Abstract: Die Perspektive der Disability Studies trägt dazu bei, Menschen mit ‚Behinderung‘ nicht mehr als ‚fremdbestimmte Objekte‘ sondern als ‚handlungsfähige Subjekte‘ wahrzunehmen. Im Bereich der Sexualität von Menschen mit ‚kognitiven‘ oder ‚Schwerstmehrfach-Behinderungen‘ kann eine diversitätsbewusste Haltung helfen, die Differenzlinien ‚Sexualität‘ und‚ Behinderung‘ mit der Wahrung der Menschenwürde zu verbinden. Dabei geht es darum, wie eine machtkritische Sensibilisierung zur Wahrnehmung von Bedürfnissen und Grenzen erfolgen kann, auf deren Grundlage Präventionsmöglichkeiten von (sexueller) Gewalt bei Menschen mit Behinderungen abgeleitet werden können, die sowohl als Gegenstand Sozialer Arbeit als auch als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet werden müssen. Daher werden im folgenden Bedingungen, Bedeutungen und Begründungen dieses Themenkomplexes reflektiert.
Stichworte: Disability Studies; Sexualität; Macht; Diskurs; Subjektorientierung
Inhaltsverzeichnis
Die Perspektive der Disability Studies trägt dazu bei, Menschen mit ‚Behinderung‘ nicht mehr als ‚fremdbestimmte Objekte‘ sondern als ‚handlungsfähige Subjekte‘ wahrzunehmen. Im Bereich der Sexualität von Menschen mit ‚kognitiven‘ oder ‚Schwerstmehrfach-Behinderungen‘ kann eine diversitätsbewusste Haltung helfen, die Differenzlinien ‚Sexualität‘ und‚ Behinderung‘ mit der Wahrung der Menschenwürde zu verbinden. Dabei geht es darum, wie eine machtkritische Sensibilisierung zur Wahrnehmung von Bedürfnissen und Grenzen erfolgen kann, auf deren Grundlage Präventionsmöglichkeiten von (sexueller) Gewalt bei Menschen mit Behinderungen abgeleitet werden können, die sowohl als Gegenstand Sozialer Arbeit als auch als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet werden müssen. Daher werden im Folgenden Bedingungen, Bedeutungen und Begründungen dieses Themenkomplexes reflektiert.
Menschenwürde soll rechtlich durch die internationalen Menschenrechtskonventionen gesichert werden. Die UN-Behindertenrechtskonvention soll Partizipation von Menschen mit Behinderungen ermöglichen, auch im Zusammenhang mit Sexualität (s. UN BRK Artikel 22 und 23). Ebenfalls können auf internationaler Ebene die sexuellen Menschenrechte der World Association for Sexual Health genannt werden, die für alle Menschen – mit oder ohne ‚Behinderungen‘ – Orientierung bieten (vgl. Clausen & Herrath, 2013).
Auf nationaler Ebene gewährleisten die Sozialgesetzbücher, v.a. SGB XII (Sozialhilfe) und SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe) Grundlagen für ein möglichst selbstbestimmtes Leben von Menschen mit ‚Behinderungen‘. Wenn ein Anspruch auf Eingliederungshilfe (SGB XII § 17 Abs. 1) besteht, haben Menschen mit ‚Behinderung‘ Anspruch auf individuelle, am Einzelfall ausgerichtete Bedarfsdeckung § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII).Hier kann auf das SGB IX verwiesen werden, das Leistungen zur Teilhabe am kulturellen Leben (§ 55 Abs. 2 Nr. 7 und § 58) regelt, zu der auch sexuelle Aktivität gezählt werden kann, die Anträge auf Sexualassistenz ermöglichen (vgl. Dahm & Kestel 2012: 1f.). Aus einer Auswertung der bisherigen Rechtsprechung geht aber hervor, dass solche Leistungsanträge jeweils mit unterschiedlichen Begründungen abgelehnt wurden (vgl. ebd.: 2f).
