Abstract: Durch das erfolgreichen Abschneiden bei den PISA-Studien ist das finnische Schulsystem in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt. Auch unter dem Aspekt von inklusiver Bildung gilt das finnische Bildungssystem als beispielhaft. In den vergangenen Jahren gab es in Finnland einige Veränderungen auf bildungspolitischer Ebene, die auch das Thema Inklusion betreffen. Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf der Reform des sonderpädagogischen Fördersystems. Ein diesbezüglicher Blick auf Finnland soll Aufklärung über den aktuellen Entwicklungsstand geben, und abschließend mögliche Anknüpfpunkte für die deutschsprachige Inklusionsdebatte skizzieren.
Stichworte: Sonderpädagogische Förderung; Integration; Inklusion; Gemeinsamer Unterricht; separate Förderklassen
Inhaltsverzeichnis
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(OECD 2001, S. 104; OECD 2004, S. 337; OECD 2007, S. 66; OECD 2010, S. 165; OECD 2014, S. 20; OECD, 2016)
In der öffentlich-medialen Berichterstattung werden die PISA-Ergebnisse häufig auf die tabellarisch dargestellten Mittelwerte der untersuchten Länder reduziert. Im Ranking- und Wettbewerbsmodus ist in den Medien häufig von „PISA-Gewinnern“ und „PISA-Verlierern“ zu lesen (vgl. Rühle, 2015, S. 339). Finnland belegte im internationalen Vergleich stets Plätze in den obersten Regionen, lediglich im Kompetenzbereich Mathematik konnte Finnland in den letzten Erhebungszyklen in den Jahren 2012 und 2015 keine Top-Platzierungen unter den OECD-Ländern erreichen. Deutschland hatte sich vom sogenannten „PISA-Schock“ schnell erholt und ist seit den PISA-Erhebungen 2006 in allen Teilbereichen zumindest im oberen Mittelfeld des Rankings zu finden.
Allerdings spielte das Abschneiden bei den PISA-Studien in der Wahrnehmung vieler finnischen Bildungsforscher_innen nie eine wichtige Rolle, auch nicht dann, als PISA noch als „Bildungswunder“ galt. Die Durchführung der PISA-Studie wurde aus bildungspolitischer Perspektive schon immer sehr kritisch betrachtet, nicht nur in Finnland, auch in vielen anderen Ländern (vgl. hierzu Wuttke, 2006; Bank & Heidecke, 2009). Im Kern widerspricht der Aufbau der PISA-Studie dem Verständnis von Bildung in Finnland: PISA fordert bzw. untersucht normierte fachliche Inhalte mit mathematischen und naturwissenschaftlichen Schwerpunkten, Finnland baut dagegen explizit auf individualisierte und fächerübergreifende Inhalte und Kompetenzen (vgl. Finnish National Board of Education, 2016).
Die Inklusionsdebatte in Finnland
Im Gegensatz zu Deutschland wird die Inklusionsdebatte in Finnland auf theoretischer Ebene weitgehend losgelöst von schulischen Strukturen und primär auf internationaler Forschungsgrundlage behandelt. Dies hat vor allem zwei Gründe: Erstens besteht in Finnland bereits seit einigen Jahrzehnten eine „Schule für alle“, deren Grundstruktur gesellschaftlich und bildungspolitisch unumstritten ist. Das Fördersystem wurde schrittweise nach der Schulreform in den 1970er Jahren in das allgemeine Schulsystem integriert (vgl. Jahnukainen & Korhonen, 2003; Kivirauma, 2009), wobei die sonderpädagogische Förderung vermehrt in unterschiedlicher Organisationsform unter dem Dach der Gesamtschule erfolgt (vgl. Schumann, 2010). Das integrierte Fördersystem gilt für viele finnische Sonderpädagog_innen als einer der Gründe für den Erfolg des finnischen Schulsystems (Hausstätter & Takala, 2011; Itkonen & Jahnukainen, 2010; Kivirauma & Ruoho, 2007).
Zweitens erfolgte notgedrungen eine frühe Anbindung an die internationale Forschung: Die unterschiedlichen Einflüsse aus dem Ausland hatten auf die Entwicklung der finnischen Gesamtschulsystems insofern eine besondere Bedeutung, da es in dieser Phase notwendig war, aus den kontroversen politischen Ansichten und sporadischen pädagogischen Gedanken ein neues, eigenes Modell der nationalen Grundbildung zu formen (Malinen, 2008, S. 88).
