Christiane Carri:Inklusionsdiskurse der reformierten Psychiatrie

Abstract: In diesem Beitrag zu „Inklusionsdiskurse der reformierten Psychiatrie“ wird zunächst ein kurzer Überblick über den Reformierungsprozess innerhalb der Institution Psychiatrie und dessen Hintergründe gegeben. Darauf folgend wird beispielhaft anhand eines Projektes der Reformpsychiatrie, namentlich Ex-In, der These nachgegangen, dass der strukturelle Reformierungsprozess innerhalb der psychiatrischen Ordnung die wesentlichen Grundsätze selbiger – und somit auch grundlegende Kritiken an dieser- unverändert gelassen hat.

Stichworte: Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, Antipsychiatrie, Inklusion

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Geschichte der Antipsychiatriebewegung
  3. Reformpsychiatrie: Die Befreiung des psychiatrischen Wissens
  4. Expert_innen aus Erfahrung
  5. Krankheit als Identität
  6. Bedeutung haben – produktiv sein
  7. Schlussfolgerungen
  8. Literatur

 

1. Einleitung

Mit der Psychiatrie-Enquete der 1970er Jahre, der daraus resultierenden Reformierung psychiatrischer Praktiken, spätestens jedoch mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention, erreichte die Psychiatrie eine grundlegende Statusverbesserung. Wo bis vor einigen Jahren die Unterbringung in psychiatrische Kliniken oder psychiatrisch-psychologische Behandlungen noch die Ausnahme ausmachten und mit größter Stigmatisierung verbunden war, finden diese sich zunehmend im Alltag vieler Menschen wieder (Carri/Küpper, 2013, S.40 f.). Statt dauerhafter Unterbringung und Zwangsbehandlungen wirbt die psychiatrische Versorgungslandschaft mit ehemals emanzipatorischen Konzepten von „Empowerment“, „Experienced-Involvement“ oder „sozialer Psychiatrie“ und verliert hierdurch ihren einstigen Schrecken. Bei genauer Betrachtung der UN-Behindertenrechtskonvention sowie des Schattenberichts bezüglich der psychiatrischen Versorgung (Allianz der deutschen Nichtregierungsorganisationen zur UN-Behindertenrechtskonvention, 2013) zeigt sich jedoch, dass gerade innerhalb der Institution selbst kaum eine Statusverbesserung der Patient_innen stattgefunden hat. So sind Zwangsbehandlungen, Zwangsmedikationen, Freiheitsentzug, um nur einige der Verstöße zu nennen, noch immer in den täglichen Handlungspraktiken psychiatrischer Kliniken zu finden. Sozialpsychiatrische Projekte arbeiten hingegen in der Regel innerhalb der Gemeinden statt in den Gebäuden psychiatrischen Kliniken und entwickelten hierbei ein modernes, emanzipatorisches und inklusives Selbstverständnis. Im Folgenden möchte ich mit Blick auf ein ausgewähltes Projekt aufzeigen, wie sich die Sozialpsychiatrie als freundlicher Türöffner zur Anstaltspsychiatrie etabliert hat und die Schwierigkeiten aufführen, die dieses mit sich bringt. Speziell gehe ich im Folgenden auf den Begriff des Expertentums aus Erfahrung ein, eines jener Konzepte, die ihren Ursprung in der Antipsychiatriebewegung hatten und die, innerhalb der sozialpsychiatrischen Versorgung integriert, inhaltlich gänzlich angeglichen wurden und dennoch den ursprünglichen Namen beibehalten haben.  

