Abstract: Die Umsetzung von Bildungsreformen in Schule und Unterricht, die auf Inklusion zielen, zeigt in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft eine zunehmende thematische Relevanz. Um praxisrelevante Erkenntnisse über diesen Gegenstandsbereich zu gewinnen, schlägt der Beitrag vor, die Programmatik von der Praxis der Inklusion zu unterscheiden und das soziale Handeln in seinem performativen Vollzug selbst zu rekonstruieren. Vor dem Hintergrund raumtheoretischer Überlegungen wird hierbei den raum-bezogenen Praxen eine besondere Bedeutung beigemessen. Der Beitrag geht diesem Aspekt des Performativen im Rahmen der Methodologie der Praxeologischen Wissenssoziologie nach. Auf der Basis von kontrastierenden Unterrichtsvideografien einer laufenden Dissertation zu Leistungslogiken in ‚inklusiven’ und ‚exklusiven’ Schulformen wird dargelegt, wie mit der Zuschreibung von Leistungsdifferenzen eine differente Zuweisung und Nutzung von „Territorien“ im Goffmanschen Sinne einhergehen. Die eingespielten performativ-räumlichen Praxen sind mit Prozessen der Marginalisierung und der Privilegierung von Schülerinnen und Schülern verbunden und lassen zudem Machtstrukturen erkennen, die sich der Aushandlung entziehen. Das Anliegen des Beitrages ist es, das Erkenntnispotenzial einer raumbezogenen rekonstruktiven Inklusionsforschung auszuloten und die Entwicklung einer entsprechenden Methodologie voranzutreiben.
Stichworte: Inklusion; Leistungsdifferenz; Macht; konjunktiver Erfahrungsraum; Territorien; Dokumentarische Methode; Unterrichtsvideos
Inhaltsverzeichnis
In der Schulpädagogik der deutschsprachigen Länder war es gängige Praxis, Schülerinnen und Schülern, welche die unterrichtlichen Leistungserwartungen nicht erfüllten, auszusondern. Dies dokumentierte sich gerade auch in der räumlichen Separation von meist mit je spezifischen, sonderpädagogischen Zuschreibungen versehenen Kindern und Jugendlichen, so z.B. mit dem Etikett von „Verhaltensstörungen“ (Myschker 1993). Die Formen reichten von Sonderklassen, die innerhalb desselben Schulhaus-Areals angesiedelt waren (wie etwa bis 2005 im Schweizerischen Kanton Zürich nach Typen A-E differenzierte Kleinklassen, vgl. Bächtold et al. 1992, S. 15ff.), bis hin zu räumlich – und organisatorisch – vollständig von den Regelschulen abgekoppelten Sonderschulen (z.B. für „Körperbehinderte“, vgl. ebd.). Wenngleich solche sonder-pädagogischen Organisationsformen nicht vollständig aufgehoben worden sind, ist im Zuge der durch die UN-Behindertenrechtskonvention international vorangetriebenen Bildungsreformen eine Ausweitung des inklusiven Unterrichts zu verzeichnen, der damit auch zu einem zentralen Gegenstandsbereich der deutschsprachigen Schulpädagogik und -forschung avanciert ist. Der Begriff Inklusion verweist v.a. auf die Überwindung von Benachteiligung und Behinderung von Lern- und Bildungsprozessen (vgl. Ainscow 2008, S. 241) als Phänomene, die in sozialen Interaktionen innerhalb von Schule und Unterricht selbst hervorgebracht werden (vgl. Wagner-Willi/Sturm 2012). Um Erkenntnisse über diesen Gegenstandsbereich zu gewinnen, ist allerdings die Programmatik von der Praxis der Inklusion im Kontext von Schule und Unterricht, v.a. der Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler, zu unterscheiden. Die Praxis zu rekonstruieren heißt, den Fokus auf ihren performativen Vollzug zu richten, d.h. auf das prozesshafte, körperlich-sprachlich-räumliche Handeln und Interagieren (vgl. Wulf/Göhlich/Zirfas 2001). Dem Umgang mit und der Herstellung von Raum kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Das Anliegen unseres Beitrages ist es, diesem Aspekt des Performativen im Rahmen einer wissenssoziologisch-praxeologisch (vgl. Bohnsack 2010) verstandenen rekonstruktivenInklusionsforschung nachzugehen. Das heißt, wir gehen davon aus, dass Unterrichtssettings, die einem inklusiven Anspruch folgen, entlang der Frage, wie die Beteiligten mit Räumen umgehen, rekonstruiert werden können.
Zunächst werden wir uns sozialwissenschaftlichen Raumbegriffen zuwenden und ihr Potenzial für die Rekonstruktion der Praxis inklusiven Unterrichts diskutieren (Kap. 1). Eine besondere Aufmerksamkeit gilt hier dem von Karl Mannheim (1980) entwickelten wissenssoziologischen Begriff des konjunktiven Erfahrungsraumes einerseits und der mikroanalytischen Konzeption von Territorien durch Erving Goffman (1982) andererseits. Unter Bezugnahme auf methodologisch-praxeologische Überlegungen zu den Simultan- und Sequenzstrukturen sozialer Praxis und den damit verbundenen Raum-Zeit-Dimensionen schlagen wir die Dokumentarische Videointerpretation (Bohnsack/Fritzsche/Wagner-Willi 2015) als Methode für die Rekonstruktion von unterrichtlichen Raum-Praxen und damit verbundenen, relational gefassten Prozessen der Inklusion und Exklusion vor (Kap. 2). Vor dem Hintergrund dieser theoretisch-methodologischen Erörterungen präsentiert der Beitrag empirische Rekonstruktionen zur Herstellung und Bearbeitung von Leistungsdifferenzen in kontrastierenden Schulformen (Kap. 3). Diese entstammen einem Dissertationsprojekt (Wagener 2016), das innerhalb der vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Studie zur Herstellung und Bearbeitung von Differenzen im Fachunterricht inklusiver und exklusiver Schulformen angesiedelt ist (Sturm/Wagner-Willi 2014). Im Fokus steht die komparative Analyse des Deutschunterrichts einer dem Anspruch nach inklusiven Sekundarschulklasse und einer gymnasialen Schulklasse ohne inklusive Programmatik. Ein Ausblick (Kap. 4) fasst die wesentlichen Ergebnisse zusammen und diskutiert Ertrag wie Perspektiven der vorgeschlagenen praxeologisch-wisssenssoziologischen Betrachtung sozialer Räume für den Ansatz der rekonstruktiven Inklusions- und Differenzforschung.
Im inklusionspädagogischen Fachdiskurs wird der Anspruch eines inklusiven Unterrichts dahingehend formuliert, Bildungs- und Lernprozesse für alle Kinder und Jugendlichen zu ermöglichen. Das heißt auch eine Öffnung des Unterrichts für spezifische, z.B. sozial benachteiligte, Milieus und für spezifische Lernausgangslagen, wie sie etwa mit der Diagnose ‚Down Syndrom’ verbunden werden. Wie Ainscow (2008, S. 241) deutlich macht, zielt der inklusive Unterricht darauf, Lernbarrieren, die in der Konstruktion sozialer Differenzen gründen, abzubauen. Eine solche konstruktivistische Perspektive auf Behinderung wurde bereits innerhalb des sozialwissenschaftlich geprägten Diskurses der Integrationspädagogik der 1990er Jahre eingenommen, z.B. von Palmowski (1997), der Behinderung als „Kategorie des Beobachters“ betrachtet, d.h. als eine relative Zuschreibungskategorie, die sozial konstruiert wird. Auch im Rahmen der Disability Studies wurde Behinderung „als sozial hergestellter Prozess konzipiert, in dem Normalität und Behinderung Teile des gleichen Systems darstellen und stets aufeinander angewiesen sind“ (Tervooren 2000, S. 317). Wir knüpfen an diese – nicht zuletzt auf ethnomethodologischen Konzepten (siehe etwa Goffman 1980) beruhenden – Überlegungen an und begreifen schulische und unterrichtliche Exklusion als sozial hergestellte, d.h. in sozialen Interaktionen und sozialer Praxis fundierte Prozesse. Diese stehen zudem in einer relationalen Wechselwirkung zu – ebenfalls sozial hergestellten – Prozessen der Inklusion (vgl. Wagner-Willi/Sturm 2012). Diese relationalen Prozesse sind körperlich-räumlich-sprachlich eingebettet, d.h. sie sind performativ (vgl. Wulf/Göhlich/Zirfas 2001) und wesentlich durch den Umgang mit und die Herstellung von sozialen Räumen geprägt. Entsprechend kann die „transdisziplinäre Kategorie ‚Raum’ als Analysefolie für Phänomene aktueller inklusiver Schul- und Unterrichtsentwicklung herangezogen“ (Köpfer 2016, S. 82) werden.
