Abstract: Was in anderen Kontexten als ‚Dekategorisierung‘ bezeichnet wird, liefe im Kontext des Förderschwerpunkts ‚Emotionale und soziale Entwicklung‘ auf eine Depathologisierung hinaus. Der vorliegende Artikel zeichnet vergleichend nach, was eine solche kritische Betrachtung diagnostischer Systeme für den Förderschwerpunkt ‚Emotionale und soziale Entwicklung’ bedeutet. Welche Implikationen hat eine Pathologisierungskritik für diagnostische Prozesse? Welche Folgen hat dies für Seminare zu diagnostischer Kompetenz in der Lehrerbildung?
Stichworte: Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung; Diagnostik; Depathologisierung; Dekategoriesierung
Inhaltsverzeichnis
Im Sprechen über Behinderung hat sich mittlerweile in inklusionspädagogischen Kreisen eine dekonstruktivistische Perspektive durchgesetzt. Insbesondere durch die Rezeption der Arbeiten aus den Disability Studies haben sich verschiedene Variationen eines sozialen oder kulturellen Modells von Behinderung etabliert, die auch Konsequenzen für das Selbstverständnis der entsprechenden Sonderpädagogiken mit sich bringen. Für den Diskurs um seelische Behinderungen und psychische Störungen ist dies hingegen bis dato weniger ausgearbeitet worden. Die Existenz der ‚Mad Studies‘ (LeFrançois et al. 2013; Menzies et al. 2013; Lüthi 2016; Oppenländer 2015; Withers 2014) wird deutlich seltener zur Kenntnis genommen. Doch auch für den Bereich der Sonderpädagogik bei Verhaltensstörungen/Störungen der emotionalen und sozialen Entwicklung steht durch die inklusive Wende einiges an Arbeit an; und auch hier gilt es, den Gegenstand der Disziplin neu zu verhandeln. Das bedeutet zu fragen: Was soll eine psychische Störung oder Entwicklungsstörung überhaupt sein? Wozu dient diese Kategorie? Wie ist sie historisch geworden? Welche Konsequenzen hat dieser Diskurs für das Leben der so adressierten Subjekte?
Den Begriff ‚Dekategorisierung’ verwende ich ungerne, da das ersatzlose Streichen von Kategorien m.E. mit der Gefahr einhergeht, diagnostisch unpräzise zu werden. Statt einem Ausradieren von Kategorisierungen auf Basis politischer Forderungen geht es schließlich im pädagogischen Tagesgeschäft um eine Reflexion der zur Beschreibung eines Falles verwendeten Kategorien, die sich als Facette diagnostischer Kompetenz beschreiben lässt. Boger & Textor (2016) haben daher vorgeschlagen, von einer Rekategorisierung statt von einer Dekategorisierung zu sprechen, da das Ziel sein muss kritisch zu diskutieren, welche Kategorien nicht nur politisch, sondern eben auch diagnostisch fragwürdig sind, da sie keinen Erkenntniswert mit sich bringen, sondern lediglich eine stigmatisierende Gruppierung bedeuten. Teil dieser Reflexionen ist daher stets die analytische Trennung zwischen Verwaltungskategorien und tatsächlich diagnostischen Kategorien. So ist die Gruppierung in Förderschwerpunkte zunächst ein Verwaltungsakt. Die Kategorisierungen, die zu verwalterischen Zwecken dienen, dürfen nicht mit den Kategorisierungen einer pädagogischen Förderdiagnostik verwechselt werden. Auf diese Weise lässt sich sodann fragen, wozu Kategorien aufgerufen werden und welche davon einen Erkenntniswert haben. So darf eine Dekategorisierung, die auf das Streichen einer Verwaltungskategorie bezogen ist, nicht mit einer Dekategorisierung, die sich auf Grad und Art der diagnostischen Differenziertheit bezieht, verwechselt werden. Das eine ist eine politische Kritik an der Nötigung bestimmte Worte zu verwenden, um Ressourcen zu erhalten. Das andere ist eine Frage der diagnostischen Kompetenz sowie der kritischen Diskussion verschiedener diagnostischer Systeme (und deren zuweilen eklektizistischen Verwendung in der Praxis). Während der Begriff ‚Dekategorisierung’ für ersteres – den Verwaltungsapparat – Sinn ergibt, liefe er auf der zweitgenannten Ebene regelrecht auf eine Deprofessionalisierung durch zunehmende Undifferenziertheit hinaus.
Außerdem verschleiert das Modewort ‚Dekategorisierung‘ die Tatsache, dass wir bereits auf einen sogar sehr breiten Kanon zurückgreifen können. Dieser umfasst zahlreiche Schriften zur Pathologisierungs- und Diagnosenkritik aus den Bereichen der Kritischen Psychologie (Holzkamp 1995, Markard 2009), der psychiatriekritischen und anti-psychiatrischen Bewegung (wie z.B. Basaglia; Jantzen 1990; 2009) sowie aus den verschiedenen therapeutischen Schulen systemischer, psychoanalytischer und humanistischer Provenienz, auf die im weiteren Verlauf noch eingegangen werden wird. Zu zeigen ist in diesem Sinne, dass man im Zuge der inklusiven Wende keine fundamental neuen Theorien hervorbringen muss, sondern dass es viel eher gilt, diese etablierten Zugänge zu beerben und gesellschaftskritische Diskurse wieder stärker mit klinischen Betrachtungen zu verbinden.
Das Spezifikum des Förderschwerpunktes ‚Emotionale und soziale Entwicklung‘ besteht darin, dass ein dekategorisierendes Auflösen desselben dazu führen würde, dass die emotionale und soziale Entwicklung aller Schüler_innen stärker in den Blick gerät. Noch deutlicher wird dies, wenn man die historisch ältere Bezeichnung ‚Schwer Erziehbare‘ betrachtet: Bei diesem Förderschwerpunkt geht es primär um Erziehung – nicht um Bildung. Aus der Perspektive der Theoriearbeit erscheint dadurch das besondere Potential, im Kontext inklusionspädagogischer Reflexionen erneut den Erziehungsbegriff zu umreißen und nach schulischen Erziehungsaufgaben zu fragen. So lässt sich ein besonderer Bedarf schließlich nur begründen, wenn man um das Allgemeine weiß. Ebenjene allgemeinen Aufgaben von Schule sind beim Thema Erziehung jedoch deutlich weniger klar und gleichzeitig umkämpfter: Während es bei Bildung als evident erscheint, dass sie ein Fluchtpunkt des Denkens über Schule und eine Kernaufgabe derselben ist, hat es über die fraglichen Erziehungsaufgaben immer wieder Streit gegeben. Der Blick auf die Virulenz von Erziehungsproblemen gibt schnell Preis, dass diese Frage sicherlich nicht nur für Kinder mit adressiertem Förderschwerpunkt relevant ist. Außerdem handelt es sich bei der Frage, was Aufgabe des Elternhauses und was Aufgabe der Schule ist, stets um ein Politikum.