2. Geschichte der Antipsychiatriebewegung

Im Zuge der sogenannten Student_innenbewegung kam Mitte der 1960er Jahre die Institution Psychiatrie in der BRD vermehrt in die Kritik. Angelehnt an antipsychiatrische beziehungsweise psychiatriekritische Theoretiker, wie etwa Ronald Laing, David Cooper und Michel Foucault, wurden neben dem psychiatrischen Wissen (Foucault, 1969; Cooper, 1980; Laing, 1987; Szasz, 2013) die Lebensbedingungen in den geschlossenen Institutionen und deren Verwaltungscharakter zunehmend auch öffentlich kritisiert (Goffman, 1973; Castel, 1982; Dörner, 1984; Shorter, 1999). Zudem wurden feministische Kritiken an der als männlich gedachten Wissenschaft der Psychiatrie, zu deren Objekt nicht selten der Frauenkörper wurde, vermehrt lauter (Chesler, 1972; Irigaray, 1985; Schlichter, 2000; Thesing, 2017).
Im Jahr 1970 tagte schließlich auf Aufruf Klaus Dörners und mit Unterstützung der Pharmafirma Thomae der Kongress „Rückkehr der psychisch Kranken in die Gesellschaft?“. Aus jenem Kongress heraus entstand die bis heute aktive Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie, deren Ziel die „Wiedereingliederung psychisch Kranker in die Gesellschaft“ durch eine Reformierung der alten Anstaltspsychiatrie ist (Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie DGSP, 2017).
Wenig später im Jahr 1975 setzte letztlich auch der Bundestag auf Antrag der CDU eine Expert_innenkommission dafür ein, einen „Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland“ zu verfassen, die sogenannte Psychiatrieenquete. Dieser 430 seitige Bericht deckte auf, was schon lange bekannt war, die „elenden“ und „menschenunwürdigen“ Umstände, in denen die in psychiatrischen Institutionen Untergebrachten leben mussten (Deutscher Bundestag, 1975). Entsprechend plädierte die Kommission auch für eine Auflösung der totalen Institutionen in die Gemeinden.
Parallel zu den Untersuchungen der psychiatrischen Praktiken der BRD bildeten sich in den 1970er Jahren unterschiedliche psychiatriekritische wie auch antipsychiatrische Gruppen, unter anderem seitens ehemaliger Patient_innen, um gegen die Situation in den Institutionen vorzugehen. Insbesondere das Sozialistische Patientenkollektiv und die Berliner Irrenoffensive fanden hierfür entsprechend Zulauf.             
Antipsychiatrische Gruppen erfassten und erfassen Wahnsinn, beziehungsweise das Verrückt-sein, als Widerstandsmoment gegen die gängige Gesellschaftsordnung und lehnen entsprechend staatlich-psychiatrische Interventionen ab. Eine Unterstützung in Zeiten der Krise wurde, und wird auch aktuell noch, eng an die Ziele und Wünsche der Betroffenen gebunden, selbst in Unterstützer_innenkreisen angeboten (Lehmann, 2001). Auch konnte Mitte der 1990er Jahre mit dem Weglaufhaus eine staatlich, jedoch nicht sozialpsychiatrisch, finanzierte Einrichtung eröffnen, deren Hintergrund eine diagnosefreie und hierarchiearme Unterstützung von Menschen in Krisen ist. 
