Abstract: In diesem Beitrag werden in theoretischer Hinsicht Anknüpfungspunkte und Anschlussfähigkeiten der Diskurse um Inklusion, Behinderung und Raum diskutiert und an einem empirischen Beispiel zu professioneller Kooperation vertieft. Zunächst wird kurz der aktuelle Schulentwicklungsprozess mit dem Anspruch Inklusion skizziert und ein relationales Verständnis von Behinderung dargelegt. Vor diesem Hintergrund werden mittels raumanalytischer Bezüge zu Raumproduktion und Raumaneignung beispielhaft kooperative Praktiken von Sonderpädagoginnen und Regelpädagoginnen in inklusionsorientierten Schulen in Baden-Württemberg analysiert.
Stichworte: Inklusion; Raum; Differenz; Raumaneignung; professionelle Kooperation
Inhaltsverzeichnis
„Im Verhältnis zum Ort wäre der Raum ein Wort, das ausgesprochen
wird, das heißt, von der Ambiguität einer Realisierung
ergriffen und in einen Ausdruck verwandelt wird, der
sich auf viele verschiedene Konventionen bezieht; er
wird als Akt einer Präsenz (oder einer Zeit)
gesetzt und durch die Transformationen
verändert, die sich aus den aufeinanderfolgenden
Kontexten ergeben.“ (Certeau 2006, 345)
Der mittels des Begriffs „Inklusion“ geführte, teilhabeorientierte Reformprozess in allgemeinen Schulen in Deutschland befindet sich in einem transitorischen Stadium. Ausgehend von einer integrativen Reformbewegung der 1970er und 1980er Jahre, die zu einer Reihe überwiegend reformpädagogisch arbeitender, integrativer Schulen geführt hat (vgl. Schnell 2003), schließt der Diskurs um Inklusion – maßgeblich unterstützt durch die UN-Behindertenrechtskonvention und deren divergierende rechtliche Übersetzung in die Landesgesetze der Bundesländer (UN 2006; Blanck 2015) – auch in theoretischer Kontinuität an diese Entwicklung an (vgl. Lütje-Klose & Urban 2014). Er gleicht derzeit einem top-down gesteuerten, bildungsadministrativen Transformationsprozess bezogen auf die vermehrte Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit zugewiesenem sonderpädagogischen Förderbedarf an allgemeinen Schulen – nicht jedoch verbunden mit einer Abnahme von Schülerinnen und Schülern in Förder- bzw. Sonderschulen oder Förder- bzw. Bildungs- und Beratungszentren (vgl. Hinz 2016).
Innerhalb des Fachdiskurses um Inklusion und Exklusion wird bereits durch die zentralen Terminologien deutlich, dass ein sonderpädagogischer und nun zunehmend erziehungswissenschaftlicher Diskurs um Teilhabe und Partizipation in der Bildungsorganisation Schule entstanden ist, der Raumdimensionen bemüht. Diese werden oftmals normativ ausgewiesen mit dem Ziel der „Inklusion“, worin eine eindeutige Konnotation des „innen“ als positiv und des „außen“ als negativ enthalten ist – bis hin zur Vorstellung, dass es das inhärente Ziel von Inklusion sei, als teleologisch-kritische Referenzkategorie solange Teilhabe einzufordern, bis ein Zustand erreicht sei, in dem der Begriff obsolet würde – in einer nicht-ausschließenden Schule mittels einer Allgemeinen Pädagogik. Derzeit hingegen werden räumliche wie auch statuszuweisende Begriffe geprägt, wie z.B. „Inklusionsschüler/innen“ oder „Inklusionsraum“ (Differenzierungs- bzw. Förderraum innerhalb von allg. Schulen), die latent auf eine „Verräumlichung von Inklusion“ (Köpfer 2016) unter Beibehaltung bestehender Selektions- und Fördermechanismen (vgl. Werning 2014) hinweisen. Dabei – wie Frisby (1984, 24) in Bezug auf die Theorie der Moderne von Georg Simmel konstatiert – müssen, wenn die gesellschaftliche Wirklichkeit (hierin die sozialen Prozesse in Schule und Unterricht eingeschlossen) als in einem Zustand des unablässigen Wandels und Aushandelns empfunden wird, «die Begriffe, mit denen diese veränderliche Realität am besten ausgedrückt werden kann, relationale Begriff sein.“ Es stellt sich also die Frage, wie schulisch-unterrichtliche Prozesse hinsichtlich ihrer Ein- und Ausschlussordnungen analysiert werden können, ohne dabei unidirektional-statische Begriffsprojektionen auf Personenkreise zu kreieren.
