeuere. Gepaart mit der Grundhaltung der Offenheit als »grundsätzliche(n) Zuwendung zu den anderen« (ebd., S. 192), kann sich der von Bieri beschriebene Respekt verwirklichen. Diese Öffnung für das (den) Andere(n) gehe jedenfalls, und das folgt auch aus Weischedels Ethik, mit der Wahrnehmung der Pluralität von menschlichem Leben einher (Bieri 2017, S. 24) und bedeutet für eine so verstandene Selbstbestimmung »ein Entwerfen, Verwerfen und Umbauen meines Selbstbildes« (ebd., S. 33).

3.2 Fremdheit und Fremde

All diese Überlegungen von Abschiedlichkeit bzw. Demut, von Offenheit und Kontingenzbewusstsein im Rahmen einer dynamisch-dialektischen Identitätstheorie der Person legt die Idee der Distanz nahe: zum eigenen Selbst sowie zum anderen. (Das ist schon mit Plessner und seiner Charakterisierung von Person naheliegend) Die Überlegung wonach Nähe sich einstellt und Distanz gehalten werden muss, verdeutlicht zusätzlich die willentlich-bewusste Konnotation des Vorgangs.
Dazu ist etwa die literarisch-autobiografische Schilderung Ijoma Mangolds (2017, bes. Kap. 3) in Das deutsche Krokodil interessant, worin er eben beschreibt, dass eine hergestellte Nähe sich durchaus ›fremd‹ anfühlen kann und eben nicht der Beziehungslogik der beteiligten Personen entsprechen muss.

Genau darauf wird aber seit der expliziten Einführung des ›Fremden‹ in die Human- bzw. Geisteswissenschaften abgestellt. Simmel (1908/2016) widmet diesem einen »Exkurs« (ebd., S. 764) im Kapitel zu räumlichen Ordnungen der Gesellschaft. Der Fremde, so schreibt er, sei »der, der heute kommt und morgen bleibt – (…) der potenziell Wandernde« (ebd.). Er ist deshalb Teil der Gruppe (ebd., S. 765) und das Verhältnis des Fremdseins »eine ganz positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform«. Und doch kommt dem Fremden eine gewisse Distanz in der Nähe zu,[1] die ihn für Objektivität prädestiniere (ebd., S. 766) und ihm folglich – entgegen der Gruppe – Freiheit ermögliche (ebd., S. 767).
Folgerichtig lässt sich Fremdsein in Simmels Denkfigur des »Individualismus der Gleichheit« (ebd., S. 814) als konstitutives Element von Bildung konzipieren. Dazu schreibt Simmel:
Je unvergleichbarer der Einzelne ist, je mehr er seinem Sein, seinem Tun und seinem Schicksal nach einer nur durch ihn ausfüllbaren, in der Ordnung des Ganzen nur ihm vorbehaltenen Stelle steht, desto mehr ist dieses Ganze als eine Einheit zu fassen, (…) an dem jede Selle ein Glied ist, mit keinem anderen vertauschbar, aber alle anderen und ihre Wechselwirkung für das eigene Leben voraussetzend. Wo das Bedürfnis besteht, die Gesamtheit (…) als eine Einheit zu empfinden, wird durch diese individuelle Differenziertheit (…) der Daseinstotalität eher genügt, als durch die Gleichheit der Wesen, bei der doch im Grunde jedes an Stelle eines jeden treten könnte« (ebd., S. 843).

Diese Konzeption von Gleichheit und Individualität hat dann auch Folgen für das Gemeinsame in Bezug auf das Fremde. Die »Wirkung« (ebd., S. 768) des Gemeinsamen nämlich, so Simmel, vergrößere sich dadurch, dass diese »nach innen zwar allgemein, nach außen aber spezifisch und unvergleichlich« (ebd.) sei, die Gleichheitsmomente also gerade nicht ein »allgemeines Wesen« (ebd.) haben.[2] Darin besteht, Simmel folgend, das Initialmoment von Entfremdung (ebd., S. 769).

