Hendrik Trescher, Teresa Hauck:Raum und Inklusion. Zu einem relationalen Verhältnis

Abstract: Raum wird in Aneignungspraxen durch Subjekte hervorgebracht, während diese in einem Verhältnis wechselseitiger Gleichzeitigkeit als ‚Aneignungssubjekte‘ subjektiviert werden. Menschen, die als ‚behindert‘ bezeichnet werden, haben häufig nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Aneignung bzw. können sich Raum mitunter nur als ‚Territorium der Anderen‘ aneignen. Eine solche Aneignung erfolgt zumeist (ganz wortwörtlich) über Sonderwege. Im Beitrag wird sowohl theoretisch als auch anhand der Betrachtung von Beispielen aus der Lebenspraxis, die im Rahmen des Projekts „Kommune Inklusiv“ der Aktion Mensch e.V. generiert wurden, dargelegt, inwiefern eingeschränkte Aneignungsmöglichkeiten von Raum als Behinderungspraxen wirksam werden. Schlussendlich wird diskutiert, wie Raum und Inklusion relational zusammenhängen bzw. welches Verständnis von Inklusion es bedarf, um Inklusion (in Theorie und Praxis) relational zu denken.

Stichworte: Raum, Inklusion, Aneignung, Subjekt, Teilhabebarriere, Behinderungspraxis, Mobilität, Freizeit, Arbeit, Foucault, Behinderung, Diskurs, Kommune, Stadt, Stadtentwicklung, Barrierefreiheit, Teilhabe

Inhaltsverzeichnis

  1. Hinführung
  2. Raum – Eine begriffliche Annäherung
  3. Raumanalysen im Rahmen des Projekts ‚Kommune Inklusiv‘
  4. Raum und Teilhabebarrieren – Beispiele
  5. Das ‚Territorium der Anderen‘ – Behinderungspraxen und die Konstitution von Raum
  6. Raum und Inklusion
  7. Literatur

 

1. Hinführung

Behinderung vollzieht sich in Praxen des Ausschlusses, „die als dichtes Netz von Zuschreibungen die Selbst- und Fremdwahrnehmung einer Gruppe von Individuen hervorbringen“ (Rösner 2014, S. 140). Behinderung als Praxis ist ein Prozess, der sich je situativ und über die gesamte Lebensspanne vollziehen kann und dazu führt, dass Personen, sei es durch strukturelle und personale Bedingungen des Wohn- und Arbeitslebens oder beispielsweise durch bürokratische Überformungen im System der sogenannten Behindertenhilfe, ‚behindert werden‘ (Trescher 2017a, S. 31ff; 2017b, c). Die zentrale Frage des Beitrags ist nun, inwiefern sich ein solches ‚Behindert-Werden‘ auch in Praxen der Teilhabe (bzw. Nicht-Teilhabe) an der Aneignung von Raum vollziehen kann. Aneignung wird dabei, in Rückbezug auf das von Löw (2001) entwickelte relationale Raumverständnis, als Konstitutionsmoment von Raum verstanden – Aneignungspraxen konstituieren Raum (siehe auch Deinet 2010, S. 37f). Wird einem Subjekt, aus welchen Gründen auch immer, eine bestimmte Ausprägungsform der Aneignung von Raum, die anderen prinzipiell offensteht, erschwert, so kann es sich Raum primär als ‚Raum der Anderen‘ aneignen. Diesen Gedanken will der Beitrag aufgreifen und entfalten. Dabei wird Bezug genommen auf Beispiele aus der Lebenspraxis, die im Rahmen des Projekts ‚Kommune Inklusiv‘[1] erhoben wurden und die die drei lebenspraktisch relevanten Bereiche Mobilität, Arbeit und Freizeit exemplarisch abbilden. Dieser Problematisierung anhand empirischen Materials folgt eine theoretische Schlussfolgerung, in der erörtert wird, inwiefern eine erschwerte Aneignung von Raum als Behinderungspraxis wirksam wird. Eine solche ‚behinderte Aneignung‘ vollzieht sich einerseits in begrenzten Möglichkeiten der Aneignung (begrenzt meint hier relational zu den Möglichkeiten anderer) und andererseits in anderen Ausgestaltungsformen der Aneignung, die sich kontrastiv zu den für andere Subjekte üblichen bzw. möglichen Aneignungsmöglichkeiten erweisen und zwar als geringerwertig bzw. gesondert. An dieser theoretischen Re-Situierung von ‚Behinderung‘ bleibt der Beitrag nicht stehen, sondern entwickelt und skizziert daran anknüpfend ein raumtheoretisch begründetes, im hiesigen Sinne relationales, Verständnis von Inklusion. Es wird diskutiert, dass Inklusion nicht nur eine ‚technische‘ Maßnahme, sondern die relationale Dekonstruktion von Teilhabebarrieren sein muss, die letztlich auch zu einer Re-Konstitution von Raum führt.