Zur analytischen Beschreibung des kurz skizzierten transitorischen Prozesses inklusiver Schulentwicklung bietet sich daher ein differenzierender Blick auf die Kategorie „Raum“ an – mit Referenz auf differenztheoretische Vorarbeiten, insbesondere hinsichtlich der Differenzlinie Behinderung/Be-Hinderung. Dies mit dem Ziel, 1) Raum innerhalb dieses Transformationsprozesses nicht als statische, sondern als relationale, Teilhabe und/oder Behinderung bzw. Benachteiligung hervorbringende bzw. bearbeitende Kategorie zu fassen; und 2) „Kontextrelationen“ (Weiß 2016) zu dechiffrieren, die das teilhabende oder behinderte Raumhandeln im Rahmen schulischer Inklusion bedingen. Daher erscheint es notwendig, den materialistischen Diskurs um Raumproduktion und Raumaneignung in Bezug zu einem kulturellen wie sozial-interaktiven Verständnis von „Behinderung“ zu setzen.
Schule als öffentliche Bildungsorganisation besitzt eine sozialisierende Funktion und ist zugleich in eine soziale gesellschaftliche Ordnung eingebunden. In der Schule – inkl. Unterricht und informellen Lerngelegenheiten – sind somit organisatorische Gesetzmäßigkeiten eingelagert, die strukturierende und selektierende Funktionen haben. Schuck (2000) zufolge können diese Regeln als „institutionale Orientierung“ bezeichnet werden und implizieren innerhalb eines hierarchisch selektiven Schulsystems eine leistungsbezogene Normorientierung – die letztlich durch überwiegend summative Leistungsbeurteilungen zu Qualifizierungen führen. Aus dieser institutionellen Perspektive heraus können Behinderungen – z.B. attestiert und festgeschrieben über Zuweisungsformen des sonderpädagogischen Förderbedarfs – dann als systematisch-überdauernde Zuschreibungen und Adressierungen in Bildungsorganisationen und damit zusammenhängenden potenziellen Behinderungen und Diskriminierungen angesehen werden. Behinderungen werden dann als Formen der Benachteiligung einer normabweichenden Ausprägung individueller, psychisch-physischer Dispositionen betrachtet. Ausgehend von einem anti-essentialistischen Behinderungsverständnis (Weisser 2005) können Behinderungen nicht als individuelles Merkmal einer Person angesehen werden, sondern als Hybrid zwischen einer z.B. körperlichen oder psychischen Disposition eines Individuums – und den Erwartungen, die in einer spezifischen Situation an sie gestellt werden, als „Feststellung, dass etwas nicht geht, von dem man erwartet, dass es geht“ (Weisser 2005, 15). Die Behinderung tritt also erst dann zutage – z.B. in schulisch-unterrichtlichen Leistungssituationen, in räumlichen Prädisponierungen, in behindernden Kommunikationssituationen etc. – wenn eine Diskrepanz zwischen der an eine Person gerichteten, normorientierten Erwartung und der dann erfolgenden Handlung der Person vorherrscht.