Die Entwicklung des integrativen Schulsystems hat einen großen Einfluss darauf, wie die Zielsetzung von Inklusion heute in Finnland definiert ist. Bis zu den 1970er Jahren kann das finnische Schulsystem als ein segretatives System bezeichnet werden: Es bestand aus einer sechsjährigen Grundstufe und einer daran anschließenden zweigliedrigen Schullaufbahn, untergliedert in einen beruflichen und einen akademischen Zweig (Hausstätter & Jahunkainen, 2014, S. 124). In den 1970er Jahren wurde das Schulsystem jedoch grundlegend reformiert, was auf das wachsende soziale Bewusstsein in Bezug auf gesellschaftlicher Teilhabe zurückzuführen ist. Es zeichnete sich in mehreren wissenschaftlichen Untersuchungen ab, dass die Wahl der Schüler_innen zwischen beruflicher und akademischer Laufbahn maßgeblich von sozioökonomischen Faktoren bestimmt wurde. Diese Erkenntnis gilt als Hauptargument für die Legitimation der grundlegenden Schulreform zu diesem Zeitpunkt (Hausstätter & Jahunkainen 2014, S. 124).
Entwicklung des heutigen finnischen Schulmodells:
In den Jahren 1972 bis 1977 wurde in Finnland sukzessive die neunjährige „Peruskoulu“ (Grundschule) eingeführt. Finnland hat seitdem eine Gesamtschule für alle Kinder und Jugendliche, und mit Beginn des Schuljahres 1985/86 auch einen einheitlichen Lehrplan für alle Schüler_innen: die bisher oft praktizierte äußere Differenzierung („Leistungskurse“) in einigen Fächern der Klassen 7 bis 9 wurde zu diesem Zeitpunkt zugunsten der Integration der – leistungsmäßig und sozial – heterogenen Klassengemeinschaft aufgegeben (vgl. Skiera, 2008, S. 109). Gleichzeitig wurde ein neues System der inneren Differenzierung eingeführt, dass es den einzelnen Schulen ermöglichte, über ein speziell zugeteiltes Stundendeputat frei zu verfügen und z.B. für Fördermaßnahmen einzusetzen. Somit wurde den einzelnen Schulen ein hohes Maß an pädagogischer Autonomie übetragen, ein Symbol für die „Kultur des Vertrauens“ (vgl. Sahlberg, 2013). Auf diese Weise hat Finnland gemeinsam mit allen nordischen Ländern eine Gesamtschule geschaffen, deren Maß an Integrationsmöglichkeiten im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern beispielhaft ist (vgl. Skiera, 2008, S. 109). Dieser struktureller Aufbau des Schulsystems kommt dem Gedanken der „Einheitsschule“, ein Kernanliegen vieler Reformpädagogen, sehr nahe.
Die Rolle der Sonderpädagogik (special education)
Die Inklusionsdebatte in Finland wird stark von Seiten der Sonder- und Heilpädagogik (special education) geprägt. Dies spiegelt sich in der Vielzahl von Veröffentlichung in diesem Fachbereich wider. Die finnische Sonderpädagogik wurde maßgeblich von internationalen Konzepten und Fachbegriffen – besonders aus den USA – beeinflusst. Trotzdem hat Finnland ein eigenständiges Fördersystem entwickelt, das in dieser Form einzigartig ist:
“Although some of the current special education terminology has been influenced by the United States, the Finnish system of defining student eligibility for support is not based on specialized assessment or diagnosis as often is the case elsewhere. Additional support requirements are determined in the first instance by teacher/parent observation. After consulting with the special education teacher, and preferably the school psychologist, the IEP team defines the needed services together with parents and the student as part of the IEP process.” (Itkonen & Jahnukainen, 2010)