Auf die Bedeutung des Raumes für das Soziale wies Arnold van Gennep bereits 1908 in seinen ethnologischen Studien hin. Übergangsrituale nahm er als zentrale Rituale der sozialen Transformation in den Blick und sprach bei seinen Analysen von „der Gleichsetzung des Übergangs von einer sozialen Position zur anderen mit einem räumlichen Übergang“ (1986, S. 184). Weiter betonte van Gennep, dass „die räumliche Trennung von Gruppen ein Aspekt ihrer Sozialordnung“ (ebd.) sei. Der Grenze, der Grenzziehung und der (rituell gebundenen) Grenzüberschreitung wird in dieser Perspektive eine besondere Bedeutung zugesprochen, indem diese in Bezug zur sozialen Positionierung und Gruppenzugehörigkeit gesetzt werden. Nicht nur die eingangs erwähnte räumliche Trennung von als ‚behindert’ klassifizierten Schülerinnen- und Schülergruppen auf der einen und ‚Regel’-Schülerinnen und -Schülern auf der anderen Seite bieten ein Beispiel für derartige räumliche Grenzziehungen. Auch innerhalb der ‚Regelschule’ finden sich bekanntlich viele, offiziell markierte Räume, die die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen symbolisieren und deren Zutritt formalen Regeln unterliegt: z.B. die Klassenräume, die Mädchen- und Jungentoiletten oder die Lehrerzimmer (vgl. Köpfer 2016, S. 85). Räume, Grenzen und Grenzüberschreitung können demnach als performative Formen der Herstellung und Bearbeitung von Differenzen zwischen sozialen Gruppen und ihren Zugehörigkeiten betrachtet werden. An die skizzierte ethnologische Perspektive auf Raum und Räumlichkeit knüpften verschiedene Anthropologen an, wie insbesondere Victor Turner (1989), der sich mit einer spezifischen Phase innerhalb von Übergangsritualen: der Schwellen- oder liminalen Phase, befasste und Bezüge zu sozialen Prozessen der Differenzbearbeitung in (post-)industriellen Gesellschaften herstellte. In einer eigenen, dieses Konzept aufgreifenden Studie zu Ritualen von Kindern in der Grundschule (Wagner-Willi 2005) konnte herausgearbeitet werden, wie sich beim Übergang von der Pause zum Unterricht eine Schwellenphase, eine Phase zwischen Peerkultur und Unterrichtsordnung, auch in den Raum-Praxen der Kinder dokumentierte, so z.B. in rituellen Formen des Aktionismus mit Bezug auf Territorien und Requisiten innerhalb des Klassenzimmers, die die schulische Ordnung symbolisieren. Diese wurden „situativ ihrer institutionellen Funktion beraubt, zweckentfremdet und in einen antistrukturellen Rahmen von Fun und Action gestellt“ (ebd., S. 289), wie etwa das Verspritzen von Tinte des Füllers innerhalb des Klassenzimmers als raumbezogene Form der rituellen Verunreinigung und Distanznahme gegenüber der sozialen Identität des Schülers/der Schülerin (vgl. Goffman 1980, S. 10).
Mit dem Anliegen, ethnografische Beobachtungen im Klassenzimmer „um die differenzierte Analyse räumlicher Bedingungen und Effekte der Unterrichtssituation zu erweitern“ (Breidenstein 2004, S. 87), greift Georg Breidenstein das raumsoziologische Konzept von Martina Löw (2001) auf. In Abgrenzung gegenüber Konzeptionen, die Raum als vom Handeln getrennte Realität betrachten (vgl. ebd., S. 64), plädiert Löw für eine handlungstheoretische Konzeption und betont, „dass die Konstitution von Raum selbst als sozialer Prozeß gefaßt werden muß“ (ebd., S. 67). Dabei versteht sie „das Handeln selbst als raumbildend“ (ebd.) und entwickelt einen Begriff des sozialen Raumes als „relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen“ (ebd., S. 158). Raum entsteht durch die Elemente und deren relationalen Platzierungen bzw. Anordnung. Löw unterscheidet zwei, im praktischen Handlungsvollzug verbundene Prozesse:
Löw hat hier wichtige Impulse für ein handlungstheoretisches Raumverständnis geliefert. Allerdings verweist Breidenstein (2004) zurecht darauf, dass sie ihre Konzeption „nicht mikrosoziologisch oder interaktionistisch ausgeführt“ hat (ebd., S. 91). Wir schlagen eine solche Weiterentwicklung und Differenzierung der mit den Begriffen der Syntheseleistung und dem Spacing angeprochenen Aspekte raumkonstituierenden Handelns auf der Basis zweier theoretischer Konzeptionen vor: dem von Karl Mannheim (1980, S. 214ff.) entwickelten wissenssoziologischen Begriff des „konjunktiven Erfahrungsraumes“ einerseits und der mikroanalytischen Konzeption von Territorien durch Erving Goffman (1982) andererseits.
Wir kommen zunächst zum wissenssoziologischen Konzept von Mannheim: Nach ihm ist der Mensch in erster Linie ein Gemeinschaftssubjekt, das den Sinn von Erfahrungen aus einem „bestimmten von einer Gemeinschaft getragenen Erfahrungszusammenhang“ bezieht. Dieser „Erfahrungsraum“ entsteht im gemeinsamen Erleben und Handeln, in der sozial verankerten Praxis; er ist ein „konjunktiver“, die Beteiligten „verbindender dynamischer Nexus“ (Mannheim 1980, S. 214), d.h. kontinuierlich und zugleich fortwährend im Werden begriffen. Zudem bildet sich in ihm eine perspektivische Form des Erfahrungswissens heraus, ein „konjunktives Erkennen“, das nur für die an ihm Teilhabenden Geltung hat und Dritten nicht ohne Weiteres mitteilbar ist (ebd., S. 211ff.). Mannheim spricht hierbei auch von der „Verwurzelung des Denkens im sozialen Raum“ (Mannheim 1952, S. 73). Der Erfahrungsraum ist also als sozialer Raum zu begreifen, der durch die Praxis herausgebildet wird und mit dem Denken bzw. Erfahrungswissen i.S. handlungsleitender Orientierungen in Wechselwirkung steht. Als „dynamischer Nexus“ stellt er einen fortwährenden sozialen und performativen, d.h. in den Körper-Raum-Praxen fundierten Prozess dar, der eine Geschichte gemeinsamer „Bedeutungs- und Erfahrungszusammenhänge“ (Bohnsack 1989, S. 377) und eine „Standortgebundenheit“ des Wissens (Mannheim 1952, S. 229f.) mit je spezifischem handlungsleitenden Orientierungen (vgl. Bohnsack 2010, S. 124ff.) hervorbringt.
Bedeutsam für diese Konzeption Mannheims ist die Unterscheidung der „konjunktiven“ vorreflexiven (impliziten) Ebene des Wissens (vgl. Mannheim 1980, S. 211ff.) einerseits von einer „kommunikativen“, d.h. reflexiven (expliziten) Ebene des Wissens (vgl. ebd., S. 285ff.) andererseits, also die Unterscheidung zwischen der konjunktiven Praxis und der kommunikativen Programmatik von z.B. inklusivem Unterricht. Letztere dokumentiert sich beispielsweise in didaktischen und pädagogischen Konzepten, wohingegen die Praxis und das damit verbundene konjunktive Wissen über die Beobachtung von z.B. raumbezogenen Handlungen und Interaktionen als einem wesentlichen performativen Aspekt der unterrichtlichen Praxis rekonstruierbar wird. Aus dieser analytischen Perspektive verweisen soziale Prozesse der Herstellung und Bearbeitung von Raum, Territorien und territorialen Grenzen auf
Entsprechend können wir Prozesse der Inklusion als Hervorbringung von gemeinsamen, einander verbindenden Erfahrungsräumen und Orientierungen analysieren und diese in Relation zu Prozessen der Exklusion sehen, i.S. der Abgrenzung und Grenzziehung gegenüber Erfahrungsräumen und damit verbundener Orientierungsrahmen.
Für eine solche Betrachtung lohnt es sich, auf Goffmans (1982, S. 54ff.) raumbezogenen analytischen Kategorien der „Territorialität“ Bezug zu nehmen, die er im Rahmen seiner mikrosoziologischen Studien entwickelt hat. Territorien können dabei räumlich ausgedehnt und ortsgebunden sein, wie das Klassenzimmer, aber auch nicht räumlich wie das Informationsreservat.
Den Begriff des Territoriums verbindet Goffman mit dem des Anspruchs, der in Interaktionen geltend gemacht und in Frage gestellt werden kann. Allerdings stellt sich hierbei das Problem, dass seine Konzeption vom Individuum ausgeht. Sein Fokus auf die Herstellung von und den Umgang mit Territorien und ihren Grenzen eignet sich allerdings u. E. gerade für die Rekonstruktion des Performativen unterrichtlicher Interaktionen. Wir schlagen daher vor, die mikrosoziologischen Kategorien von Territorien und territorialen Grenzen als performative Elemente konjunktiver Erfahrungsräume und der Herstellung und Bearbeitung von Differenzen im Unterricht zu betrachten.