Somit können Behinderungen als Prozesse der Adressierung und bildungsungerechten Bearbeitung von Differenz gefasst werden – unabhängig von sonderpädagogischem Förderbedarf und anderen gängigen Differenzkategorien wie z.B. Gender, Migration etc. Gleichzeitig sind die Differenzen in Erwartungen, Normvorstellungen und hegemoniale Strukturen eingebunden, aus denen heraus sie konturiert werden. Gleichheit und Differenz sind dabei nicht personenbezogene Merkmale, sondern relative Konstrukte, die sich in dem Maße als „fremd“ oder „anders“ zeigen, wie sie innerhalb der Norm eingefasst werden oder nicht (vgl. Sturm 2013; Prengel 2006). Insbesondere im Kontext von Bildungsorganisationen, die durch pädagogische Bildungs- und Erziehungsvorstellungen, Leistungserwartungen, curriculare Setzungen und professionelle Rollen Erwartungen an die Schülerinnen und Schüler richten und die sie als lernende Subjekte in Bezug zu diesen Erwartungen definieren, kann Differenz als relational erachtet werden, also als ‚relative Differenz‘ (vgl. Reh & Ricken 2004, 33). Diese Differenz ist dabei nicht isoliert, konfliktfrei und/oder trivial zu sehen, sondern wird beladen mit rechtlichen und ökonomischen Parametern sowie mit einer formalen Überdeterminierung von Schülerinnen und Schülern mit dem Label „sonderpädagogischer Förderbedarf“, die Weisser (2017, 132) als System wie folgt zusammenfasst: „Im Verhältnis von allgemeiner und besonderer Erziehung und Bildung wird eine politische Ökonomie wirksam, die symbolisch und materiell die Allokation von Ressourcen und die Spaltung von Bildungsangeboten respektive Unterrichtsbedingungen vornimmt.“ In diesem Sinne sind Gleichheit und Differenz als analytische Kategorien fruchtbar zu machen und es ist – in der Perspektive Raum – danach zu fragen, wie sich allgemeine und besondere bildungsräumliche Materialisierungen ergeben, durch (formale oder performative) Differenzsetzungen vor dem Hintergrund eines durch Ressourcensicherung und -allokation geprägten Fördersystems.
Die in der aktuellen erziehungswissenschaftlichen Diskussion vielfach bemühte Kategorie Raum, insbesondere als Kompositum „Bildungsraum“, kann zum einen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive als individuelle Aneignung von Räumen im Rahmen von Bildungs- und Lernprozessen sowie aus sozialwissenschaftlicher Perspektive als Strukturkategorie des Bildungssystems (vgl. Nugel 2016, 10; Günzel 2008) betrachtet und für die Analyse kooperativer Prozesse fruchtbar gemacht werden. Beide Perspektiven erachten Raum als „notwendige Bedingung aller sozialen Praxis“ (Reckwitz 2000, 16). Sie sind dementsprechend unhintergehbare Bedingung der Subjektwerdung in modernen Gesellschaften (vgl. Nugel 2016, 10). Bildungsräume und deren Erforschung sind also in ein dialektisches Verhältnis eingebunden, weil sie „Verhältnisse der Wirklichkeit, von denen die Wissenschaft ausgeht, […] nicht als Gegebenheiten“ (Horkheimer 1988, 217) ansehen, sondern als Produkte sozialer Praxis, die sie selbst mitgestalten. In welcher Form „Raum“ in sozialen Praxen und Prozessen vorkommt und was „Raum“ dabei leistet, hängt ganz vom Inhalt eben dieser konkreten Praxen und Prozesse ab (vgl. Belina 2017, 23, LeFebvre 2006). Dies führt zu einer hohen Varianz inhaltlicher Bezugnahmen auf Raum innerhalb sozial- und erziehungswissenschaftlicher Forschung (vgl. Hummrich 2012; Löw 2006; Nugel 2014; Breidenstein 2004; Böhme 2009; Budde & Rißler 2014; Kahlert et al. 2013 u.a.m.).
Räumlichkeit wird im Nachfolgenden mit Keil (1991, 189, in Anschluss an Soja) definiert als „soziales Produkt und integraler Bestandteil der materiellen Konstitution und Strukturierung des sozialen Lebens“. Raum ist in diesem Sinne eine sich sukzessive konstituierende, symbolische wie machtbedingte Anordnung (vgl. Löw 2006, 119), angereichert aus „Strukturierungen, die im gesellschaftlich geprägten Prozess der Wahrnehmung oder der Platzierung konstituiert, durch Regeln abgesichert und in Institutionen eingelagert werden.“ (ebd.). Im Rahmen dieses Artikels soll ein Teilaspekt des komplexen Prozesses der Raumkonstitution in den Fokus gerückt werden, der sich auf die Ebene der Sozialisierung innerhalb von produzierten Räumen bezieht: Die Raumaneignung. Unter Aneignung von Räumen wird nach Deinet (2008, 724) „die sozialräumliche Orientierung in der subjektorientierten Perspektive“ verstanden, also die eigene, tätige Auseinandersetzung mit materialisierter Umwelt und den hierin stattfindenden Orientierungen im Sinne von Handlungspraktiken bzw. angeeigneten Handlungs‘spielräumen‘ (vgl. auch Stötzer 2014).
