Abstract: Im vorliegenden Beitrag wird der Forschungsstand zur Quantitativen Forschung mit Jugendlichen mit Behinderungen beleuchtet, auf Entwicklungsbedarfe hingewiesen und schließlich eine Diskussion um die Möglichkeiten und Grenzen einer inklusiven Jugendforschung geführt.
Stichworte: Inklusive Jugendforschung; Qualitative Forschung; Methodologie
Inhaltsverzeichnis
Mit dem Begriff Jugendforschung werden unterschiedliche Assoziationen verbunden. Als Aufgabe von Jugendforschung kann gesehen werden, Jugendliche in ihrem Jugendlich-Sein zu verstehen, Bilder der „Jugend von heute“ zu zeichnen oder Jugendgenerationen vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels zu beschreiben. Implizit ist mit solchen Vorstellungen oft ein bestimmtes Verständnis von Homogenität oder Normalität verbunden. Es geht um „die Jugend“ (14. KJB). Jugendliche mit Behinderungen - wie auch andere Jugendliche in besonderen Lebenslagen, beispielsweise Jugendliche, die unter Bedingungen von Armut aufwachsen oder Jugendliche mit einer gleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierung - finden insbesondere in der quantitativen Jugendforschung oftmals wenig Beachtung (vgl. Gaupp &Lüders 2014; Schütz et al. i.E.). Bezogen speziell auf die Gruppe von Jugendlichen mit Behinderung kommt man dabei um eine skeptische Einschätzung nicht herum: Das Aufwachsen von Jugendlichen mit Behinderung in unserer Gesellschaft ist selten Thema von Jugendforschung. Auf eine Formel gebracht: Jugendforschung ist von einer inklusiven Perspektive (noch) weit entfernt.
Ist diese durchaus provokante These gerechtfertigt? Der folgende Beitrag versucht Antworten auf diese Frage zu finden. In einem ersten Schritt soll über einen Blick in existierende Forschung geklärt werden, welchen empirischen Stellenwert Jugendliche mit Behinderungen in der quantitativen Jugendforschung haben, in welchen Studien welche Formen inklusiver Perspektive vorhanden sind und wo sie fehlen[1]. Auszudifferenzieren sind dabei unterschiedliche Teilaspekte und Voraussetzungen einer Inklusion: Sind Jugendliche mit Behinderung in den Stichproben groß angelegter Jugendstudien vorhanden? Existieren die notwendigen methodischen Strategien, um diese Jugendlichen angemessen zu befragen? Werden Inhalte von Befragungen auf deren Lebenswelt angepasst oder werden etablierte Konzepte ungeprüft übernommen? Im zweiten Abschnitt wird erörtert, welche Entwicklungsbedarfe sich aus diesen Beobachtungen für die Jugendforschung ergeben und wie Jugendforschung auf diese reagieren kann. Wie können geeignete Stichprobenkonzepte und dazugehörige Feldzugänge aussehen? Was sind methodische Anforderungen, um Jugendliche mit Behinderungen in für sie passenden Kommunikationsmodi zu befragen? Welche Anpassungen sind nötig, um inhaltliche Überlegungen auf die Lebenswelt von Jugendlichen mit Behinderung abzustimmen? Der dritte Abschnitt des Textes diskutiert, welche Fortschritte, aber auch welche Grenzen und Widersprüchlichkeiten bei einer stärkeren inklusiven Ausrichtung der Jugendforschung zu erwarten sind. Zu fragen ist nach dem Verhältnis einer auf alle Jugendlichen bezogenen und einer auf Jugendliche mit Behinderungen bezogenen Jugendforschung und dadurch entstehende Passungsprobleme.
Drei Fragen entlang der Trias Stichproben, Methoden, Inhalte gliedern die Darstellung des aktuellen Forschungsstandes der (vorwiegend deutschsprachigen) Jugendforschung bezogen auf Jugendliche mit Behinderungen: Wer wird in Forschung einbezogen und wer nicht? Welche Verfahren und Instrumente werden angewendet? Welche Inhalte werden erhoben?