Entsprechend den Forderungen der Psychiatrieenquete wird das psychiatrische System seit den 1970er Jahren auch schrittweise reformiert. So werden die bisherigen Verwahranstalten umstrukturiert, verkleinert und psychiatrische Abteilungen an Krankenhäuser angebunden. Jenseits der stationären Unterbringung wurden therapeutische Wohngruppen geschaffen, unterschiedlichste Präventionsprogramme, sei es in Schulen oder an Arbeitsstellen, es wurden eine Vielzahl an Reformprojekten eröffnet. So z.B. Sozialpsychiatrische Dienste, sogenannte Psychoseseminare, angeleitete Selbsthilfegruppen und vieles mehr (Schott/Tölle, 2005, 116ff.).
Mit diesen aufkommenden Reformen wurde es auch zunehmend stiller um die antipsychiatrische Bewegung. Die bislang verschlossene Institution, deren Tore sich öffneten hin zu einer Beratung „auf Augenhöhe“ -wie es häufig heißt- wurde zum gängigen Narrativ der reformierten Psychiatrie. Die Frage, die sich an jene Erzählung anschließt, ist, ob eine Öffnung – sollte diese tatsächlich stattgefunden haben- denn auch den versprochenen Freiheitsgewinn mit sich brachte.
Eines zumindest wurde aus der Enge der psychiatrischen Institution befreit: Das psychiatrische Wissen. So beschränkte sich der psychiatrische Zugriff bis zu den Psychiatriereformen vor allem auf den Bereich des Rechts, in Gutachtertätigkeit und den geschlossenen Bereich der Psychiatrie. Durch das Narrativ der „Öffnung“ konnte sich die psychiatrische Expertise auf sämtliche Lebensbereiche in und außerhalb der Institution Psychiatrie selbst erweitern. Jene Erweiterung steht jedoch kaum in einem Zusammenhang mit einem Freiheitsgewinn für Betroffene. So stieg die Anzahl der rechtlichen Betreuungen jährlich von 1991 bis 2015 von rund 5.000 angeordneten Betreuungen auf fast 200.000 an, entsprechend auch die angeordneten Zwangsmaßnahmen. Selbst Sterilisationsgenehmigungen wurden im Jahr 2014 noch 36-mal erteilt Bundesanzeiger, 2016; Müller, 2004). Der Eingriff betrifft hierbei nicht bloß diejenigen die bereits in der Institution selbst sind, sondern erweitert sich insgesamt auf alle in den Gemeinden befindlichen Menschen, so ist eine vorangegangene Unterbringung in eine geschlossene Institution nicht mehr notwendig, um über eine psychiatrische Diagnose in die rechtliche Betreuung zu gelangen. Gerade mit einem Blick auf die Zahlen der freiheitsentziehenden Maßnahmen der letzten Jahre zeigt sich hierbei deutlich, dass die Öffnung mitnichten einen größeren Freiheitsgewinn bedeutet, sondern lediglich die Überwachungsformen entsprechend modernisiert und ausgeweitet wurden.
Wie dieser Zugriff im Konkreten stattfindet, möchte ich im Folgenden dem Beispiel eines sozialpsychiatrischen Projektes, nämlich des Experience Involvement, im folgenden Ex-In, verdeutlichen und hierbei auch nochmals der Frage nachgehen, wieso, trotz des dramatischen Anstiegs an Betreuungen und trotz Abmahnungen durch Menschenrechtsinitiativen, die Psychiatrie weiterhin als hilfreich gilt.