Fremdheit spielt auch in Marx’ Theorie der Aneignung eine zentrale Rolle. Ihr konstitutiver Gegenbegriff ist jener der Entfremdung, sodass das Nachvollziehen dieser ein Verständnis jener nahelegt. Marx (1844/2005) schreibt in den Pariser Manuskripten:
Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihn als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung.« (ebd., S. 56, Hervorh. d. Verf.)

So verliert die Arbeit ihre Natürlichkeit und ihre Bedeutung für die Selbstverwirklichung des Menschen:
Je mehr also der Arbeiter die Außenwelt, die sinnliche Natur, durch seine Arbeit sich aneignet, um so mehr entzieht er sich Lebensmittel nach der doppelten Seite bin, erstens, daß immer mehr die sinnliche Außenwelt aufhört, ein seiner Arbeit angehöriger Gegenstand, ein Lebensmittel seiner Arbeit zu sein; zweitens, daß sie immer mehr aufhört, Lebensmittel im unmittelbaren Sinn, Mittel für die physische Subsistenz des Arbeiters zu sein.« (ebd., S. 58, Hervorh. d. Verf.)

Marx charakterisiert sodann die Zerstörung dieses humanen natürlichen Verhältnisses und somit deren Kontrakonzept ›Entfremdung‹ von Mensch und Welt durch vier Aspekte:

Dies zeugt durchaus von Nähe zum humanistischen Gedanken der Bildung, wie diesen Humboldt explizierte und Bieri diesen als Lebensform aufgreift. In Humboldts (1792/2010) Worten geht es um nicht weniger als um unspezifische und freie »Wechselwirkungen (…) unseres Ichs mit der Welt« (ebd., S. 237, Hervorh. d. Verf.; siehe ebd., S. 235 ff.). Dieses »auf die rechte Weise betrieben« (ebd., S. 239, Hervorh. d. Verf.) ermögliche »eine eigne und neue Ansicht der Welt und dadurch eine eigne und neue Stimmung seiner selbst« (ebd.), so fährt Humboldt fort, bedeute.

Eben dieses angemessene Sich-ins-Verhältnissetzen zur Mit- und Umwelt sowie zum eigenen Selbst bezeichnet die Marx’sche Aneignung – ihre inhumane, apersonale und destruktive Verkehrung der Begriff ›Entfremdung‹. Bildung – so könnte im gedacht werden – ist weder bloß ›Aneignung von …‹ und schon gar nicht ›Entfremdung‹; und doch sind ihr beide Momente nicht fremd, wenn nicht etwa konstitutiv.

3.3          Fremdheit (in) der Bildung

Bildung setzt – so liegt nahe – eine ursprüngliche Fremdheit und Distanz voraus, die durch angemessene Verhältnisse jeweils zu ›überwinden‹ versucht werden. Dabei stellt sich jedoch eine neue Qualität von Fremdheit ein, die nicht unerwünscht, sondern konstitutiv für Bildung und personale Identität ist. Insofern gilt es die inter- und intrapersonale Fremdheit nicht zu negieren oder gar ›auszulöschen‹, sondern es mittels Verhältnisse zum Ausgangspunkt von Bildungsbewegungen zu machen. Fremdheit ist demnach nicht Barriere oder Herausforderung, auch nicht Mittel sondern Grund von Bildung und Erziehung.
Gewissermaßen, um ein Bild Gadamers (2000) zu bemühen, handelt es sich um ein Bejahen (wenn nicht gar Bewahren) der eigenen und anderen Fremdheit im »Prozess des Heimischwerdens« (ebd., S. 17), ohne jedoch zu entfremden. Oder mit Herbart (1835/1984, § 3) um ein Erlangen von »Festigkeit«, ohne zu erstarren.

Dies lässt sich auch mit Waldenfels (2017) argumentieren, der über die »Sphäre des Eigenen, die das Selbst umgibt« schreibt, dass diese »zum Gegensatz nicht das Verschiedene, sondern das Fremde« (S. 94 f.) habe. Das gelte auch für Selbstverhältnisse, die er als »eine besondere Art von Hendiadyoin, als Zugleich von Selbstbezug und Selbstentzug, von Selbstberührung und Trennung, von Nähe und Ferne, von Eigenheit und Fremdheit« (ebd., S. 96) bezeichnet.
Diese Einsicht kann schon Ricoeur (1990/2005, S. 144 ff.) für den Identitätsprozess entwickeln, weshalb er Identität in einen ipse- und eine idem-Aspekt scheidet. Die Erzählstruktur der Person kann dann zwischen diesen beiden als Selbes und Selbstheit vermitteln (ebd., Kap. 6) und so das Andere (und den Anderen) in den Identitätsprozess integrieren.