Neben gesetzlichen Bestimmungen hängen die Bedingungen für eine selbstbestimmte Sexualität von Menschen mit Beeinträchtigungen von den Gegebenheiten der Einrichtungen der ‚Behindertenhilfe‘ ab. Nur wenige haben sich dem Thema Sexualität explizit im Rahmen eines sexualpädagogischen Konzepts gewidmet. Eher kommen Interventionspläne zur Anwendung, die auf eine Reaktion nach sexuellen Übergriffen beschränkt sind und tendenziell ausgerichtet sind auf individuelle Sanktionierungen von übergriffigem (Pflege-)Personal oder übergriffigen Bewohner_innen. Ein Beteiligungs- und Beschwerdemanagement, wie es beispielsweise in stationären Wohnformen für Jugendliche mit und ohne Behinderungen mit Betriebserlaubnis nach SGB VIII vorgesehen ist, ist noch nicht flächendeckend Standard (vgl. z.B. Rist & Sauer 2017, Bündner Standard 2017[1]).
Dass (sexuelle) Übergriffe auch auf institutionelle Gewalt zurückzuführen sind, wird jedoch in der Praxis Sozialer Arbeit eher selten systematisch reflektiert. Als Beispiel sei hier ein aktueller Fall aus der Praxis einer Studentin der Sozialen Arbeit angeführt:
Ein Mitte dreißigjähriger Mann lebt in einer Komplexeinrichtung für Menschen mit Behinderungen. Er hat eine Mehrfachbehinderung, und es fällt ihm schwer, sich verbal zu äußern. Weil das Risiko besteht, dass er sich nachts selbst verletzen könnte, wird er im Bett an Beinen, Armen und Becken fixiert. Er trägt Tag und Nacht eine Windel. Auffällig ist, dass er bei weiblichen Betreuerinnen schnell die Hand zu deren Gesäß führt und sie anlächelt. Er zeigt oft Frustrationen; ihm ist anzusehen, dass er mit dieser Situation unzufrieden ist. Aufgrund fehlender Konzepte und mangelndem Wissen der Fachkräfte konnte noch nicht auf seine – sexuelle – Selbstbestimmung eingegangen werden (Praxisbericht DHBW 2017, unveröffentlicht).
Eine institutionelle Positionierung hängt jedoch nicht nur von gesetzlichen Bedingungen – wie richterlichen Beschlüssen zu Freiheitsentziehenden Maßnahmen – medizinisch-therapeutischen Erfordernissen sowie etablierten Arbeitsweisen und Leitbildern ab, sondern auch von den unterschiedlichen Argumentationslinien der Diskurse um Sexualität und ‚Behinderung‘. Sie umfassen sowohl sexuelle Übergriffe, die Menschen mit ‚Behinderung‘ erleben, als auch Übergriffigkeiten von ihnen selbst, gleichzeitig geht es um ihr Recht auf das Ausleben von Sexualität.
Auch die politischen und fachlichen Diskurse nähern sich dem Phänomen sexueller Aktivität von Menschen mit ‚kognitiven‘ und ‚schweren Beeinträchtigungen‘ tendenziell ex negativo. Eher wird versucht, missbräuchliche Machtverhältnisse durch Verbote sexueller Aktivitäten zu unterbinden, als präventive Konzepte zu unterstützen, die vorhandene „Diskursteilhabebarrieren“ (Trescher 2016: 40) zu selbstbestimmter Sexualität abbauen würden.
Prinzipiell ist die Reform des Sexualstrafrechts (§ 177 StgB) für Personen mit schweren Beeinträchtigungen von großer Relevanz, da der Wille der Betroffenen nun stärkeres Gewicht erhält: „Nein heißt Nein“. Sexuelle Handlungen gegen den Willen der Opfer können strafrechtlich verfolgt werden, auch wenn von den Opfern kein aktiver Widerstand geleistet wird, bzw. werden kann. Die aktuelle Fassung bezieht Personen ein, die
Offen bleibt jedoch grundsätzlich, warum von Seiten der Opfer Täter_innen gegenüber Widerstand geleistet werden muss, um strafrechtliche Konsequenzen zu bewirken. Stattdessen könnte übergeordnet das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen („Istanbul-Konvention“) herangezogen werden. In Artikel 36 Dort ist formuliert: „Das Einverständnis (zum Geschlechtsverkehr, (...)) muss freiwillig als Ergebnis des freien Willens der Person, der im Zusammenhang der jeweiligen Begleitumstände beurteilt wird, erteilt werden.“ (Louis 2016: o.S.).