3. Reformpsychiatrie: Die Befreiung des psychiatrischen Wissens

Ex-In steht für den englischen Begriff „experience involvement“  und bezieht sich hierbei auf ein Konzept, welches sich „Experte aus Erfahrung“ nennt. Ex-In ist ein Verein, der sich durch seine Nähe zur „Recovery-Bewegung“ in das sozialpsychiatrische Versorgungsmodell Deutschlands eingliedert. Der Recovery Begriff selbst kommt ursprünglich aus psychiatriekritischen Selbsthilfekreisen und verwies auf eine „Recovery“, also Erholung, von psychiatrischen Behandlungen, wurde jedoch im Zuge der Reformsprache der Psychiatrie von einigen Gruppen umgedeutet als eine Erholung von psychischer Krankheitsphase (Lehmann, 2013).  Ex-In verfolgt die Idee, „dass Psychiatrie-Erfahrene zu bezahlten Fachkräften im psychiatrischen System ausgebildet werden“ (EX-IN e.V., 2014) und bezieht sich hierbei weiter auf den zunächst emanzipatorischen Diskurs des Erfahrungswissens. Ich werde im Folgenden auf den Begriff und die Begriffsgeschichte des „Expertentums aus Erfahrung“ eingehen. Dessen Funktionsweise werde ich anhand des Selbstverständnisses des sozialpsychiatrischen Vereins Ex-In Deutschland verdeutlichen. Der Fokus wird hierbei auf die Leitideen des Vereins gelegt. Anhand derer werde ich beispielhaft auf die modernisierte Überwachungs- und Hierarchisierungsfunktion der „neuen Psychiatrie“ eingehen und auf ihre Fähigkeit verweisen, ehemals emanzipatorische Begriffe und Konzepte in die neoliberale psychiatrische Versorgungsstruktur zu integrieren.