2. Raum – Eine begriffliche Annäherung

Der sogenannte ‚Spatial Turn‘ bringt Fragen, die sich mit der Konstitution von Raum beschäftigen, und entsprechende Studien (zurück) in den sozialwissenschaftlichen Diskurs, in dem der Raumbegriff bislang „eine zumeist nur implizit verwendete Kategorie“ (Schroer 2008, S. 126) darstellte und als solcher nicht zur Disposition stand (u.a. Schroer 2008; Döring und Thielmann 2008). Aus ihrer Kritik an herkömmlichen Raumkonzepten, die zwischen absolutistischen (Raum als Behälterraum) und relativen (Raum als Beziehung zwischen Strukturen, Objekten, Subjekten) Raumbegriffen changieren, leitet Löw (2001) ein Verständnis von Raum als ‚relational‘ ab. Ein solches relationales Raumverständnis liegt diesem Beitrag zugrunde.
Löw argumentiert, dass moderne Phänomene wie Verinselung, Globalisierung und insbesondere das Entstehen von virtuellen Räumen traditionelle Raumkonzepte infrage stellen, denn „Raum wird nun auch als diskontinuierlich, konstituierbar und bewegt erfahren“ (Löw 2001, S. 266). Aus dieser Leerstelle entwickelt sie ein Verständnis von Raum als relational, welches sie im Kern wie folgt formuliert: „Raum ist eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten“ (Löw 2001, S. 224; Hervorhebung im Original). Der Begriff (An)Ordnung macht dabei darauf aufmerksam, dass Raum sowohl strukturierende (‚ordnende‘) als auch handlungsorientierte (‚anordnende‘) Dimensionen aufweist (Löw 2001, S. 166). Folglich konstituiert sich Raum „in der Wechselwirkung zwischen Handeln und Strukturen“ (Löw 2001, S. 191), woraus letztlich eine „Dualität von Raum“ (Löw 2001, S. 226; Hervorhebung im Original) folgt. Löw resümiert: „Räumliche Strukturen sind eine Form gesellschaftlicher Strukturen. […] Räumliche Strukturen ermöglichen Handeln und schränken Handlungsmöglichkeiten gleichzeitig ein“ (Löw 2001, S. 226; Hervorhebung im Original). Die Person selbst ist in diesem Handlungsprozess nicht singularisiert, sondern dieser vollzieht sich „in Aushandlungsprozessen mit anderen Handelnden“ (Löw 2001, S. 228). In ebensolchen „Aushandlungsdiskurse[n]“ (Trescher 2017b, S. 20) werden Praxen und Subjekte hervorgebracht, die miteinander in Beziehung stehen, „Räume werden also diskursiv geordnet bzw. ausgestaltet“ (Trescher 2017b, S. 20). Das Subjekt selbst konstituiert Raum in Prozessen des Spacings und der Syntheseleistung (Löw 2001, S. 158ff). Unter Spacing versteht Löw „das Errichten, Bauen oder Positionieren [von Gütern oder Menschen]. […] Es ist ein Positionieren in Relation zu anderen Plazierungen [sic]“ (Löw 2001, S. 158). Neben diesem Positionieren versteht Löw unter Spacing auch die Bewegung zwischen den Platzierungen (Löw 2001, S. 159). Sie macht dabei noch einmal klar, dass „Spacing-Prozesse […] Aushandlungsprozesse“ (Löw 2001, S. 225) sind. Die Syntheseleistung beschreibt die Fähigkeit des Subjekts, einzelne Menschen und Orte miteinander zu verknüpfen. Das bedeutet, dass „über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse […] Güter und Menschen zu Räumen zusammengefaßt“ (Löw 2001, S. 159) werden. Raum wird durch die Institutionalisierung jener (An)Ordnungsprozesse „zur Objektivation, das bedeutet, daß er – ein Produkt menschlicher Tätigkeit – als gegenständlich erlebt wird“ (Löw 2001, S. 164). Die Konstitution von Raum durch (aus-)handelnde Subjekte macht deutlich, dass Raum immer als soziale Praxis konstituiert wird und zwar in und durch Praxen der Aneignung (siehe auch Hüllemann et al. 2016, S. 11f) – Aneignung konstituiert Raum. Dabei ist der Vollzug der Aneignung abhängig vom handelnden Subjekt, woraus gefolgert werden kann, dass Raum immer in Bezug auf ein je konkretes Individuum, das gestalterisch wirksam wird, konstituiert wird.

3. Raumanalysen im Rahmen des Projekts ‚Kommune Inklusiv‘

Das Projekt ‚Kommune Inklusiv‘ setzt sich mit Fragen der Teilhabe von Menschen, die von Ausschluss bedroht oder betroffen sind, im Allgemeinen (z.B. Menschen mit Fluchtmigrationshintergrund, Menschen mit Demenz) und Menschen mit Behinderung im Besonderen auseinander und untersucht auf mehreren Ebenen, inwiefern sich eine Stadt bzw. eine Region durch die Bereitstellung und Begleitung inklusiver (bzw. inklusiv genannter) Projekte verändert. Für den empirischen Kern dieses Beitrags sind zwei Teilstudien der wissenschaftlichen Begleitforschung relevant:

  1. Ethnographische Begehungen
  2. Leitfadengestützte Interviews

 

(1) Im Rahmen der ethnographischen Begehungen wurden alle fünf Modellkommunen (Erlangen, Rostock, Schneverdingen, Schwäbisch Gmünd, Verbandsgemeinde Nieder-Olm) besucht und im Hinblick auf die Fragen untersucht, auf welche Barrieren Menschen mit unterschiedlichen Unterstützungsbedarfen stoßen und welche handlungspraktischen Veränderungen bzw. Vorkehrungen vorgenommen werden bzw. notwendig sind, um Menschen Teilhabe an Raumaneignungspraxen zu ermöglichen. Um auf Barrieren aufmerksam zu werden und einschätzen zu können, inwiefern diese im Alltag manifest werden können, wurden im Vorhinein ExpertInneninterviews mit SelbstvertreterInnen mit Unterstützungsbedarfen in den Bereichen Mobilität, Sehen, Hören und Lesen/Verstehen geführt. Forschungspraktisch wurde die Stadt bzw. Region mit Blick auf mögliche Barrieren in ebendiesen Bereichen ‚begangen‘ – dazu wurden Fortbewegungsmittel des Öffentlichen Personennahverkehrs genutzt und Wege (in Fußgängerzonen, in Bereichen der Öffentlichen Naherholung, in Wohnquartieren, in Bezug auf Einkaufsmöglichkeiten des täglichen Bedarfs sowie Freizeitangebote etc.) zu Fuß abgeschritten (siehe Trescher/Hauck/Börner 2017).
(2) Die umfangreichste Teilstudie des Projekts ist die Untersuchung der Handlungsfelder Arbeit und Freizeit in den einzelnen Modellkommunen, welche anhand leitfadengestützter (Telefon-)Interviews vorgenommen wurde. Im Zentrum stand dabei die Frage danach, ob und inwiefern Menschen, die von Ausschluss bedroht bzw. betroffen sind (als Differenzkategorien wurde sich hier für ‚Behinderung‘, ‚Fluchtmigrationshintergrund‘ und ‚Demenz‘ entschieden[2]), an routinemäßigen Praxen der Modellkommunen teilnehmen. Die Auswertung der Leitfadeninterviews erfolgt anhand subsumtionslogischer Verfahren nach der Qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2010, 2012; siehe anwendungspraktisch Trescher 2015, S. 74ff) und ist noch nicht abgeschlossen.