Waldenfels nennt dies »hybride(n) Fremdheit« (2007, S. 67), d. h. Fremdheit »inmitten des Eigenen« (ebd.). Doch bleibt diese Fremde nicht auf die Sphäre der Person beschränkt, hat doch schon Ricoeur (1990/2005, 210) erkennen können, dass die »[e]thische Ausrichtung« des Lebens auf die anderen Personen abstellt. Und in eben diesem Begehren (Antrieb) entdeckt Waldenfels eine »Seinsweise« (ebd., S. 122), die wesenhaft »ein Mitbegehren« (ebd., S. 124) sei und die Fremdheit in die Sphäre der Mitverhältnisse verlagert (ebd., S. 129 ff.).

4           Fremdheit, Alterität und die Konstituierung von Solidarität

Bisher ist das ›Feld‹ für den Zusammenhang von Fremdheit und Bildung aufbereitet worden, insofern dies Aspekte der Selbstsorge (siehe z. B. Foucault 1984/2015, S. 282; Waldenfels 2017, S. 99 f.) betrifft. Diese gilt es nun nach außen u. d. h. auf Fürsorge und Weltsorge zu erweitern.

Dazu liefert Waldenfels (2017) wichtige Einsichten, der diesen Prozess mit der »Freundschaftsarbeit« (ebd., S. 131) im Rahmen der Gastfreundschaft und als Zugang zu Sphären des Fremden beginnen lässt und an dessen Ende er die Freundschaft als »feste Lebensform« (ebd., S. 299) setzt. Denn anders als in Liebesverhältnissen stellt sowohl die (Gast-)Freundschaft, als auch die Konkurrenz auf gemeinsam-geteilte Lebensbereiche ab; die Freundschaft allerdings mit dem Anspruch des (wechselseitigen) Wohlwollens – oder m. a. W. des taktvollen Miteinanders (Aristoteles 1985, 1155 b 30-35).

Der angemessene Umgang mit dem Fremden im anderen Selbst wird so zum Maßstab von sozialer Gerechtigkeit, die sich prinzipiell auf jede Person bezieht kann. Denn so wie die griechische Gastfreundschaft weniger die Differenz, denn das Gleiche betont (Waldenfels 2017, S. 297), zielt auch dieser fürsorgende Umgang auf die prinzipielle (nichthergestellte) Gleichheit der Menschen. Und mehr noch: Diesen Verhältnissen ist immer schon die Möglichkeit der Freundschaft (Geschwisterlichkeit) bzw. moderner: der Solidarität immanent (ebd., S. 298 f.)

Freundschaft/Solidarität ist damit Möglichkeit von auf Alterität basierenden sozialen Verhältnissen, die immer schon mit dem Fremdem ›rechnen‹ und dieses konstruktiv in verschränkten Selbstbestimmungen aufnehmen. Und aus dem (intra-und) interpersonalen Fremden kann durch (für)sorgend-responsive Bezüge allmählich Beziehung werden, die sich endlich vom ›Dienst‹ zur Ermöglichung ›fremder‹ Freiheit wandelt. Die Erfahrung fremder Wertschätzung dem eigenen Selbst gegenüber unterstützt dabei den Vorgang der »Entichung« (Stern 1924, S. 141) insoweit, als das erstpersönliche Selbst als ein weiterer Anderer wahrgenommen wird. (dazu auch Ricoeur 1990/2005, S. 231–235)

So verstandene Bildungsprozesse und die eben beschriebene Erfahrung können – Plessner (1924/2015, S. 107 ff.) folgend – ein gerechtes und würdevolles Miteinander im öffentlichen Raum sicherstellen sowie Reduzierungen und Diskriminierungen vermeiden (ebd., S. 111). Fremdheit, so lässt sich schließen, sichert dem Menschen den Anspruch auf Erfahrungen von Selbstbestimmung in heterogenen Person-Weltverhältnissen unter verschiedenen Gleichen[3] und insofern von Pluralität zu.