Wir greifen hierbei folgende, u.E. für Schule und Unterricht bedeutsamen Kategorien heraus:
Bevor wir nun den Zusammenhang von Erfahrungsraum, Territorien, Differenzherstellung und Inklusion/Exklusion empirisch beleuchten, möchten wir im Folgenden noch einige methodologische Überlegungen erläutern und das methodische Vorgehen umreißen.
In der qualitativen Sozialforschung, der qualitativen Unterrichtsforschung im Besonderen, blieb durch das Primat der sequenziellen Textanalyse der Blick auf die körperlich-räumliche Verfasstheit sozialer Praxis lange verwehrt (vgl. Bohnsack 2003, S. 241; Wagner-Willi 2004, S. 50). Mit der Stärkung ethnografischer Ansätze (vgl. Amann/Hirschauer 1997) wie auch im Zuge des pictorial-turn (Mitchell 1997) – unterstützt durch die technische Entwicklung – wurde die methodologisch einseitige Fokussierung der Sequenzialität sozialer Praxis durch Hinwendung zu visuellen Verfahren, wie der Videografie, aufgebrochen (vgl. Bohnsack 2003). Dies gilt auch für die qualitative Unterrichtsforschung, wenngleich sie das Potenzial jenseits sequenzieller Analysen bei weitem noch nicht ausgeschöpft hat (vgl. Fritzsche/Wagner-Willi 2015, S. 131). Eine Hinwendung zum körperlich-räumlichen Gehalt der Praxis im Unterricht bedeutet auch, dass sich die Analyse mit derjenigen Ebene des Performativen auseinanderzusetzen hat, die wir mit dem Begriff der Simultaneität, der Struktur der Gleichzeitigkeit, fassen können (vgl. Bohnsack 2003; Wagner-Willi 2004, S. 50ff.). Diese Struktur prägt neben der Sequenzialität, also der prozesshaften Abfolge und Sequenzierung von Praxis, jegliche soziale Situation und soziale Interaktion, in besonderer Intensität gerade auch innerhalb von Schule und Unterricht. So haben wir es z.B. in der sozialen Situation einer Hofpause mit einer durch ein Nebeneinander gekennzeichneten Simultaneität zahlreicher, voneinander unabhängiger sozialer Interaktionen innerhalb von Peergroups zu tun. Auf der Ebene der sozialen Interaktion, z.B. bei einem Lehrer-Schüler-Gespräch wiederum haben wir es mit einer Simultaneität zu tun, die durch ein aufeinander bezogenes körperlich-räumliches, gestisch-mimisches und sprachliches Miteinander (und manchmal auch Gegeneinander) charakterisiert ist. Simultaneität finden wir in Bezug auf die sich zugleich, mit-, gegen- und nebeneinander vollziehenden Aktivitäten. Sie beruht auf der Körperlichkeit, Räumlichkeit und Bildhaftigkeit sozialer Praxis (vgl. Wagner-Willi 2004, S. 51f.).
Während der in einem Nacheinander geordnete Text das idealtypische Grundmodell für Sequenzialität liefert, kann, wie der Kunsthistoriker Imdahl (1996) deutlich macht, als idealtypisches Grundmodell für Simultaneität das Bild gelten. Denn es ist die „Simultanstruktur“, die für letzteres konstitutiv ist, ein „kompositionsbedingtes, selbst sinnstiftendes Zugleich“ (ebd., S. 23). Beim Bild haben wir es mit einer Simultanstruktur zu tun, die sich in zwei Raumdimensionen, als Fläche, darstellt. Im Unterschied zum Bild können wir für soziale Situationen festhalten, dass sie sich in den drei Dimensionen des Raumes entfalten. Diese sind für die Simultanstruktur sozialer Situationen fundamental. Demgegenüber dokumentiert sich Sequenzialität in besonderem Maße in körperlich-räumlichen Bewegungen und in der Sprache. Die in Abfolgen und in fortschreitenden Prozessen strukturierte Sequenzialität sozialer Praxis ist wesentlich durch die zeitliche Dimension geprägt. Zugleich gilt es zu betonen, dass Simultaneität und Sequenzialität als grundlegende Modi der Strukturierung sozialer Situationen bzw. sozialer Praxis stets ineinander verwoben sind (vgl. Wagner-Willi 2004, S. 51). Für eine analytische Perspektive auf die hier fokussierten räumlichen Aspekte unterrichtlicher Praxis eignet sich u.E. daher besonders die Videografie. Zwar reduziert die Videografie den Raum auf die zweidimensionale Fläche, womit eine gewisse Verzerrung von Objekten, Körpern und Räumlichkeiten einhergeht. Die Videografie ist zudem durch den Standort des Forschers wie durch sein Erkenntnisinteresse und die Selektivität der Kameraposition mitstrukturiert, die methodisch begründet und kontrolliert werden muss. Sie birgt jedoch gegenüber anderen (prinzipiell raumbezogenen) Erhebungsmethoden, wie etwa der Teilnehmenden Beobachtung, erweiterte Erkenntnispotenziale: So kann das aufgezeichnete interaktive Geschehen reproduziert und wiederholt betrachtet werden. Es können Fotogramme, also Standbilder, in die Analyse einbezogen werden. Damit wird eine Mikroanalyse der körperlich-räumlichen Ebene der Interaktionen möglich (vgl. Erickson 1992). Mit der von uns verwendeten Methode der Dokumentarischen Interpretation von Unterrichtsvideografien (vgl. Fritzsche/Wagner-Willi 2015) nutzen wir diese Erkenntnispotenziale zur Rekonstruktion konjunktiver Erfahrungsräume mit Blick auf Schule und Unterricht. Diese Methode knüpft an die methodologischen Ausarbeitungen Ralf Bohnsacks (2009, S. 117ff.) im Kontext der von ihm in Anschluss an Karl Mannheim entwickelten praxeologischen Wissenssoziologie an. Sie ist auf die Rekonstruktion von Prozessstrukturen der Praxis ausgerichtet und ermöglicht es insbesondere, unterrichtliche Raum-Praxen zu erforschen.
Bei der Dokumentarischen Videointerpretation erstellen wir zunächst einen Handlungsverlauf und wählen nach dem Kriterium der Fokussierung eine Videosequenz für die weitere Feinanalyse aus. Hierbei kombinieren wir die Rekonstruktion der Simultaneität, wie sie sich in Fotogrammen dokumentiert, mit der Analyse der Sequenzialität der ausgewählten Videosequenzen. Allerdings ist es hierbei notwendig, den Detaillierungsgrad der Mikroanalysen auf das jeweils leitende Erkenntnisinteresse abzustimmen. Sowohl die Interpretation der Fotogramme wie der Videosequenzen folgt der Unterscheidung zwischen dem „Was“ auf der Ebene der formulierenden Interpretation, also der Inhalte, und dem „Wie“ auf der Ebene der reflektierenden Interpretation (Bohnsack 2009, S. 19ff.), also der Art und Weise, wie die Akteurinnen und Akteure miteinander interagieren. Bei der Fotogramminterpretation beziehen wir uns dabei mit Bohnsack (2009, S. 31ff.) auf das ikonologisch-ikonische Interpretationsverfahren des Kunsthistorikers Max Imdahl, der, wie oben erwähnt, die Simultanstruktur als konstitutives Moment für Bilder herausstellte. Die Fotogramminterpretation arbeitet mit von Bohnsack (2009) im Anschluss an Imdahl entwickelten Analyseschritten, wie z.B. mit der Analyse der Perspektivität (i.S. der Gestaltungsleistung der Forschenden) oder der szenischen Choreografie (i.S. der Gestaltungsleistungen der Forschungsteilnehmenden) (vgl. ebd., S. 201ff.). Eine Gesamtinterpretation führt die wichtigsten Analyseergebnisse der Interpretation der Fotogramme und der Videosequenz zusammen. Sowohl auf Ebene der Fotogramme wie auf Ebene der Sequenzen führen wir komparative Analysen durch, um die jeweils spezifischen Handlungsstrukturen und Orientierungsrahmen der herangezogenen empirischen Fälle herauskristallisieren zu können.
Die nachfolgend vorgestellten empirischen Analysen stammen aus dem Dissertationsprojekt von Benjamin Wagener (vgl. Wagener 2016, 2017) zu ‚Leistungslogiken’ in ‚inklusiven’ und ‚exklusiven’ Schulformen.[1] Es ist in der vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Studie „Herstellung und Bearbeitung von Differenz im Fachunterricht der Sekundarstufe I“ (Sturm/Wagner-Willi 2014) verortetet. Anknüpfend an das Erkenntnisinteresse der Gesamtstudie legt das Dissertationsprojekt den Fokus auf die soziale Herstellung von ‚Schulleistung‘ sowie damit einhergehende Differenzkonstruktionen in Bezug auf die Schülerinnen und Schüler im Fachunterricht der Sekundarstufe.