Offizielle Quellen zur Situation von Menschen mit Behinderungen, wie der Teilhabebericht der Bundesregierung (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS 2013) oder Artikel 31 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Belange behinderter Menschen 2010; BMAS 2011; auch Steinwede & Schröder 2017), weisen dezidiert auf eine unzureichende Datenlage und die Notwendigkeit von differenzierten Forschungsdaten zu Menschen mit Behinderungen hin. Angesichts der intensiven Debatten über die Vorstellung einer inklusiven Gesellschaft, über die Rechte von Menschen mit Behinderungen oder über inklusive Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Belange behinderter Menschen 2010; BMAS 2011; Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014) überrascht die geringe Zahl erziehungs- und sozialwissenschaftlicher Studien zu Lebenslagen und Lebensführung Jugendlicher mit Behinderungen. Der im Jahr 2017 in Auftrag gegebene Bundesteilhabesurvey (vgl. BMAS 2017) löst dieses Problem nur bedingt. Zum einen beginnt seine Stichprobe erst ab 16 Jahren, zum anderen orientieren sich die erhobenen Inhalte (z.B. Arbeit und Beschäftigung, ökonomische Situation und materielle Sicherheit) eher an der Lebenswelt von Erwachsenen als an der von Jugendlichen.
Werden Menschen mit Behinderungen über quantitative Verfahren selbst befragt, finden hierzu unterschiedliche standardisierte Fragebögen und Instrumente Anwendung (für einen Überblick Markesich 2008; Mitchell, Ciemnecki, Cybulski & Markesich 2006). Die Anpassung auf die, durch die Behinderung gegebenen Einschränkungen aber auch Möglichkeiten der Befragten erfolgt dabei meist über zwei Strategien. Einerseits über eine Anpassung des formalen Präsentationsmodus des Instruments entsprechend den zur Verfügung stehenden Kommunikationswegen (z.B. das Vorlesen von schriftlichen Fragebögen für Blinde, die Übersetzung von Fragebögen in Gebärdenvideos für Gehörlose oder eine Vereinfachung von mechanischen Eingabemöglichkeiten für Körperbehinderte; vgl. z.B. Brauer 1993; Caspers 2011; Cohen & Jones 1990; Cybulski & Ciemnecki 2002; Eschenhagen 2008; Gerich, Lehner, Fellinger & Holzinger 2003; Margellos-Anast, Hedding, Perlman, Miller, Rodger, Kivland, Degutis, Giloth & Whitman 2005), andererseits über eine inhaltliche Anpassung an die kognitiven Fähigkeiten von Befragten v.a. mit sog. geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen (z.B. Kürzung der Inhalte, besondere optische Gestaltung des Fragebogens, Übersetzung von Fragebögen in leichte/einfache Sprache[2], verstärkte Verwendung nichtsprachlicher Zeichen, Symbole und Bilder, Vermeidung abstrakter und stattdessen Verwendung konkreter Frageinhalte (vgl. z.B. Cardone 1999; Ciemnecki & Cybulski 2007; Gromann & Niehoff 2003; Schröttle & Hornberg 2013; Sigelman & Budd 1986; Carawan & Nalawany 2010).
Viele Studien konzentrieren sich auf eine bestimmte Form von Behinderung, indem sie z.B. speziell Menschen mit sog. geistiger Behinderung befragen. Empirische Projekte, die Menschen mit unterschiedlichen Behinderungsarten einbeziehen und dementsprechend auf diese Vielfalt hin konzipierte Erhebungsinstrumente verwenden, sind selten (z.B. Caspers 2011; Deutsches Studentenwerk 2012; Hagen 2002; Heiden 2010; Leitner & Baldaszti 2008; Rechberg, Hinkl, König & Maiwald 2010).