Bis zu den 1950er Jahren fand die sonderpädagogische Förderung in erster Linie in separaten Fördereinrichtungen statt. Wie in den benachbarten nordischen Ländern begann auch in Finnland in den 60er Jahren die Diskussion um Integration von Schüler_innen mit besonderem Förderbedarf in das allgemeine Schulsystem (vgl. Graham & Jahnukainen, 2011, S. 19). Blickt man auf die historische Entwicklung von Integration bzw. Inklusion zurück, so spielte in Finnland das Normalisierungsprinzip (vgl. Pitsch, 2006) – wie in anderen Ländern auch – in den 1960er Jahren eine wichtige Rolle, speziell für die Rechte von Menschen mit geistigen Behinderungen (vgl. Jahnukainen, 2014). Als wichtigster Meilenstein für die inklusive Entwicklung auf schulischer Ebene gilt jedoch die Einführung einer „Schule für alle“ in den 1970er Jahren im Rahmen des Comprehensive School Act (vgl. Kivinen & Kivirauma, 1989; Graham & Jahnukainen, 2011, S. 17). Laut Jahnukainen (2003) basierte das finnische Bildungssystem jedoch bereits seit dem ersten finnischen Schulgesetz, dem Compulsory Education Act (1921), auf der Grundphilosophie einer „Bildung für alle“. Einhergehend mit der grundlegenden Reform des Schulsystems, wurde die bis dahin separierte sonderpädagogische Förderung Teil der allgemeinen Schulbildung an den Gemeinschaftsschulen (Graham & Jahnukainen, 2011, S. 19; Kivirauma, 2009). Allerdings erfolgte dieser Prozess schrittweise, anfangs mit Kindern und Jugendlichen mit „leichten“ Beeinträchtigungen und dauerte bis Mitte der 1980er Jahre (Jahnukainen & Korhonen, 2003). In der Praxis begann Finnland zu diesem Zeitpunkt mit der Ausbildung sonderpädagogischer Lehrkräfte, die dafür vorbereitet wurden, Teil des Unterstützungssystems in Regelschulen zu sein. Allerdings wurde das Förderschulsystem nicht aufgegeben. Die Zahl der Förderschulen, sowie die Zahl der Schüler_innen, die in diesen Schulen beschult wurden, begann erst in den frühen 1990er Jahren zu sinken (vgl. Jahnukainen, 2011).
Inklusionsentwicklungen in den nordischen Ländern
In den skandinavischen Ländern ist das Bemühen um eine Schule für alle bereits in den 1980er Jahren zu erkennen. Etwa zeitgleich mit Großbritannien setzte sich in Skandinavien der Begriff Inklusion in 1990er Jahren durch (vgl. Barow et al., 2015, S. 189). Inklusive Bildung geht jedoch auch in den skandinavischen Ländern über das Verständnis einer lediglich räumlichen Integration von Kindern mit besonderem Förderbedarf in Regelschulen hinaus. Durch die breite internationale Entwicklung des Inklusionsdiskurses, die ihren Ausdruck in der Salamanca-Erklärung (UNESCO, 1994) und der UN-Behindertenrechtskonvention (United Nations, 2006) fand, ist die Inklusionsdebatte in vielen Ländern neu entfacht worden. Barow et al. (2015, S. 190) weisen auf unterschiedliche Entwicklungen in einzelnen Ländern hin: Während in Dänemark in jüngster Zeit viel Kraft in die Weiterentwicklung inklusiver Beschulung gelegt wurde, sind in Teilen Großbritanniens und in Schweden eher Rückwärtsbewegungen auszumachen. Durch eine verstärkte Marktorientierung und Privatisierung der Bildungsysteme in diesen Ländern, wird eine „Bildung für alle“ mit grundsätzlich gleichen Bildungschancen zunehmend in Frage gestellt.
In Finnland wurde in den 1990er Jahren das Prinzip der freien Schulwahl eingeführt (Simola, Rinne & Kivirauma, 2002). Dieses hatte in der Praxis jedoch sehr geringe Auswirkungen, da es zwischen den öffentlichen Gemeinschaftsschulen keine größeren Qualitätsunterschiede gibt, zumal Privatschulen in Finnland kaum eine Rolle spielen. Graham & Jahnukainen (2011, S. 16) sind der Ansicht, dass die Eltern in Finnland gar nicht gezwungen sind, zu wählen:
„In other words, because there is consistency in quality and relative equity in educational outcomes, the Finnish parent is not compelled to choose.”
Neoliberale Tendenzen im Bildungsbereich durch eine verstärkte Privatisierung scheinen in Finnland unpopulär zu sein, was übrigens auch auf die standardisierte Überprüfung von Schülerleistungen zutrifft (vgl. Johannesson, Lindblad & Simola, 2002).