Die materialisierte Umwelt wird dann „nicht nur physisch-materiell über Artefakte und die gebaute gegenständliche Welt [gefasst, d. V.], sondern vielmehr als eine vom Menschen unter bestimmten historischen Bedingungen in gesellschaftlichen Prozessen konstituierte soziale Welt, die sich ein Kind oder Jugendlicher genauso aneignen muss, wie die konkreten Gegenstände“ (Deinet & Reutlinger 2014, 12). Die Aneignung erfolgt dann von den handelnden Subjekten vor dem Hintergrund ihrer Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster. So schreibt Bourdieu (1991, 28): „Der soziale Raum ist somit zugleich in die Objektivität der räumlichen Strukturen eingeschrieben und in die subjektiven Strukturen, die zum Teil aus der Inkorporation dieser objektiven Strukturen hervorgehen“. Somit ist der physische Raum „als angeeigneter physischer Raum immer schon ein sozial konstruierter Raum, während vom physischen Raum überhaupt nur gesprochen werden kann, wenn man davon abstrahiert, dass er stets schon angeeigneter Raum ist“ (Schroer 2006, 87). Er kann demnach als „eine soziale Struktur in objektiviertem Zustand […], die Objektivierung und Naturalisierung vergangener wie gegenwärtiger sozialer Verhältnisse“ (Bourdieu 1991, 28), bezeichnet werden, welche gleichen Konstitutionsbedingungen wie soziale Räume unterworfen ist. Dabei werden gemeinhin zwei Ebenen bzw. Phasen der Aneignung unterschieden:
In der Bildungsorganisation Schule kommt diese Unterscheidung z.B. (i) in einer primären Positionierung und topographischen Orientierung der Schülerinnen und Schüler durch das Handeln in Raumordnungen (z.B. materielle Ausstattung, Positionierung von unterrichtlichen Gegenständen und Personen) zum Ausdruck. Innerhalb dieses regelhaften, als schulisch-unterrichtlich angeeigneten Settings eignen sich Schülerinnen und Schüler in spezifischen didaktischen Unterrichtssituationen (z.B. in Gruppenarbeitsphasen) Raum als Gegenstand unterrichtlicher Tätigkeit an.
Im Vergleich zum informellen Lernen – das eine gewisse Nähe zur Aneignung besitzt – kann Aneignung als ein auf der Handlungsebene stattfindender Prozess spezifiziert werden: „In der Aneignungstheorie ist die Tätigkeit das entscheidende Bindeglied zwischen Mensch und Umwelt“ (Derecik 2014, 129). Die Tätigkeit bezieht sich dabei nicht auf eine mechanisch-reproduktive und repetierende Tätigkeit im Sinne einer Benutzung von Räumen, sondern impliziert eine „produktive und kreative Komponente, nämlich die aktive Anwendung instrumenteller, kognitiver und emotionaler Fähigkeiten, die zum ,Begreifen’ natürlicher und sozialer Umwelt eingesetzt werden“ (Obermaier 1980, 7).
Im Kontext von Schule und Unterricht innerhalb sich als inklusiv bezeichnender Bildungsräume werden daher Fragen von Voraussetzungen für Raumaneignung, d.h. für deren produktive und kreative Aneignung, virulent. Es kann daher z.B. gefragt werden, inwiefern Möglichkeiten für Raumaneignung innerhalb der transitorischen Phase inklusionsorientierter Schulentwicklung geschaffen werden für Schülerinnen und Schüler, denen formal sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf zugewiesen wird. Oder inwiefern eine „Verräumlichung“ – eben nicht im Sinne von Entgrenzungsprozessen in formellen Lernorten, sondern als Begrenzungsprozesse materialer Lernorte (vgl. Ahrens 2009) – Einzug erhält (vgl. Köpfer 2016). Was führt zu Möglichkeiten der Raumaneignung und wie konstituieren sich die hierfür notwendigen Kontextrelationen? Welche Rolle spielen z.B. Peers, Lehrperson, Unterrichtsgestaltung, Kooperation etc.? Im Folgenden wird der Aspekt professioneller Kooperation im Kontext von Inklusion exemplarisch in den Blick genommen.