Forschungsvorhaben im Kontext von Behinderung mit einer expliziten methodenkritischen Reflexion oder methodologisch orientierte Arbeiten zu quantitativen Befragungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen mit dem Ziel einer Methodenforschung und -entwicklung sind im deutschsprachigen Raum erst in Ansätzen zu finden, im internationalen Kontext bereits weiter entwickelt (z.B. Ball, Russell, Seymour, Primrose & Garratt2001; Dworschak 2004; Fang, Fleck, Green, McVilly, Hao, Tan, Fu & Power 2011; Finlay & Lyons 2001; Gerich et al. 2003; Germain 2004; Hartley & MacLean 2006; Lohrmann-O`Rourke & Bowder 1998; Matikka & Vesala 1997; Mileviciute & Hartley 2013; Perry & Felce 2002; Rechberg 2010; Schäfers 2009; Schröttle & Hornberg 2013; Wroblenski 2009; Überblicksbeiträge z.B. Buchner & König 2008; Janz & Terfloth 2009; Kroll, Keer, Placek & Cyril. 2007; Markesich 2008; Mitchell et al. 2006). Exemplarisch seien Arbeiten genannt, die Antworttendenzen (wie Akquieszenz oder Beeinflussbarkeit im Antwortverhalten) insbesondere bei der Befragung von Menschen mit sog. geistiger Behinderung und daraus resultierende Konsequenzen für die Konstruktion von Fragebögen untersuchen (z.B. Finlay & Lyons 2002; Niediek 2016; Robinson & McGuire 2006; Schäfers 2009). Viele dieser methodischen Arbeiten beziehen sich allerdings auf erwachsene Personen. Methodische Kompendien oder Lehrbücher zu quantitativen Befragungen von Menschen mit Behinderungen fehlen bislang.
Befragungen von Jugendlichen mit Behinderungen aus der Sonder- oder Behindertenpädagogik untersuchen häufig Fragen nach behinderungsbedingten Unterstützungs- und Förderbedarfen und entsprechenden Förderstrategien. Sonderpädagogische Forschungsvorhaben zur Lebenswelt und Alltagsgestaltung von Jugendlichen mit Behinderung sind demgegenüber weniger prominent. Auch empirische Arbeiten, die auf Befragungen von Jugendlichen beruhen und deren Lebenslagen und Lebensführung beschreiben, sind bis dato eher selten (Aschhoff & Voigt 2004, 2006; Badia, Orgaz, Verdugo & Ullan 2013; Finch, Lawton, Williams & Sloper 2001; Salmon 2013; Valentin & Fischer 2008). Bei vorhandenen Veröffentlichungen zu diesem Thema handelt es sich häufig um konzeptionelle oder an der Fachpraxis ausgerichtete Texte, die z.B. Fragen der pädagogischen Freizeitgestaltung von Menschen mit Behinderung untersuchen (Dortmunder Zentrum Behinderung und Studium 2008; Ebert 2000; Markowetz 2009, 2014; Markowetz & Cloerkes 2000; Stoffers 2009).
Der skizzierte Stand der Forschung impliziert Entwicklungsbedarfe für die Jugendforschung, wenn diese Jugendlichen mit Behinderungen künftig als selbstverständliche Adressat_innen von Jugendforschungsprojekten verstehen will. Die Entwicklungsbedarfe beziehen sich dabei wiederum auf die drei Ebenen der Stichproben, Erhebungsverfahren und Inhalte. Es müssen Forschungsstrategien bereitstehen, die Jugendliche mit sog. Behinderungen nicht a priori aus Forschungsprozessen exkludieren, sondern auf ihre Möglichkeiten und Bedarfe eingehen. Ziel muss sein, künftig geeignete Stichprobenkonzepte und Erhebungsinstrumente für die Befragung von Jugendlichen mit Behinderungen zur Verfügung zu haben, um im Rahmen der Jugendforschung auch Fragestellungen jenseits von Förder- und Unterstützungsbedarfen einerseits und der Beschulung in inklusiven Bildungsangeboten andererseits methodisch angemessen untersuchen zu können.
Grundsätzlich kann sich Forschung auf einzelne Gruppen, aber auch auf eine gedachte Gesamtheit aller Jugendlichen mit Behinderungen beziehen. Neben der Reichweite der zu erzielenden Forschungsergebnisse ist mit der bzw. den anvisierten Stichprobe(n) unmittelbar die Frage nach den Zugängen verbunden. Für Befragungen von Jugendlichen mit Behinderungen bieten sich verschiedene Zugänge mit jeweils spezifischen Vor- und Nachteilen an. Hierzu gehören Einrichtungen der Behindertenhilfe für junge Menschen (z.B. Wohnheime und Arbeitsstätten), Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, Schulen für Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf oder Adressen von Versorgungsämtern (dort erfolgt die Feststellung einer anerkannten Schwerbehinderung) sowie Schulämtern (dort erfolgt die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs).