Während die anderen Förderschwerpunkte eine Herausforderung für Didaktik und Unterrichtsplanung mit sich bringen, fordert dieser hier die allgemeine Schulpädagogik also heraus, erneut über die Erziehungsaufgaben von Schule nachzudenken. Obwohl es sich auch um einen Förderschwerpunkt mit einer entsprechend spezialisierten Sonderpädagogik handelt, tritt er doch an einer ganz anderen Stelle mit der Allgemeinen Pädagogik und Schulpädagogik in den Dialog. Dies liegt auch daran, dass diese Gruppe historisch keineswegs so konsequent in Förderschulen segregiert wurde wie die Übrigen, was an der Unbestimmtheit dieser fraglichen ‚Gruppe‘ liegt: Nicht nur unter den Schüler_innen, sondern auch in den Kollegien lässt sich das volle menschliche Spektrum an Neurosen beobachten. Der Alltagsverstand weiß, dass das menschliche Irren stets mitten unter uns ist. Ebenjene einfache Tatsache verweist bereits auf die systematische Produktion von Artefakten durch die Verwaltungskategorie ‚Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung’. Zahlreiche – auch schwerwiegende! – Störungen der emotionalen und sozialen Entwicklung wie zum Beispiel Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten oder Suizidalität, die im schulischen Kontext verschwiegen und von niemanden erkannt werden, erinnern daran, dass offensichtlich nur jene Störungen für den Förderschwerpunkt relevant sind, die andere – und zwar vorwiegend die Lehrkräfte – stören. Wenn man sich von der etikettierenden Logik des Förderschwerpunktes entfernt, merkt man folglich sehr schnell, dass auf einmal ganz andere Fallkonstellationen in den Blick kommen. Ich würde gar die Hypothese wagen, dass der Förderschwerpunkt ‚Emotionale und soziale Entwicklung’ bisher wie eine Plombe fungierte, die davon abhielt, tatsächlich über die emotionale und soziale Entwicklung von Schüler_innen nachzudenken: Durch das protonormalistische Etikettieren und die Praxis des Segregierens in Förderschulen wurden nicht nur die betroffenen Kinder stigmatisiert, es wurde auch suggeriert, dass mit den Übrigen alles in Ordnung sei. So gibt es nur wenige Schriften, die sich damit befassen, dass in allen Schulen – auch am elitärsten Gymnasium – Phänomene wie selbstverletzendes Verhalten, Suizidalität im Jugendalter und andere Entwicklungsprobleme beobachtbar sind. Die Förderschwerpunkt-Logik verführt zu einer Projektion der Probleme auf die exkludierten Anderen, die in ein Leugnen der Probleme im (angeblich) inkludierten Innenraum mündet.
Die größte mit Dekategorisierung verbundene Hoffnung ist in diesem Kontext folglich die Hoffnung auf ein Schulsystem, das sich im Allgemeinen – und nicht mehr nur im Besonderen – um die emotionale und soziale Entwicklung aller Kinder und Jugendlichen sorgt. Dazu braucht es auch ein anderes Verständnis von diagnostischer Kompetenz: Es kann sodann nicht mehr darum gehen, in einer ‚Detektionslogik’ dramatische Verläufe zu erkennen und als solche zu etikettieren; Vielmehr gilt es, allgemeinpädagogische Reflexionen darüber anzustellen, was überhaupt im Rahmen von Schule Auftrag sein kann und wie sich dieser pädagogisch ausgestalten lässt.
Um dies zu tun, beginnen wir zunächst mit dem dystopisch anmutenden Endpunkt, der für den außerschulischen bzw. gesamtgesellschaftlichen Diskurs bereits ausgearbeitet wurde. Es wird gewissermaßen zunächst gezeigt, was man schwerlich wollen kann bzw. was das genauso falsche Gegenteil wäre:
Gemäß einer Unterscheidung von Jürgen Link (1996; 2013) würde man die Detektionslogik, die unterstellt, es gäbe psychisch normale Kinder und abweichende abnorme Kinder, als ‚protonormalistisch’ bezeichnen. Diagnostische Systeme, die hingegen davon ausgehen, dass es ein Kontinuum an verschieden schweren Krisenverläufen gibt, werden in dieser Nomenklatur als ‚flexibel-normalistisch’ bezeichnet. Eine Abschaffung des Förderschwerpunktes bedeutete folglich eine diagnostische Umstellung von einer protonormalistischen Etikettierungs- und Segregationslogik hin zu einer flexibel-normalistischen Beobachtung verschiedener Krisenverläufe.
Was zunächst als ein Fortschritt in Sachen Entstigmatisierung erscheint, bringt jedoch wiederum eigene Probleme mit sich. So hat die psychiatriekritische Bewegung auf einen paradoxen Effekt der Deinstitutionalisierung verwiesen: Zwar war es ein großer Erfolg, dass die Kritik an der segregierenden Institution Psychiatrie wahrgenommen wurde und vermehrt mit ambulanten und gemeindepsychiatrischen Versorgungsangeboten gearbeitet wurde, gleichzeitig führte dies jedoch zu einer Perfektionierung des nun dezentralen Panoptikums (Weigand 2015). Die Psychiatrie ist offensichtlich nicht auf proto-normalistische Mauern angewiesen; sie schafft es jetzt bis hinter die Haustür. So ist die Zahl der Diagnostizierungen psychischer Störungen seither enorm gestiegen; selbst relativ konservative Autoren wie Frances (2013) sprechen von einer „Inflation“. Die Hemmschwelle zur Pathologisierung sinkt, gerade weil diese nicht mehr mit einer harten, proto-normalistischen Segregation einhergeht.