Für den Bildungsraum Schule stellt sich demzufolge die Frage, wie und in welcher Form Raumaneignung für die Schülerinnen und Schüler möglich gemacht wird, z.B. in didaktischer Hinsicht (Sozialform, Inhalte, Interaktion), und welche prädisponierenden, differenzherstellenden Kontextfaktoren diese bedingen. Dieser diversitätsbearbeitenden Differenzperspektive (vgl. dazu Mecheril & Plößer 2009; Mecheril 2008) folgend kann untersucht werden, welche inhärenten (ggf. asymmetrischen) Machtverhältnisse und voraussetzungsvollen Barrieren sich im Bildungsraum Schule abbilden. Gerade in der transitorischen Phase von an Inklusion orientierter Schulentwicklung könnten eine Vielzahl von Konstellationen zur Analyse herangezogen werden (z.B. Curriculum, Differenzierungsräume, Unterrichtsgestaltung, Leitungshandeln), die Aufschlüsse über Differenzsetzungen und Perpetuierungen von Differenz versprechen. Als exemplarisches Feld soll im Folgenden die kooperative Praxis von Regellehrpersonen und Sonderpädagog/-innen im Zentrum stehen und hinsichtlich der Möglichkeit von Raumaneignung in Bezug zu Differenz untersucht werden. Es soll an dieser Stelle nicht um eine erschöpfende Analyse kooperativer Praktiken dieser beiden professionellen Rollen gehen, sondern der Blick auf Kooperation dient als Vehikel zur Illustrierung vorangegangener theoretischer Ausführungen zur Relation von Inklusion, Raum und Behinderung.
Die hohe Aufmerksamkeit, der sich der Diskurs um Kooperation von Regellehrpersonen und Sonderpädagog/-innen im Kontext von Inklusion in Deutschland ausgesetzt sieht, ergibt sich dadurch, dass zum einen Lehrer/-innenhandeln für das Lernen der Schüler/-innen als überaus relevant angesehen wird (Lipowsky 2006) und dass zum zweiten durch inklusive Schulentwicklung die Kooperationsnotwendigkeit unterschiedlicher professioneller Rollen besteht, mit der in erster Linie positive Hoffnungen im Sinne einer sich produktiv verstärkenden professionellen Lerngemeinschaft (vgl. DuFour & Eaker 1998) verbunden sind. Zugleich ist die Rolle von Lehrpersonen, insbesondere durch die sukzessive Auflösung des Autonomie-Paritätsmusters, d.h. der räumlich getrennten, aber egalitären Zuständigkeit (vgl. Lütje-Klose & Urban 2014), und der Zunahme an kooperativen Tätigkeiten, einem Veränderungsprozess unterworfen (vgl. Rouse 2008), der mit koordinativen Aushandlungen, fachlichen Absprachen und weiteren Herausforderungen einhergeht und nicht selten zu Belastungen und Konflikten führt (vgl. Kreis et al. 2016, 7ff.).
Blickt man auf die ausführliche nationale wie internationale Forschungslage zur Kooperation dieser beiden professionellen Rollen (vgl. hierzu Kreis et al. 2016), so kann konstatiert werden, dass die Ergebnisse in jüngster Zeit vermehrt auf die Notwendigkeit von räumlichen wie zeitlichen Ressourcen (vgl. Arndt 2016; Köpfer 2013) hinweisen und darauf, dass Kooperation als ein ständiger, ressourcenintensiver Aushandlungsprozess anzusehen ist (vgl. Lütje-Klose & Urban 2014), der der (An-)Leitung z.B. hinsichtlich der Umsetzung eines konsistenten Kooperationsmodells bedarf (vgl. BiLieF-Studie; Lütje-Klose et al. 2016). Darüber hinaus besteht die latente Gefahr einer überdauernden Differenzherstellung in kooperativen Praktiken von Regellehrpersonen und Sonderpädagoginnen bzw. Sonderpädagogen, wie z.B. Sturm und Wagner-Willi (2012) für den Fachunterricht herausgearbeitet haben. In der Studie „KIS – Kompetenzen in inklusiven Settings“ von Moser und Kropp (2014) wurde mit Fokus auf sonderpädagogische Kompetenzen in inklusiven Settings die Verteilung von Arbeitsaufgaben von Regellehrpersonen und Sonderpädagog/-innen untersucht. Das Ergebnis der quantitativen Befragung zeigt dabei eine relative Übereinstimmung der Aufgabenfelder (z.B. Klassenunterricht, Beratung, Diagnostik) ohne ausbildungsspezifische Zuordnung. Allerdings wurde hinsichtlich der unterrichtlichen Praxis herausgearbeitet, dass „die Förderung der Schülerinnen und Schüler durch die Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen am häufigsten noch außerhalb des Klassenraums stattfindet, integrierte Förderkonzepte also weniger ausgeprägt sind, was eher für eine Kooperationsform, die auf Arbeitsteilung hinausläuft, spricht“ (Moser 2016, 160).