Mit den unterschiedlichen Zugängen sind je spezifische Implikationen für die Erreichbarkeit bestimmter Gruppen verbunden, z.B. ob ausschließlich Jugendliche mit einer Behinderungsdiagnose oder anerkannten Schwerbehinderung oder auch nicht bei den Eltern lebende Jugendliche erreicht werden können. Über Wohneinrichtungen für Behinderte erhält man Zugang zu einer stark ausgewählten Gruppe Jugendlicher, die über eine Behinderungsdiagnose verfügen, teils einen hohen Unterstützungs- und Förderbedarf aufweisen und zudem nicht von den eigenen Eltern betreut werden. Jugendliche mit einem geringeren Grad an Beeinträchtigung bleiben so unberücksichtigt. Der Zugang über Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe führt ebenfalls zu einer (in diesem Fall positiven) Verzerrung, da nur solche Jugendliche befragt werden können, die über ein Mindestmaß an Selbstständigkeit verfügen und an solchen Angeboten teilnehmen können. Förderschulen der unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderschwerpunkte bieten Zugang zu einer großen Bandbreite von Jugendlichen mit unterschiedlichen Formen und Graden an Beeinträchtigungen. Allerdings fehlen in dieser Variante Jugendliche, die inklusiv in Regelschulen beschult werden oder bei denen die Schulpflicht ruht. Für die Gruppe der älteren Jugendlichen müssen ggfs. berufliche Schulen zur sonderpädagogischen Förderung einbezogen werden. Jugendliche mit einer anerkannten Schwerbehinderung sind über Adressen von Versorgungsämtern zu identifizieren. Neben inhaltlichen Uneindeutigkeiten (wie beim Vorliegen eines temporären Schwerbehindertenstatus nach Erkrankung oder die Frage der Aussagekraft des festgestellten Grades einer Schwerbehinderung) stellen sich bei einer solchen Stichprobenziehung vor allem organisatorische und datenschutzrechtliche Fragen. Über Schulämter und deren Adressen sind Adressstichproben von Jugendlichen realisierbar, bei denen ein Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs eingeleitet wurde. Um Jugendliche mit unterschiedlichen Graden an Beeinträchtigungen zu erreichen, sollten in dieser Variante nicht nur Jugendliche, bei denen ein Förderbedarf festgestellt wurde, sondern auch Jugendliche, bei denen dieser nicht diagnostiziert wurde, in die entsprechenden Stichproben aufgenommen werden. In Abhängigkeit der Zugangswege sind entweder ausschließlich Einzelbefragungen oder auch Gruppenbefragungen (z.B. im Klassenverband) möglich.
Die verschiedenen Zugangsvarianten sind jenseits der zu erreichenden Gruppen von Jugendlichen mit weiteren Konsequenzen verbunden. Auf der organisatorischen Ebene stellen sich vor allem Fragen nach notwendigen Genehmigungsverfahren (etwa durch die Kultusministerien bzw. Schulaufsichtsbehörden). Auch müssen kostenbezogene, forschungsökonomische Überlegungen bedacht werden. Schließlich differieren datenschutzrechtliche und forschungsethische Gesichtspunkte nach den institutionellen Kontexten. Letztere sind in besonderer Weise bedeutsam, wenn minderjährige Jugendliche befragt werden sollen, die u.U. kein vollständiges Verständnis der Inhalte und Ziele einer Befragung haben können.
Die je spezifischen Vor- und Nachteile bzw. Möglichkeiten und Restriktionen verschiedener Zugänge müssen im Vorfeld empirischer Erhebungen sorgsam abgewogen werden und idealerweise mit relevanten Akteuren und Trägern, z.B. der Behindertenhilfe, der Kinder- und Jugendhilfe, der Schul- bzw. Kultusverwaltung oder den Landesversorgungsämtern diskutiert werden. Besteht nur wenig systematisches, empirisch gesichertes Wissen über die Umsetzbarkeit sowie die resultierenden Stichproben der unterschiedlichen Zugangskonzepte, müssen diese empirisch erprobt und getestet werden. Systematische Vergleiche verschiedener Zugänge können wertvolles Wissen darüber generieren, welche Jugendlichen über welchen Zugang erreicht werden können und welche nicht und wie ähnlich oder unähnlich sich damit die resultierenden Stichproben bei verschiedenen Zugangsvarianten sind.