Die zeitgenössische psychiatriekritische Bewegung fokussiert daher nicht mehr (nur) die Kritik an segregierenden Institutionen, denn der historische Prozess hat sie unlängst genötigt, einen Schritt weiter zu gehen: Im Zentrum der psychiatriekritischen/ antipsychiatrischen Bewegung steht nun eine Kritik der Pathologisierungen, die – egal ob innerhalb oder außerhalb der Institution Psychiatrie – zur Legitimation der Beschneidungen von Selbstbestimmungsrechten und Teilhabemöglichkeiten herangezogen werden. So lässt sich konkludieren, dass die psychiatriekritische Bewegung gezeigt hat, dass eine Deinstitutionalisierung nicht zwangsläufig eine Befreiung bedeutet. Sie kann tragischerweise auch in eine Ausweitung des Zugriffs münden, welche Exklusionen nun zwar nicht mehr durch Einschlüsse hinter Mauern, aber umso effizienter durch symbolische Gewalt und alltägliche Mikro-Exklusionen gewährleistet.
Im schulischen Bereich gibt es also zwei Probleme, die man im Blick behalten sollte: Erstens suggeriert diese außerschulische/gesamtgesellschaftliche Analyse, dass die Zahl der Etikettierungen im inklusiven Kontext weiter ansteigen müsste statt zu sinken. Dies geschieht, eben weil nun tatsächlich alle Schüler_innen unter dieser Brille beobachtet – oder mit einem stärkeren Wort: überwacht – werden. Die Statistiken signalisieren dies bereits deutlich (Schumann 2016). Zweitens darf nicht auf naive Weise davon ausgegangen werden, dass eine dekategorisierende Auflösung des alten protonormalistischen Systems zwangsläufig eine Verbesserung oder Befreiung bedeutet. Man muss gewissermaßen das Moralin aus der Debatte nehmen, um zu mehr Ambivalenztoleranz zu gelangen: So war die Deinstitutionalisierung gewiss wünschenswert; negative Folgen hatte sie dennoch, denn eine Dekategorisierung erlaubt nicht nur eine flexibel-normalistische Entstigmatisierung der Anderen, sondern auch eine flexibel-normalistische Stigmatisierung jener, die vormals als ‚normal‘ galten. Dies liegt daran, dass sich die protonormalistischen Dispositive durch die Dekategorisierung nicht einfach auflösen, sondern lediglich transformieren: sie nehmen sodann eine andere Gestalt an; und die Flexibilisierung von Normalvorstellungen wird von protonormalistischen Regimen allzu oft eben nicht als Kritik oder Bedrohung erlebt, sondern im Gegenteil als eine gute Möglichkeit, sich flexibler und dynamischer auszubreiten.
Auf Basis des historischen Wandels der Psychiatrien ließe sich also in einer Analogie vorhersagen: Die Sonderpädagogik wird in der Zukunft nicht abgeschafft werden, sondern sie wird florieren wie nie zuvor – und das nicht ‚trotz‘, sondern wegen des Inklusionsdiskurses. Die Prognose auf Basis dieses theoretischen Rahmens lautet: In zwanzig Jahren wird die Sonderpädagogik für alle Menschen zuständig sein, da sich schließlich alle Menschen mal in ‚besonderen‘ Lebenslagen oder Krisen befinden. Die Disziplin braucht sich also gar nicht bedroht zu fühlen, da sich in Zukunft sogar mehr Studierende für diese Neue Sonderpädagogik begeistern werden, die nun deutlich vielfältigere Einsatzorte und Aufgabenfelder kennt (zur Kritik daran s.a. Distelhorst 2015; Schumann 2016). Gemäß der theoretischen Rahmung von Jürgen Link kann der Inklusionsdiskurs dies nicht nur nicht verhindern; er befeuert es sogar selbst – und zwar vor allem durch die Forderung nach Dekategorisierung, welche schließlich die kategoriale Grenze der Zuständigkeit dieser Disziplin mitverschiebt.
Diese Prognose wird sicherlich einige erfreuen und andere verärgern; zunächst gilt es nur zu zeigen, warum sie sich theoriegeleitet aufstellen lässt. Neben der analytischen Folie von Jürgen Link gibt es noch eine zweite Theorielinie, die zu derselben Prognose kommt:
Ein weiterer problematischer Nebeneffekt der Auflösung des rigiden Proto-Normalismus besteht darin, dass jeder flexible Normalismus mit einem Zwang zur Selbstnormalisierung einhergeht. In Kreisen der Disability Studies wurde dieser Zwang zur Selbstnormalisierung bereits kritisch diskutiert (Waldschmidt 2003). In psychologischen/psychotherapeutischen Kontexten ist es nicht anders: Eva Illouz (2011) spricht gar vom Aufstieg einer „therapeutischen Kultur“.
Gemeint ist damit die Tatsache, dass wir in einer Kultur leben, in der das therapeutische Sprechen so starke Diskursmacht entfalten konnte, dass Begriffe der Psychopathologie in die Alltagssprache eingesickert sind und unser Selbst- und Weltverständnis mitformen. So sagen zum Beispiel auch Menschen, die nicht psychiatrisiert wurden, dass sie „gerade eine depressive Phase“ hätten oder dass ihr Chef „narzisstisch“ sei. Der Hauptunterschied zu der ersten Welle der Psychiatriekritik und Anti-Psychiatrie besteht in der Anerkennung dieser Tatsache, dass therapeutisches und psychopathologisches Sprechen heutzutage längst nicht mehr nur in psychiatrischen Kontexten stattfindet. Genau darin liegt der Sprung von einem Phänomen, das nur in segregierten Systemen (vor allem Psychiatrien) verortet wird, hin zu einer Ausweitung, die derart starkes diskursives Gewicht entfaltet, dass von einem gesamtgesellschaftlichen Prozess zu sprechen ist.