Mit der in Kap. 1 bereits eingeführten, für die Praxeologische Wissenssoziologie zentralen Unterscheidung zweier Wissensdimensionen wird Leistung zum einen verstanden als zentraler Code der Organisation Schule, der sich v.a. in der Leistungsmessung bzw. formalen Beurteilung niederschlägt (vgl. Luhmann 2002). Zum anderen wird dieser Code implizit, habituell bzw. milieuspezifisch durch die Organisationsmitglieder (Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler) bearbeitet (vgl. Nohl 2007; Bohnsack 2017a). Leistung selbst stellt somit ein soziales Konstrukt dar, „das erst im Beurteilungsprozeß erzeugt wird“ (Luhmann 2002, 66). Dabei wird diese „zirkuläre Gesamtstruktur“ (ebd.) als Überlagerung bzw. Relationierung einer „propositionalen Logik“ – die explizit-formale Ebene der Organisation – und einer „performativen Logik“ (Bohnsack 2017a, S. 235; Herv. BW) – die implizit-konjunktive Auseinandersetzung mit dieser – betrachtet. Bilden sich auf performativer Ebene im Rahmen eines solchen mehrdimensionalen Interaktionsverhältnisses innerhalb des Unterrichts mit seiner fachkulturellen Dimension gemeinsam geteilte ‚Leistungslogiken‘ unter den Lehrpersonen, Schülerinnen und Schülern heraus, lässt sich von einem „Unterrichtsmilieu“ (Wagner-Willi/Sturm 2012) sprechen.
Der methodologisch-methodische Zugang zu den interessierenden ‚Leistungslogiken‘ und den damit verbundenen Praxen der Differenzherstellung und -bearbeitung erfolgt anhand der im Rahmen des Gesamtprojekts erhobenen Unterrichtsvideographien, die mithilfe der w.o. bereits umrissenen Methode der Dokumentarischen Videointerpretation ausgewertet werden (vgl. Bohnsack 2009; Fritzsche/Wagner-Willi 2015). Das Sampling der in der Nordwestschweiz verorteten Studie folgt dem Prinzip des „Kontrasts in der Gemeinsamkeit“ (Bohnsack 2010, 38; Herv.i.O.) und vergleicht potenzielle Unterrichtsmilieus in Bezug auf Schulform und Fachkultur. Hinsichtlich der Schulform werden Schulen der Sekundarstufe I einbezogen, die– dem Anspruch nach – Schülerinnen und Schüler mit „besonderem Bildungsbedarf“ (SKBF 2014, 42) integrieren, sowie Gymnasien, die – exklusiv – leistungsstarke Schülerinnen und Schüler adressieren. In Bezug auf die Fachkultur wird der Unterricht in den selektionsrelevanten Fächern Deutsch und Mathematik mit zwei Videokameras erhoben. Im Sinne einer auf minimale und maximale Kontrastierung ausgerichteten Suchstrategie bezieht das o.g. Dissertationsprojekt zusätzlich das Fach Kunst ein. Dies geschieht vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Gewichtung der Fächer Mathematik und Deutsch (höhere Bedeutungszuschreibung hinsichtlich Leistung und Selektionsrelevanz) bzw. Kunst (geringere Bedeutungszuschreibung hinsichtlich Leistung und Selektionsrelevanz) auf der formalen bzw. auf der Ebene der schulorganisatorischen Regelungen der Sekundarstufe im untersuchten Feld. Damit wird das Ziel verfolgt, potenzielle fachspezifische Unterschiede in den ‚Leistungslogiken‘ methodisch kontrollierter herauszuarbeiten (vgl. Bohnsack 2010, S. 173ff.).
Im Folgenden werden zwei videographierte Unterrichtssequenzen aus dem Deutschunterricht einer ihrem Selbstverständnis nach integrativen[2] Sekundarschulklasse und einer gymnasialen Klasse ohne integratives Unterrichtskonzept vorgestellt. Zunächst wird die organisationale bzw. kontextuelle Verortung der jeweiligen Sequenz beschrieben. Dann erfolgt die Darstellung der Ergebnisse der Reflektierenden Interpretation in Bezug auf die Simultaneität (Fotogrammanalyse). Die Formulierende Interpretation der ausgewählten Fotogramme (vor-/ikonographische Interpretation) wird aus Platzgründen ausgespart. In die Reflektierende Fotogrammanalyse werden die in Kap. 1 eingeführten „Territorien des Selbst“ von Goffman (1982) als raumbezogene Analysekategorien einbezogen. Anschließend werden die Ergebnisse der Sequenzanalyse sowie die Gesamtinterpretation der jeweiligen Videosequenz dargestellt.
Die Videosequenz entstammt dem Deutschunterricht einer achten Schulklasse, die nach einem integrativen Konzept arbeitet. Die sechs Schülerinnen und elf Schüler im Alter von 14 und 15 Jahren sind unterschiedlichen Bildungsgängen zugeordnet, von denen der überwiegende Teil Bildungsgängen mit „allgemeinen“ und „erweiterten“ Leistungsansprüchen angehört, während zwei Schülerinnen und zwei Schüler einen „besonderen Bildungsbedarf“ haben (äquivalent zum „sonderpädagogischen Förderbedarf“ in Deutschland). Der Fachunterricht findet in zweiwöchigen Epochen statt, die jeweils in eine Einführungsphase, eine anschließende Wochenplanarbeit mit niveaudifferenzierten Aufgaben und eine Prüfungsphase gegliedert sind. Das Lehrpersonenteam besteht aus Fachlehrpersonen sowie zwei Schulischen Heilpädagoginnen (vergleichbar mit Sonderpädagoginnen und -pädagogen in Deutschland).
Die ausgewählte Videosequenz findet unmittelbar nach der Einführung in das Thema Verben und ihre Zeitformen durch die Deutschlehrerin, Frau Wyss, statt. Die Schülerinnen und Schüler erhalten die Aufgabe, ein Arbeitsblatt zum Thema zu bearbeiten. Die anwesenden Lehrpersonen, Frau Wyss, der Mathematiklehrer Herr Peters und die Schulische Heilpädagogin Frau Werner, bewegen sich im Laufe der Arbeitsphase durch den Klassenraum und wenden sich verschiedenen Schülerinnen und Schülern zu. In der ausgewählten Sequenz begibt sich Frau Wyss zu einer Gruppe männlicher Schüler am Gruppentisch in der Mitte des Raumes, an dem auch Herr Peters und Frau Werner neben zwei Schülern mit „besonderem Bildungsbedarf“ sitzen.
Die Gesamtsequenz lässt sich wiederum in fünf Untersequenzen (US) gliedern, von denen zwei parallel stattfinden (pUS):
Abbildung 1: Fotogramm Min 08:16
Das Fotogramm (s. Abb. 1) stammt aus der US 08:04-08:35 Emre war „Klassenbester“ im Deutschtest. Es wurde für eine tiefergehende Interpretation ausgewählt, da zum einen die körperlich-räumlichen Positionierungen der abgebildeten Personen als für die Gesamtsequenz repräsentativ angesehen werden können. Zum anderen bildet die raumeinnehmende Geste Emres – sein zurückgelehnter Oberkörper sowie seine oberhalb des Tisches ausgestreckten Arme – einen interaktiv dichten Moment, einen „Fokussierungsakt“ (Nentwig-Gesemann 2006, S. 28).
Der Gruppentisch im Zentrum des Klassenzimmers kann als die größte Box im Raum gelten. Die Schüler haben hier eine größere Fläche zur Verfügung, auf die sie sich verteilen können. Die physischen Begrenzungen stellen einzig die Tischkanten dar. Die unterschiedlichen Positionierungen der Schüler – und der Lehrpersonen – verweisen jedoch auf unterschiedlich große „persönliche Räume“ (ebd., S. 56) innerhalb dieser Box: Die Schüler an dem einen Ende des Tisches (unterer Bildrand) verteilen sich großflächiger am Tisch und haben dadurch einen größeren persönlichen Raum zur Verfügung, die Abstände zwischen ihnen sind relativ groß. Nur der freie Raum zwischen Arda und Fritz wird hier durch die Deutschlehrerin, Frau Wyss, beschnitten. Diese ragt außerdem in das Territorium der Schüler hinein, worin sich eine einseitige territoriale Übertretung dokumentiert, die sich zudem in dem ‚Besetzen’ des Territoriums mit ihren auf dem Tisch abgestützten Armen noch steigert. Mit Goffman (1982, S. 70) weist diese einseitige territoriale Übertretung und Besetzung auf die höhere soziale Position der Lehrerin im Klassengefüge hin. Gleichzeitig zeigt ihre stehende Körperhaltung eine eher temporäre Handlung an, i.S. eines ‚Kommen und Gehen‘. Die vier Schüler stehen hier also nur unter temporärer ‚Kontrolle’ durch die Lehrerin und haben dadurch insgesamt eher die Möglichkeit zur „Rollendistanz“ (Goffman 1972, S. 73ff.), also zur Distanzierung von der Schülerrolle bzw. den mit der Rolle verbundenen sozialen Identitäts- und Verhaltenserwartungen.