4. Raum und Teilhabebarrieren – Beispiele

Im Folgenden soll an einigen Beispielen, die entlang der Handlungsfelder Mobilität, Arbeit und Freizeit angeordnet sind, exemplifiziert werden, inwiefern die Teilhabemöglichkeiten einzelner Personen (je situativ) eingeschränkt werden bzw. diese sich Raum primär als ‚Raum der Anderen‘ aneignen können. Die Konstitution von Raum sowie Praxen seiner Aneignung vollziehen sich je situativ und im Laufe des Lebens vielfältig. Die hier gewählten Handlungsfelder Mobilität, Arbeit und Freizeit umfassen dabei zentrale Bereiche des Lebens, die durch Subjekte als Handlungsraum konstituiert werden, indem sie sich diesen handlungspraktisch aneignen. Die Analyse dieser Handlungsfelder erlaubt so einen umfänglichen Einblick in Praxen der Raumaneignung bzw. in (je korrespondierende) Barrieren der Teilhabe.

4.1 Mobilität

Barrieren bei der Aneignung von Raum zeigen sich im Bereich Mobilität beispielsweise dann, wenn der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) nicht einschränkungslos und folglich nicht in gleichem Maße genutzt werden kann wie von Personen ohne (wie auch immer gestalteten) Unterstützungsbedarf. Ein Beispiel gibt Einblick darin, welche Auswirkungen ein beschränkter Zugang zum öffentlichen Personennahverkehr haben kann. Im Rahmen der ethnographischen Begehungen lernte die Forschungsgruppe in einer der Modellkommunen einen Herrn kennen, der mit seinem elektrisch angetriebenen Rollstuhl jeden Tag mit der Straßenbahn zu seiner Arbeitsstelle fährt. Seit kurzem darf er jedoch aus, wie ihm gesagt wurde, „versicherungstechnischen Gründen“ nicht mehr mit seinem Rollstuhl in der Straßenbahn mitfahren. Er sagte:

„Ich finde es diskriminierend, dass ich jetzt nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren kann.“

Diesem Herrn – und im Übrigen allen Personen in besagter Stadt bzw. Region, die einen Elektrorollstuhl nutzen – wird die Teilhabe an routinemäßigen Praxen deutlich erschwert. Raum wird für sie zum ‚Raum der Anderen‘ und ihre Möglichkeiten der Aneignung sind erschwert. Aus der Perspektive dieser ‚Anderen‘, womit all jene umfasst werden, die die Straßenbahn ohne Einschränkungen nutzen können, sind Personen, die einen Elektrorollstuhl nutzen, ein Stück weit unsichtbar, denn die soziale Praxis ‚Straßenbahn-Fahren‘ vollzieht sich ohne sie und wird ohne sie konstituiert. Die Folge ist, dass es im Rahmen dessen keine Berührungspunkte zwischen Menschen mit und Menschen ohne Behinderung gibt. Raum wird ohne Menschen ‚mit Behinderung‘ konstituiert. Darüber hinaus kann auch an sozialen Praxen innerhalb der Stadt nur eingeschränkt teilgenommen werden, da diese schlicht nicht (zumindest nicht mit der Straßenbahn) erreicht werden.
In einer anderen Modellkommune wurde mit einem Mann, der einen Rollstuhl nutzt, gesprochen, welcher den ForscherInnen (in leicht lakonischem Ton) berichtete, dass man sich bei der Bahn im Regionalverkehr mittlerweile ‚nur‘ noch einen Tag im Voraus (und nicht wie zuvor drei Tage im Voraus) anmelden muss, um als RollstuhlfahrerIn Unterstützung beim Einsteigen in den Zug zu bekommen. Ein spontanes Verreisen ist dadurch nicht möglich. Derselbe Mann wurde einige Zeit später in der Fußgängerzone erneut angetroffen, wo er vor dem Geschäft eines Mobilfunkanbieters von der dort angestellten Person beraten wurde. Der Eingang zum Geschäft hatte eine Stufe, die von Personen, die einen Rollstuhl nutzen, nicht überwunden werden kann, weshalb das Beratungsgespräch vor der Tür stattfinden musste. An diesen Beispielen zeigt sich, inwiefern Menschen, die einen Rollstuhl nutzen, auf Teilhabebarrieren hinsichtlich der Raumaneignung stoßen.
Aufgrund der Auswahl der Beispiele könnte der Eindruck entstehen, dass Teilhabebarrieren im Bereich Mobilität primär für Personen, die einen Rollstuhl nutzen, manifest werden, dies ist jedoch nicht so. Vielmehr entstehen Teilhabebarrieren auch für Personen mit anderen Unterstützungsbedarfen, sei es, wenn Anzeigen und Durchsagen in öffentlichen Verkehrsmitteln ausfallen, sogenannte Blindenleitsysteme ausschließlich an der Haltestelle vorhanden sind und dann ‚ins Leere‘ laufen oder auch Fahrpläne sehr komplex sind und dadurch gerade von Menschen, die einer Unterstützung hinsichtlich ihres Leseverständnisses bedürfen (wie es auf viele Menschen mit Lernschwierigkeiten zutrifft), nicht ohne Weiteres entschlüsselt werden können. Die Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs ist infolgedessen für viele Personen mit Schwierigkeiten verbunden, die letztlich zu einer Einschränkung ihrer Teilhabe führen können.