Illouz geht dabei von der Möglichkeitsbedingung des Aufstiegs der therapeutischen Ideologie im Kontext des „konnexionistischen Kapitalismus“ aus. Der Begriff ist nahe an dem, was andere „Netzwerkgesellschaft“ nennen: Es geht um eine Form des Kapitalismus, in dem soziale Beziehungen und Netzwerke zunehmend an Bedeutung gewinnen. Menschen präsentieren sich auf Portalen wie Facebook und LinkedIn; „networking“ gilt als karriererelevante Kompetenz; Unternehmen achten verstärkt auf ihre „Unternehmenskultur“ und die soziale Atmosphäre. Illouz steht dabei in der Tradition Pierre Bourdieus und spricht daher von einer neuen Kapitalsorte: Neben dem altbekannten „sozialen Kapital“ gibt es ihres Erachtens unter den genannten Bedingungen auch ein „emotionales Kapital“. Als „emotionales Kapital“ bezeichnet sie die Fähigkeit, sich in der Öffentlichkeit gemäß der geltenden Normen adäquat und emotional ausgeglichen zu verhalten. Anzeichen für dieses neue Regime sind die starke Betonung von sozialen Kompetenzen und der sog. „emotionalen Intelligenz“ in Bewerbungsverfahren auf dem Arbeitsmarkt, aber auch in Bildungsdiskursen. Als privilegiert und in diesem Sinne als „reich an emotionalem Kapital“ gelten folglich Menschen, die kaum mit Verhaltenserwartungen brechen, gut gelaunt und arbeitsfähig sind, ausgeglichen und teamfähig, soziabel, „emotional intelligent“, etc.
Die neue Kapitalsorte, die Illouz vorschlägt, verweist auf ein Regime der Leistungsfähigkeit, das den Menschen emotionale Ausgeglichenheit abverlangt, wobei diese nicht Selbstzweck für das eigene Wohlbefinden ist, sondern wiederum in das kapitalistische Diktat der Selbstvermarktung und Selbstausbeutung als Arbeitskraft eingeschrieben. So wie in den Disability Studies von ‚Ableismus‘ gesprochen wird (Maskos 2010), wird in den Mad Studies der Begriff ‚Psychoableismus‘ (Oppenländer 2015) verwendet (alternativ auch ‚san(e)ism‘ bei Meerai et al. 2016). Ebenso wie Gesundheit per se gewiss nichts Schlechtes ist, geht es also auch hier nicht um eine Kritik dieser Fähigkeiten, sondern um die Entfremdung der Menschen durch das Einfordern dieser Fähigkeiten als Teilhabebedingung: Der von Illouz beschriebene Mechanismus enteignet den Menschen insofern die Selbstsorge um emotionale Ausgeglichenheit, indem es diese immer schon als herrschenden Anspruch aufnötigt. Sodann sorgen die Menschen sich nicht mehr um sich selbst, weil sie damit einer widerständigen Selbstliebe nachgingen, sondern sie sorgen sich um sich selbst, weil es Teil der notwendigen Reproduktionsarbeit ist, um morgen früh wieder fit auf der Arbeit aufschlagen zu können. Eine Fragestellung von Mad Studies lautet daher: Wie lässt sich die Selbstsorge wieder zurückerobern bzw. vor der Enteignung durch das aggressive Einfordern emotionaler Ausgeglichenheit und Funktionsfähigkeit schützen? So muss davon ausgegangen werden, dass Selbstsorge heutzutage nicht per se kapitalismuskritischer Widerstand ist, sondern im Gegenteil die dominante Subjektivationsform in diesem konnexionistischen Kapitalismus beschreibt. Marginalisiert werden dadurch jene, die zu Selbstfürsorge nicht im Stande sind, und nicht etwa jene, die ihr Recht auf Selbstfürsorge gegen die Chef_in oder irgendeinen fingierten Hegemon einklagen. Spätestens als die Personalabteilungen anfingen, über ‚work-life-balance‘ zu sprechen, hätte man daher – irgendwo zwischen dem Yogastudio, dem Alltagswellness und der präventiven Rückengymnastik – tatsächlich innehalten müssen.
Die kulturtheoretische Betrachtung nach Illouz kommt daher zu derselben Prognose: In einer Welt, in der ‚emotionale Intelligenz‘ das neue Prestigeobjekt ist, müssten nicht weniger, sondern mehr Menschen als förderbedürftig in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung betrachtet werden. Die Toleranzschwelle für inadäquates Sozialverhalten sinkt; gleichzeitig werden diese Kompetenzen für das Bestehen auf dem Arbeitsmarkt immer wichtiger. Zweitens steigt dadurch die Anzahl an Expert_innen, da in dieser Logik nicht weniger Menschen auf spezielle Förderung angewiesen sind, sondern nahezu alle. Ähnlich wie es im letzten Jahrhundert phasenweise als ‚chic‘ galt, in Psychoanalyse zu gehen, wird es heute nicht als Stigma, sondern im Gegenteil als ‚vorbildlich‘ angesehen, sich von einem Coach beraten zu lassen. Dies hat gravierende Konsequenzen für die Debatte um den Gegensatz zwischen herrschaftlichen/normorientierten und subjektorientierten diagnostischen Verfahren (Jantzen 1990; aktuell bei Ziemen 2016, 43), da diese Befunde von einer deutlich gestiegenen Bereitschaft zur Selbstpathologisierung ausgehen. Die breite Akzeptanz der therapeutischen Ideologie sorgt dafür, dass ein herrschaftliches Pathologisieren von oben herab gar nicht mehr nötig ist, da die Subjekte dies dermaßen verinnerlicht haben, dass sie in vorauseilendem Gehorsam sich selbst überwachen und pathologisieren.
Die fragliche Exklusionsgrenze ist folglich nicht mehr jene zwischen ‚Gestörten‘ und ‚Normalen‘, sondern jene zwischen den Privilegierteren, die sich einer selbstgewählten Förderung zu Zwecken der ökonomisch nutzbaren Selbstoptimierung widmen, und jenen, die dazu nicht die Mittel haben und sodann ‚zwangsbetreut‘ werden. Für Letztere braucht es nach wie vor ein Einfordern der subjektorientierten Herangehensweise, während Erstere die Unterscheidung zwischen herrschaftlicher Pathologisierung und Subjektorientierung auf perverse Art ad absurdum treiben (Randnotiz aus der politischen Bewegung: So ist eines der häufigsten Probleme der jetzigen Generation der psychiatriekritischen Bewegung, dass sich viele Betroffene nicht ernstgenommen fühlen, wenn man Pathologisierungsdynamiken kritisiert, da sie selbst darauf bestehen ‚krank’ zu sein. Aktuell ist daher weniger die Kritik an herrschaftlicher Pathologisierung und mehr die Kritik der Selbstpathologisierung das Gesprächsthema).