Im Kontext der freien Willensbildung bei Menschen mit kognitiven und schweren Beeinträchtigungen läuft parallel eine Debatte um sexuelle Selbstbestimmung, die in Deutschland bezüglich Sexualassistenz für Pflegebedürftige geführt wurde. Als Vorbild gelten hierbei die Niederlande. Um dort Sexualassistenz in Anspruch nehmen zu können, müssen Antragsteller_innen einen Nachweis erbringen, dass sie selbst nicht in der Lage sind sich sexuell zu befriedigen und ihnen die finanziellen Mittel fehlen, um für die Kosten einer Sexualassistenz aufzukommen. Die Partei „Die Grünen“ sieht eine Möglichkeit darin, dass auf kommunaler Ebene Beratungen über das Angebot von Sexualassistenz stattfinden und diese durch Zuschüsse finanziert werden könnten (vgl. ZEIT ONLINE GmbH, 2017). Mit Blick auf die Bundestagswahl 2017 nahm die Partei das Thema jedoch wieder zurück. Das Spannungsfeld, innerhalb dessen das Thema im Rahmen politischer Dynamiken diskutiert wird, weitet sich auf den Bereich der medizinisch-therapeutischen Fachdiskurse aus, die nicht selten von der Politik genutzt werden, um politischen Handlungsbedarf entweder zu belegen oder zu widerlegen (s. dazu ausführlicher Sauer & Teubert 2017). So gibt die Bundesregierung kontinuierlich empirische Studien in Auftrag, die im Folgenden kurz skizziert werden.
Zum Thema sexuelle Orientierung und sexuelle Gewalt bei Menschen mit ‚kognitiven Beeinträchtigungen‘ wurden staatlich geförderte Studien durchgeführt. Z.B. ging es bei Fegert u.a. (2006) um die wissenschaftliche Erhebung der Lebenssituation von Menschen mit ‚geistiger Behinderung‘, flankiert durch ein bundesfinanziertes Modellprojekt zu sexueller Selbstbestimmung (u.a. bzgl. Homosexualität) und sexueller Gewalt. Es wurde eine Forschungsperspektive gewählt, die die Sicht der Bewohnerinnen und Bewohner ebenso in den Blick nehmen sollte, wie die des Fachpersonals. Durch die Methode der Aktionsforschung lag darin einerseits Potenzial eines gemeinsam zu entwickelnden Verständigungsprozesses zum Thema Sexualität, andererseits zeigte sich, dass sich gewohnte Machtverhältnisse schnell reproduzierten, was die Inhalte betraf, über die gesprochen wurde und wer diese thematisierte:
„In den ersten zwei Sitzungen brachten die Bewohnerinnen und Bewohner freimütig und unzensiert ihre Kommentare ins Gespräch ein. Nachdem es zu (…) Auseinandersetzungen und Unsicherheiten in der Wohngruppe gekommen war, regulierten sie ihre Beiträge in der Diskussion normativ bei sich selbst (mit eigenem, sich beruhigendem Zureden) und untereinander: Ist das erlaubt, gehört sich das und was gehört sich nicht? Ihr Verhalten wurde daraufhin im Vergleich zu den ersten Gruppenterminen wesentlich ruhiger“ (ebd.: 429).
Die dominanten Vorstellungen der Einrichtung schränkten die Auseinandersetzung mit der je eigenen sexuellen Identität ein und blendeten das Risiko aus, das entsteht, wenn bestimmte sexuelle Themen nicht benannt werden können und dürfen, was dazu führen kann, dass auch grenzverletzendes sexuelles Verhalten nicht thematisiert und bearbeitet werden kann. Erst durch den Handlungsdruck bezüglich „sexuellem Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen sowie im familiären Bereich“ förderten das Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Europäische Sozialfonds dazu ein Forschungsprojekt (2011 bis 2014). Dabei konnte u.a. ein Online-Kurs „Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch“ für pädagogische und medizinisch-therapeutische Berufe etabliert werden: (https://missbrauch.elearning-kinderschutz.de/ Zugriff: 27.12.16). In dem in diesem Zusammenhang entstandenen Band Sexueller Missbrauch von Kindern Handbuch zur Prävention und Intervention für Fachkräfte im medizinischen, psychotherapeutischen und pädagogischen Bereich (Fegert et al. 2015) setzten Wencke Chodan u.a. (2015) einen Fokus auf die spezifischen Risikokonstellationen, -faktoren und Problemlagen bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger und körperlicher Behinderung (vgl. ebd.: 412 ff.).
Mit der Förderung von Forschungsprojekten zur Prävention von sexueller Gewalt hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung einen ersten Schritt getan, Schutzkonzepte in unterschiedlichen Kontexten zu entwickeln. In diesem Rahmen wird aktuell ein Projekt zur Prävention von sexueller Gewalt in Institutionen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung gefördert (Bienstein/Seidel 2016: 36).