5           Resümee

Fremdes und Fremdheit, so hoffe ich angedeutet zu haben, hat weniger mit einer Eigenschaft als mit der Verortung eines Verhältnisses zu tun. Es handelt sich um den Bezug zu und an noch ›unbekannten Orten‹, jedoch nicht zum grundsätzlich Unbekannten und Anderen. Vielleicht lässt sich Fremdheit in diesem Sinne als Bedingung der Möglichkeit von Bildung und als das Gadamer’sche Heimischwerdens in ihrer jeweiligen Person sowie in der Welt deuten. Fremdheit und Freundschaft sind dann – zeitlich gewendet – zwei Momente von Bildungsprozessen, die nicht voneinander zu trennen sind und am selben Ort auftreten.

Erhält diese Position Zustimmung, dann können Bollnows (1963/2004, S. 267) Überlegungen aus Mensch und Raum abschließend hilfreich sein: »Dieses Raum-schaffen [d. i. Heimat begründen, d. Verf.] aber geschieht nicht in einem einmaligen Mieten und Möbelbeschaffen, sondern darin, dass diese Wohnung durch gemeinsames einträchtiges Wohnen zur Heimat wird.« (Hervorh. d. Verf.)
Und so dürfte das Erkennen von Vernebelungsstrategien als eben solche, ein Initialmoment der eingangs beschriebenen Transformationen sein. Demnach sind Menschen nicht von intra- und interpersonalen Verhältnissen der Fremdheit und Erfahrungen von Fremde zu befreien, sondern diese vielmehr als Bedingungen der Möglichkeit gelingender Identitätsprozesse zu verstehen. Das ist insbesondere vor dem Hintergrund inklusionspädagogischer und -didaktischer Überlegungen von Bedeutung (z. B. Preuss-Lausitz 1993; Feuser 1995/2005). Wovon Menschen sich befreien müssen, liegt vielmehr häufig hinter dem Nebel verborgen. Erst wenn die Sicht frei ist, kann in Aushandlungen entschieden werden, wovon und wie es sich zu emanzipieren gilt, um ein friedvolles Miteinander gestalten zu können. Dichotomien haben dazu jedoch selten Beiträge leisten können …