Vor dem Hintergrund der kurz skizzierten Forschungslage zu Kooperation von Sonderpädagog/-innen und Regellehrpersonen in einem als „inklusiv“ ausgewiesenen Setting soll im Folgenden das Projekt “UNIP – Unterstützung von Lehrpersonen im Kontext inklusiver Lehr-Lernprozesse“ herangezogen werden, um exemplarisch die Relation von Raum und Differenz entlang von Kooperationsprozessen deutlich zu machen. Das im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung an der Pädagogischen Hochschule Freiburg durchgeführte Projekt richtet dabei den Fokus auf Unterstützung im Kontext von inklusiver Schul- und Unterrichtsentwicklung in Baden-Württemberg und fragt danach, wie Lehrpersonen (personelle) Unterstützung im Kontext von Schulentwicklungsprozessen mit dem Anspruch „Inklusion“ in Baden-Württemberg adressieren. Ziel dabei ist es – auch hinsichtlich der Professionalisierung von Lehrkräften in der ersten Ausbildungsphase – Erkenntnisse über Verständnisse von Sonderpädagogik, Kooperation und Allokation von Unterstützung zu generieren, die zur Implementation einer qualitativ hochwertigen Lehrerbildung für Inklusion beitragen können.
In methodologisch-methodischer Hinsicht intendierte die Studie die Rekonstruktion sozialer (Differenz-)Praktiken durch die Analyse sozialer Situationen und deren Beeinflussung sowie Auswirkung durch und auf räumliche Ordnungen (materiell wie immateriell) (vgl. Bourdieu 1991). Der Fokus liegt also auf der iterativen Rekonstruktion von Praktiken, die innerhalb von professionellen Rollen ausgetragen werden und in „Kontextrelationen“ (Weiß 2016, 292) eingelagert sind. Mit dem begrifflichen Konstrukt sog. „Kontextrelationen“ intendiert Weiß vor dem Hintergrund raumsoziologischer Überlegungen einen Hinweis auf die relationale Eingebundenheit scheinbar umfassender Entitätsbegriffe, um „soziale Phänomene und insbesondere ungleich strukturierte Soziale Lagen [erfassen zu können, d. V.], deren Kontextbezüge mehrdeutig sind“ (ebd.). Der Begriff „Inklusion“ hilft dann, „das Zusammenspiel zwischen Systemen und Personen, d.h. für eine bestimmte ‚soziale Ordnung‘, die zuerst entwickelt und dann gelebt werden muss“ zu bestimmen (vgl. Hollenweger 2016, 35). Vor dem Hintergrund bestehender Rahmenbedingungen von Schule und Unterricht kann Inklusion dann als eingelagerte und situierte Praxis und als sozialer Prozess verstanden werden (vgl. ebd.), die nicht losgelöst von ihrer Situations- als auch Kontextgebundenheit betrachtet werden können.
Im Rahmen der ethnographischen Studie „UNIP“ wurden unter Anwendung der konstruktivistischen Grounded Theory Methodology (Charmaz 2014; Glaser & Strauss 1967) teilnehmende Beobachtungen in unterrichtlichen Situationen sowie Interviews mit den in den Klassen zuständigen Lehrpersonen an Gemeinschaftsschulen (Grund- und weiterführende Schulen) in Baden-Württemberg durchgeführt. Die Auswertung stellt einen ersten Zwischenstand im Rahmen eines prozessorientierten theoretischen Samplings dar (vgl. Strübing 2008), für welches im weiteren Verlauf insbesondere die Perspektive von Lehramtsstudierenden (Regel- und Sonderpädagogik) sowie der Schülerinnen und Schüler in den inklusionsorientierten Klassen baden-württembergischer Gemeinschaftsschulen adressiert werden sollen.