4.2 Arbeit

In Bezug auf das Handlungsfeld ‚Arbeit‘ können Menschen mit unterschiedlichen Unterstützungsbedarfen an Barrieren stoßen, die auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind (Arbeitsmarkt(-politik), ArbeitgeberInnen, KollegInnen etc.). Inwiefern die Einstellung bzw. Offenheit von (potenziellen) KollegInnen eine Teilhabebarriere darstellt, konnte im Rahmen der Erhebungen im Bereich Arbeit, die vor Ort mit ArbeitnehmerInnen geführt wurden, dokumentiert werden. Eine befragte Person lehnte die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung mit den folgenden Worten ab:

Menschen mit Behinderung würden im Geschäft „alles nur umschmeißen und können mit den Kunden nicht kommunizieren“.

Es wird daran und an anderen Beispielen deutlich, dass es teils eine ganz offene und pauschalisierende Behindertenfeindlichkeit gibt und Personen sich sehr vorurteilsbehaftet äußern. Teilhabe scheitert in diesen Fällen an der offenen Ablehnung der MitbürgerInnen. Ein großer Teil der befragten ArbeitnehmerInnen entwarf in den Interviews ein solches Bild ‚negativer Andersartigkeit‘ von Menschen mit Behinderung und zog dies als Begründung dafür heran, dass bestimmte Personen nicht bzw. nicht vollumfänglich in ihrem Betrieb arbeiten könnten. Beispielsweise äußerten manche der befragten Personen, dass für die Arbeit ein Führerschein notwendig sei und aus diesem Grund nicht geeignet für Menschen mit Behinderung (wobei doch der Status ‚Behinderung‘ nicht zwingend dazu führt, keinen Führerschein zu haben). Wieder andere gaben an, das Unternehmen könne es sich nicht leisten, Menschen mit Behinderung anzustellen, da dies „nicht wirtschaftlich“ sei und der „Betrieb dadurch aufgehalten“ würde. Eine weitere befragte Person sagte, die Arbeit sei „zu komplex“ und deshalb von Menschen mit Behinderung nicht zu bewältigen. Diese kurzen Ausschnitte aus den Interviews zeigen, dass viele Personen Menschen mit Behinderung als weniger leistungsfähig und teils sogar als Belastung konstruieren. Es dominiert ein Bild von Menschen mit Behinderung als unterstützungsbedürftig, aus dem die pauschalisierende Konsequenz gezogen wird, Menschen mit Behinderung seien nicht zur Arbeit im jeweiligen Unternehmen in der Lage.
Diesen Fällen einer erschwerten Teilhabe, die in der (mehr oder weniger direkten) Ablehnung potenzieller KollegInnen begründet liegen, können Fälle entgegengehalten werden, in denen MitarbeiterInnen einer Beschäftigung von Menschen mit Behinderung eher offen gegenüberstehen, diese jedoch aufgrund keiner bzw. nur weniger Bewerbungen durch Menschen mit Behinderung dennoch nicht zustande kommt. Wichtig ist, dass in den Fällen, in denen bereits Menschen mit Behinderung an der eigenen Arbeitsstelle arbeiten, die Zusammenarbeit als unproblematisch und „normal“ beschrieben wird. Ein/e interviewte/r ArbeitnehmerIn berichtete über die Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit KollegInnen mit Behinderung:

„Sehr gute Zusammenarbeit. Es läuft besser als erwartet und gibt nur selten Komplikationen.“

Es zeigt sich also, dass, sobald ein lebenspraktischer Bezug hergestellt wird, das negative Bild von Menschen mit Behinderung (zumindest ein Stück weit) dekonstruiert wird[3].
Für viele Menschen mit Behinderung kommt im Bereich Arbeit die Problematik hinzu, dass die Eingebundenheit in das Netz der Behindertenhilfe zu einer quasi-automatischen Eingliederung in Sondersysteme wie die sogenannten Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) führt (Trescher 2017a, S. 234ff). Alternativen zu dieser Zuordnung werden in vielen Fällen, gerade im Hinblick auf Menschen mit geistiger Behinderung, nicht gesehen und infolgedessen ist es schwierig, aus dieser ‚behinderten Lebenswelt‘ wieder auszubrechen. Menschen, die in Sondereinrichtungen arbeiten, sind in besonders ausgeprägter Weise von der ‚gemeinsamen Lebenswelt‘ entfernt und können sich infolgedessen diese so gut wie nicht aneignen.

4.3 Freizeit

Im Bereich Freizeit liegt eine zentrale Teilhabebarriere darin, dass, so schildern es jedenfalls die befragten VertreterInnen, bislang noch keine Menschen mit Behinderung Interesse daran geäußert hätten, teilzunehmen[4]. Hier schließt sich die Frage an, worin dieses (scheinbare) Desinteresse liegt und wie dem entgegengewirkt werden könnte. Teilhabebarrieren bestehen zudem sowohl hinsichtlich der strukturellen als auch handlungspraktischen Ausgestaltung der jeweiligen Freizeitaktivitäten. Eine strukturelle Hürde schilderte eine gehörlose Frau, mit der die ForscherInnen in einer der Modellkommunen ins Gespräch gekommen sind.

„Mein Sohn (8 Jahre) möchte so gerne mit mir zusammen ins Kino gehen. Aber für mich ist das zwecklos, ich kann nichts davon verstehen, was auf der Leinwand passiert. Ich habe den Kinobetreiber schon öfter mal darauf angesprochen, warum es nicht auch Filme mit Untertiteln gibt, aber er meinte, er könne da nichts machen. Und dann bekomme ich noch nicht einmal Rabatt im Kino, obwohl ich die Dialoge ja gar nicht verstehe.“