Bei Erhebungen muss dabei ein besonderes Augenmerk auf Unterschiedlichkeiten innerhalb der Gruppe von Jugendlichen mit Behinderungen liegen. So haben Jugendliche mit Sinnesbehinderung (wie blinde, sehbehinderte, taube und schwerhörige Jugendliche), körperlicher Behinderung, Lernbeeinträchtigung oder sog. geistiger Behinderung, psychischer/seelischer Behinderung, mit Sprachbehinderung oder Jugendliche mit Mehrfachbehinderungen jeweils andere Möglichkeiten, aber auch Einschränkungen bei der Beteiligung an empirischen Erhebungen. Dies impliziert einen hohen Differenzierungsanspruch bei der Entwicklung von Befragungsmethoden. Notwendig sind damit Instrumente, die ein interessierendes Thema in verschiedenen Kommunikationsmodi und sprachlichen Niveaus operationalisieren können. Es können dabei drei Dimensionen unterschieden werden:
- Kommunikation: Kommunikationsweg (z.B. schriftlich/optisch, schriftlich/haptisch, mündlich/akustisch) und Sprache (z.B. Lautsprache, Gebärdensprache) und Schriftformen (Schwarzschrift, Braille-/Punktschrift)
- Schwierigkeitsgrad: Sprachniveau (reguläre, leichte, einfache Sprache), Umfang des Instruments und Komplexität der Inhalte, Frage- und Antwortformate
- Erhebungssituation: Präsentationsmodus (face-to-face, telefonisch, paper-pencil, online) und Autonomie der Beantwortung (selbstständig, assistiert, stellvertretend)
Für Jugendliche mit Sprach- oder Sinnesbeeinträchtigungen (z.B. sehbehinderte, blinde, schwerhörige, taube, nicht sprechende Jugendliche) ist wesentlich, einen passenden Sprachmodus und Kommunikationsweg zu finden. Dies bedeutet unter anderem, Befragungsinstrumente schriftlich, mündlich, in Braille-Schrift oder in Gebärdensprache zur Verfügung zu stellen. Für Jugendliche mit einer sog. geistigen, Lern- oder evtl. psychischen Beeinträchtigung ist neben der formalen besonders die inhaltliche Gestaltung von Erhebungsinstrumenten von Bedeutung. Durch unterschiedliche Sprachniveaus, Umfänge und Komplexität von Erhebungsinstrumenten sowie eine gezielte Gestaltung der Erhebungssituation (z.B. Gesprächsführung, Orte der Erhebung, Pausen), kann auf individuelle Bedürfnisse von Jugendlichen in der Bearbeitung von Fragen eingegangen werden. Bezogen auf die Eigenständigkeit der Beantwortung von Befragungen wird meist die autonome Beantwortung durch die Jugendlichen selbst als Ziel formuliert. Ist dies jedoch in bestimmten Fällen nicht möglich, wird eine assistierte oder stellvertretende Beantwortung notwendig. Assistenzen können, z.B. bei körperlichen Einschränkungen, eine rein formale Übersetzungsfunktion haben, indem sie die Eingabe der Antworten der Jugendlichen, etwa über eine Tastatur, übernehmen. Bei sog. geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen kann eine Assistenz u.U. aber auch inhaltliche Hilfestellungen beispielsweise beim Verständnis von Fragen leisten. Eine stellvertretende Beantwortung im Sinne von Proxy-Interviews wird meist als „ultima ratio“ gesehen, da hier noch stärker als bei Assistenzen Fragen nach Vertraulichkeit und Anonymität der Erhebung auftauchen. Assistenz wie Stellvertretung stellen soziale Konstellationen dar, die gerade die Beantwortung von persönlichen, jugendtypischen Fragen beispielsweise nach Wünschen bezogen auf Partnerschaft beeinflussen können.