“Indeed, with regards to national testing and ranking of student/school performance, Finland is considered the most “under-developed” of the Nordic countries” (Graham & Jahnukainen, 2011, S. 16)
Sahlberg (2007) betont in diesem Kontext die finnische „Vertrauenskultur“: Sowohl von Seiten der Bildungspoltitik, als auch von den Eltern bestehe ein grundlegendes Vertrauen in die Fähigkeiten der Lehrkräfte und in die hohe Qualität des finnischen Schulsystems. Was den Forschungsbereich betrifft, so hatten historisch gesehen Konzepte aus den USA einen großen Einfluss auf den Bereich Special Education und die Diskussion um Inclusive Education in Finnland. Dies spiegelt sich in der einheitlichen Verwendung von Fachbegriffen und der engen Kooperation auf forschungsbezogener Ebene wieder (vgl. Jahnukainen & Itkonen, 2015). Es sind aber auch andere Forschungspartner auf internationaler Ebene zu nennen, beispielsweise Kandada und Australien (Graham & Jahnukainen, 2011). Obwohl einige Begriffe aus der aktuellen finnischen Sonderpädagogik durch die Vereinigten Staaten beeinflusst worden sind, gilt das finnische Fördersystem als einzigartig, da es nicht auf einem Diagnoseverfahren basiert, wie es in den meisten Ländern der Fall ist (vgl. Itkonen & Jahnukainen, 2010).
Laut Grubb et al. (2005, S. 19) bestehen die „Equity strategies“ der finnischen Bildungspolitik im Kern aus folgenden Maßnahmen:
Einen wichtigen Stellenwert nehmen in dieser Hinsicht die vielfältigen Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten ein, die in Finnland durch verschiedenste Professionen zur Verfügung stehen. Die Lernenden werden an den finnischen Grundschulen (der Klassenstufen 1-9) durch multiprofessionelle Teams (students’ welfare teams) begleitet. Sie setzen sich meist aus aus Klassen-, Fachlehrkräften, sonderpädagogischen Lehrkräften, Lern- und Berufsberater_innen (guidance counsellor), Schulbegleiter_innen, Schulpsycholog_innen, Sozialarbeiter_innen, und teilweise auch aus Ärzt_innen zusammen, deren Aufgabe es ist, „das psychische, physische und soziale Wohlbefinden“ (Kricke, 2015, S. 229) der Kinder und Jugendlichen zu fördern und ihnen somit die Grundvoraussetzungen für das Lernen zu sichern. Die praktische Umsetzung der Schülerfürsorge auf organisatorischer und inhaltlicher Ebene wird an jeder Schule individuell festgelegt. An vielen Schulen trifft sich das Förderteam, das aus Personen aus den zuvor genannten Berufsfeldern besteht, regelmäßig, um über die Fortschritte und Verläufe geförderter Kinder und Jugendlicher zu sprechen (ebd., 2015, S. 229).
Kritische Schnittstellen des Bildungssystems
Schroeder (2010) merkt kritisch an, dass das finnische Bildungssystem den Zeitpunkt des „Selektierens“ lediglich von der Schule zum Eintritt in das Berufsleben verschiebt: Anders als im deutschen Bildungssystem, finde soziale Exklusion nicht bereits in der allgemeinbildenden Schule, sondern im Übergang in das Beschäftigungssystem statt (Schroeder, 2010, S. 179).
Er verweist dabei auf die relativ hohe Jugendarbeitslosigkeit in Finnland, die – ähnlich wie in Deutschland – in hohem Maße gesellschaftlich vererbt ist. Studien zeigen, dass die frühe Drop Out[2]-Rate von Jugendlichen maßgeblich mit dem sozioökonomischen Status des Elternhauses zusammenhängt (vgl. Julkunen, 2007). So sei die sensible Phase des Übergangs zwischen Schule und Arbeitsleben von Seiten der finnischen Bildungspolitik vernachlässigt und der Fokus in den letzten dreißig Jahren auf die Qualitätssicherung in der Vorschulerziehung sowie im Bereich der neunjährigen Grundschule gelegt worden (vgl. Schroeder, 2010, S.179). Das Problem sind laut Malinen (2008, S. 87) die ungefähr 10-15 % eines Jahrgangs, die wegen ihrer zu geringen Ausbildung (Schulabgang nach der 9. Klassenstufe) der Gefahr unterliegen, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden. Auch Rühle (2015, S. 195) weist darauf hin, dass sich der Zeitpunkt der schulischen Selektion in Finnland verstärkt nach der neunjährigen Grundschule bzw. dem Eintritt in das Berufslebens verschiebt. Die finnische neunjährige Grundschule ist einerseits durch eine sehr geringe Drop-out-Quote und einen geringen Einfluss des sozioökonomischen Hintergrunds bei hoher Leistung gekennzeichnet. Trotz dieser starken Indikatoren für ein hohes Maß an Chancengerechtigkeit zählen in Finnland Jungen aus sozial benachteiligten Milieus und männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund zu einer gefährdeten Risikogruppe (Rühle, 2015, S. 195). Der Zeitpunkt nach Abschluss der neunjährigen Gemeinschaftsschule gilt in Finnland also durchaus als „kritische“ Phase.