Im weiteren Gespräch wurde deutlich, dass viele Menschen, die gehörlos sind bzw. einen deutlichen Unterstützungsbedarf im Bereich Hören haben, an vielen Praxen der Gesamtgesellschaft nur eingeschränkt teilnehmen können, da Unterstützungsmöglichkeiten (beispielsweise ein/e Deutsche Gebärdensprache (DGS)-DolmetscherIn) häufig nicht ohne Weiteres und zu den notwendigen Zeiten gegeben sind. In der Folge sind gehörlose Menschen bei gemeinschaftlichen Praxen innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft nur selten vertreten und somit ein Stück weit außen vor. Ein Grund dafür ist sicherlich darin zu sehen, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, bei beispielsweise öffentlichen Veranstaltungen eine DGS-Übersetzung sicherzustellen (was auch an der nur geringen Zahl an DolmetscherInnen liegt, wie gehörlose SelbstvertreterInnen einhellig bestätigten und wovon auch die anwesende Dolmetscherin berichtete).
Im Freizeitbereich werden, ebenso wie im Bereich Arbeit, teils ablehnende und pauschalisierende Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung als Teilhabebarrieren wirksam. Menschen mit Behinderung werden mitunter als weniger leistungsfähig, vollumfänglich unterstützungsbedürftig, abhängig von Begleitpersonen und teilweise auch ‚krank‘ konstruiert (beispielsweise sagte eine befragte Person, Menschen mit Behinderung seien „gesundheitlich nicht geeignet“ zu einer Teilnahme). Wieder andere befragte Personen sehen Teilhabeschwierigkeiten in der konkreten Ausgestaltung der Freizeitaktivität. Beispielsweise stand der/die befragte PrimärvertreterIn eines Chores einer Teilnahme von Menschen mit Behinderung kritisch gegenüber, da es notwendig sei, bei Konzerten einen längeren Zeitraum am Stück stehen und ‚Schunkeln‘ zu können. Dies sei sehr anstrengend und aufgrund dessen nicht geeignet für Menschen mit Behinderung.
Einen weiteren Grund für die Nicht-Teilnahme von Menschen mit Behinderung sehen viele VertreterInnen von Freizeitaktivitäten darin, dass es gesonderte Angebote gibt, an denen (ausschließlich) Menschen mit Behinderung teilnehmen, weshalb kein Bedarf bestehe, die eigene Freizeitaktivität für Menschen mit Behinderung zu öffnen.
Ebenso wie im Bereich Arbeit gibt es jedoch auch im Bereich Freizeit immer wieder Beispiele einer einschränkungslosen Teilnahme von Menschen mit Behinderung an routinemäßigen Freizeitaktivitäten. Nehmen Menschen mit Behinderung teil, so ist in der überwiegenden Zahl der Fälle auch die Erfahrung der TeilnehmerInnen der Freizeitaktivität (sehr) positiv. Befragte Personen berichteten immer wieder von einem „problemlosen Miteinander“, „keinen Problemen“ und insgesamt „positiven Erfahrungen“.

5. Das ‚Territorium der Anderen‘ – Behinderungspraxen und die Konstitution von Raum

Die obigen Beispiele aus der Lebenspraxis zeigen exemplarisch, auf welch vielfältige Art und Weise Menschen mit Behinderung die Teilhabe an Aneignungspraxen von Raum erschwert werden kann. Auch wenn immer wieder positive Erfahrungen dokumentiert werden konnten, werden Teilhabebarrieren auf vielen Ebenen wirksam. Personen mit unterschiedlichen Unterstützungsbedarfen werden so vielfach in der Aneignung von Raum behindert. Dieses ‚Behindert-Werden‘ vollzieht sich je situativ als Praxis des Ausschlusses. Eine Frage, die sich hier anschließt, ist, inwiefern sich solche Praxen des Ausschlusses in der Person niederschlagen. Diesbezüglich werden im Folgenden vier Aspekte kurz angerissen.

Hervorbringung ‚behinderter‘ Subjekte
Immer wieder zeigen die Beispiele aus der Lebenspraxis, dass einzelne Personen durch gegenwärtige Raumkonstitutionen als ‚behindert‘ – und zwar ‚behindert‘ in ihren Aneignungsmöglichkeiten von Raum – hervorgebracht werden. Indem Aneignungspraxen behindert werden, wird auch das Subjekt, qua machtvoller Diskurspraxen (Foucault 1981, 2012), als ‚behindert‘ hervorgebracht. Diese Subjektkonstitution vollzieht sich in Praxen, „in denen Menschen, Individuen oder Akteure durch den Umgang mit anderem und anderen lernen, sich im Horizont von bzw. in Auseinandersetzung mit spezifischen, naturalen, materialen und sozialen sowie symbolischen Ordnungen als ein ‚Subjekt‘ zu begreifen und zu gestalten“ (Ricken 2013, S. 34; Hervorhebung im Original). Solche Subjektivierungspraxen beschränken den „Horizont möglicher Identitäten“ (Rösner 2014, S. 141) deutlich und legen das Subjekt auf „Subjektpositionen“ (Reckwitz 2008, S. 26) fest, aus denen auszubrechen, kaum möglich ist (siehe auch Trescher 2017a, S. 240ff; 2017c). Raum ist in diesem Sinne diskursive Praxis, die „kulturelle Räume der Klassifikation und Hervorbringung“ (Reckwitz 2008, S. 26) von Subjekten bereitstellt. Es zeigt sich daran, dass sich in der Konstitution von Raum und den je individuellen Aneignungschancen und -barrieren gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse, Hierarchien und Abhängigkeiten ausdrücken (Foucault 1994; siehe auch Nugel 2016, S. 25; Rieger-Ladich/Ricken 2009, S. 197ff).