Die protonormalistische Etikettierung läuft in diesem Sinne nicht entlang der Grenze zur Pathologisierung, sondern entlang der Grenze zu sozioökonomisch benachteiligten Haushalten, die diese Förderungen / therapeutischen Leistungen nicht außerschulisch einkaufen können. Die kulturwissenschaftliche Analyse von Illouz öffnet den Blick für die Differenz zwischen jenen, die eine Pathologisierung als Exklusion und Stigmatisierung erleben, und jenen, die darin eine positive ‚Förderung’, therapeutische Zuwendung oder schlichtweg ein Programm zur Selbstoptimierung sehen. Nun ist es m.E. nicht sonderlich erstrebenswert, die benachteiligten Haushalte an den bürgerlichen Irrsinn der Selbstoptimierung anzupassen. Stattdessen braucht es eine Kritik ebenjener Pathologisierungsdynamiken, die nun gehäuft auch Selbstpathologisierungen enthalten. Im Folgenden werden daher die Grundzüge der Diagnosenkritik aus verschiedenen Perspektiven dargelegt.
Nicht nur im schulischen Bereich, auch im therapeutischen Bereich wurden sinnhafte diagnostische Systeme durch Verwaltungskategorien überschrieben. Dies betrifft insbesondere das ICD, über das sich festhalten lässt:
„Die Geschichte der Standardisierung von Diagnosen zeigt, dass sie kein Ergebnis der Bemühungen von Psychotherapeuten war und ist, sondern anderen Bereichen entstammt: etwa aus der Politik oder dem Gesundheitssystem also aus den Schaltstellen der ökonomischen Steuerung, die eine Grundlage brauchen für die Entscheidungen, für welche Zwecke Geld ausgegeben werden soll, für was bezahlt wird, und, vor allem, für was nicht bezahlt wird.“ (Levold 2017, 52)
Es lässt sich also sowohl für den schulischen Bereich als auch für das nicht-schulische Gesundheitswesen bzw. das Krankenversicherungswesen im Allgemeinen zeigen, dass durch selbige protonormalistische Kategorisierungen forciert werden, da sie auf möglichst klare, trennscharfe Kriterien bei der Mittelbewilligung angewiesen sind. Ebenso lässt sich sowohl in der schulischen als auch in der therapeutischen Praxis beobachten, dass die Diagnostizierenden so stark mit den Verwaltungskategorien befasst sind, dass es zu einer Verdrängung der sinnhaften – also der grundständig pädagogischen bzw. therapeutischen – diagnostischen Systeme kommt. Durch den Fokus auf die Verwaltungsdiagnostik setzt eine Deprofessionalisierung ein: nachdem die Pflichtaufgaben der Verwaltungsdiagnostik erfüllt wurden, ist für die eigentliche diagnostische Aufgabe häufig kaum noch Zeit.
„Im Bereich der Psychiatrie kann man getrost von einer Hegemonie solcher Klassifikationssysteme sprechen. Die Schwierigkeiten, die sich damit verbinden, liegen letztlich zum einen in einem biologischen Paradigma des Verständnisses von Krankheiten und Störungen, zum anderen in einer Individualisierung von Diagnosen, die den sozialen Kontext psychischen Leidens systematisch ausblendet.“ (Levold 2017, 52)
Zwei der virulentesten Probleme, die sich dadurch fortsetzen, sind die „häufige und sprachlich fast automatisch mit der Vergabe einer Diagnose verbundene Ontologisierung“ sowie die Praxis, dass mit der Vergabe der Diagnose „ebenso automatisch eine Erklärung für das verbunden wird, was mit der Diagnose bezeichnet wird“ (ebd., 54). Diese Praxis mündet in einen tautologischen Zirkel (ebd., 55) der Form: ‚Warum verhält sich der Junge so? – Weil er ADS hat. Warum hat der Junge ADS? – Weil er sich so verhält‘. Ob dieser tautologischen Verwaltungsdiagnostik ist es nicht verwunderlich, dass sich diese Etiketten nur schwer bis gar nicht wieder abschütteln lassen.
Was geschieht jedoch, wenn man dieses Register der Verwaltungsdiagnostik verlässt?
In ihrem Buch mit dem vielsagenden Titel „Für welche Probleme sind Diagnosen eigentlich eine Lösung?“ (2017) machen sich Levold und Lieb die notwendige Mühe, noch einmal von vorne anzufangen. Aus systemischer Perspektive nämlich ist das erste Prinzip des diagnostischen Prozesses, dass dieser Offenheit erfordert, während die ICD-Diagnose eine (aus administrativen Gründen forcierte) frühe Schließung und Indikationsstellung erzwingt. Herauszufinden, was denn überhaupt vorliegt, ist jedoch aus systemischer Perspektive das erste – und gar nicht so leicht zu lösende – Problem (vgl. ebd., 13). Vielmehr ist es sogar so, dass sich regelhaft feststellen lässt, dass Menschen zu Beginn eines therapeutischen Prozesses eine ganz andere Problembeschreibung vornehmen als gegen Ende. So ist die Möglichkeit, das eigene Problem unter einer anderen Rahmung betrachten zu können als gewohnterweise, selbst eine Intervention mit großer Wirkung. „Insofern ist die Idee, die die Klienten davon haben, worunter sie leiden, selbst immer schon ein Teil des Problems.“ (ebd., 40)
Aus machtkritischer Perspektive gilt dabei außerdem, dass die vorgefertigten Worthülsen zur Beschreibung von Problemen ein disziplinarisches Moment enthalten:
„Geben wir da sprachlich zu viel Konventionelles vor, kann es sein, dass der Psyche Worte vorgegeben werden, wie die Klientinnen und Klienten ihre eigenen Zustände zu beschreiben haben. Und weil dann ja Begriffe verwendet werden, die in der Sprachgemeinschaft vordefiniert sind, wird so auch der Klient mit seinem Erleben >sozialisiert<. Das kann im Einzelfall ausgesprochen hilfreich sein. Darauf könnten wir aber auch bewusst verzichten – oder zumindest abklären, ob der Klient eine solche Sozialisierungshilfe will.“ (ebd., 21)
Auch hier wird nicht für eine totale Dekategorisierung plädiert, da dies zu Wortlosigkeit und Theoriearmut führen würde (dasselbe Argument in einer anderen Theoriesprache findet sich auch bei Prengel 2016, 60). Vielmehr ist die Rede von einer Dialektik von Öffnung und Schließung; zumal Schließungen auch eine Entlastungsfunktion haben (Levold & Lieb 2017, 40f). So lässt sich in der Praxis regelhaft beobachten, dass Eltern sowie Betroffene zunächst beruhigt sind, wenn sie eine Diagnose gestellt bekommen. Das Hervorbringen des Gefühls nun wenigstens ‚zu wissen, was man hat‘ muss dabei jedoch als ein Sprechakt verstanden werden, der nicht dazu dient, eine tatsächliche Schließung und Festlegung des Falles zu tätigen, sondern er muss vielmehr als Intervention mit Prozesscharakter reflektiert werden.