4. Expert_innen aus Erfahrung

Die Idee des Expertentums aus Erfahrung geht auf Selbsthilfeprojekte der emanzipatorischen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre zurück. Drei aus jener Zeit erhaltene Projekte stellen die Berliner Sozialeinrichtungen Weglaufhaus „Villa Stöckle“, Wildwasser e.V. und Tauwetter e.V. dar, die nach wie vor unter dem Konzept der Erfahrung als Profession mit dem sogenannten betroffenenkontrollierten Ansatz arbeiten.
Während Wildwasser und Tauwetter mit einer Quote von 100% Betroffener sexueller Gewalt arbeiten, sind im Weglaufhaus 50% der Mitarbeiter_innen selbst von Psychiatrisierung betroffen (Tauwetter/Weglaufhaus/Wildwasser, 2004). Die Hintergründe jener Quotierung lassen sich in zwei wesentliche Kernpunkte aufteilen. Die Spaltung zwischen Hilfesuchenden und Helfenden soll abgebaut werden. Krisen werden als Teil jeden Lebens verstanden und nicht als Krankheit. So können Hilfesuchende zu Helfenden werden und auf der anderen Seite können auch Helfende in Krisen geraden. Gewalt und Krisen werden hierbei nicht als ein rein individuelles Problem betrachtet, sondern auch als Ergebnis gesellschaftlicher Missstände (Tauwetter/Weglaufhaus/Wildwasser, 2004).
Das Weglaufhaus als antipsychiatrisches Projekt entschied sich für eine Quote psychiatriebetroffener Mitarbeiter_innen von (mindestens) 50%. Die Quote dient den betroffenen Mitarbeiter_innen zum Schutz, denn so bringt eine vergangene Psychiatrisierung nach wie vor (außerhalb des Weglaufhauses) grundsätzliche Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt mit sich. Zum anderen dient sie der Dekonstruktion der Kategorien „psychisch krank“ und „gesund“. Durch den Grundsatz, dass nicht-betroffene Mitarbeitende sich nicht als solche positionieren dürfen, bleibt in jeder Interaktion offen, ob mit einer betroffenen oder nicht betroffenen Person gesprochen wird. Die betroffenen Mitarbeitenden haben jedoch selbstverständlich die Möglichkeit, über ihre Erfahrungen zu berichten. Im Weglaufhaus werden weder Gehaltsunterschiede noch Unterschiede in der Arbeitsbeteiligung zwischen den betroffenen und nicht betroffenen Mitarbeitenden gemacht. In allen genannten Projekten werden die zwar flachen, aber dennoch vorhandenen Hierarchien zwischen Mitarbeitenden und Bewohner_innen thematisiert und reflektiert (Abrahamovicz/Carri, 2013, S. 320 f.).
Grundsätzlich lässt sich zusammenfassen, dass die Idee hinter dem Betroffensein als Profession weniger auf das individuelle Schicksal fokussiert, sondern vielmehr die gesellschaftlichen Hintergründe problematisiert, in denen diese Positionen geschaffen werden können. Als grundlegender Bestandteil des betroffenenkontrollierten Arbeitens wird hierbei eine transparente und möglichst flache Hierarchie betrachtet und eine grundsätzliche Ablehnung normierender Strukturen (Bräunling/Hartmann, 2007). Jene Idee der Betroffenheit als Profession integriert somit eine Reihe politischer/emanzipatorischer Kritiken gegen die Hierarchisierung, wie z. B. durch die psychiatrische Diagnose, gegen normierende Krankheits- und Heilungsbegriffe mit Forderungen eines herrschaftsärmeren Umgangs mit Krisen und Gewalterfahrungen.
So zeigt sich auch das Konzept der Betroffenheit als Profession im sozialpsychiatrischen Projekt Ex-In besonderer Beliebtheit. Zur Unterstützung der These, dass ein großes Potential in der neuen Psychiatrie liegt, die Kritiken durch eine erfolgreiche Integration in Sozialpsychiatrische Diskurse zu depolitisieren (Carri/Küpper, 2013, S. 40 ff.), möchte ich an dieser Stelle einen Blick auf das Selbstverständnis von Ex-In werfen. So wurde auch das Konzept der Betroffenenkontrolle scheinbar erfolgreich in das sozialpsychiatrische Projekt Ex-In integriert. Dieses macht sich zur Aufgabe, ehemalige Psychiatriepatient_innen zu „ausgebildeten“ Fachkräften in der Sozialpsychiatrischen Versorgung zu machen (EX-IN e.V., 2014).
Wenig überraschend fokussiert das Konzept des Ex-In auf das Individuum. So soll die Ausbildung zum sogenannten „Genesungshelfer“ eine persönliche Entwicklung hin zum „bedeutenden“ Subjekt fördern. Hierbei liegt der Schwerpunkt insbesondere in der Identitätsbildung als entwickeltes, arbeitendes Subjekt. Die grundsätzlichen Unterschiede der Ansätze aus emanzipatorischen und sozialpsychiatrischen Projekten sind offenkundig.
Die „Leit-Ideen“ des Vereins beinhalten das Ziel, „das eigene Genesungspotenzial“ seiner Teilnehmer_innen zu „entdecken und verwirklichen“ und dabei „die persönlichen Entwicklung [zu] unterstützen“, eine Entwicklung, wie der Verein festhält, „von Selbstachtung und Identität“, die scheinbar durch „eine wichtige Rolle mit Bedeutung in der Gesellschaft“ geschaffen werden solle. Hierbei sollen die betroffenen Personen ins Zentrum gestellt werden und die Symptome in den Hintergrund treten (ebd.).