Emre unterscheidet sich körperlich aufgrund seiner aufrechten und gleichzeitig zurückgelehnten Körperhaltung sowie seiner expressiven Geste von der Mehrheit der abgebildeten Personen, die wiederum Körperkontakt mit den Tischen aufweisen und sich teilweise über diese beugen. Er ragt somit sowohl aus dem szenisch-choreographischen Gesamtbild heraus als auch über die Grenzen der Box hinaus. Seine Geste – die rechte Hand bildet eine Faust, der die Innenfläche der gespreizten linken Hand oben aufliegt – stellt keine im schulorganisationalen Kontext bekannte institutionalisierte Geste dar (wie z.B. das Aufzeigen im Unterricht). Ihrer Bedeutung lässt sich jedoch durch das Hinzuziehen externer Vergleichshorizonte (vgl. Hampl 2015) aus anderen kulturellen Kontexten näherkommen: Beispielsweise werden mit dieser Geste in Chile dem männlichen Interaktionspartner kleine Geschlechtsteile zugeschrieben; in Frankreich und in der Türkei hat sie eine sexuelle Konnotation (vgl. u.a. Clements/Meltzer Rady 2012, S. 10ff.). Vor diesem Hintergrund ließe sie sich als peerkulturelle, überwiegend männlich-vulgäre und sexuell aufgeladene Geste der Provokation und Hierarchisierung bzw. Degradierung deuten. Gleichzeitig zeigt sich, dass Emre momentan nicht mit dem Unterrichtsgegenstand befasst ist, sondern mit seinen Peers, insbesondere mit Fuat, in einer Interaktion steht, was die Möglichkeit zur Rollendistanz bzw. zur Distanznahme gegenüber dem Unterrichtsgegenstand eröffnet.
Demgegenüber haben die beiden Schüler am anderen Ende des Tisches, Cem und Basil, einen deutlich geringeren persönlichen Raum zur Verfügung, da dieser durch die beiden anderen Lehrpersonen, von denen sie flankiert werden, begrenzt wird. Die Positionierungen der beiden Lehrpersonen sind im Vergleich zur Deutschlehrerin auf Dauer gestellt. Cem und Basil sind hier also einer dauerhaften 1:1-Kontrolle unterworfen, die sich von der temporären 1:4-Kontrolle der anderen Schülergruppe unterscheidet. Im Vergleich mit der Schülergruppe wird deutlich, dass die enge Adressierung mit Einschränkungen von Freiheitsgraden einhergeht. So zeigen sich im Fall von Cem und Basil begrenzte Möglichkeiten zur Rollendistanz einerseits sowie zur Distanzierung zum Unterrichtsgegenstand andererseits, worauf ihre Köperhaltungen, die ein Arbeiten an den Arbeitsblättern anzeigen, hindeuten.
Weiterhin befinden sich Vierer- und auch einige Zweiertische im Klassenraum, die entlang der Wände bzw. der Fensterfront (Kontextwissen) aufgestellt sind. Sie stellen klar begrenzte Boxen dar, die den zur persönlichen Nutzung zur Verfügung stehenden Raum durch schmale Tische und Sichtschutzwände begrenzen. Im Vergleich zum Geschehen an dem großen Gruppentisch erfolgt hier jedoch keine direkte Kontrolle der Schülerinnen und Schüler durch die Lehrpersonen. Dadurch eröffnen sich diesen potenziell mehr Handlungsspielräume.
Ziehen wir nun weiteres Kontextwissen heran, so zeigt sich, dass hier die unterschiedliche Strukturiertheit und Nutzung des Raumes bzw. der Territorien mit dem formal zugewiesenen Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler korrespondiert: Während es sich bei der vorderen Schülergruppe am Gruppentisch sowie bei den Schülerinnen und Schülern außerhalb des Gruppentischs v.a. um solche handelt, die den leistungsstärkeren Bildungsgängen zugewiesen sind, handelt es sich bei den von den beiden Lehrpersonen flankierten Schülern – Cem und Basil – um diejenigen, denen ein „besonderer Bildungsbedarf“ attestiert wird. Es dokumentiert sich somit eine Hierarchisierung nach formaler Leistung, die Konsequenzen für die persönlichen Freiräume der Schülerinnen und Schüler nach sich zieht. Dabei sind die mit der Leistungshierarchisierung verbundenen Privilegierungen der formal Leistungsstärkeren sowie die Marginalisierungen der formal Leistungsschwächeren klassenöffentlich sichtbar.
Ferner dokumentiert sich eine geschlechterspezifische Nutzung der Boxen. Am zentralen Tisch in der Mitte sitzen ausschließlich männliche Schüler. Eine Ausnahme bildet der sichtbare Vierertisch an der Wand, an der eine Schülerin, Joana, neben einem Schüler sitzt.
Aufgrund des Umfangs der detaillierten vor-ikonographischen Beschreibung (Formulierende Interpretation) wird hier nur ein Auszug der Gesamtsequenz abgebildet. Die Transkription der verbalen Interaktionsanteile, die zum erleichterten Nachvollzug durch einen Wechsel der Schriftart kenntlich gemacht sind, basiert auf den Regeln des „TiQ“ („Talk in Qualitative Research“; Bohnsack 2010, S. 236).
Der Sequenzauszug beginnt, nachdem Emre einen mehr oder weniger verdeckten Versuch unternimmt, eine Interaktion mit Fuat zu initiieren, während dieser mit seinem Arbeitsblatt beschäftigt ist. Frau Wyss bemerkt dies und reagiert mit der Aufforderung an Emre, Fuat nicht „abzulenken“, da dieser die Aufgabe nun „begriffen“ hätte. Sie belehrt Emre, dass er später davon „profitieren“ könne.
Emre knüpft an den von Frau Wyss zuvor angedeuteten positiven Nutzen des ‚Nicht-Ablenkens’ für ihn an und weiht sie in eine offenbar regelwidrige peerkulturelle Praxis des Abkürzens von Aufgabenbearbeitungen ein: das Abfotografieren von erledigten Aufgaben und das Versenden dieser an die Mitschüler mit dem Smartphone via der Messaging-App „WhatsApp“. Die Deutschlehrerin lässt sich auf den eröffneten peerkulturellen Rahmen ein. Sie duldet die regelwidrige Praxis, knüpft die Tolerierung jedoch an gute formale Leistungen der Schüler. Einerseits dokumentiert sich darin eine Orientierung am Lern-Output in Form guter Testnoten, denen ein höherer Stellenwert gegenüber dem Lernprozess i.S. einer Bearbeitung von Aufgaben und der Aneignung damit verbundener Kompetenzen beigemessen wird. Andererseits führt die Output-Orientierung zur Duldung von Regelüberschreitungen bzw. zur Tolerierung der peerkulturellen Subversionen, solange diese von den formal leistungsstarken Schülern ausgehen. Damit wird eine hierarchische Statusstruktur unter den Schülerinnen und Schülern hergestellt, die mit unterschiedlichen Graden von zugesprochener Autonomie korrespondiert. Dies stellt eine Homologie zur Ebene des Fotogramms dar, in dem sich ebenfalls der Zusammenhang zwischen einer Hierarchisierung der Schülerinnen und Schüler nach ihrem formalen Leistungsstatus und der Erweiterung bzw. Einschränkung von Handlungsautonomie dokumentiert.
Im Sequenzverlauf erfolgt die hierarchisierte Statuszuweisung durch die Lehrerin zudem durch den Vergleich von Emres Leistung mit verschiedenen, ebenfalls hierarchisierten Bezugsgrößen: So wird Emres herausragende Leistung auf der Individual- (der Vergleich mit Fuat), der Intra- (er ist der „Klassenbeste“) sowie der Inter-Klassen-Ebene hervorgehoben. Letztere ergibt sich aus dem Vergleich mit den Leistungen der Parallelklasse („du bist eben glaube eins besser als ihr Klassenbester gewesen“), welche die gleichen Epochen durchläuft und in der dieselben Tests zur gleichen Zeit absolviert werden. Damit wird Emre als ‚absoluter Leistungserbringer’ gerahmt. Aufseiten der Schüler kommt es zu einer (Re-)Inszenierung des zugewiesenen Status des ‚Leistungsbesten’ durch Emre im ‚Wettkampf‘ um die bessere Note mit Fuat, was sich auf der korporierten Ebene in der peerkulturellen Geste Emres – das Schlagen der linken Hand auf die zur Faust geballte rechte Hand – dokumentiert. Die in der Fotogrammanalyse ansatzweise Interpretation der Geste kann nun spezifiziert werden: Im Kontext dieser Konkurrenzsituation stellt sie eine Art ‚Siegerpose’ dar, durch die Emre seine Überlegenheit gegenüber seinem Konkurrenten um die bessere Note in einer provokativ-degradierenden Weise zum Ausdruck bringt. Wie zudem in der Fotogrammanalyse herausgearbeitet, beansprucht Emre mit seiner raumeinehmenden Geste das größte Territorium für sich – eine Handlung, die auf die Behauptung eines höheren Sozialstatus verweist (vgl. Goffman 1982, S. 70). Dies kann auch im Kontext einer zeitlich vorausgegangenen Situation in derselben Unterrichtsstunde gelesen werden, in der Fuat von einigen Mitschülerinnen klassenöffentlich als besonders leistungsstark aufgrund seines bevorstehenden Wechsels ans Gymnasium gerahmt wurde, wovon sich andere männliche Schüler wiederum entschieden abgrenzten (vgl. Sturm/Wagner-Willi 2015). In beiden Sequenzen zeigt sich die in dieser Schulklasse geteilte Orientierung an einer sichtbaren Leistungshierarchisierung und einer damit einhergehenden (männlichen) Konkurrenz unter den Schülern.