Aber auch der gegenteilige Fall existiert: die Notwendigkeit, ein Familiensystem mit einer klaren Kategorie zu belasten. Ein Beispiel hierfür wurde mir in einem Interview berichtet: Eine sehr engagierte Sportlehrerin sagte in einem Elterngespräch, die Eltern mögen akzeptieren, dass ihr Kind „definitiv anorektisch“ sei. Die Sicherheit und die Wucht dieser Aussage erhalten ihren Wert jedoch freilich nicht aus einer differentialdiagnostischen Trennschärfe, der vermeintlichen Seriosität des ICD oder der (nicht vorhandenen) Professionalität im Anlegen pathologisierender Kategorien. Es geht in dieser Sequenz um die Tatsache, dass pathologisierende Diagnosen in der Praxis häufig verwendet werden, um gegen das Kleinreden und Bagatellisieren von Problemen vorzugehen. Die Sportlehrerin wird in dieser Szene zu einer Anwältin des Kindes, die ein Mädchen gegen Eltern verteidigt, welche der Meinung sind, es solle sich nicht so anstellen. Als erwachsene Frau erscheint der Schülerin gerade die Klarheit dieser Ansage retrospektiv als ‚heilsam’ und sie spricht sehr positiv von dieser Lehrkraft, die sie als ‚mutig’ empfand. Die Verwendung anderer Kategorien, die nicht dem Raster der Pathologisierung entspringen, hätte dem Teufelskreis dieses Familiensystems vermutlich eher zugespielt als dass es ‚sensibel‘ gewesen wäre. Die Lektion lautet hier: Es gibt Konstellationen, in denen eine problematische Familiendynamik über die Unklarheit und Diffusion von Kategorien aufrechterhalten wird. Auf eine klare, trennscharfe Kategorie zu beharren ist sodann zwar nicht akut entlastend, aber doch langfristig ein heilsamer Schlag. Diese Paradoxien und die konstellationsabhängige Destruktivität oder Produktivität von diffusen Kategorien zu beobachten, ist eine Stärke des systemischen Zugangs. Einerseits sprechen Levold und Lieb also von einer Hegemonie starrer Kategorisierungen; andererseits darf man jedoch auch nicht übersehen, dass es Konstellationen gibt, in denen gerade die notorisch-wabernde Offenheit aller Kategorien in eine destruktive Grenzenlosigkeit kippt (so zum Beispiel bei destruktiven Laissez-Faire-Erziehungsstilen, Formen von Verwahrlosung oder in Dynamiken der Grenzüberschreitung, welche sich der kategorialen Offenheit zu Missbrauchszwecken bedienen).
Insbesondere, wenn man an der Verwendung des Begriffs ‚Dekategorisierung‘ hängt, gilt es zu beachten, dass man nicht nicht kategorisieren kann, sondern nur verleugnen, dass man gerade kategorisiert (was man sodann nicht mehr erkennen kann, wenn man die Kategorisierung in kategorisierende und dekategorisierende Sprechakte als falsche Dichotomie kategorisch ablehnt). Ein gänzlich kategorienabstinentes Denken entzieht sich den menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten:
„Das ist unmöglich. Wir können nicht darauf verzichten, das, was um uns herum passiert, in irgendeiner Weise in Kategorien zu bringen. Die Frage ist nur: Beobachten wir unsere eigene Art der Kategorisierung so, dass wir wieder Raum für Alternativen eröffnen? Das scheint mir ein Kernaspekt des konstruktivistischen Denkens zu sein, nämlich zu erkennen, dass unsere Kategorien immer kontingent sind. Damit wird die klassische Vorstellung von Kategorien, nämlich dass sie etwas bezeichnen, was in der Natur und in der Realität wirklich vorkommt, erledigt, denn wir richten unsere Aufmerksamkeit nur noch darauf, ob die Unterscheidung, die wir gemacht haben, gründlich genug ist.“ (ebd., 31)
Die konstruktivistische Perspektive auf diagnostische Kategorien ist in diesem Sinne stets doppelbödig: Sie fragt, in welchen Kategorien eine betroffene Person selbst ein Phänomen beschreibt, und fragt auf der zweiten Ebene, in welchen Kategorien dies sodann in der Beobachtung zweiter Ordnung analytisch gefasst wird (lies: Selbstreflexion). Wer geht davon aus, dieses Verhalten sei (nicht) pathologisch? Warum geht ein Familiensystem davon aus, dass dieses und nicht jenes Familienmitglied ‚krank‘ sei? Wer hat was davon? Mit wem trete ich also in Komplizenschaft, wenn ich dieses oder jenes Verhalten (nicht) pathologisiere bzw. die Wahrnehmung von etwas als etwas Pathologisches irritiere?
Für den Kontext des schulischen Inklusionsdiskurses bedeutet dies also nicht nur eine Kritik an normalistischen Diagnoserastern, sondern auch eine Beobachtung der Selbstnormalisierungen und Selbstpathologisierungen, die vom Subjekt selbst ausgehen. Wie auch in der kulturtheoretischen Analyse von Illouz gezeigt wurde, scheint dies heutzutage dringend nötig: Auf beiden Beobachtungsebenen muss gefragt werden, wozu die Orientierung an einer ‚Normalität’ dient.