6. Literatur

Arendt, Hannah: Vita activa. Oder: Vom tätigen Leben. München/Zürich (Piper) 2014 (1958).
Aristoteles: Nikomachische Ethik. In: G. Bien (Hrsg.): Aristoteles. Nikomachische Ethik. Hamburg (Meiner) 1985, S. 1–261.
Bieri, Peter: Wie wäre es gebildet zu sein? München (Komplett-Media) 2017.
Böhm, Winfried: Über das Zeitgemäße einer unzeitgemäßen Pädagogik. In: A. Wenger-Hadwig (Hrsg.): Das Unzeitgemäße einer zeitgemäßen Pädagogik. Innsbruck/Wien (Tyrolia) 1996, S. 9–36.
Bollnow, Otto F.: Mensch und Raum. Stuttgart (Kohlhammer) 2004 (1963).
Ellger-Rüttgardt, Siglinde L.: Inklusion. Vision und Wirklichkeit. Stuttgart (Kohlhammer) 2016.
Feuser, Georg: Behinderte Kinder und Jugendliche. Zwischen Integration und Aussonderung. Darmstadt (WBG) 2005 (1995).
Feuser, Georg (Hrsg.): Inklusion – eine leeres Versprechen? Zum Verkommen eines Gesell-schaftsprojekts. Gießen (Psychosozial) 2017.
Fotopoulos, Takis: Towards an Inclusive Democracy. The Crisis oft he Groth Economy and the Need for a New Liberatory Project. London/ New York (Cassell) 1997.
Foucault, Michel: Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit. In: D. Defert / F. Ewald (Hrsg.): Michel Foucault. Analytik der Macht. Frankfurt/Main 2015 (1984), S. 274–300.
Gadamer, Hans-Georg: Erziehung ist sich erziehen. Heidelberg (Kurpfälzischer Verlag) 2000.
Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen (Niemeyer) 2006 (1927).
Herbart, Johann F.: Umriss pädagogischer Vorlesungen. Paderborn (Schöningh) 1984 (1835).
Hesse, Hermann: Im Nebel. In W. Hinck (Hrsg.): Stationen der deutschen Lyrik. Von Luther bis in die Gegenwart. 100 Gedichte mit Interpretationen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2001 (1905), S. 145.
Humboldt, Wilhelm v.: Theorie der Bildung des Menschen. In: A. Flitner / K. Giel (Hrsg.): Wilhelm von Humboldt. Werke. Schriften zur Anthropologie und Geschichte (Bd. 1). Darmstadt (WBG) 2010 (1792), S. 234–240.
Lewis, Clive S.: Die Abschaffung des Menschen. Einsiedeln (Johannes) 2015 (1943).
Mangold, Ijoma: Das deutsche Krokodil. Meine Geschichte. Reinbek (Rowohlt) 2017.
Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. In: B. Zehnpfennig (Hrsg.): Karl Marx. Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Hamburg (Meiner) 2005 (1844), S. 1–158.
Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin/New York (de Gruyter) 1975 (1928).
Plessner, Helmuth: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Frankfurt/Main 2015 (1924).
Preuss-Lausitz, Ulf: Die Kinder des Jahrhunderts. Zur Pädagogik der Vielfalt im Jahr 2000. Weinheim (Beltz) 1993.
Ricoeur, Paul: Das Selbst als ein Anderer. München (Wilhelm Fink) 2005 (1990).
Sander, Alfred: Über die Dialogfähigkeit der Sonderpädagogik: Neue Anstöße durch Inklusi-ve Pädagogik. In B. Warzecha (Hrsg.): Zur Relevanz des Dialogs in Erziehungswissen-schaft, Behindertenpädagogik, Beratung und Therapie. Münster (LIT) 2002, S. 59–68.
Schneider, Robert: Inklusive Pädagogik als nicht-reduktionistische und reflexive Erzie-hungswissenschaft – Gedanken zum pädagogischen Spannungsfeld von Gleichheit und Verschiedenheit. In: S. Kraehmer / A.S. Kampmeier / I. Diedrich (Hsrg.): Exklusiv INKLUSIV. Neubrandenburg (Frieda Nadig) 2018 (i. E.), S. 5–13.
Sen, Amartya: Inequality Reexamined. Cambridge (Harvard University Press) 1992.
Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt/Main (Suhrkamp) 2016 (1908).
Stern, William: Wertphilosophie. Leipzig (Johann Ambrosius Barth) 1924.
Waldenfels, Bernhard: Platon. Zwischen Logos und Pathos. Frankfurt/Main (Suhrkamp) 2017.
Weischedel, Wilhelm: Skeptische Ethik. Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1976.
Whitehead, Alfred N.: Die Ziele von Erziehung und Bildung. In: C. Kann / D. Sölch (Hrsg.): Alfred North Whitehead. Die Ziele von Erziehung und Bildung. Frankfurt/Main (Suhrkamp) 2015 (1967), S. 39–55.
Wocken, Hans: Das Haus der inklusiven Schule. Baustellen – Baupläne – Bausteine. Hamburg (Feldhaus) 2011.

[1] Diese ist aber gerade nicht eine ›Nebel‹-Erfahrung, die sich eigentlich kaum als Eindruck von Nähe und (positiver) Wechselwirkung beschreiben lässt.

[2] Dies gilt durchaus für die Personalität (und die Würde) des Menschen, wohl aber kaum für Alter, Geschlecht, Beruf usw.

[3] Zum Verständnis: »Öffentlichkeit ist damit zum genauen Gegenbild der natürlichen Verhältnisse zwischen Menschen geworden, sie besteht aus lauter gleichen Wesen, nicht weil sie einander, sondern für einander gleich sind, während in Wirklichkeit jeder von dem anderen verschieden ist« (Plessner 1924/2015, S. 102, Hervorh. d. Verf.).