Aus den wissenschaftlichen Studien lässt sich ableiten, dass eine Grundvoraussetzung für Prävention von Gewalt bei Menschen mit ‚kognitiven Beeinträchtigungen‘ sein muss, diesen Möglichkeiten der Artikulation zugänglich zu machen, die dafür sorgen, dass sie Gehör finden und auf individueller, institutioneller und struktureller Ebene Resonanz auslösen. Damit dies nicht nur stark gefiltert im Kontext von „Spezialdiskursen der Geistigbehindertenpädagogik“ (Schachtsiek 1999) geschieht, die tendenziell eine Reproduktion der ‚Behindertenkultur‘ bedingen, müssen auch die Diskurse der ‚Dominanzkultur‘ der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ geöffnet werden (vgl. ebd.: 126f.). Insbesondere sollten dabei die „Diskursteilhabebarrieren“ (Trescher 2016: 40) von Menschen, die in Einrichtungen der ‚Behindertenhilfe‘ leben, in den Blick genommen werden. Ob Menschen mit ‚kognitiven‘ und ‚schweren Beeinträchtigungen‘ an den sie betreffenden Aushandlungsprozessen bezüglich sexueller Selbstbestimmung teilhaben können und wollen, steht allerdings nicht nur mit der Barrierefreiheit der angebotenen Kommunikationsformen in Verbindung, sondern auch mit den von den je Einzelnen wahrgenommenen „subjektiven Möglichkeitsräumen“, die je nach Positioniertheit unterschiedliche Spielräume zulassen (Holzkamp 1983 zit.n. Sauer 2016: 440).
Einen eigenen Willen zu haben und zu äußern ist aus der Perspektive vieler Menschen mit ‚kognitiven‘ und ‚schweren‘ Beeinträchtigungen noch nicht selbstverständlich. Die oft lebenslange Angewiesenheit auf medizinisches, psychologisches, sozial- und sonderpädagogisches Personal sowie professionelle und private Betreuung kann zu einem Verlust der Subjektivität führen. Bereits im Kindes- und Jugendalter müssen sich ‚Patient_innen‘ zahlreichen Diagnoseverfahren unterziehen, bei denen sie nicht mehr als handlungsfähige Subjekte wahrgenommen, sondern zu Körperobjekten gemacht werden (vgl. Dörner und Kurth 2013: 241). Lutz Besser (2007) bezeichnet das Aushalten von langen und schmerzhaften Krankenhausaufenthalten in der Kindheit als „notwendige medizinische Misshandlung“ (ebd.: 10, vgl. hierzu auch Kastl & Felkendorff 2014). Diese Ansicht wird v.a. von den Disability Studies geteilt, deren führende Vertreterin Anne Waldschmidt darauf hinweist, „dass die Erfahrung von (Ver-)Objektivierung mit der Erfahrung von Behinderung allzu häufig eng verknüpft ist“ (2007: 124f.) Diese Beschränkung der Selbstbestimmung lässt sich aus der historischen Tradition der Anstalten nachvollziehen[2]. Erving Goffman (1996) veröffentlichte 1961 Asyle, eine Studie über Wohn- und Arbeitseinrichtungen für „psychiatrische Patienten und andere Insassen“, die er als totale Institutionen bezeichnete.
„Mit dem Eintritt in eine totale Institution verliert das Individuum einige seiner Rechte, insbesondere die Verantwortung für die Wahl seines Rollenverhaltens, weil es von Anfang an zur Kooperation veranlasst wird, da es ansonsten sanktioniert würde“ (ebd.: 26 f.).
„Die totale Institution ist insofern undurchlässig für Einflüsse der Außenwelt, als in ihr kein ‚normales‘ Verhalten anerkannt wird: Alles was der Insasse von sich aus tut, kann als Symptom seiner Abweichung gewertet werden“ (ebd.: 69).