Aneignung und Gouvernementalität
Fragen von Raum betreffen in vielerlei Hinsicht häufig auch rechtliche bzw. steuerungsbezogene Aspekte, die sich insbesondere in entsprechenden Gesetzen zur Raumgestaltung und -nutzung oder ganz konkret in Bauvorschriften niederschlagen. Sie sind damit gouvernementale Praxis, also Ausdruck der „Art und Weise, mit der man das Verhalten der Menschen steuert“ (Foucault 2015, S. 261). Beispielsweise sieht die Hessische Bauverordnung (HBO) in §46 vor, öffentliche Gebäude barrierefrei zugänglich zu bauen. Diese Vorschrift wird in den darauf folgenden Unterpunkten jedoch deutlich eingeschränkt, etwa dann, wenn der Aufwand für einen Umbau zu groß sei oder es nicht notwendig sei, alle Bereiche des Gebäudes erreichen zu müssen. Weitere Einschränkungen zeigen sich bspw. in einem verengten Verständnis von Barrierefreiheit, das primär auf die mögliche Teilhabe von Personen mit Mobilitätsbeeinträchtigungen ausgerichtet ist. Gerade im Hinblick auf Menschen mit ‚kognitiven Beeinträchtigungen‘, die häufig Unterstützungsbedarfe im Bereich Lesen/Verstehen haben, fehlt ein Blick für mögliche Barrieren sowie Ideen, um diese abzubauen. Verdeutlicht werden kann dies am Beispiel von öffentlichen Bibliotheken, welche sich häufig als ‚barrierefrei‘ bezeichnen (und als zumeist kommunal geförderte Einrichtungen auch zur Gewährleistung von Barrierefreiheit verpflichtet sind), diese ‚Barrierefreiheit‘ in der lebenspraktischen Ausgestaltung jedoch zumeist ‚barrierefrei für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen‘ bedeutet. Eine der wenigen Ausnahmen davon stellt die Stadtbibliothek Schwäbisch Gmünd dar, die in einer eigens geschaffenen Abteilung Bücher in sogenannter Leichter Sprache zur Verfügung stellt, die für Personen, die hinsichtlich Lesen/Verstehen Unterstützung bedürfen, einen Zugang zu Literatur bieten. Das Angebot der verfügbaren Medien in Leichter Sprache ist im Verhältnis zum Gesamtbestand der Stadtbibliothek eher gering (261 zu ca. 100.000), jedoch zeigt sich, dass sich das Verständnis von Barrierefreiheit ein Stück weit erweitert hat und ein Prozess losgetreten wurde, der weiter verfolgt und auch zum Vorbild für andere werden kann. An diesem Beispiel zeigt sich, dass Teilhabe nicht bedeutet, einen Raum als ‚Behälter‘ zugänglich zu machen, sondern dass es darum gehen muss, Teilhabe am inneren Diskurs des Raumes zu schaffen. Ein solches Vorhaben kann gesteuert werden, beispielsweise durch entsprechende Vorgaben bzw. Förderungen. Hierin wird eine gewisse Ambivalenz gouvernementaler Steuerung erkennbar, denn einerseits können Vorgaben wie die oben zitierte Hessische Bauverordnung festlegen, es sei für einzelne Personen nicht notwendig, bestimmte Bereiche eines öffentlichen Gebäudes zu betreten (vgl. HBO, §46, 2 und 3), andererseits könnten dieselben Bestimmungen jedoch auch dazu führen, dass einzelnen Personen Teilhabemöglichkeiten eröffnet werden.

(Emotionale) Erfahrungsebene
Der Vollzug von Teilhabebarrieren und die damit häufig verbundenen erschwerten Möglichkeiten der Raumaneignung sind nicht nur in (subjekt-)analytischer Hinsicht bedeutsam, sondern können sich auch als subjektiv-affektiv erlebte Erfahrung von Ausschluss in der Person niederschlagen. Solche (emotionalen) Erfahrungen von Ausschluss zeigen sich beispielsweise bei oben zitiertem Herrn, der die Straßenbahn nicht mehr benutzen darf, und sich deswegen, neben dem objektiven Fakt der Diskriminierung, auch diskriminiert fühlt. Erlebnisse, wie der zitierte Herr sie schildert, sind das, „was sich als Erfahrung von und mit Behinderung niederschlägt, sich in Biografien und Karrieren verfestigt, was Gegenstand und Bedingung von Anpassungen, Bewältigungsstrategien, Leiden oder Widerstand […] darstellt“ (Groenemeyer 2014, S. 154). Ausschluss wird als Erfahrung in das Subjekt eingeschrieben und kann zu behinderten Selbstkonstruktionen führen, zeigt sich jedoch auch in subjektiv-affektiven Erfahrungen, die als beängstigend und erniedrigend empfunden werden können. Eine weitere Folge dessen könnte sein, dass Personen, die entsprechende Erfahrungen gemacht haben, eingeschüchtert sind, wie auch eine Person, die im Rahmen der Teilstudie im Bereich Freizeit interviewt wurde, vermutete:

„Ich könnte mir vorstellen, dass sie [Menschen mit Behinderung] vielleicht Angst haben, in unseren Verein zu kommen.“

Auch wenn unklar bleibt, woher die befragte Person diesen Eindruck bekommen hat, muss doch bedacht werden, inwiefern sich in Personen, die, gegebenenfalls sogar ein Leben lang, ausschließende Erfahrungen gemacht haben, eine ‚behinderte‘ Subjektivität einschreibt und diese Personen dann möglicherweise auch entsprechende Berührungsängste entwickeln. Dadurch wird Behinderung auch auf emotional-affektiver Ebene reproduziert.

Leben in einer ‚halben Welt‘
Menschen, die als behindert subjektiviert und sozusagen mit dem Stigma des „Anderssein[s]“ (Goffman 1975, S. 12) gekennzeichnet werden, stoßen in ihrer Aneignung von Raum häufig auf Barrieren und müssen sich folglich oft „mit einer halben Welt abfinden“ (Goffman 1975, S. 32). Ein Beispiel für eine solche ‚halbe Welt‘ ist die Situation in einem Kletterpark in einer der Modellkommunen. Innerhalb des Parks wurde für Menschen, die einen Rollstuhl nutzen, zwar ein eigener Bereich angelegt, sodass eine Teilnahme auch im Rollstuhl möglich ist, jedoch ist der Zugang zu diesem gesonderten Parcours versperrt, damit, so der O-Ton in einem Video auf der Internetseite des Betreibers, „Rollstuhlfahrer nicht ganz ohne Aufsicht auf Tour gehen“. Die Folge ist, dass sich Aneignungspraxen von Raum nur in Abhängigkeit anderer vollziehen können, was bedeutet, dass die persönliche Handlungsökonomie der Personen, die einen Rollstuhl nutzen, deutlich eingeschränkt ist. Die Teilhabe an den Praxen dieser Freizeitaktivität ist immer die Entscheidung einer anderen Person bzw. abhängig von dieser. Es zeigt sich hier sehr deutlich, inwiefern Raum für Menschen mit Behinderung zur ‚halben Welt‘ werden kann.