Bei der Neu- oder Weiterentwicklung von Erhebungsinstrumenten zur Befragung von Jugendlichen mit Behinderung und der Gestaltung der Erhebungssituationen ist damit insbesondere auf vier Aspekte zu achten: Ein erstes Kriterium ist die Handhabbarkeit eines Instruments für Jugendliche mit Behinderung und die damit verbundenen Möglichkeiten und Grenzen der Beteiligung an empirischen Erhebungen. Anhand methodischer Indikatoren wie Bearbeitungsdauer, Antwortmustern, Missings oder Skalenkennwerten lassen sich Aussagen zur Datengüte in unterschiedlichen Befragungsvarianten treffen. Auch mögliche Effekte assistierter Beantwortung in Anwesenheit unterschiedlicher Assistenzpersonen (wie Interviewer_innen, Freunde, professionelle Assistenzpersonen) lassen sich unter den Aspekt der Datenqualität fassen. Präferenzen Jugendlicher für bestimmte Modalitäten fallen schließlich ebenfalls unter den Maßstab der Handhabbarkeit.
Das zweite Kriterium bezieht sich auf allgemeine Kriterien der quantitativen Fragebogenkonstruktion wie die Verwendung disjunkter und erschöpfender Antwortkategorien oder die Vermeidung hypothetischer Fragen (vgl. z.B. Diekmann 2009; Kirchhoff, Kuhnt & Lipp 2008; Mummendey & Grau 2008; Porst 2009; Schnell, Hill & Esser 2011). Ein besonderes Augenmerk ist hier auf die Gestaltung von Skalen zu legen. Zur Frage der Effekte der Differenzierung von Skalen bzw. Anzahl an Skalenpunkten oder der verbalen oder bildlichen Benennung oder farblichen Gestaltung von Skalenpunkten in unterschiedlichen Kommunikationsmodi liegen bislang kaum Untersuchungen vor (Ausnahme z.B. Höcker 2010; Übersicht siehe z.B. Menold & Bogner 2015). Gleiches gilt für Analysen zu Vorteilen, aber auch Grenzen von Fragebögen in leichter Sprache.
Ein drittes Kriterium fragt – in der gedanklichen Logik von Methodenvergleichen bzw. der Prüfung von Methodeneffekten – nach der Vergleichbarkeit unterschiedlicher Befragungsmodi untereinander. Es ist empirisch zu prüfen, ob interessierende Inhalte über unterschiedliche Varianten eines Instruments zumindest annähernd vergleichbar und damit standardisiert erhoben werden können oder ob sich deutliche Effekte unterschiedlicher Erhebungsvarianten auf das Antwortverhalten von befragten Personen finden (z.B. Kreuzer, Görgen, Römer-Klees & Schneider 1992; Petersen 2000; Reuband & Blasius 1996; Schulte 2000). Unterscheiden sich die resultierenden Antworten Jugendlicher in unterschiedlichen Varianten eines Instruments nur geringfügig, so können unterschiedliche Erhebungsmodi als untereinander vergleichbar angesehen werden. Eine ähnliche Fragestellung wird auch bei Übersetzungen von Fragebögen in verschiedene Sprachen bei internationalen Forschungsprojekten verfolgt (z.B. Behr 2009; Herdman, Fox-Rushby & Badia 1997; Schwantner & Schreiner 2013).
Als viertes Kriterium kann die Passung zur (zumindest näherungsweisen) Anschlussfähigkeit an Standardinstrumente der quantitativen Jugend- bzw. Sozialforschung genannt werden. Um Ergebnisse von spezifischen Studien mit Jugendlichen mit Behinderungen mit sogenannten „allgemeinen“ Jugendstudien in Beziehung setzen zu können, ist es notwendig, Wissen über die Vergleichbarkeit bzw. Unterschiedlichkeit der jeweiligen Erhebungsstrategien zu haben.
Weitere Kriterien beziehen sich beispielsweise auf Fragen nach der Durchführungsobjektivität bzw. nach Abweichungen von dieser sowie die Frage, welche Kompetenzen Interviewer_innen im Umgang mit spezifischen Instrumenten und in der Kommunikation mit Jugendlichen mit Behinderungen benötigen und wie daraufhin entsprechende Interviewerschulungen gestaltet sein müssen. Zur Prüfung dieser Kriterien können unterschiedliche Verfahren von Fragebogen-Pretests, wie z.B. Gruppendiskussionen oder Verfahren des multi-method-pretesting, Methodenvergleiche oder methodenkritische Auswertungen von Antworten zum Einsatz kommen (vgl. z.B. Prüfer & Rexroth 1996, 2000, 2005). Das Behavioral Coding, bei dem u.a. das Verhalten der befragten Person während der Befragung eingeschätzt und codiert wird, stellt dabei geringe Anforderungen an die befragten Personen (Prüfer & Rexroth 1996) und eignet sich daher auch für Personen mit kognitiven Einschränkungen.