Die Kernkategorien nach der ersten Samplingphase bestätigen unter anderem die Rolle der Schulleitenden als entscheidende (Code: Decision Maker) für die Einführung und Aufrechterhaltung eines Kooperationsmodells an der Schule, was an die Forschungsergebnisse aus der BILIEF-Studie (vgl. Lütje-Klose et al. 2016) anschließt. Darüber hinaus wurde die formale Zugehörigkeit der Sonderpädagogin bzw. des Sonderpädagogen zur Förderschule und ein nur teilweise zur Verfügung stehendes Deputat für die inklusionsorientierte Schule als zentrale Kontextrelation rekonstruiert. Dieses ‚distributive‘ Modell der Vergabe personeller, sonderpädagogischer Ressourcen wirkt sich insofern auf die Raumpraxis und auf die Aneignung von Raum sowohl für die Sonderpädagog/-innen als auch für die Schüler/-innen mit zugewiesenem sonderpädagogischen Förderbedarf aus, als dass Sonderpädagog/-innen z.T. nur partial bzw. ein geringes Stundendeputat an einzelnen Schulen ausbringen und somit bisweilen nicht ‚im Feld‘ und somit nicht zugänglich für Unterstützung und Förderung sind.
Als Teil des Feldes konnte die Rolle von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen im Unterstützungskontext einer inklusionsorientierten Schule als differenzmarkierende (‚difference-maker‘) herausgearbeitet werden – in zwei Modi, die unterschiedliche Relevanzsetzungen der Bearbeitung von Differenz beinhalten:
Subcode 1: Adressierung für didaktische Differenzierungsmaßnahmen (z.B. Innere Differenzierung)
Zum einen zeigt sich – und dies ist auch im Transkriptbeispiel (s.u.) angedeutet – eine leistungsbezogene normorientierte Unterrichtspraxis, in die die Sonderpädagogin bzw. der Sonderpädagoge als Differenzierungskraft einbezogen wird. Die Adressierung erfolgt demnach entlang der Abweichung von der Norm, die entweder geduldet bzw. übergangen wird oder aber – wenn die Sonderpädagogin bzw. der Sonderpädagoge anwesend ist – durch diese bzw. diesen adressiert wird. In Bezug auf Raumaneignung kann somit konstatiert werden, dass eine Sozialisierung in eine als leistungshomogen angenommene Gruppe stattfindet, die z.T. durch spezifische, differenzierende Adressierung durch eine spezifisch professionalisierte Kraft aufgebrochen wird und daraufhin räumlich flexibel bearbeitet wird. Es wird also deutlich, dass durch die spezifische Differenzsetzung „Sonderpädagogin bzw. Sonderpädagoge“ in Relation zu einer tendenziell leistungsbezogen homogenisierenden Regellehrperson (‚laufen die halt dann so mit‘) die unterrichtsmethodische Bearbeitung von Differenz vorgenommen bzw. nicht vorgenommen wird.
Abschnitt 32 […] IV11 – KD – 4/17
so und (.) eben. sie (2) von den leischtungen her, (.) ;;die sind gar nicht so unterschiedlich und für sie. (.) ich glaub deswegen ischt das auch noch nicht so, dass die jetzt (.) also, differenziert wird im moment nur in stunden, wo ich dann auch dabei bin. (.) ich glaub, in anderen stunden laufen die dann halt so,,,mit.
Ein zweites Beispiel zeigt, dass die unterrichtsmethodische Gestaltung darüber hinaus zu einer Produktion von Raum führt – im Sinne der Nutzung zur Verfügung stehender Differenzierungsräume durch die Sonderpädagogin als Folge des Nichteingebundenseins (der Schülerinnen und Schüler als auch der Sonderpädagogin selbst) in einen frontalen Unterricht.