Die Psychoanalyse – insbesondere die deutschsprachige – kennt ein Werk, das die protonormalistische Vorstellung, es gäbe ‚normale’ und ‚psychisch gestörte’ Menschen mit einer einzigen Wortkette an die Wand fahren lässt: „Pathologie der Normalität“ (Fromm 2005) bzw. „Normopathie“. Normopathisch ist ebenjenes überaus normale neurotische Verhalten, das in einem Kulturraum schon gar nicht mehr als solches auffällt, weil man zu der falschen Überzeugung gekommen ist, dass dieses Leiden, diese Gewalt, diese Entfremdung von sich selbst und Anderen der menschliche Normalzustand – gar Naturzustand – sei. Dieser allzu gewöhnliche Irrsinn wird sodann ahistorisch und unreflektiert mit psychischer Gesundheit verwechselt; nicht, weil es ein erstrebenswerter Zustand wäre, sondern lediglich weil der Normopath auf dem bequemen Stuhl sitzt, nicht als einer beschrieben werden zu können, der abweichendes Verhalten zeigt. Erich Fromm schrieb es damals, um (ähnlich wie Adorno) wiederholt zu betonen, dass jener ganz gewöhnliche Charakter, der keinerlei Schulprobleme hat oder macht, später im Leben zu Grausamstem im Stande sein kann, dass er sich zum Tyrannen entwickeln oder eben auch ein gemeiner Nazi werden kann. Dennoch gibt es keinen ‚Förderschwerpunkt Autoritärer Charakter’, da dieser Normopath bezeichnenderweise nie mitbezeichnet ist, wenn von dringenden Förderbedarfen die Rede ist.
Die falsche Gleichsetzung von ‚Normalität’ und ‚psychischer Gesundheit’ unterliegt allen diagnostischen Modellen und Kategorien, die Störungen über abweichendes oder auffälliges Verhalten operationalisieren. In diesem Angriff auf den im Grunde genommen schlichtweg küchenpsychologischen Konventionalismus, Störungen über Abweichungen von einem Kulturtypus oder einer statistischen Normalität bestimmen zu wollen, liegt zudem eine wichtige Erinnerung bezüglich Erziehungsfragen (nach Auschwitz) verborgen:
Zur Debatte steht hier die Explikation und Legitimation der Erziehungsziele. Eine pseudo-neutrale Deskription von Normalität und Abweichung mit statistischen Mitteln läuft darauf hinaus, Normalität implizit zum Erziehungsziel zu erheben. Statt einer Benennung der Normen und Werte wird im Modus dieser Pseudo-Neutralität suggeriert, dass ein normales Verhalten Ausdruck gelungener Erziehung sei und als solches nicht weiter kritikwürdig.
Aus der Perspektive einer gesellschaftskritischen Psychoanalyse gilt es hingegen, das Erziehungsgeschehen daraufhin zu untersuchen, inwieweit es sich in einer Selbstsuspension des grundständig pädagogischen Denkens den normalistischen Zwängen unterworfen hat und dadurch selbst Teil von Normierungsprozessen geworden ist. Wann immer wir auf eine Erziehungspraxis stoßen, die nicht mehr nach der Legitimation erzieherischen Handelns fragt, sondern sich darauf zurückzieht, zu einer messbaren Normalität zu erziehen, sind wir in der Pflicht, dies kultur- und gesellschaftskritisch zu hinterfragen. Im Grunde genommen lässt sich die Orientierung an normalistischen Psychologismen als larvierte Anti-Pädagogik beschreiben. Es wird verleugnet, dass erzogen wird, indem behauptet wird: ‚Wir haben nur Statistiken angefertigt und argumentieren nicht normativ. Schließlich gilt es lediglich Monitoring zu betreiben, damit die Kinder nicht in die Risikozone der zweiten Standardabweichung unter dem Mittelwert rutschen’. Durch diesen pädagogischen Rückzug hinter psychologische Screenings verliert der junge Mensch im pädagogischen Verhältnis das antwortpflichtige Gegenüber. Es ist eine zeitgenössische Spielart der Anti-Pädagogik, für die ebendies gilt, was schon Oelkers & Lehmann (1990) sagten: sie immunisiert sich gegen Kritik, indem sie verleugnet, dass überhaupt Erziehung und somit eine Durchsetzung von Verhaltenserwartungen und Normen stattfindet. ‚Normalität‘ in jeder Variation – als statistischer Mittelwert, als Screeningergebnis oberhalb des Cut-Offs, etc. – ist ein gänzlich ungenügendes und in Anbetracht der herrschenden Normalität nicht legitimierbares Erziehungsziel. Was im Bereich kognitiver Fähigkeiten (wie z.B. Lesen oder Rechnen) u.U. noch begründbar sein mag, darf daher auf keinen Fall auf den Bereich ‚Emotionale und soziale Entwicklung’ übertragen werden. Der Versuch einer ‚objektiven’ und ‚neutralen’ Bestimmung einer Risikogruppe ist im Bereich Verhaltensstörungen ethisch nicht zu verteidigen.
Aus psychoanalytischer Perspektive ist der Fluchtpunkt der Entwicklung zudem nicht ‚Gesundheit’ und auch nicht Leistungsfähigkeit, sondern – in der klassischen Freudschen Trias – Arbeits-, Liebes- und Genussfähigkeit. Rückt man von dem Bild ab, dass es psychisch kranke und psychisch gesunde Menschen gibt, ergibt es auch keinen Sinn mehr, diese ‚Gesundheit’ statistisch zu überwachen. Stattdessen tritt der pädagogische Dialog ins Zentrum, in dem es möglich ist, Erziehungsziele, Werte und Normen offenzulegen und zu begründen. Diese dialogischen Herangehensweisen sind auf keine numerische Stütze und auf keinen Bezug zu Normalitätskonstruktionen angewiesen, sondern sind stets eine Frage der Ethik – also jener philosophischen Teildisziplin, die unermüdlich darauf verweist, dass etwas nicht dadurch gut oder richtig wird, dass die meisten es tun bzw. der Durchschnitt es tut. Analog zum naturalistischen Fehlschluss (‚Weil es natürlich ist, ist es gut’) müssten wir heutzutage vielleicht öfter von einem normalistischen Fehlschluss sprechen (‚Weil es statistisch normal ist, ist es gut’). Es gilt also insbesondere deshalb, die Vermassung psychologischer Verhaltensmessungen nicht unkritisch hinzunehmen, da diese zu einem Kollaps der ethischen Reflexion führt: normativ streitbare Erziehungsziele fallen sodann mit statistischen Normalkonstruktionen zusammen.