Als Zwischenfazit aus den Betrachtungen zum Forschungsstand zeigt sich, dass Jugendliche mit Behinderungen in der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung selten Gegenstand empirischer Untersuchungen sind, dass methodische Diskussionen zu angemessenen Befragungsformen erst im Entstehen sind und dass auf der inhaltlichen Ebene die spezifischen Aufwachsensbedingungen dieser Jugendlichen nur selten Niederschlag finden. Korrespondierend beziehen sich die beschriebenen Entwicklungsbedarfe auf Stichprobenkonzepte und die dazugehörigen Feldzugänge, auf ‚behinderungssensible‘ Erhebungsmethoden sowie auf inhaltliche Spezifizierungen und Anpassungen.
Wo liegen nun die zu erwartenden Erträge einer stärkeren inklusiven Ausrichtung innerhalb v.a. der quantitativen Jugendforschung? Ein erster Ertrag kann in der Vermeidung bzw. Verringerung der Exklusion von Jugendlichen mit Behinderungen aus empirischen Forschungszusammenhängen gesehen werden. Sind die entsprechenden methodischen und inhaltlichen Voraussetzungen gegeben, verhindern nicht vordergründige Hemmnisse die Beteiligung von Jugendlichen mit Behinderungen an Jugendforschungsprojekten. Positiv formuliert hat diese gesellschaftliche Gruppe so die Chance, systematisch an sozialwissenschaftlichen Erhebungen beteiligt zu sein. So wird beispielsweise eine jugendsoziologische Deskription und gesellschaftliche Einordnung der Teilhabechancen von Jugendlichen mit Behinderungen an Alltags- und Freizeitkontexten möglich und (potentielle) Unterstützungs- und Förderbedarfe dieser Jugendlichen können erkennbar werden (Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe 2012; Bundesjugendkuratorium 2012; Loeken 2013; Voigts 2012). Für die auf Repräsentativität zielende Surveyforschung kann zudem ein Gewinn darin bestehen, dass ihr empirisches Abbild der Gesellschaft als Ganzes durch die Beteiligung unterrepräsentierter Gruppen vollständiger und differenzierter wird (Hasnain, Shpigelman, Scott, Gunderson, Rangin, Oberoi & McKeever 2015).
Ein zweiter möglicher Nutzen liegt in einer gedanklichen Rückwärtswendung. Erhebungsmethoden, die sich an den Möglichkeiten von Jugendlichen mit Behinderungen orientieren, können auch für Jugendliche ohne Behinderung die Bearbeitung von Fragebögen und anderen Befragungsinstrumenten erleichtern. So kann ein Fragebogen in Großdruck oder freier optischer Skalierbarkeit für Jugendliche mit eingeschränkter Sehfähigkeit eine enorme Erleichterung darstellen. Ein Fragebogen, der auf anspruchsvolle Skalierungen, komplizierte Sprache und große Erhebungsumfänge verzichtet, kann alle Jugendlichen entlasten und motivieren. Ein per Screenreader vorgelesener Online-Fragebogen kann beispielsweise für Jugendliche mit geringeren Lesekompetenzen eine Entlastung darstellen.
Ein dritter potentieller Fortschritt kann in einer gestärkten Aufmerksamkeit für die grundsätzlichen Prinzipien der Fragebogenkonstruktion gesehen werden. Die Erstellung von Erhebungsinstrumenten gehört zum wissenschaftlichen Handwerkszeug. Oftmals sind dabei gewohnheitsmäßige und bewährte Routinen nützliche Leitplanken. Analysen zu Skalenqualitäten und Reliabilitäten stellen weitere Kriterien dar. Mit einer neuen, spezifischen Aufmerksamkeit auf die Passung zwischen dem Frageprogramm auf der einen Seite und der Lebenswelt von Jugendlichen auf der anderen Seite, kann die Chance entstehen, Erhebungsinstrumente nochmals auf ihre ‚Jugendorientierung‘ hin zu überprüfen. In Anlehnung an pädagogische Begrifflichkeiten könnte eine solche Haltung als ‚Adressatenorientierung‘ in der Fragebogenkonstruktion thematisiert werden (vgl. auch Porst 2000).