6. Raum und Inklusion

Ein relationales Raumverständnis legt ein Verständnis eines aktiv handelnden Subjekts nahe, das Raum konstituiert und im Zuge dessen (sozusagen wechselseitig verschränkt) auch sich selbst als Subjekt hervorbringt. Ein relationales Raumverständnis impliziert also ein Verständnis von Inklusion, das nicht auf das (primär technisch-orientierte) Bereitstellen von Zugängen beschränkt sein darf, sondern das Personen als handlungsmächtig subjektiviert, sich Raum anzueignen. Inklusion heißt in diesem Zusammenhang also nicht (ausschließlich), Barrieren abzubauen bzw. Sonderwege zur Aneignung von Raum bereitzustellen, da so der Status ‚behindert‘ aufrechterhalten und in alltäglichen Praxen der (eingeschränkten) Teilhabe reproduziert wird. Inklusion bedeutet vielmehr, Möglichkeiten zur Teilhabe zu schaffen, sodass wiederum Raumaneignung möglich wird. In diesem relationalen Verständnis ist Inklusion (Aushandlungs-)Praxis, die sich in Prozessen der ‚(An)Ordnung‘ durch handlungsmächtige Subjekte vollzieht.

Dekonstruktion, Subjekt(ivierung) und emotionale Erfahrung
Die zentrale Herausforderung eines solchen Inklusionsverständnisses liegt darin, wie der Subjektstatus ‚behindert‘ dekonstruiert werden kann, sodass Personen die Möglichkeit zur ‚nicht-behinderten‘ Aneignung von Raum haben. Eine solche Idee der Dekonstruktion von Behinderung muss sich den folgenden Fragen stellen: Wer kann Raum gestalten und wer nicht? Welche Forderungen und Ansprüche können von wem gestellt werden und von wem nicht? Wer ist von vorneherein als ‚Aneignungssubjekt‘ subjektiviert und wer nicht? Wessen Interessen stehen im Vordergrund? Ziel einer solchen kritischen Inbetrachtnahme regulierender und ausschließender Praxen ist, Möglichkeiten der Aneignung für alle Personen zu schaffen, sodass Subjekte, relational zu anderen Subjekten, nicht in der Aneignung von Raum behindert werden. Dazu ist es notwendig, Teilhabebarrieren abzubauen, um somit Personen, die in ihren Aneignungsmöglichkeiten von Raum behindert werden, als Raum konstituierende und sich diesen aneignende Subjekte zu subjektivieren. Dass Fragen von Teilhabe auch auf Ebene der emotionalen Erfahrung spürbar werden können, wurde oben ausgeführt. Teilhabe bleibt also nicht auf das primär technische Ermöglichen von Raumaneignung beschränkt, sondern Teilhabe kann auch ein Gefühl von Teilhabe sein, das je individuell verschieden ist, weshalb in Einzelsituationen trotz ähnlicher Ausgangspositionen die erfahrene Teilhabe der beteiligten Personen ganz unterschiedlich sein kann. Teilhabe bedeutet auch immer, sich teilhabend zu fühlen.

Re-Konstitution von Raum als inklusive Praxis
Werden den Personen, deren Raumaneignungspraxen bislang behindert wurden, Teilhabemöglichkeiten und damit Möglichkeiten der Aneignung von Raum eröffnet, wird Raum (unter Umständen) in anderer Art und Weise konstituiert, da andere Subjekte und Praxen daran beteiligt sind. Die Konsequenz daraus ist, dass Raum re-konstituiert wird. Das Schaffen von Teilhabemöglichkeiten verändert also Raum und trägt zu seiner Re-Konstituierung bei[5]. Solche Prozesse der Re-Konstituierung konnten im Rahmen der Raumanalysen bereits in Ansätzen dokumentiert werden. Beispielsweise gibt es in Schwäbisch Gmünd in einem Geschäft der deutschlandweiten Supermarktkette „REWE“ einen sogenannten „Rollstuhl-Kurier“, der von einer Person, die einen Rollstuhl nutzt, angeboten wird und ähnliche Dienstleistungen wie ein sogenannter Fahrradkurier bietet. Der Rollstuhl-Kurier bringt die Waren, die von den KundInnen telefonisch vorbestellt werden, innerhalb der Innenstadt zu diesen nach Hause bzw. zur Mittagspause ins Büro/zur Arbeitsstelle, sodass diese nicht selbst den Weg in den Einkaufsmarkt antreten müssen. Auf diese Art und Weise werden Menschen, die einen Rollstuhl nutzen, sichtbar im Handlungsraum und eignen sich Raum, im hiesigen Fall als Arbeitsplatz, an. Insofern übernimmt der Rollstuhl-Kurier aus Schwäbisch Gmünd also eine Art Vorreiterrolle und seine Arbeit trägt dazu bei, dass sich die öffentliche Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung im Handlungsraum verändert, wodurch herkömmliche Konstitutionen von Raum infrage gestellt und somit verändert werden können.
Wie die Problematisierung des Schaffens von ‚Sonderwegen‘, die letztlich ‚Behinderung‘ reproduzieren, zeigt, kann Inklusion also nicht (zumindest nicht alleinig) als, häufig primär technisch verstandene, Maßnahme von (Sozial-)Politik diktiert und umgesetzt werden, sondern Inklusion erfordert „einen Prozess gesellschaftlicher Transformation“ (Dederich 2016, S. 16), in dem gegenwärtige Strukturen, Praxen und Vorstellungen re-konstituiert werden.