Sogenannte Verhaltensauffälligkeiten, die sich z.B. in verschiedenen Formen von Aggression oder sexuell übergriffigem Verhalten zeigen können, sind demzufolge eine ihrem eingeschränkten subjektiven Möglichkeitsraum eigentlich angemessene Reaktion und stellen einen Ausdruck von Bewältigungshandeln in Situationen dar, die von den Betroffenen selbst als existentiell bedrohlich oder übergriffig erlebt werden. Aktuell nimmt das Bewusstsein für diese Zusammenhänge in geschlossenen Einrichtungen zu, und es wird versucht, z.B. durch traumapädagogische und -therapeutische Konzepte, unterschiedliche Kommunikationsformen und Materialien zur Bearbeitung zugrundeliegender Konflikte anzubieten. Es gilt dabei, alternative Umgangsformen für potenziell traumatisierende Situationen zu finden, die sowohl die Klient_innen als auch ihre Umgebung betreffen. Beispielhaft sei hier ein Fall aus der Praxis einer Studentin der Sozialen Arbeit angeführt, der einige Faktoren beinhaltet, die dabei in Betracht gezogen werden sollten:
Die tägliche Pflege im Bad löst bei einem älteren Heimbewohner regelmäßig heftigen Widerstand aus. Zwar benötigt er Unterstützung, kann diese aber kaum aushalten. Im Rahmen kontinuierlicher therapeutischer Arbeit konnten traumatische Erlebnisse aus der Anstaltszeit ausgemacht werden, in der ein sogenanntes ‚Deckelbad‘ als Sanktionsmittel genutzt wurde, in das die Insassen über Stunden in entweder heißem oder kaltem Wasser eingesperrt wurden. Diese massiven Grenzüberschreitungen wurden damals nicht als solche (an-)erkannt und der Bewohner war ihnen völlig ausgeliefert. Seine Tendenz, sich auch heute der Hygiene entziehen zu wollen, kann als Ausdruck von verletzter Menschenwürde als normale Reaktion gesehen werden. Gemeinsam mit den Sozialarbeitenden konnte allmählich erarbeitet werden, dass er grundsätzlich nicht baden muss und beim Duschen selbst die Brause in die Hand bekommt, auch wenn er sich dann nicht so gründlich reinigen kann wie die Hygienestandards dies vorsehen würden. (Praxisbericht DHBW 2016, unveröffentlicht).
Diese Problematisierung kann im Kontext der Aufarbeitung von Grenzverletzungen, psychischer und körperlicher Gewalt in Institutionen gesehen werden, die aktuell insbesondere von kirchlichen stationären Einrichtungen verfolgt wird (z.B. Gmür 2017, Keupp et al. 2017). Mit Bezug auf eine professionelle Soziale Arbeit in diesem Bereich ist hierbei zentral, dass ‚auffälliges‘ Verhalten von Klient_innen vor dem Hintergrund lebensweltlicher Ausschlüsse diversitätsbewusst von Sozialarbeitenden zu reflektieren ist.
Mit Bezug auf das Tripelmandat Sozialer Arbeit soll die Würde des Privaten im Rahmen institutionalisierter Lebensbedingungen von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung dennoch gewahrt werden. Hendrik Trescher (2015) zeigt in diesem Zusammenhang,
„dass der Würdeerhalt einzelner Personen eng mit dem Privaten und dessen Schutz einhergeht, das Private selbst allerdings ambivalent zu betrachten ist. Somit ist der Eingriff in das Private einer Person mitunter (…) ein Angriff auf dessen Würde, im Umkehrschluss kann dieser Angriff oder dieses Eindringen aber auch das Private garantieren. Daraus folgt (…), dass (…) der Eingriff in das Private [nicht] (automatisch) ein Autonomieentzug sein muss. (…) Insbesondere dann, wenn der Gestaltungsauftrag der Würde stellvertretend durch andere erbracht werden muss, müssen sich diese anderen dessen bewusst sein“ (ebd.: 150f.).
Um grenzachtende, im günstigen Fall positive sexuelle Erfahrungen zu machen und eine eigene sexuelle Identität zu entwickeln, muss Menschen mit ‚kognitiven‘ und schweren ‚Behinderungen‘ im Sinne des Empowerment ermöglicht werden, was insbesondere in Artikel 22 (Achtung der Privatsphäre) und 23 (Achtung der Wohnung und der Familie) der UN-BRK verankert ist. Hierbei darf es jedoch nicht dazu kommen, dass Menschen mit Behinderungen im Kontext institutioneller Angebote und auch in informellen Gruppierungen kaum Sexualität zugestanden oder zugetraut wird – Smith (2016) stellt diesbezüglich immer noch gesellschaftliche Diskriminierungen fest: „Selbst in Communities von Menschen mit Behinderungen wird allenfalls eine heterosexuelle Orientierung angenommen. Eine lesbische Frau mit Behinderung und Kinderwunsch, die sich an eine reproduktionsmedizinische Klinik wandte, schilderte, dass diese annahm, sie hätte keinen Sex aufgrund ihrer Behinderung:
„LGB disabled people are failed by both the disability and LGB communities, with a ‘widespread homophobia and prejudice in the disability movement’ and ‘prejudice toward disability‘ still evident within the LGB community’” (ebd.).