Förderstufe |
Anteil in % (OSF 2016) |
Diagnostik/ Verfahren |
Mögliche Organisationsformen |
special support |
7,3 |
written pedagogical statement |
(Förder-)unterricht im Klassenverband, sonderpäd. Unterricht in Teilzeit, |
intensified support |
8,4 |
Pädagogische Beurteilung (pedagogical assessment) und ggf. ein individueller Lernplan |
(Förder-)unterricht im Klassenverband, sonderpäd. Unterricht in Teilzeit |
general support |
Keine Informationen verfügbar[3] |
- |
(Förder-)unterricht im Klassenverband, sonderpäd. Unterricht in Teilzeit |
General Support: Der Förderunterricht der ersten Förderstufe (general support) ist eine häufig beanspruchte Form des alltäglichen Unterrichts und setzt keine formalen Beschlüsse voraus. Die Förderung wird hauptsächlich durch die Klassenlehrkraft bzw. die Fachlehrkraft in Form von pädagogischen Differenzierungsmaßnahmen innerhalb des Unterrichtsgeschehens erreicht. Dazu zählt auch die Adaption von Unterrichtsmaterialien und das zur Verfügung stellen von unterstützenden Lernmaßnahmen bzw. Hilfsmitteln (Ekstam et al., 2015, S. 78). Reichen die Unterstützungsmaßnahmen der erste Stufe nicht aus, wird der individuelle Förderbedarf des Kindes erneut beurteilt. Dies wird in einem pädagogischen Beurteilungsbericht (pedagogical assessment) dokumentiert. Der pädagogische Beurteilungsbericht enthält Informationen darüber, welche Fördermaßnahmen bisher ergriffen wurden, und welche zusätzlichen Unterstützungsmaßnahmen benötigen werden, damit das Kind erfolgreich am Unterricht teilnehmen und den Inhalten des Curriculums folgen kann.
Intensified Support: Die Fördermaßnahmen der zweiten Förderstufe werden für eine begrenzte Zeit durchgeführt und regelmäßig evaluiert, um zu ermitteln, ob Art und Umfang der Maßnahmen ausreichend sind. Im Rahmen dieser Fördermaßnahme wird vor Beginn der Förderung gemeinsam mit dem Kind ein individueller Lernplan entwickelt, der Lernziele enthält, die zum Ende der Maßnahme erreicht werden sollten. Dieser Lernplan wird von allen beteiligten pädagogischen Akteuren in Zusammenarbeit erstellt. Zeichnet sich ab, dass es dem Kind trotz intensiverer Förderung nicht möglich ist, dem Unterricht zu folgen, wird ein individueller Förderplan mit individuell abgestimmten Lernbereichen (activity areas) formuliert. Voraussetzung dafür ist jedoch die Ermittlung des Förderbedarfs der dritten Stufe (special support) in Form von einem pädagogischen Gutachten.
Special Support: Die Bildungseinrichtung (im Normalfall die Schulleitung) trifft letzendlich die Entscheidung, ob ein Kind eine besondere Förderung im Umfang der dritten Stufe erhält. Die dritte Förderstufe setzt neben der Ermittlung des Förderbedarfs in Form von einer pädagogischen Gutachten (written pedagogical statement) die Erstellung eines individuellen Förderplans (Finnisch: „HOJKS“)voraus. Dieser Förderplan wird in Zusammenarbeit mit dem schulischen Förderteam und den Eltern des Kindes erstellt und umfasst individuelle Förderziele- und Maßnahmen, die den Lernprozess des Kindes unterstützen.
Kinder mit schweren kognitiven bzw. mehrfachen Beeinträchtigungen erhalten in der Regel die intensivste Förderstufe (special support). Der Unterricht findet meist in Form von sonderpädagogischer Einzel- bzw. Gruppenförderung statt und wird von sonderpädagogischen Lehrkräften erteilt. Die sonderpädagogische Förderung ist nicht grundsätzlich an einen bestimmten Förderort gebunden, sollte aber – wenn möglich – in Verbindung mit dem Regelunterricht erfolgen. Der Förderunterricht kann jedoch auch teilweise oder ganz in einer Spezialklasse oder an einem anderen geeignetem Ort erteilt werden („fully or partially in a special class or some other suitable place“, Finnish National Board of Education, 2016). Der Förderort kann also auch eine Fördereinrichtung (special school) sein.