7. Literatur

Dederich, Markus (2016): Angebote für Menschen mit Behinderung als sozialraumbezogenes Handlungsfeld. In: Kessl, Fabian; Reutlinger, Christian (Hrsg.): Handbuch Sozialraum. Wiesbaden: Springer VS, o.S.
Deinet, Ulrich (2010): Aneignungsraum. In: Reutlinger, Christian; Fritsche, Caroline; Lingg, Eva (Hrsg.): Raumwissenschaftliche Basics. Eine Einführung für die Soziale Arbeit, Wiesbaden: VS, S. 35-43.
Döring, Jörg; Thielmann, Tristan (Hrsg.) (2008): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld: transcript.
Foucault, Michel (2015): Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, 4. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Foucault, Michel (2012): Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. 12. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer.
Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Goffman, Erving (1975): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Groenemeyer, Axel (2014): Soziale Praxis – Institutionen – Diskurse – Erfahrung: Behinderung im Problematisierungsprozess. In: Soziale Probleme 25 (2), S. 150-172.
Hüllemann, Ulrike; Reutlinger, Christian; Deinet, Ulrich (2016): Aneignung als strukturierendes Element des Sozialraums. In: Kessl, Fabian; Reutlinger, Christian (Hrsg.): Handbuch Sozialraum. Wiesbaden: Springer VS, o.S.
Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Mayring, Philipp (2010): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 11. Aufl. Weinheim, Basel: Beltz.
Mayring, Philipp (2012): Qualitative Inhaltsanalyse. In: Flick, Uwe; von Kardorff, Ernst; Steinke, Ines (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 468-475.
Modes, Marie-Theres (2016): Raum und Behinderung. Wahrnehmung und Konstruktion aus raumsoziologischer Perspektive. Bielefeld: transcript.
Nugel, Martin (2016): Stichwort: Bildungsräume – Bildung und Raum. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 19 (1), S. 9-29.
Reckwitz, Andreas (2008): Subjekt. Bielefeld: transcript.
Ricken, Norbert (2013): Zur Logik der Subjektivierung. Überlegungen an den Rändern eines Konzepts. In: Gelhard, Andreas et al. (Hrsg.): Techniken der Subjektivierung. München: Wilhelm Fink, S. 29-47.
Rieger-Ladich, Markus; Ricken, Norbert (2009): Macht und Raum: Eine programmatische Skizze zur Erforschung von Schularchitekturen. In: Böhme, Jeanette (Hrsg.): Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs. Territorialisierungskrise und Gestaltungsperspektiven des schulischen Bildungsraums. Wiesbaden: VS, S. 186-203.
Rösner, Hans-Uwe (2014): Behindert sein – behindert werden. Texte zu einer dekonstruktiven Ethik der Anerkennung behinderter Menschen. Bielefeld: transcript.
Schroer, Markus (2008): „Bringing space back in“. Zur Relevanz des Raums als soziologischer Kategorie. In: Jörg Döring; Tristan Thielmann (Hrsg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld: transcript, S. 125-148.
Trescher, Hendrik (2017a): Behinderung als Praxis. Biographische Zugänge zu Lebensentwürfen von Menschen mit „geistiger Behinderung“. Bielefeld: transcript.
Trescher, Hendrik (2017b): Wohnräume als pädagogische Herausforderung. Lebenslagen institutionalisiert lebender Menschen mit Behinderung. 2. Aufl. Wiesbaden: VS.
Trescher, Hendrik (2017c): Subjektivierungspraxen in der stationären Behindertenhilfe. Ein pädagogisches Dilemma. In: neue praxis 47 (4), S. 354-370.
Trescher, Hendrik (2017d): Von behindernden Praxen zu einer Reformulierung des Behinderungsbegriffs. In: Behindertenpädagogik 56 (3), S. 267-282.
Trescher, Hendrik (2015): Inklusion. Zur Dekonstruktion von Diskursteilhabebarrieren im Kontext von Freizeit und Behinderung. Wiesbaden: VS.
Trescher, Hendrik; Hauck, Teresa; Börner, Michael (2017): Auf dem Weg zu Inklusion? – ‚Busfahren‘ als Praxis ethnografischer Inklusionsforschung. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (VHN) 86, S. 250-252.


[1] Das Projekt ‚Kommune Inklusiv‘, das von Aktion Mensch e.V. finanziert wird, begleitet fünf Modellkommunen in Deutschland (Erlangen, Rostock, Schneverdingen, Schwäbisch Gmünd, Verbandsgemeinde Nieder-Olm) über einen Zeitraum von sechs Jahren. Die Goethe-Universität Frankfurt untersucht auf mehreren Ebenen die Wirkung des Projekts auf die Strukturen und EinwohnerInnen der Modellkommunen (Ebene 1: Evaluation der Maßnahmen, Ebene 2: Evaluation der Modellkommunen (Leitung H. Trescher); Ebene 3: Einzelfallanalysen (Leitung D. Katzenbach, N. Schallenkammer)). Im Rahmen dieses Beitrags wird sich auf Teilstudien aus Ebene 2 (Evaluation der Modellkommunen) konzentriert.

[2] In diesem Beitrag liegt der Fokus auf Ergebnissen hinsichtlich der Differenzkategorie ‚Behinderung‘.

[3] Dies deckt sich mit Ergebnissen der Studie „Freizeit als Fenster zur Inklusion“, in der einer Teilnahme von Menschen mit Behinderung an der eigenen Freizeitaktivität deutlich offener gegenübergestanden wurde, sobald bereits persönliche Erfahrungen mit Menschen mit Behinderung gemacht wurden (Trescher 2015, S. 84).

[4] Dies ist ebenfalls ein zentrales Ergebnis der Studie „Freizeit als Fenster zur Inklusion“ (Trescher 2015).

[5] Modes (2016) dagegen versteht das Verhältnis von Subjekt und Raum als ko-konstituierendes (S. 209). Sie kommt in ihrer Studie „Raum und Behinderung“ zu dem Ergebnis, dass „Körper die Wahrnehmung von Räumen beeinflussen und Räume die Wahrnehmung von Körpern“ (Modes 2016, S. 218; Hervorhebung im Original).