Intersektionale Perspektiven sollten daher unbedingt mit einfließen, wenn es um die Vermeidung von Diskriminierung im Sinne einer ‚behinderten Sexualität‘ geht. Hier gilt es, die Entwicklung einer besonderen Aufmerksamkeit für Differenzlinien zu fördern (vgl. Leiprecht 2011), insbesondere im Hinblick auf die ‚sozialen Platzanweiser‘ Behindertenfeindlichkeit, Sexismus, Homo- und Transphobie und ihre verschränkten, strukturell verankerten und machtvollen Wirkungen bezüglich Teilhabechancen an Funktionssystemen. Darauf aufbauend sollte sich eine Sensibilität entwickeln für mögliche Diskriminierungen und damit verbundene Ausgrenzungserfahrungen, u.a. gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Essenzialisierungen dieser ‚Gruppen‘, bei denen eine Differenzkategorie als Beurteilungsmuster besonders in den Vordergrund rückt.
Subjektive Möglichkeitsräume von Individuen und gesellschaftlich konstruierten Gruppen werden von Strukturkategorien sozialer Ungleichheit maßgeblich beeinflusst (Verhältnisse). Auch Sozialarbeitende und Betreuungspersonal sind von dominanten, bewertenden Zuschreibungen geprägt, und verhalten sich in Bezug auf Differenzlinien wie ‚gesund – krank‘, ‚behindert – nicht behindert‘, ‚ohne Sexualität – ‚mit Sexualität‘. Hier bietet sich an, Diversitätsbewusstsein als zentrale Kompetenz für die professionelle Tätigkeit in der ‚Behindertenhilfe‘ zur Voraussetzung zur machen, damit Menschen mit ‚Behinderung‘ genauso als Menschen mit sexuellen Bedürfnissen anerkannt werden.
Die Selbstverwirklichung von Menschen ist abhängig von ihnen selbst und den Umständen, in denen sie leben – auch und gerade, wenn es sich um die Herausbildung einer als selbstwirksam erlebten sexuellen Identität handelt. (Sexuelle) Gewalt behindert Menschen in ihren Selbstbestimmungs- und damit Selbstverwirklichungschancen. Gewalt liegt bereits dann vor, wenn sich Menschen „in geringerem Maße somatisch und geistig verwirklichen, als sie dies potentiell könnten“ (Marx 2012: 107). Vor diesem Hintergrund besteht die Aufgabe professioneller präventiver Arbeit mit Menschen mit ‚kognitiven‘ und ‚schweren Beeinträchtigungen‘ darin,
„Menschenwürde auch als Respekt vor der Autonomie des Subjekts im Sinne seiner prinzipiell gegebenen Subjektivität, seines Subjekt-Potentials“ herzustellen (Maurer 2013: 147). „In der von Amartya Sen vorgeschlagenen Perspektive der ,capabilities‘ werden die dafür bedeutsamen Möglichkeits- und Ermöglichungsbedingungen formuliert“ (ebd.) „Es setzt (…) eine besondere Aufmerksamkeit und auch Respekt für das konkrete Über-Leben in widrigen Verhältnissen voraus, auch eine Haltung der Mit-Verantwortlichkeit für die (Re-)Konstruktion von Handlungsfähigkeit“ (ebd.: 148).
Der Auftrag an Soziale Arbeit, der sich daraus ableiten lässt, ist eine Selbst-Ermächtigung zu fördern, mittels derer Differenzen und Grenzen aber auch Gleichheiten und Solidaritäten erkannt, benannt und genutzt werden können, um Situationen (sexueller) Gewalt gemeinsam aufzudecken und dafür Sorge zu tragen, Machtverhältnisse im Sinne aller Beteiligten gerechter und partizipativer zu gestalten.
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[2] Die ‚Euthanasieprogramme‘ des NS-Regimes sollen hier nicht weiter vertieft werden, da die Argumentationen über lebenswertes bzw. -unwertes Leben im Kontext einer pseudo-religiös gefärbten faschistischen Propaganda erfolgten, die keinerlei Berührungspunkte mit dem heutigen Verständnis von Menschenwürde haben.