Eine stärkere Ausrichtung von Jugendforschung auf Jugendliche mit Behinderungen ist allerdings auch mit möglichen Risiken, Widersprüchen und Grenzen verbunden. Ein erster Kritikpunkt bezieht sich darauf, dass mit dem Fokus auf die Spezifik der Lebenssituation von Jugendlichen mit Behinderung das Moment von Unterschiedlichkeit (zu) stark betont wird. Jugendliche mit Behinderung sind zunächst und in erster Linie Jugendliche wie alle anderen auch. Mit der Betonung ihrer Behinderung und damit von Unterschieden steht implizit immer die Frage nach einer Abweichung von einer wie auch immer verstandenen Normalität im Raum. Das Risiko einer Festschreibung von Unterschiedlichkeit im Sinne von ‚anders‘ oder ‚abweichend‘ oder als nicht zu einer Selbstverständlichkeit und Normalität gehörend ist nicht von der Hand zu weisen (z.B. Walgenbach 2014; Zipperle et al. 2016).
Eine zweite mögliche Gefahr besteht in einer Übergeneralisierung des Anspruches an Differenzierung im konkreten Forschungshandeln. Der Anspruch, parallel alle denkbaren Differenzdimensionen (wie Gender, Migration, Behinderung, Armut usw.) in Stichprobenkonzepten, Erhebungsmethoden und Inhalten gleichzeitig zu beachten, führt schnell an seine Grenzen. Hier mag sich das Konzept der Intersektionalität, also das Ineinandergreifen oder -wirken unterschiedlicher Differenz- bzw. Ungleichheitskategorien als Lösung anbieten, es birgt aber die Gefahr einer zu hohen Komplexität des Forschungsprozesses. Aus Unübersichtlichkeit kann Verunsicherung und Überforderung bei Forschenden wie bei Adressat_innen der Forschungsergebnisse entstehen.
Zuletzt sei nun ein vorsichtiger Blick in die Zukunft gewagt. Mit ihren gruppen- und themenbezogenen Fragestellungen ergänzen spezifische Studien eine allgemeine, auf die Gesamtheit aller Jugendlichen ausgerichtete Jugendforschung. Letztendlich wird die Diskussion dahin gehen (müssen), das Nebeneinander einer diversitätsorientierten und allgemeinen Jugendforschung zu überwinden und Wege einer Integration der beiden Forschungsperspektiven zu suchen. Als Zwischenschritt auf diesem Weg kann vielleicht ein komplementärer Prozess gesehen werden. Die allgemeine Jugendforschung kann von der Aufmerksamkeit für die Unterschiedlichkeit der Lebenslagen von Jugendlichen profitieren, gruppenbezogene Jugendforschung kann an Erfahrungen der allgemeinen Jugendforschung (beispielsweise bezogen auf Fragen der Stichprobengewinnung oder der Generalisierbarkeit von Forschungsergebnissen) partizipieren. Das Verhältnis der beiden Forschungsperspektiven gilt es situativ auszuhandeln. Ambivalenzen und Widersprüche tragen dabei durchaus ein Anregungspotential zur Weiterentwicklung von Forschung in sich.
[2] Texte in leichter Sprache wenden sich an Menschen, die fast gar nicht lesen können. Leichte Sprache erkennt man an sehr einfachen Worten und kurzen Sätzen. Einfache Sprache liegt näher an der Standardsprache und wendet sich an Menschen mit niedrigen Lesefähigkeiten. Texte in einfacher Sprache vermeiden Fremdwörter, Sätze sind meist nicht länger als 15 Wörter und in einem Satz steht höchstens ein Komma (vgl. z.B. BMAS 2014; Bundesvereinigung Lebenshilfe Bremen 2013; Klippstein 2012).