Zusammenfassend zeigt sich eine Hierarchisierung der Schülerinnen und Schüler aufgrund formaler Leistungsbeurteilung v.a. durch die Zuschreibung eines ‚besonderen Bildungsbedarfs’ einerseits sowie ‚Leistungsstärke’ anhand guter Noten andererseits. Diese Hierarchisierung korrespondiert mit einer Erweiterung bzw. Einschränkung der Territorialität – genauer: der Erweiterung (bei den ‚Leistungsstarken’) bzw. Einschränkung (bei den ‚Leistungsschwächsten’) ihrer persönlichen Handlungsautonomie u.a. aufgrund einer körperlich-räumlich (und vermutlich auch sprachlich) dichten pädagogischen Betreuung der ‚Leistungsschwächsten’ im Gegensatz zu einer Duldung peerkultureller, regelwidriger Praktiken der ‚Leistungsstärksten’. Somit wird die Kompetenzzuschreibung, die auf die Leistungsregel zurückzuführen ist, auf andere Bereiche der Person übertragen – hier v.a. der persönliche Raum und die Handlungsautonomie –, so dass mit Garfinkel (1967, S. 205) von einer Konstruktion „totaler Identitäten“ gesprochen werden kann, wie sie von ihm in Bezug auf De- bzw. Gradierungszeremonien herausgearbeitet worden ist.
In der jüngsten Weiterentwicklung der Praxeologischen Wissenssoziologie bezeichnet Bohnsack (2017a, S. 251ff.) dieses komplexe Handlungsgefüge als machtstrukturierte Kommunikation bzw. Interaktion. In diesem Verständnis handelt es sich dann um Macht, „wenn das Handeln der Betroffenen einer weiteren codespezifischen Transformation unterzogen wird, indem die Fremdrahmung (...) auf die Konstruktion der (Gesamt-)Person, der (totalen) Identität der Entscheidungsbetroffenen übertragen wird. Die Fremdrahmung ist dann mit Moralisierungen, Pathologisierungen oder Zuschreibungen totaler (In-)Kompetenz verbunden, durch welche die Gesamtperson gebunden wird“ (ebd., S. 252). Eine weitere Bedingung für Macht im Bohnsack’schen Sinne stellt – auf Diskurs- bzw. verbaler Ebene – die Eliminierung bzw. Suspendierung von Metakommunikation durch die Machtausübenden dar. Als Äquivalent dazu gilt auf der korporierten Ebene die Einschränkung der Möglichkeit zur Rollendistanz (vgl. Bohnsack 2017b, S. 249). Im vorliegenden Fall steht die Erweiterung der Möglichkeit zur Rollendistanz bei den formal leistungsstärkeren Schülerinnen und Schülern der Einschränkung dieser bei den ‚leistungsschwächsten’ gegenüber. Diese Form der „strukturellen Invisibilisierung“ (Bohnsack 2017b, S. 246) trägt dazu bei, dass die Machtstruktur aufrechterhalten bleibt. Dies kontrastiert gegenüber der „vollkommenen Visibilisierung der Subordinierten“ (ebd.; Herv.i.O.), wie sie sich im vorliegenden Fall in der prominenten Positionierung der in die Machtstruktur involvierten Schülerinnen und Schüler im Klassenraum dokumentiert. Aufgrund der eingespielten Praktiken der Beteiligten zeigt sich, dass die durch den Leistungscode gerahmten Privilegierungen und Marginalisierungen einen konjunktiven Erfahrungsraum bzw. ein Unterrichtsmilieu konstituieren. Dieses Handlungsmuster ließ sich in homologer Weise in weiteren Analysen des Deutschunterrichts derselben Schulklasse rekonstruieren (vgl. u.a. Sturm/Wagner-Willi 2015; Wagener 2017). Dabei ist jedoch wichtig zu betonen, dass die machtbezogenen Konstruktionsleistungen nicht den Intentionen der Macht-Akteurinnen und -akteure, d.h. den Lehrpersonen, zuzurechnen sind. Als Teil eines konjunktiven Erfahrungsraums bleiben sie unter der Logik des Common Sense verborgen, der an die Unterstellung von Motiven gebunden ist (vgl. Bohnsack 2017b, S. 246). Die diskriminierende Struktur wird nicht wahrgenommen, da sie hinter der Orientierung an der leistungsbezogenen Unterstützung bzw. der ‚besonderen Förderung’ unsichtbar bleibt.
Die Videosequenz entstammt dem Deutschunterricht einer gymnasialen Klasse, die 19 Schülerinnen und Schüler der achten Jahrgangsstufe umfasst. Das Gymnasium verfolgt kein explizit inklusives Konzept und stellt einen hohen Leistungsanspruch an alle Schülerinnen und Schüler. Als ein wesentliches Anliegen beschreibt die Schule jedoch, ihrer multikulturellen Schülerschaft gerecht zu werden. Im Gegensatz zu der Wochenplanarbeit in der integrativen Schulklasse entspricht das Unterrichtskonzept den ‚klassischen’ fachgebundenen 45-Minuten-Einheiten, die vornehmlich als durch die Lehrperson gesteuerte Unterrichtsgespräche gestaltet werden, die wiederum durch Phasen der Individual- und Gruppenarbeit unterbrochen werden.
Die Sequenz findet gegen Ende einer Unterrichtseinheit mit der Thematik „Lyrik“ statt. Die Schülerinnen und Schüler erhielten den Auftrag, ein eigenes Gedicht zu schreiben. Nach Fertigstellung sollen sie ihre Gedichte auf farbige Papierbögen übertragen und an einer Schnur, die oberhalb des Lehrerpults gespannt wird, aufhängen. Das Gedicht von Giulia, eine Schülerin mit italienischer Herkunftssprache, beurteilt die Lehrerin als stark korrekturbedürftig, und es kommt zur gemeinsamen Überarbeitung am Lehrerpult. Währenddessen treten an das Pult immer wieder andere Schülerinnen und Schüler heran, die ihre Gedichte nach graduell positiver Beurteilung durch die Lehrerin an der Schnur aufhängen dürfen. Die Sequenz umfasst die Phase der Korrektur von Giulias Gedicht am Lehrerpult und lässt sich in folgende Untersequenzen gliedern:
Abbildung 2: Fotogramme Min. 04:34
Das erste Fotogrammpaar – bestehend aus zwei Kameraperspektiven (s. Abb. 2) – ist der längsten Untersequenz, US00:07-04:35 Fr. Lange und Giulia sitzen am Lehrerpult und sprechen über sprachliche Fehler und die Bedeutung von Formulierungen,
entnommen. Es kann insofern als repräsentativ für die Untersequenz erachtet werden, als dass Giulia und Frau Lange hier nebeneinander am Lehrerpult sitzen. Weiterhin bildet das linke Fotogramm den fokussierten Moment ab, in dem Frau Lange Giulias Arm berührt. Die Analyse fokussiert das linke Fotogramm; das rechte wird zur Einsichtnahme in die gesamträumliche Situation ergänzend einbezogen.
Um das Lehrerpult herum, das hier ebenfalls eine Box darstellt, befindet sich das Territorium der Lehrerin, das durch ihre persönlichen Gegenstände i.S. von Besitzterritorien, wie z.B. ihre Tasche, markiert wird. Oberhalb ihres Territoriums verläuft die gespannte Schnur. Damit befindet sie sich in dem direkten Kontroll- bzw. Zugriffsbereich der Lehrerin und ist gleichzeitig für alle Schülerinnen und Schüler sichtbar. Weiterhin lässt sich ein ‚Schüler-Territorium’ identifizieren, das durch die aufgereihten Tische begrenzt wird. Innerhalb dieses Territoriums stehen den Schülerinnen und Schülern wiederum jeweils kleinere Boxen zur Verfügung, die durch die Kanten der aneinandergereihten Tische sowie durch die Stühle markiert werden. Dabei zeigen sich unterschiedlich große räumliche Abstände zwischen den Beteiligten, die auf eine unterschiedliche Nutzung des Territoriums hinweisen: Schülerinnen und Schüler, die einzeln sitzen und größere räumliche Abstände zueinander haben, solche, die direkt nebeneinander sitzen, oder Schülerinnen und Schüler, die die eigene Box teilweise verlassen und mit anderen in Interaktion treten. Die Anwesenden im ‚Schüler-Territorium’ sind hier – analog zu den formal leistungsstärkeren Schülerinnen und Schülern in der Videosequenz ‚WhatsApp’ – keiner direkten Kontrolle durch die Lehrperson ausgesetzt und verfügen somit über größere persönliche Freiräume.