Abb. 2: Verteilung der Schüler_innen mit besonderem Förderbedarf (special support) nach dem Förderort (OSF 2016, für das Referenzjahr 2015)
In Finnland ist die sonderpädagogische Förderung zwar größtenteils in die Regelschulen integriert, es gibt jedoch auch auch in Finnland sonderpädagogische Fördereinrichtungen (special schools). Allerdings besuchen nur 0,9 % aller finnischen Schüler_innen sonderpädagogische Bildungseinrichtungen (OSF, 2016). Im Jahr 2004 besuchten immerhin noch 1,7 % der finnischen Kinder und Jugendlichen Fördereinrichtungen, es lässt sich also hier ein Rückgang feststellen. Laut OSF (2016, für das Referenzjahr 2015) besuchen in Finnland 89% aller Schüler_innen mit besonderem Förderbedarf (special support) allgemeinbildende Schulen, entweder im gemeinsamen Unterricht oder in separaten Gruppen innerhalb der Schule. Nur 11% aller Schüler_innen mit besonderen Bedürfnissen werden in Förderschulen- bzw. besonderen Einrichtungen unterrichtet. Die grundlegende Idee der Gesetzgebung ist es also, dass die Förderung zu den Schüler_innen kommt und nicht umgekehrt:
“The biggest change in all schoolwork is a new kind of thinking. It is no longer that the weak (pupil is) transferred directly to another group, out of the way. But now we have to think first about what I can do about it.” (Kokko et al., 2014)
Ähnlich wie in Deutschland, entwickeln sich die Fördereinrichtungen auch in Finnland zunehmend zu sogenannten staatlichen Beratungs- und Förderzentren, die regional mehrere „Förderschwerpunkte“ abdecken. In Finnland gibt es sechs staatliche Fördereinrichtungen, die sich an alle Kinder und Jugendliche richten, die beispielsweise einen Beratungs- und Unterstützungsbedarf in den Bereichen „Hören“, „Sehen“ und „Sprache“ haben.
Jedes Zentrum bietet Beratungs- und Unterstützungsmaßnahmen für die inklusive Beschulung an, gleichzeitig ist jede Einrichtung auch ein schulisches Förderzentrum für Schüler_innen mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen. Diese Fördereinrichtungen fungieren als nationale Beratungs-und Förderzentren, die ihre sonderpädagogische Expertise für andere Schulen und außerschulische Einrichtungen bereitstellen und Regelschullehrkräfte in ihrer Arbeit unterstützen. Sie bieten aber auch vorübergehende Schulungs- und Rehabilitationsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche vor Ort an. Seit August 2015 haben sich diese ehemals unabhängigen staatlichen Beratungs-und Förderzentren zu einem nationalen Netzwerk zusammengeschlossen, dem Valteri Centre for Learning and Consulting. Von diesen Zentren richten sich fünf Zentren (Mikael, Mäntykangas, Ruskis, Onerva und Tervaväylä) an finnischsprachige Klient_innen und „Skilla“ (ehemalig Svenska Skolan för Synskadade) an schwedischsprachige Klient_innen. Seit Herbst 2016 hat Valteri die Unterstützungsmaßnahmen in Finnland geographisch in drei Hauptbereiche unterteilt, um Schüler_innen mit besonderen Bedürfnissen vermehrt regional zu unterstützen: Südfinnland, Zentralfinland und Nordfinnland (Valteri, 2017). Auch web-basierte Beratungs- und Fortbildungsangebote werden organisiert, und erleichtern so aufgrund der größeren geografischen Distanzen in Finnland den Zugang zu den Angeboten. Darüber hinaus gibt es in Finnland noch sieben berufliche Fördereinrichtungen für Jugendliche und Erwachsene mit sonderpädagogischem Förderbedarf (European Commission, 2015).
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OECD (2014). PISA 2012 Ergebnisse: Was Schülerinnen und Schüler wissen und können. Schülerleistungen in Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften (Band I). Paris: Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Zugriff am 26.09.2016 unter: http://dx.doi.org/10.1787/97892642088 58-de
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[2] Jugendliche bzw. junge Erwachsene, die nach dem Schulabgang erwerbslos sind oder als Ungelernte in den Arbeitsmarkt einmünden.
[3] Schätzungseise ca. 28% aller Schüler/innen in Finnland erhalten mindestens eine der drei Unterstützungsformen, jedoch werden nur die zwei intensiveren Formen der Förderung (intensified und special support) formal erfasst.