Schulpädagog_innen, die sich mit der emotionalen und sozialen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen befassen, können auf eine anthropologische und entwicklungs- (psycho-) logische Betrachtung nicht verzichten. In diesem Sinne gilt es, weniger nach dem Besonderen und mehr nach dem Allgemeinen dieser Entwicklungskrisen und leidvollen Erfahrungen zu fragen. Je nachdem, wo man in dieser anthropologischen Reflexion abbiegt, landet man sodann bei einem psychoanalytischen, einem humanistischen oder einem ganz anderen Menschenbild. In jedem Fall jedoch hat man eines, das nicht den Denkfehler begeht, die dichotome Logik der Verwaltungskategorie ‚Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung‘ zu perpetuieren. Dies ist für beide Seiten in dieser historischen Dichotomie wichtig: Für die einen ist es wichtig, um den Prozessen der Stigmatisierung und Etikettierungseffekten entgegenzuwirken; Für die anderen ist es wichtig, die Illusion aufzugeben, dass die Schule keinen Erziehungsauftrag habe, wenn die Entwicklung scheinbar ‚glatt läuft‘. So hat sich durch diese Dichotomie die falsche Vorstellung durchgesetzt, die Schule müsse nur jene erziehen, die dergestalt problematisiert werden, und habe gegenüber den Übrigen keinen Auftrag und keine Verantwortung. Das Credo dieser schrägen Alltagstheorie lautet gewissermaßen ‚Schule bietet Bildung für die normalen Kinder und Erziehung für die problematischen Kinder‘. Worin der Erziehungsauftrag von Schule besteht, muss jedoch – in aller Umstrittenheit – allgemeinpädagogisch verhandelt werden.
Jedes diagnostische System, das sich im ursprünglichen Sinne des Wortes ‚Diagnostik’ damit befasst, Mittel der Erkenntnis darüber, was eigentlich der Fall ist, zu liefern, verweigert sich dieser protonormalistischen Statusdiagnostik, die nur zu Verwaltungszwecken taugt. Stattdessen liefert es differenzierte diagnostische Kategorien, die nicht der Festlegung dienen, sondern die im Gegenteil einen Blickwechsel und eine Verschiebung der Wahrnehmungsrahmungen ermöglichen sollen.
Es erweist sich desweiteren als ungenügend, in der Lehrerbildung lediglich einzelne Störungsbilder durchzugehen, da die Kenntnis einzelner Diagnosen ohne den Gesamtzusammenhang eines diagnostischen Systems (mitsamt seiner anthropologischen und entwicklungs(psycho)logischen Basisthesen) wertlos ist. Aus dem Gesagten folgt, dass den Lehramtsstudierenden mit Seminaren zu ‚Personzentrierter Gesprächsführung‘, ‚Psychoanalytischer Pädagogik‘, ‚Systemischer Beratung‘ oder ähnlich angelegten grundständigen Einführungen in diagnostische Systeme und Verfahren mehr geholfen ist als mit Seminaren zu freistehenden Einzelkategorien wie ADS oder Trauma. Die geringe Zahl an ECTS-Punkten sollte man daher lieber auf diese Fähigkeiten verwenden, denn auf das Erlernen der Anwendung einzelner ebenso freistehender standardisierter Tests. Wenn die diagnostische Grundausbildung fehlt, ist ein ‚Lückenfüllen’ durch Informationen über leicht einsetzbare, praxistaugliche Testverfahren nicht nur zu wenig, sondern dezidiert kontraproduktiv. Außerdem hat aus dieser Perspektive vor allem die allgemeinpädagogische Betrachtung und Diskussion der Erziehungsaufgaben von Schule Priorität.
Im Bereich ‚Emotionale und soziale Entwicklung‘ kann es aus ethischen Gründen keine Screenings und kein RTI-Risikogruppen-Monitoring für die gesamte Schulklasse geben. Dies zu tun wäre invasiv, datenschutzrechtlich hoch bedenklich und von staatlicher Seite ein massiver Eingriff in das Recht auf Privatheit. Der Fokus muss daher im klassischen pädagogischen Sinne auf Erziehung liegen und die Schüler-Lehrer-Beziehung zentral machen – nicht das fragliche Vorliegen oder präventive Detektieren irgendwelcher Störungen. Die Dekategorisierung der Verwaltungskategorie ‚Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung‘ birgt in diesem Sinne die Chance, die allgemeinpädagogische Debatte um den Erziehungsauftrag von Schule wieder zu beleben; sie birgt aber auch das Risiko eines sonderpädagogischen Monitorings aller Kinder, die gruselige Züge eines Überwachungsstaates mit sich bringt.
Wer sich um Erziehung im Allgemeinen sorgt, findet an der Schnittstelle zwischen Erziehungstheorie und Entwicklungspsychologie diagnostische Raster verschiedener Provenienz, die es erlauben, eine diagnostische Kompetenz sicherzustellen. Eine Deprofessionalisierung können wir uns in diesem Bereich überhaupt nicht leisten, da eine massenhafte Pathologisierung auf Basis von Normalvorstellungen – auch wenn diese flexibel-normalistisch sind – eine Psychologisierung der Pädagogik bedeuten würde, die ethisch nicht zu legitimieren wäre, da darin die normativen Setzungen und Erziehungsziele unter dem Anschein von ‚Objektivität’ verdeckt werden. Statt zuzulassen, dass in Zukunft immer mehr Kinder und Jugendliche als ‚psychisch krank’ gelten, möge man daher wieder über Erziehung nachdenken. Der Glaube an die anthropologische Universalität der Erziehungsbedürftigkeit und -offenheit wird sicherlich weiter tragen als der sich derzeit verbreitende Glaube an die Universalität der Psychiatrisierbarkeit.
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