5. Krankheit als Identität

Mit Blick auf die Leitideen von Ex-In wird nochmals deutlich, dass der Prozess der Beratung einen grundsätzlich identitätsbildenden Prozess darstellt. Ehemalige Patient_innen, die bereits Genesung erlebten, sollen den aktuellen Patient_innen vorführen, wie diese zu erreichen sei: durch die Kooperation mit der Institution als auch der Teilnahme an einem Arbeitsleben. Der Frage der Identität wird hierbei innerhalb psychiatrischer Diskurse besondere Bedeutung zugemessen.
Michel Foucault beschreibt 1973/1974 in „Die Macht der Psychiatrie“ (Foucault, 2005, S. 392 ff.) die sogenannte psychiatrische Prüfung als einen wesentlichen Bestand der psychiatrischen Praxis. So können Patient_innen nur durch ihre Einsicht der Krankheit, also des Krank-Seins, zur Heilung gelangen. Hierfür mussten und müssen klare kranke Identitäten geschaffen werden. Die Kriterien solcher Krankheiten müssen durch die Patient_innen erlernt, re-produziert und aufgeführt werden. Das Erlernen der Krankheitssymptome stellt daher auch einen wichtigen Bestandteil der neuen Psychiatrie dar. Neben Vorlesungen und persönlichen Arztgesprächen, in denen Patient_innen über diese, natürlich ganz im Sinne der Prävention, aufgeklärt werden, ist auch ein wesentlicher Punkt der Ex-In Ausbildung das Erlernen verschiedener Krankheitssymptome. Jenes Wissen soll bestenfalls nun auch durch ehemalige Patient_innen an aktuelle weitergegeben werden.
Die an die erlernten Symptome anschließenden Krankheitsperformanzen werden hierbei wiederum als Bestätigung der jeweiligen Diagnose angesehen. „Psychischen Krankheiten“ einen performativen Charakter zu attestieren bedeutet in Anlehnung an Butlers Performativitätskonzept (Butler, 1990), dass die Handlungsvorlagen, an welche sich innerhalb psychiatrischer Anstalten sowohl die Patient_innen als auch das Personal orientieren, Anteil haben an der Konstruktion der Identitätskategorie „psychisch krank“. Durch die ärztliche Direktive, das wiederholte Krank-Tun und die permanente Erneuerung dieser Akte in der Gemeinde konstituiert und stabilisiert sich der Subjektstatus krank. So besteht auch die Rolle der Genesungshelfer_innen insbesondere darin, vorzuführen, wie ein Prozess von Erlernen der Krankheit über Krank-Sein bis hin zum anhaltenden Genesungsprozess stattfinden kann.
Die Identität „psychisch krank“ hat nicht zuletzt durch die reformierte Psychiatrie an gesamtgesellschaftlicher Relevanz gewonnen. Der Zugang zu strukturellen Unterstützungen in Lebenskrisen wie auch die Anerkennung emotionaler (Norm-)Abweichungen im Privaten findet fast ausschließlich auf der Grundlage psychiatrisch-psychologischer Diskurse statt. Innerhalb jener Diskurse werden Wahrnehmungen und Emotionen zunächst pathologisiert und ihre widerständigen Momenten sowohl durch biologistische Vorstellungen als auch der Leitidee der „Arbeit am Selbst“ genommen. So zum Beispiel werden Trauer, Wut und Widerspruch in Depression, Borderline oder Schizophrenie interpretiert, um diese auch mit entsprechenden Mitteln zu bekämpfen, seien dies sowohl pharmakologische als auch gouvernementale Methoden, zu denen auch die Selbstregierungsformeln reformpsychiatrischer Projekte wie Ex-In zählen. Um auf individueller Ebene Akzeptanz, Unterstützung und selbst grundlegende bürgerliche Rechte zu erfahren, müssen Betroffenen sich in jene Ordnung eingliedern. Eine grundsätzliche Verweigerung psychiatrischer Diskurse ist durch die allumfassende Wirkmarkt der Sozialpsychiatrie nicht möglich. Das befreite psychiatrische Wissen führt schnell zu einer Problematisierung innerhalb des sozialen Umfeldes bis schlimmstenfalls zum Entzug bürgerlicher Rechte durch Zwangseinweisungen und ungewollte rechtliche Betreuungen. Die Aggressivität jenes sozialpsychiatrischen Apparates versteckt sich jedoch erstaunlich erfolgreich hinter den Begriffen der Hilfe und erreicht selbst die kritische Forschung und den Aktivismus durch die stetige Übernahme ihrer Begrifflichkeiten.