Im Kontrast dazu befindet sich die Schülerin Giulia im Territorium der Lehrerin. Dabei nimmt sie eine ambivalente Position ein: Einerseits hat ihre Platzierung an der Pultecke einen provisorischen Charakter. Andererseits verweist das Sitzen auf eine auf Dauer gestellte Handlung bzw. Interaktion. Letzteres kommt durch die Geste der Lehrerin fokussiert zum Ausdruck: Mit ihrer als platzanweisend deutbaren Geste – von oben berührt sie mit ihren Fingerspitzen Giulias Arm– hält sie die Schülerin in ihrem Territorium bzw. bindet sie daran.[3] Somit erscheint Giulias Handlungsspielraum im Vergleich zu den anderen Schülerinnen und Schülern stark eingeschränkt. Frau Langes Körperhaltung ist dabei ebenfalls ambivalent: Neben der körperlichen Grenzüberschreitung, durch die sie in Giulias persönlichen Raum eingreift, nimmt sie gleichzeitig durch den etwas zurückgelehnten Oberkörper Distanz gegenüber Giulia ein, worin sich eine partielle Zurücknahme bzw. Verdeckung des Übergriffs dokumentiert. Dabei sind die Handlungen am Lehrerpult aufgrund der frontalen Positionierung im Klassenraum potenziell für alle Schülerinnen und Schülern sichtbar.
Dies zeigt sich in gesteigertem Maße in der Anwesenheit Alexas, die offenbar darauf wartet, mit Frau Lange über ihr bereits auf farbiges Papier übertragenes Gedicht in Interaktion zu treten. Sie folgt damit den Anweisungen Frau Langes und zeigt ihre Bereitschaft, ihre Leistung und damit sich selbst sichtbar machen zu lassen. Weiterhin respektiert sie durch ihre geneigte Kopfhaltung sowie den verdeckten Papierbogen die Interaktion zwischen Frau Lange und Giulia, d.h. deren Gesprächsreservat, und wahrt ihnen gegenüber eine gewisse Diskretion. Gleichzeitig dokumentiert sich in ihrem geduldigen Warten auf die Sanktionierung ihres Produkts eine gewisse Spannung: Wird das Gedicht aufgehängt und damit – im doppelten Sinne – erhöht, oder nicht?
In der darauf folgenden Untersequenz, US04:35-06:28 Alexa und Emira zeigen Fr. Lange nacheinander ihre Gedichte und Alexa hängt ihr Gedicht an der Schnur auf, kommt es zu einem maximalen Kontrast in der szenischen Choreographie, die im zweiten Fotogrammpaar abgebildet ist (s. Abb. 3):
Abbildung 3: Fotogramme Min. 06:18
Die provisorische und diametral zum ‚Schüler-Territorium’ ausgerichtete Position Giulias am Lehrerpult hat sich nicht verändert. Ein Unterschied besteht jedoch darin, dass Giulia ein konzentriertes Arbeiten – vermutlich am eigenen Gedicht – erkennen lässt und die Interaktion mit Frau Lange unterbrochen ist. Dass Giulia die Arbeit am Lehrerpult ausführt, verweist erneut auf ihre auf Dauer gestellte Gebundenheit an das Territorium der Lehrerin bzw. ihre eingeschränkte Handlungsautonomie. Letzteres zeigt sich v.a. im Vergleich mit ihren Mitschülerinnen und -schülern im ‚Schüler-Territorium’, die teilweise miteinander in Interaktion stehen (s. rechtes Fotogramm).
Die Lehrerin kontrolliert wiederum die Aktivitäten in ihrem Territorium: Ihre räumliche Nähe zu Giulia deutet auf eine nur temporäre Unterbrechung der Interaktion hin, während sie gleichzeitig Alexas Handlung beobachtet. Das Aufhängen des fertigen Gedichts an der gespannten Schnur geschieht hier ebenso exponiert wie Giulias andauernde Bearbeitung ihres Gedichts am Lehrerpult. Damit wird die Differenz von ‚schneller’/‚langsamer’ bzw. ‚guter’/‚schlechter’ Aufgabenbearbeitung bzw. -erfüllung sowie die damit verbundene De-/Gradierung der jeweiligen Produzentin in einen öffentlichen, für alle Anwesenden sichtbaren Rahmen gestellt.
Es ergeben sich somit weitere Homologien zur Sequenz ‚WhatsApp’ der integrativen Sekundarschulklasse, die insbesondere die Konstruktion totaler Identitäten sowie die damit verbundene Machtstruktur betreffen: Auch hier wird die Beurteilung nach dem Leistungscode auf die Gesamtperson übertragen, indem die in der Hierarchie schlechter Gestellten – in diesem Fall Giulia – eine deutliche Einschränkung ihrer Handlungsautonomie im Vergleich zu den Leistungsstärkeren erfahren. Darüber hinaus zeigt sich eine Sichtbarmachung der von der Degradierung betroffenen Schülerin – aber auch der gradierten Schülerinnen und Schüler durch die öffentliche Ausstellung ihrer Gedichte. Demgegenüber bleiben die Konstruktionsleistungen der Lehrerin weitestgehend unsichtbar, was sich u.a. in ihrer ambivalenten Geste – der körperliche Übergriff, der zugleich zurückgenommen wird (s. Abb. 2) –, mit der sie Giulia in ihrem Territorium hält, dokumentiert.
Emira, die offenbar darauf wartet, mit Frau Lange in einen Austausch über ihr zum Aufhängen vorbereitetes Gedicht zu kommen und damit eine ähnliche Position wie Alexa in dem Fotogramm zuvor (s. Abb. 2) einnimmt, wahrt hier die Ordnungsregel der Reihenposition, die vorgibt, dass sie erst nach der Interaktion zwischen der Lehrerin und Alexa ‚an der Reihe’ ist. Dabei hält sie die Papierbögen sichtbar vor ihren Oberkörper – zwischen sich und Frau Lange –, was einerseits auf eine potentielle Initiierung einer Interaktion hindeutet, womit ein weiterer Aufschub der Interaktion zwischen Giulia und Frau Lange verbunden wäre. Andererseits lassen ihre Körperposition und Kopfhaltung eine Ausrichtung auf Alexas Handlung erkennen. Somit wäre auch denkbar, dass Emira darauf wartet, als Nächste ihren farbigen Papierbogen aufzuhängen. Beiden Fällen ist jedoch gemeinsam, dass sie die öffentliche Sichtbarmachung einer Leistungsdifferenz reproduziert.
Der Sequenzauszug stammt aus der US00:07-04:35 Fr. Lange und Giulia sitzen am Lehrerpult und sprechen über sprachliche Fehler und die Bedeutung von Formulierungen. Er beginnt, nachdem sich Giulia und Frau Lange, auf deren Anweisung hin, gemeinsam zum Lehrerpult begeben haben, um die Korrektur des Gedichts vorzunehmen. Im Unterschied zum vorangegangenen Videoskript (Kap. 3.1.2) folgt die feinsequenzielle Beschreibung bzw. Transkription hier der sprachlichen Dominanz der Interaktion. An den Stellen, an denen deutliche Veränderungen oder Steigerungen der interaktiven Dichte auf der korporierten Ebene zu beobachten sind, wird auch diese Ebene einbezogen und entsprechend kenntlich gemacht.