Subcode 2: Unterricht mit flexibler Raumnutzung als Resultat der (Nicht-) Adressierung der Sonderpädagogin
Hier zeigt sich eine Raumpraxis innerhalb des Unterrichts, die in starkem Maße von der didaktisch-methodischen Gestaltung abhängig ist. So zeigt sich im Beispiel (s.o.) eine tendenziell auf Individualisierung ausgerichtete Unterrichtspraxis (Wochenplan), die ein Differenzierungshandeln der Sonderpädagogin bzw. des Sonderpädagogen zur Folge hat, falls in einen unidirektionalen Frontalunterricht übergegangen wird. Die binäre Differenzsetzung „Förderbedarf“ wird also hinsichtlich einer Praxis der Verräumlichung relevant gemacht als Konsequenz aus einer normorientierten unterrichtlich-methodischen Gestaltung. Die Institutionalisierung der Verräumlichung im Sinne einer «materialen Manifestation» entsteht dann – angelehnt an Herrmann und Flasche (2014, 351 f.) – aus dem interdependenten Zusammenspiel von Interaktionspraxis und räumlich-architektonischer Grundkonstitution. Im Kontext schulischer Kooperationsprozesse erfolgt die Herstellung von Raum (im Beispiel als „rausnehmen“ gekennzeichnet) also durch spezifische Platzierungen bzw. durch ein Platziert-werden klassifizierter Akteur/-innen und materieller Gütern (Differenzierungsraum) in Relation zur Platzierung anderer Akteur/-innen und materieller Güter (Klassenraum) – als Konsequenz aus einer Nicht-Adressierung der Sonderpädagogin bzw. des Sonderpädagogen als Kooperationspartner/-in und der Schülerinnen und Schüler im Unterricht.
Abschnitt 26 […] IV3 – AH – 3/17
manchmal haben wir wochen, da ist der wochenplan hinfällig, dass ist eigentlich ein reiner frontalunterricht. ((einatmen)) dann steh ich da und denk mir ja pff:: (.). es ist sehr sehr schwierig, dann kann ich nur die kinder rausnehmen und (.) mhm einfach keine keine optimale situation dann. also ja. #00:10:01-0#
Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse deutliche Hinweise auf eine affirmativ wahrgenommene Aneignung des Differenzierungsraums durch die Sonderpädagogin bzw. den Sonderpädagogen. Dies führt zu einer prädisponierten Raumordnung – im Sinne einer binären Aufteilung von Klassenraum (Normraum) und Differenzierungsraum (Sonderraum), die sich die Schülerinnen und Schüler mit attestiertem sonderpädagogischen Förderbedarf aneignen und – das zeigen erste Ergebnisse – komplementär aneignen (Differenzierungsraum als Normraum; Klassenraum als Sonderraum).
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass Raum (bzw. Raumproduktion und Raumaneignung) sowie Differenz (bzw. Differenzsetzung) im Kontext schulischer Inklusion als interrelational angesehen werden können. Diese beiden Diskurse wurden bislang in ihrer gegenseitigen Relevanz wenig beachtet. An der exemplarischen Herausarbeitung von Adressierungen innerhalb von Kooperationsprozessen manifestieren sich erste – und noch weiter zu spezifizierende – Relationen zwischen professioneller Differenzsetzung (Regellehrperson/Sonderpädagogin bzw. Sonderpädagoge) und Herausbildung bzw. Nutzung von Raum, mit folgender Tendenz:
Dies deutet darauf hin, dass eine theoretische Diskussion über die Auflösung von Sonderräumen (z.B. der Förderschule) als Kennzeichnung von Inklusion zu kurzgefasst ist und letztlich nur eine «De-Segregation» (Hinz 2013) fokussiert. Vielmehr ist eine empirische Forschung vonnöten, die nicht auf die ,Auflösung’ von Räumen gerichtet ist, sondern prozessorientierte Analysen beinhalten, die Herstellungsprozesse und Nutzungen von Räumen im Kontext von sich als inklusiv bezeichnenden Schulen, d.h. formal das Allgemeine adressierende, untersucht (vgl. Blasse et al. 2015), um hierin potenzielle Barrieren und Diskriminierungen offenzulegen. Es werden dabei Fragestellungen virulent, wie an Schule und Unterricht beteiligte Akteurinnen und Akteure, z.B. Lehrpersonen, Schüler/-innen, Schulbegleitungen etc. Handlungsräume kreieren bzw. eröffnen, nutzen und/oder schließen, z.B. auch hinsichtlich deren zeitlicher An- und Abwesenheit etc. Hieraus können weitere Hinweise auf die Frage gewonnen werden, was die Bedingungen und Möglichkeiten für Raumaneignung für Schülerinnen und Schüler in einer inklusionsorientierten Schule sind.
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