6. Bedeutung haben – produktiv sein

In neoliberale Formeln der Optimierung und Produktivität eingehüllt werden den Patient_innen qua Status die Skripte der Krankheit und deren Genesung vorgelebt und weitergegeben. Das Verständnis dieses Ganzen als prozesshaft und nicht abschließend verdeutlicht hier nochmals den performativen Charakter der Position als Geisteskranke_r, dessen/deren „wichtige Rolle in der Gesellschaft“ vor allem durch seinen/ihren Status als arbeitendes Subjekt gewährleistet wird. Besonders ist an dieser Stelle zu betonen, dass mit jener Ausbildung bestenfalls im Niedriglohnsektor der Minijobs, wenn überhaupt, bezahlte Stellen angeboten werden.
Neben der Funktion, zum einen die Identität als geisteskrank zu stabilisieren, und zum anderen die Mitarbeit jener, die sich noch in den Institutionen selbst befinden, zu verbessern, zeigen sich die marktorientierten Leitideen der reformierten Psychiatrie auch an weiteren wesentlichen Punkten. So soll:
Die geplante Ausbildung [soll] den Einfluss von Expertenwissen durch Erfahrung auf das psychiatrische Versorgungssystem stärken. Die Einbeziehung von Psychiatrie-Erfahrenen soll zu einer besseren Nutzerorientierung und zu zufriedenstellenderen, weniger diskriminierenden und entwürdigenderen psychiatrischen Dienstleistungen beitragen.“ (EX-IN e.V., 2014)
Der Verein nimmt hierbei Rekurs auf einen veränderten Patient_innen-Begriff der reformierten Psychiatrie. So sollen die Patient_innen heraus aus der Passivität von Hilfeempfänger_innen hinein in die Rolle der emanzipierten Kund_innen. Nutzer_innenorientierung zielt hierbei auf die von Stefanie Duttweiler (Duttweiler, 2007) bereits ausgearbeitete, marktlogische Kundenorientierung, bei der Patient_innen scheinbar die Wahl zwischen unterschiedlichen Genesungsanbietern gegeben wird.
Jene Wahl bleibt jedoch rein suggestiv. So soll zwar eine gefühlte Zufriedenheit erweckt werden und gefühlt Diskriminierung abgebaut werden, dennoch bleiben die hierarchisierenden und normalisierenden Ideale der „alten“ Anstaltspsychiatrie bestehen. Denn nach wie vor findet auch hier eine hierarchisierte Trennung statt. Die zunächst aus dem Diskurs ausgeschlossenen Patient_innen bekommen unter klaren Regeln und mit deutlichen Vorgaben die Möglichkeit geboten, sich wieder inkludieren zu lassen. Ohne eine vorangegangene Exklusion und eine weiter erhaltene Hierarchisierung in Ex-Patient_innen und Psychiater_innen wäre der Diskurs um eine Inklusion entsprechend nicht vorhanden. Die Idee einer Inklusion nimmt vielmehr das Widerstandspotential aus den Patient_innenverbänden. So können diejenigen, die sich in den Behandlungen unwohl oder entmündigt fühlten, nun in das Behandlungsprogramm inkludiert werden. Jene Individualisierung spielt die Verantwortung des Behandlungserlebens dem/der Patient_in zu und suggeriert hierbei eine scheinbare Möglichkeit das System durch Eigeninitiative zu verändern. Vergessen wird jedoch hierbei, dass die Termini, derer sich bedient wird, von Gesundheit und Krankheit weiterhin in der Hand der Psychiater_innen liegen. So wird vor allem die Institution selbst hierbei immunisiert gegen die Vorwürfe emanzipatorischer Projekte, den Subjektstatus ihrer Patient_innen zu missachten.
Die grundsätzliche Funktion der Ausschließung, Disziplinierung und Subjektivierung der ehemaligen psychiatrischen Anstalten hat sich im Zuge der letzten Jahrzehnte nicht verändert. Jedoch hat sich die Praxis an neoliberale Ideale und humanitäre Diskurse angeschlossen. So werden Patient_innen weiterhin zunächst eingeschlossen und diszipliniert. Der Fokus der neuen Psychiatrie liegt jedoch vielmehr auf der Subjektivierung. In diesem Fall durch die Inklusion, also die scheinbare Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt.
Jener inklusive und präventive Gedanke bringt insbesondere einen Vorzug mit: So wurde die offene Psychiatrie als humanes Tor in die geschlossene etabliert. Durch umfassende Überwachung des beruflichen und privaten Lebens der ehemaligen Patient_innen, durch Übernahme von radikalen Selbsthilfegruppen und Begrifflichkeiten, erweiterte sich der Handlungsbereich, der bislang auf den architektonischen Raum beschränkt war.

7. Schlussfolgerungen

Während sich emanzipatorischen Projekte wie das Weglaufhaus insbesondere dadurch auszeichnen, dass auf weiter entmündigende Strategien – wie z.B. Diagnosebegriffe - verzichtet wird, richtet sich ein Projekt wie Ex-In insbesondere auf der Erhaltung jener Hierarchisierung. So wird auch der psychiatrische Zugriff durch Projekte der Sozialpsychiatrie um ein Wesentliches erweitert: Das zuvor als „krank“ und später als „geheilt“ erlebte Subjekt steht nun auch in seinem Arbeitsalltag unter ständiger psychiatrischer Kontrolle. Denn sollte eine Ex-In Person wieder Unkonformität zeigen, so ist die Psychiatrie bereits grundsätzlich integriert in deren Alltag und kann zu direkter Intervention schreiten. Die Öffnung der Institution hat hierbei nicht etwa einen bislang geschlossenen Raum dekonstruiert, sondern vielmehr den Einflussbereich des Wissens jener Institution erweitert. Die Diskurse um die Öffnung und Humanisierung der neuen Psychiatrie immunisieren hierbei gegen grundlegende Kritiken.

 

8. Literatur

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