Frau Lange beginnt mit der Korrektur von Giulias Gedicht. Dabei erfolgt die Überarbeitung nicht nur in ihrem Territorium (s. Fotogrammanalyse), sondern ihr obliegt auch die schriftliche Veränderung des Gedichts. Dies impliziert einerseits, dass über die Korrektur bzw. Veränderung (zunächst) nicht diskursiv verhandelt werden kann. Verschärft wird dies dadurch, dass Frau Lange nicht öffentlich macht, was genau sie am Gedicht verändert. Somit wird Giulia die Bearbeitung des Produkts vollständig aus der Hand genommen und zu einem Objekt der Demonstration von Fehlerhaftigkeit gemacht. Zugleich ist dies ein Schritt zur Aberkennung von Kompetenz insgesamt, also der Übertragung der fehlerhaften Leistung auf die Gesamtperson, so dass es sich hier, homolog zur Fotogrammanalyse, um die Konstruktion einer „totalen Identität“ i.S. von Garfinkel (1967, S. 205) handelt. Weiterhin dokumentiert sich eine Rahmeninkongruenz, also eine Differenz der Orientierungsrahmen, bzgl. der Transformation des Gedichts: Während Frau Lange primär an einer Veränderung hin zu einer korrekten deutschen Syntax orientiert ist, geht es Giulia v.a. um die semantische Transformation ihres an der Erstsprache orientierten Gedichts in ein angemessenes (Schrift-)Deutsch. Im Kontext des kontinuierlichen Missverstehens auf der Ebene der Semantik ist auch die Aussage der Lehrerin, dass sie mehr Zeit für die Korrektur bräuchte, zu lesen: Sie weist hier implizit auf das Dilemma der doppelten Verfügbarkeit – dem Anspruch individueller Zuwendung gegenüber einer als unterstützungsbedürftig markierten Schülerin einerseits und der Verfügbarkeit für andere Schülerinnen und Schüler andererseits (was sich v.a. im zweiten Fotogramm zeigt; s. Abb. 3) – bei einer engen Zeitstruktur des Unterrichts hin. Die Inkongruenz wird während der gesamten Sequenz nicht aufgelöst. In diesem Zusammenhang tritt eine Ethnisierung Giulias durch Fr. Lange hinzu, indem sie die Schülerin als nicht-deutschsprachige bzw. nicht-schweizerdeutsche Schülerin bzw. ‚Dichterin’ identifiziert. Es wird hier deutlich, dass die Übertragung der Bewertung der syntaktischen und lexikalischen Unkorrektheiten in Giulias Gedicht von der Ebene des Produkts auf die Gesamtperson (im Sinne der Konstruktion einer totalen Identität) durch Elemente kulturell-milieuspezifischer Fremdheit bzw. Rahmeninkongruenz überlagert und potenziert wird. Das bedeutet, dass die von der unterrichts- und schulspezifischen Leistungsbewertung ausgehende Konstruktion der totalen Identität der ‚schlechten’ Schülerin als eine Basisstruktur des unterrichtlichen Erfahrungsraums der Organisation Schule sekundär überlagert und potenziert wird durch eine ethnisierende Konstruktion totaler Identität, die auf gesellschaftlicher Ebene angesiedelt ist.
Nach weiteren erfolglosen Versuchen der gegenseitigen Verständigung endet die Gesamtsequenz damit, dass Giulia Frau Lange fragt, ob sie ihr Gedicht „nicht so lassen [kann] wie [sie es] geschrieben habe“. Die Lehrerin hält dies für „eine gute Idee“ und willigt ein.
In den vorgestellten Videosequenzen aus dem Deutschunterricht einer integrativen Sekundarschulklasse und einer gymnasialen Klasse ohne integratives Konzept bildet die Beurteilung bzw. Hierarchisierung nach Leistung die primäre Rahmung. In beiden Fällen kommt es zu einer Übertragung dieser Rahmung auf die Gesamtperson der Betroffenen i.S. einer Marginalisierung der in der Leistungshierarchie Untergeordneten bzw. einer Privilegierung der Höhergestellten. Diese Privilegierungen und Marginalisierungen stehen in einem engen Zusammenhang mit einer differenten Zuweisung und Nutzung von Territorien. Dadurch werden Identitäten der/des ‚guten’ bzw. ‚schlechten’ Schülerin/Schülers performativ-räumlich hervorgebracht. In der Sequenz aus dem gymnasialen Deutschunterricht wird diese Machtstruktur durch eine zusätzliche Rahmung, der Ethnisierung einer Schülerin, erweitert. Leistung erscheint somit in beiden Fällen als zentraler schulisch-organisationaler Code, der die in die Schule hineinragenden konjunktiven Erfahrungsräume bzw. sozialen Milieus und Identitäten überlagert und – einem inklusionspädagogischen Verständnis folgend (vgl. Ainscow 2008) – ein schulformübergreifendes ‚Einfallstor’ für inkludierende und exkludierende Prozesse bildet. Damit lässt sich auch an die Überlegungen von Rabenstein et al. (2013, S. 675) anschließen, die Leistung als „leitende und übergreifende pädagogische Ordnung“ definieren, die andere Ordnungen, wie die „Geschlechter- oder Altersordnung“, umfasst.
Bisher zeigen weitere Analysen eine homologe (Macht-)Struktur über alle untersuchten Fächer (Deutsch, Mathematik, Kunst) der integrativen Sekundarschulklassen hinweg. Einen Kontrast bildet der Mathematikunterricht an den Gymnasien: Hier findet sich eine primäre Orientierung der Lehrpersonen an einem ‚sachbezogenen’ und reibungslosen Unterrichtsablauf, die mit einer weitestgehenden Enthaltung individueller, klassenöffentlicher Degradierungen einhergeht. Durch die ‚Versachlichung’ und Fokussierung auf den ‚Inhaltsaspekt’ wird die zu beurteilende Leistung nicht auf die Gesamtperson der Schülerinnen und Schüler übertragen bzw. mit der Konstruktion einer persönlichen oder sozialen Identität verknüpft. Es deuten sich damit fach- sowie schulformspezifische Besonderheiten bzw. Muster hinsichtlich (machtstrukturierter) ‚Leistungslogiken’ im Zusammenhang mit Inklusionen und Exklusionen im Unterricht an, denen in der o.g. Dissertation weiter nachgegangen wird.
Mit unseren methodologischen Überlegungen und empirischen Rekonstruktionen unterrichtlicher Situationen schließen wir an aktuelle Diskurslinien zur Verbindung von Raum- bzw. territorialen (Macht-)Verhältnissen in pädagogischen Kontexten an (vgl. Nugel 2016) und unterbreiten einen Vorschlag zur Bearbeitung des für die erziehungswissenschaftliche Raumforschung konstatierten Desiderats der „Entwicklung einer Forschungs- und Theorieperspektive (...), mit der nach den Bildungspotenzialen von gesellschaftlichen und insbesondere pädagogischen Raumverhältnissen im Hinblick auf darin verwobene Macht- und Subjektivierungspraktiken gefragt werden kann“ (ebd., S. 9). „Subjektivierungspraktiken“ verstehen wir dabei als Identitätskonstruktionen i.S. Goffmans (1973, 1980) und der in der Tradition der Ethnomethodologie stehenden Praxeologischen Wissenssoziologie (Garfinkel 1967; Bohnsack 2017b). In Bezug auf die Schulforschung wurde die Relevanz der „räumlichen Bedingungen und Effekte verschiedener Unterrichtsformen und -situationen“ (Breidenstein 2004, S. 104) sowie der raumbezogenen Praxis in ihrem Verhältnis zur „Gestaltung von Beziehungen“ (ebd, S. 104, Herv.i.O.) in Klassenräumen betont. Köpfer formuliert für die Inklusionspädagogik die empirisch zu klärende Fragestellung, wie „Raumordnungen im Kontext inklusiver Schul- und Unterrichtsentwicklung Bildung und Teilhabe evozieren, oder wie durch sie Behinderungserfahrungen produziert und manifestiert werden“ (2015, S. 83). Eine methodologisch auf die Kategorien der Territorien des Selbst (Goffman 1982) und den Begriff des konjunktiven Erfahrungsraums (Mannheim 1980) gestützte analytische Perspektive videobasierter Forschung eröffnet u.E. hierfür ertragreiche Potenziale, da sie sich nicht allein auf Prozesse der Exklusion und der Inklusion beschränkt, sondern zudem ihre relationalen Wechselwirkungen und die Zusammenhänge mit Differenzkonstruktionen und Macht(relationen) in pädagogischen Kontexten zu rekonstruieren vermag. Allerdings steht eine solche mikroanalytische und raumbezogene Schul- und Inklusionsforschung erst am Anfang.
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Wulf, Christoph/Göhlich, Michael/Zirfas, Jörg (Hrsg.) (2001): Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln. Weinheim, München: Juventa.
[2] Im untersuchten Feld wird offiziell der Begriff der Integration verwendet.
[3] Entgegen der methodischen Regeln soll an dieser Stelle ein Vorgriff auf die Sequenz erlaubt sein, auch deshalb, da diese in Kap. 3.2.2 aufgrund ihres Umfangs nur in Ausschnitten und ohne die im Fotogramm eingefangene Situation präsentiert werden kann: Nachdem Alexa an das Lehrerpult herantritt, gibt die Lehrerin Giulia den Handlungsauftrag, das Gedicht zu „studieren“, was im Schweizerdeutschen allgemein die tiefergehende Auseinandersetzung mit einer Sache bedeutet. Giulia rückt daraufhin mit ihrem Stuhl vom Pult zurück und wendet sich nach rechts um. Frau Lange führt dann die im Fotogramm abgebildete Geste aus und sagt dabei: „aber du- bleib hier bleib hier“. Giulia rückt daraufhin wieder an das Pult heran und stützt sich mit beiden Armen auf diesem ab. Es zeigt sich hier, dass Distanzierungsversuche der Schülerin unterbunden werden.